Masterarbeit, 2022
130 Seiten, Note: 2,3
1. Einführung
2. Postmoderne – Definitionen und Theorien
3. „Tarantinoesk“: Zum Stil des Erfolgsregisseurs
4. Pulp Fiction : postmoderne Hommage an die Nouvelle Vague
4.1 Dekonstruktion des Gangsters in Tirez sur le pianiste (1960)
4.2 Lebendiges Erzählen & Popkultur in À bout de souffle
4.3 Mia Wallace & Nana Kleinfrankenheim
4.4 Pulp -Einfluss und tanzende Charaktere in Bande à part
4.5 Fragmentiertes Erzählen und ihre Wirkung
4.6 Multiperspektivität
4.7 Zusammenfassung
5. Kill Bill : Konstruktionscharakter, Identität und Weiblichkeitsbilder
5.1 Eastern, Western, Samurai – Intertextuelle Spuren
5.2 Gewaltinszenierung und Gegensätze
5.3 Beatrix und die postmoderne Identität
5.4 Dekonstruktion von weiblichen Rollenbildern
5.5 Zusammenfassung
6. Django Unchained : ein postmoderner Italowestern?
6.1 Django und Schultz: Westernhelden mit Schattenseiten
6.2 Genreeinflüsse fernab des Italowesterns
6.3 Historiografische Metafiktion durch Perspektivwechsel und Parodie
6.4 Fetisch, Feindbild und Komplize: People of Colour in Django Unchained
6.5 Zusammenfassung
7. Once upon a Time in Hollywood : Wie Tarantino sich selbst zitiert
7.1 Kontrafiktion, Voiceover und Gewaltinszenierung
7.2 Rick und Cliff – zwei unzertrennliche Buddys
7.3 Schauspieler-Referenzen und Karikaturen
7.4 Filmische und musikalische Verweise
7.5 Elemente der Selbstparodie
7.6 Umgang mit Realität und Fiktion
7.7 Zusammenfassung
8. Schlussbetrachtung
Filmverzeichnis
Untersuchungsobjekte
Zitierte Filme & Serien
Literaturverzeichnis
Wenn es einem aufstrebenden Filmregisseur1 mit seinen ersten zwei Werken gelingt, die breite Öffentlichkeit mit einem Filmtypus zu überraschen, den sie zuvor noch nie gesehen hat, ist dies eine bemerkenswerte Leistung. Noch bemerkenswerter ist es, wenn es dem Regisseur gelingt, den Filmmogul eines großen Studios auf die gleiche Weise zu überraschen. Über die Entstehung und Vorgeschichte von Quentin Tarantinos Opus magnum Pulp Fiction gibt es eine Reihe von Anekdoten; Eine davon handelt von der Erstlektüre des Scripts durch Harvey Weinstein, dem damaligen Leiter des Filmstudios Miramax. Als dieser das Drehbuch in die Hand nahm, soll er es ob des Umfangs von 159 Seiten mit den Worten “What is this, the fucking telephone book?” kommentiert haben (Seal 2013). Mitten in der Lektüre rief er Richard Gladstein an, einem Kollegen bei Miramax, der Weinstein von dem Drehbuch zu überzeugen versuchte, und beschwerte sich: “Are you guys crazy?” You just killed off the main character in the middle of the movie!” (ebd.). Am Ende überwogen jedoch die Faszination und Begeisterung über das Script, er zögerte nicht lange, erteilte dem Filmprojekt eine Zusage und wurde zu einem der wichtigsten Förderer Tarantinos. Eine Entscheidung, die sich als richtig erwies, schließlich sollte Pulp Fiction im Jahr 1995 für sechs Golden Globes und sieben Academy Awards nominiert werden, von denen er je einen gewann (IMDb-Redaktion, o.D.: Pulp Fiction, Awards).
Die Reaktionen Weinsteins deuten nur einen Bruchteil der stilistischen Eigenheiten an, mit denen Tarantino die Weltöffentlichkeit und Filmbranche überraschte und das Kino in seinem Wesen beeinflusste. Dazu gehören lange, ausschweifende Dialoge und der Mut, Geschichten anders zu erzählen, als die meisten Hollywood-Regisseure es machen. Auch Filmjournalisten zeigten sich zuweilen von der Wirkung Pulp Fictions ratlos. So kommentierte der renommierte US-amerikanische Filmjournalist Roger Ebert Pulp Fiction nach der Erstsichtung wie folgt: “Seeing this movie last May at the Cannes Film Festival, I knew it was either one of the year's best films, or one of the worst“ (Ebert 1994).
Schon das Erstlingswerk Reservoir Dogs hatte polarisiert. Eine brutale Szene soll dafür gesorgt haben, dass im Rahmen des Sitges Film Festival 15 Leute das Kino abrupt verließen. Die Journalistin Jami Bernard verglich die Wirkung Reservoir Dogs auf die Zuschauer mit der des französischen Filmes L'Arrivée d'un Train en Gare de la Ciotat von 1895, bei dem sich die Zuschauer erschreckt duckten, als der im Film gezeigte Zug in Richtung Kamera fuhr, da sie dachten, der Zug würde auf sie zusteuern (Persall 2005).2 Die Menschen, so der Kern ihrer Aussage, seien noch nicht bereit gewesen, für das, was Tarantino ihnen präsentierte.
Wie die dargestellten Reaktionen beweisen, brachen Tarantinos Filme mit Sehgewohnheiten und tun dies zum Teil immer noch. Beim Versuch seinen Stil zu erfassen, greifen Filmwissenschaftler häufig auf das Konzept der Postmoderne zurück, vieler seiner stilistischen Merkmale werden als Ausdrucksformen jener Postmoderne beschrieben. Die Postmoderne ist, das wird im Laufe der Arbeit deutlich, eine sehr variable, schwer greifbare und widersprüchliche Zustandsbeschreibung, und doch soll ein Versuch gestartet werden, die Postmoderne unter Berücksichtigung von Widersprüchen zu definieren. Da die Postmoderne obendrein ein wandelbares Konzept ist, hat sich auch der postmoderne Charakter der Filme Tarantinos im Laufe der Zeit geändert – obschon er seinem Stil in den Grundzügen stets treu geblieben ist.
Das Ziel dieser breit angelegten Arbeit ist, anhand ausgewählter Aspekte darzustellen, inwieweit die Werke Quentin Tarantinos Merkmale der Postmoderne im künstlerischen Sinn aufweisen, welche Merkmale dabei dominieren und wie sie zum Ausdruck gebracht werden. Ein Erkenntnisgewinn soll auch in der Offenbarung einer stilistischen Entwicklung des Regisseurs in seinem nun bereits knapp 30-jährigen Schaffen liegen. So soll zum Ende der Arbeit verdeutlicht werden, inwieweit sich die postmodernen und inhaltlichen Schwerpunkte der Werke Tarantinos verändert haben, ohne dass dabei die Charakteristika des Regisseurs verloren gegangen sind.
Für diese Arbeit wurden gezielt Filme aus unterschiedlichen Phasen des Schaffens Tarantinos ausgewählt, damit sich Veränderungen und Entwicklungen in seinem Stil aufzeigen lassen. Untersucht werden Pulp Fiction (1994), der Zweiteiler Kill Bill: Volume 1 und 2 (2003 & 2004), Django Unchained (2012) und Once Upon a time in Hollywood (2019). Im ersten Teil sollen Parallelen zwischen Pulp Fiction und der Strömung der Nouvelle Vague hergestellt werden und besondere Merkmale des Filmes, wie die fragmentarische Erzählweise und die Multiperspektivität, gesondert behandelt werden. Der zweite Teil befasst sich mit Kill Bill und den Strategien, mit denen die beiden Filme als artifizielle Konstrukte inszeniert werden, als “Filme über Filme”. Zudem soll in dem Teil die Identität der Protagonistin und die dargestellten Frauenbilder beleuchtet werden. Der dritte Teil handelt von Django Unchained und der Frage nach dessen Verhältnis zu dem Italowestern und anderen Genres. Ferner wird auch die parodistische Darstellung der Gesellschaft und ihre Funktion untersucht und ein Blick auf die afro-amerikanischen Charaktere geworfen. In einem kürzeren, vierten Teil soll demonstriert werden, wie in Once Upon a Time in Hollywood Elemente aus vergangenen Tarantino-Filmen reaktiviert und neu verarbeitet werden. Nach jedem Kapitel folgt eine Zusammenfassung, in der die einzelnen Filme in Bezug mit Vorgängerfilmen Tarantinos gesetzt werden, um Veränderungen aufzuzeigen. Dabei sollen auch die postmodernen Charakteristika hervorgehoben werden.
Im Vorfeld der Filmanalysen hinsichtlich postmoderner Elemente soll in kurzer Zusammenfassung der Begriff der Postmoderne definiert und erläutert werden. Ein vollumfänglicher Überblick über das Phänomen der Postmoderne, das in sämtlichen Wissenschaften Einzug gehalten hat, ist nicht zielführend. Stattdessen sollen die Theorien jener postmodernen Forscher und Forscherinnen im Vordergrund stehen, die ihre Beobachtungen konkret auf die Medien Literatur und Film bezogen haben. Dazu gehören Fredric Jameson, Linda Hutcheon, Keith Booker und Jens Eder. Nachfolgend wird Quentin Tarantino als Filmschaffenden ein kurzes Kapitel gewidmet, in dem sein prägnanter Stil und die mediale Rezeption seiner Filme dargestellt werden. An die vier Filmanalysen anknüpfend folgt schließlich eine Schlussbetrachtung, in der die Befunde resümiert, und weitere interpretative Zugänge, Perspektiven und alternative Forschungsrichtungen in Aussicht gestellt werden.
Die Postmoderne ist ein Konzept, das heutzutage zu nahezu jeden medialen und kulturellen Fachbereich durchgedrungen ist, dessen Bedeutungen und Implikationen aber je nach Bereich stark variieren. Transdisziplinäre Gemeinsamkeiten der Postmoderne lassen sich folglich nur schwer definieren, zumal die Postmoderne in der breiten Rezeption oftmals für die Beschreibung aller Sachverhalte, die “moderner als modern” erscheinen, verwendet wird (Woods 1999: 3). So hat die Postmoderne für die Architektur eine andere Bedeutung als für die Literatur.
Im buchstäblichen Sinne ist die Postmoderne, wie zuvor angedeutet, die Epoche “nach der Moderne” (lat. post = ‘nach’). Eine rein chronologisch ausgerichtete Definition der Postmoderne als eine Folgeepoche der Moderne ist jedoch zu banal und greift zu kurz. Es herrscht Einigkeit darüber, dass die Postmoderne nicht losgelöst von der Moderne zu betrachten ist, da sie sich kritisch mit ihr auseinandersetzt und eine Vielzahl ihrer Gesetze und Konventionen umkehrt. Von Gegnern wird die Postmoderne dafür kritisiert, dass sie sich auf der einen Seite der Moderne gegenüber subversiv positioniert, dabei aber zum Teil genau jene Merkmale aufgreift, die sie an der Moderne kritisiert (vgl. ebd.: 12). Auch Tim Woods merkt an, dass die Postmoderne durch ähnliche Charakteristiken gekennzeichnet ist wie die Moderne; der Unterschied liege derweil in der Selbstreflexion und im Umgang mit den Charakteristiken, welche in der Moderne oft mit einem reumütigen Blick in vergangene Epochen bedauert, in der Postmoderne jedoch zumeist bereitwillig aufgegriffen werden (vgl. ebd.: 8f.).
Kennzeichnend für die Postmoderne ist die Ablehnung einer allumfassenden Vernunft, die eine zentrale Lehre der Aufklärung darstellt. Damit einher geht eine Absage an einen unendlichen Fortschritt des Wissens, an eine universelle Moral und an rational agierende Subjekte mit stabilen Identitäten (vgl. ebd.: 11). Ferner befasst sich die Postmoderne mit der Demystifizierung von patriarchalen, imperialistischen und humanistischen Strukturen (vgl. ebd.: 13). Im Gegensatz zur Moderne ist die Postmoderne anti-essentialistisch, ihr Charakter stets fragmentiert und schwer zu fassen. Postmodernes Wissen ist oft provisorisch und kontextabhängig, weshalb einheitliche Definitionen nicht möglich erscheinen (vgl. ebd.: 14).
Die Grundzüge postmodernen Denkens lassen sich bis zum Schaffen Friedrich Nietzsches (u.a. Genealogie zur Moral )3 zurückführen und wurden durch die Philosophie von Michel Foucault4 und Jacques Derrida ( Dekonstruktion5, Grammatologie6 ) weiter ausgebaut. Doch es dauerte bis 1979, bis der Begriff der Postmoderne in Jean-François Lyotards Studie La condition postmoderne erstmals in einem philosophischen Kontext rezipiert wurde. Lyotards diagnostizierte in der Postmoderne eine Skepsis gegenüber Metanarrativen, also ordnungsstiftenden Konzepten, die beanspruchen, die Realität in Gänze erklären zu können, darunter Religionen, politische Ideen wie der Kommunismus oder auch der Fortschrittsgedanke der Aufklärung. An die Stelle der großen Erzählungen treten in der postmodernen Gesellschaft nach Lyotard eine Vielzahl an kleinere, alternative und lokale Mikronarrative ( petit histoires ), die sich für die Erklärung einzelner Sachverhalte eignen, aber keinen universalen Totalitätsanspruch hegen; Wissen könne ohnehin nur unvollständig und fragmentiert bleiben (vgl. Lyotard 1979, zitiert nach Woods 1999: 21). Moderne Diskurse versuchen einen Konsens herzustellen, den es nach Lyotard niemals geben kann und welche die alternativen Diskurse unterdrücken (vgl. ebd.: 20). Die intellektuellen Leistungen der Zukunft können vielmehr aus Heterogenität, Pluralismus und Innovationen hervorgehen, sie bedürfen keinen Konsens, sondern lediglich der Freiheit, aus einer Pluralität von Sichtweisen und Überzeugungen zu wählen (vgl. ebd.: 23). Die Postmoderne betrachtet Lyotard indessen nicht als eine zeitlich definierte Ära, sondern als eine skeptische Grundhaltung gegen Metanarrative, die innerhalb der Moderne fortwährend hervorbricht (Constable 2015: 35). Im ästhetischen Sinne suche die Postmoderne nach Darstellungsformen, die zum Ziel haben, ein stärkeres Bewusstsein für das Undarstellbare zu vermitteln (ebd.). Ein Postmodernes Werk ordnet sich, so Lyotard, keinen etablierten Regeln unter und entzieht sich somit der gängigen Beurteilungskriterien, die in der Moderne an einen Text gestellt werden. Stattdessen strebe das Werk danach, seine eigenen Regeln zu schaffen (ebd.).
Zwei Jahre nach der einflussreichen Studie Lyotards veröffentlichte Jean Baudrillard das Werk Simulacres et Simulation, in dem er den Schwerpunkt mehr auf die Wirkung der Medien legte und ein pessimistisches Bild der Postmoderne zeichnete. In seinem Werk von 1981 befasst er sich mit dem Verhältnis von Realität, Symbolik und Gesellschaft. Nach Auffassung von Baudrillard ist die Postmoderne eine Ära der Simulationen und Scheinbilder, die der Realität näher sind als die Realität selbst. Die Grenzen zwischen Simulation und Realität sind verschwommen, die authentische Erfahrung der realen Welt ist verloren gegangen. Gleichzeitig haben Zeichen den Bezug zum Bezeichneten verloren, hinter der Simulation verbergen sich keine Wahrheiten, sondern lediglich deren Nicht-Existenz. Diesen Zustand beschreibt Baudrillard als Hyperrealität (vgl. Baudrillard 1981, zitiert nach Woods 1999: 26). Das Fernsehen ist, so Baudrillard, Verkörperung der postmodernen Ästhetik und des Hyperrealen. Orte oder Objekte werden bildgewaltig beworben, ihr wahrer Charakter und etwaige Probleme verschleiert (vgl. ebd.: 27). Beispiele für Hyperrealität findet Baudrillard in unterschiedlichen kulturellen Bereichen: So führt er unter anderem Computersimulationen, Schaufensterpuppen oder Disneyland als Beispiele für Hyperrealitäten an (vgl. ebd.). Angesichts seines Fokusses auf die Technisierung der Gegenwart vergleicht Baudrillard auch das postmoderne Subjekt mit einer rein visuellen Oberfläche, einem Hologramm, dem es an innerer Tiefe und Unterbewusstsein fehlt (vgl. Baudrillard 1981, zitiert nach Constable: 52). Seine Theorie der Hyperrealität wendet Baudrillard folgerichtig auch auf postmoderne Filme an. Diese seien Rekonstruktionen von bereits durch vorangegangene filmische Bilder oder Fotografien konstruierten Vergangenheiten. Mit anderen Worten: Wiederverwertungen von Bildern mit dem Vorsatz, echte vergangene Realitäten darzustellen (vgl. ebd.: 53). Ferner führt er aus, das postmoderne Kino sei gekennzeichnet von der Abstinenz des Magischen oder einer mythischen Kraft. Es strebe nach technischer Perfektion auf Kosten von tiefgründigen Charakteren und Plots sowie der Einbeziehung des Publikums. Baudrillard merkt an: “Cinema has become a spectacular demonstration of what one can do with the cinema, with pictures” (Baudrillard, zitiert nach Gane 1993: 23). Psychologie, Moral und Emotionen blieben dabei jedoch aus (vgl. Baudrillard 1994: 46).
Einer der meistzitierten Kritiker der Postmoderne ist Fredric Jameson. Genau wie Baudrillard führt Jameson den Begriff der Oberflächlichkeit ( surface ) als postmodernes Kennzeichen an, das jeglichen Tiefgang annihiliert (vgl. Jameson 2008: 12). Die Postmoderne sei ein Zustand, in dem stilistische sowie sprachliche Normen gebrochen, traditionelle Grenzen überschritten werden. Insbesondere kapitalistische Staaten seien heute ein Feld stilistischer und diskursiver Heterogenität ohne Normen (vgl. ebd.: 17), was Jameson im Gegensatz zu Lyotard kritisch sieht. Jamesons postmoderne Theorie thematisiert insbesondere der Umgang mit Zeitlichkeit. Der zeitliche Verlauf von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart erzeuge eine Signifikantenkette (signifying chain). In der Postmoderne sei der lineare zeitliche Verlauf nicht mehr erkennbar, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart seien miteinander verwoben, die Verbindungen der Signifikantenketten getrennt. Für das postmoderne Subjekt bedeutet das konkret, dass es die Zeit als eine Reihe von unzusammenhängenden Gegenwarten wahrnimmt (vgl. ebd.: 27). Es sei nicht imstande, Informationen zu organisieren und zeitlich einzuordnen. Jameson bezeichnet diesen Zustand als Schizophrenie nach dem Vorbild von Jacques Lacan, dessen Definition er weitestgehend übernommen und – weniger diagnostisch als beschreibend – auf die Postmoderne übertragen hat (vgl. ebd.: 26). Moderne Empfindungen wie Furcht (anxiety) und Entfremdung ( alienation) seien auf das postmoderne Subjekt nicht mehr anwendbar, denn das autonome, bürgerliche Individuum sei tot und mit ihm der individuelle Stil. Das Subjekt ist nicht mehr psychopathologisch zu betrachten. Durch die Dezentrierung des Subjekts wird dieses nicht nur von der Angst, sondern von jedweder anderen Emotion befreit, da es kein Selbst mehr gibt, welches diese Emotionen zum Ausdruck bringen kann. Diesen Zustand beschreibt Fredric Jameson als waning of affect (ebd.: 14f.). Jameson erkennt ein Scheitern postmoderner Künstler darin, ihre Rezipienten herauszufordern, in ihren Werken eine kritische Distanz herzustellen, durch welche der Rezipient sein eigenes Leben reflektieren kann. Mit dem Niedergang der Moderne, so Jameson, ging auch das individuelle Subjekt und die Kunst als Ausdrucksform persönlicher Visionen zugrunde (vgl. Constable 2015: 62). Postmoderne Werke oszillieren, so Jameson, nahtlos zwischen unterschiedlichen Genres und unterscheiden dabei nicht zwischen hohen und niederen Kunstformen, sondern vereinen sie (vgl. ebd.: 63).
Besondere Beachtung schenkt Jameson auch dem postmodernen Film. Ein prägendes Stilmittel des postmodernen Films sei der Pastiche, also eine Nachahmung von Werken früherer Künstlerinnen und Künstler. Der Pastiche ist dabei von der Parodie zu unterscheiden, welche seine Bezugswerke satirisch rezipiert. Während Jameson der Parodie wohlwollend gegenübersteht, da es seinen humoristischen Effekt durch Abweichungen von bestehenden Normen erzeugt, positioniert er sich dem Pastiche gegenüber kritisch:
Pastiche is, like parody, the imitation of a peculiar or unique, idiosyncratic style […]. But it is a neutral practice of such mimicry, without any of parody’s ulterior motives, amputated of the satiric impulse, devoid of laughter and of any conviction that [...] some healthy linguistic normality still exists. Pastiche is thus blank parody, a statue with blind eyeballs. (Jameson 2008: 17)
Der Pastiche gehe ferner häufig einher mit dem Verlust von Geschichte und ihrer akkuraten Darstellung. Dazu komme der Verlust der Fähigkeit, die Gegenwart als eine eigene historische Epoche zu begreifen. Aus dem Grund gebe es viele Filme, die in der Vergangenheit spielen, diese aber nicht authentisch, sondern primär ästhetisch abbilden. Aus modernen Stilen werden postmoderne Codes (vgl. ebd.: 17). “Tote” Stile, die nicht einer unverfälschten historischen Realität entnommen sind, sondern vielmehr eines imaginären Museums der heutigen, globalen Kultur, werden imitiert. Genau wie Baudrillard verwendet Jameson den Begriff des Simulacrums, eine Kopie, dessen Original nie existiert hat (vgl. ebd.: 18). Die Intertextualität, die den postmodernen Werken inhärent ist, diene dementsprechend auch nur als ein ästhetischer Effekt, der eine pseudohistorische Tiefgründigkeit erschaffe (vgl. ebd.: 20). Der Versuch, ein Bewusstsein für das Lebensgefühl der dargestellten Zeit zu entwickeln, sei von einer merkwürdigen Ziellosigkeit gekennzeichnet, die Filme verlieren sich in einer Faszination für üppige, aufwendige Bilder der Vergangenheit (vgl. ebd.: 286). Grundsätzlich diene die zeitliche Verortung von postmodernen Filmen in der Vergangenheit im Wesentlichen dazu, Themen der Gegenwart in verfremdeter und mittelbarer Weise darstellen zu können. Diese Filme seien somit keine Repräsentationen vergangener Zeiten, sondern Repräsentationen und Wahrnehmungen der Gegenwart als Vergangenheit (vgl. ebd.: 284). Typisch für die Postmoderne seien zudem Filme, die beanspruchen, in der Gegenwart zu spielen, deren Ästhetik jedoch an vergangene Dekaden angelehnt ist. Diese werde vor allem durch glanzvolle Bilder ( glossy images ) und modische Wiedererkennungsmerkmale erzeugt (vgl. ebd.: 19). Sowohl Filme, die die Vergangenheit darzustellen versuchen als auch Filme, die Elemente der Vergangenheit in einer Handlung der Gegenwart integrieren, bezeichnet Jameson als nostalgia films (vgl. Woods 1999: 242).
Genauso wie Jameson befasst sich auch Linda Hutcheon mit dem Verhältnis der Postmoderne zur Vergangenheit, doch sie spricht der Postmoderne eine produktive Kraft zu. Eine unverfälschte Geschichtlichkeit (genuine historicity), an deren Darstellung die Postmoderne nach Jameson scheitere, sei per se nicht existent (vgl. Hutcheon 1988: 89). Geschichtsschreibung sei zwangsläufig bis zu einem gewissen Grad ideologisch (vgl. ebd.: 91), abhängig von der Perspektive des Schreibenden und durch den Einfluss situativer Diskurse verfärbt (vgl. ebd.: 92). Historische Fakten liegen ferner immer schon einer Interpretation zugrunde, womit sie an Foucaults Theorien zur Wissensproduktion durch Herrschaft anknüpft (vgl. ebd.: 97). In Werken der Postmoderne, so Hutcheon, wird die Geschichte neu gedacht und als menschliches Konstrukt herausgestellt (vgl. ebd.: 16). Die Postmoderne ist nach Hutcheon nicht ahistorisch oder, wie Jameson glaubt, nostalgisch, sondern bewertet die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart neu und tritt in einen Dialog mit ihr ein (vgl. ebd.: 19). Hutcheon hat das Konzept der historiographischen Metafiktion geschaffen. Damit bringt sie Geschichte und Fiktion zusammen. Beide errichten Bedeutungssysteme, durch denen ein Sinn für die Vergangenheit geschaffen wird (vgl. ebd. 89), denn es sind beides Konstrukte (vgl. ebd.: 93). Die Fiktionalisierung geschichtlicher Ereignisse oder Epochen schärft erst den Sinn für deren Eigen- und Besonderheiten (vgl. ebd.: 89), sie repräsentiert die Vergangenheit, um sich damit die Gegenwart zu erschließen (vgl. ebd.: 110). Historiographische Metafiktion reflektiert seinen Status als fiktives Werk, verarbeitet aber zugleich geschichtliche Ereignisse und Personen (vgl. ebd.: 114). Des Weiteren wird in der historiographischen Metafiktion häufig die Perspektive von marginalisierten Personengruppen eingenommen, womit die Erkenntnisse der aus dem Machtzentrum verfassten Geschichtsschreibung angefochten werden (vgl. ebd.: 61).
Für Hutcheon ist die perfekte postmoderne Ausdrucksform jene der Parodie. Dabei beschränkt sie sich nicht auf die verbreitete Definition von Parodie als eine lächerliche Nachahmung, sondern sieht darin eine kritische Form der Nachahmung, die inmitten ihrer Ähnlichkeiten unter anderem durch die Nutzung von Ironie auf Unterschiede verweist (vgl. ebd.: 26). Oftmals werden dabei geschlechtsspezifische oder kulturelle Assoziationen untergraben (vgl. ebd.: 64).
Die Werke der Postmoderne seien unvermeidbar politisch. Sie hinterfragen Hierarchien, essentialistische und totalisierende Systeme, verfügen über eine subversive Kraft (vgl. ebd.: 41). Sie überschreiten als gegeben angenommene Grenzen und lassen zugleich die Grenzen zwischen unterschiedlichen Genres verschwimmen (vgl. ebd.: 9). Dabei werden auch höhere und niedere Kunstformen ( high and low arts ), die in der Moderne unvereinbar schienen, vereint. Paradoxerweise bedient sich die Postmoderne dominanter Systeme, Diskurse und Konventionen zunächst, um sie anschließend zu destabilisieren und in Frage zu stellen (vgl. ebd.: 20). Hutcheon nutzt dafür wahlweise die gegensätzlichen Begriffspaare use/abuse und inscribe/subvert. Postmoderne Kunst, ob Literatur oder Film, kann die dominante, weiße und männliche Kultur nicht ablehnen, da sie selbst von ihren Strukturen abhängig ist. Diese Abhängigkeit zeigt sie, indem sie sich ihrer bedient ( use/inscribe ), sie jedoch durch Mittel wie etwa Ironie missbraucht ( abuse/subvert ), um damit ihre Auflehnung gegen das System zum Ausdruck zu bringen. Die postmoderne Intertextualität ist nach Hutcheon die Manifestation eines Wunsches, die Lücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schließen und die Vergangenheit beziehungsweise die Motive des Bezugswerkes in einen neuen Kontext zu setzen (vgl. ebd.: 118). Hutcheon erkennt in der postmodernen Intertextualität also auch eine Form des politischen Schreibens, das den Leser mit einbezieht und ihn dazu auffordert, nicht nur intertextuelle Spuren der Vergangenheit zu erkennen, sondern auch zu erkennen, wie sie verändert wurden (vgl. ebd.: 127).
Keith Bookers Interpretation der Postmoderne baut auf wesentlichen Elementen der Auffassung Jamesons und Baudrillards auf. Auch er diagnostiziert eine Instabilität und eine fehlende Tiefe des postmodernen Subjekts. (vgl. Booker 2007: XV). Jamesons Anmerkungen zum Schwinden der Moral fügt er einen fehlenden Glauben an die Wirksamkeit von Botschaften und tiefgehenden Bedeutungen hinzu (vgl. ebd.: XIV). Diese nihilistische Auffassung, dass der Gegenwartszustand unveränderlich sei, habe jegliche utopischen Visionen zunichte gemacht (vgl. ebd.: XV). Zwar könnten postmoderne Filme den Kapitalismus und die Konsumgesellschaft kritisieren, scheitern aber daran, eine bessere, alternative Gesellschaftsform aufzuzeigen, wodurch ihre Kritik unverfänglich bleibe (vgl. ebd.: 29). Die Repräsentation vergangener Dekaden in postmodernen Filmen beziehen sich nach Booker immerzu auf kulturelle Elemente, die einer Zeit zugerechnet wird, nicht aber auf tatsächlich Historisches (vgl. ebd.: 29). Die postmoderne Nostalgie ist somit historisch unspezifisch – dazu zählt Booker auch den oft sehr heterogenen und teils anachronistischen Soundtrack von postmodernen Filmen (vgl. ebd.: 55). Booker befasst sich konkret mit dem Phänomen der Fragmentierung in der Postmoderne und ihren desorientierenden und deskontinuierlichen Effekten. Fragmentierung bedeutet nach Booker zum einen eine hohe Frequenz an Schnitten und das daraus resultierende Gefühl von Hektik und Geschwindigkeit, was laut Booker durch die Musikvideokultur popularisiert wurde (vgl. ebd.: 1). Damit werde häufig dem zunehmenden Rückgang des narrativen Antriebes entgegengewirkt, den Booker in der Postmoderne zu erkennen glaubt (vgl. ebd.: 9). Zum anderen bezieht sich Booker auf die fragmentierte Narration: Dabei greift er auf den zuvor von Alissa Quart geschaffenen Begriff des hyperlink cinema zurück, das typisch für die Postmoderne sei. Filme des hyperlink cinema weisen mehrere Subplots auf, die in keiner Hierarchie zueinanderstehen, zwischen denen der Film stetig hin und her wechselt und dem Zuschauer das Gefühl gibt, er kann, wie im Internet, von einem Tab zum Nächsten wechseln, um stetig neue Inhalte zu konsumieren (daher hyperlink ) (vgl. ebd.: 12). Durch seine Multiperspektivität ermögliche das hyperlink cinema ein cognitive mapping, durch das der Zuschauer die komplexen Zusammenhänge einzelner Handlungen nachvollziehen könne (vgl. ebd.: 19). Hyperlink cinema berge das Potenzial, die Komplexität zwischenmenschlicher Dramen besser abzubilden als es Filme könnten, die nur einen einzigen Plot besitzen (vgl. ebd.: 14).
Einen großen Beitrag zur deutschsprachigen Forschung der Postmoderne hat Jens Eder geleistet. Im Gegensatz zu Jameson, der die Postmoderne als eine kulturelle Dominante betrachtet, legt Eder den Fokus auf ästhetische Attribute. Er unterscheidet zwischen vier Merkmalen: Intertextualität, Selbstreferenzialität, Spektakel & Ästhetisierung und Anti-Konventionalität. Die Intertextualität könne verschiedene Gestalten annehmen, ihre Vorbilder transformieren, dekonstruieren oder permutieren (Eder 2002: 12). Die intertextuellen Spuren rekurrieren nicht allein auf den bildungsbürgerlichen Kanon, sondern vor allem auf gering geschätzte Sparten, insbesondere B-Movies (ebd.: 13). Oftmals werden die intertextuellen Bezüge ironisiert und doppelt kodiert. Das bedeutet, dass sie mehrere Deutungsweisen zulassen, der Zuschauer die Referenz nicht zwingend erkennen muss, um der Handlung folgen zu können (vgl. ebd.: 16). Die doppelten Kodierungen animieren den Rezipienten dazu, einen Film mehr als einmal zu schauen, um neue interpretative Zugänge zu erhalten (vgl. ebd.: 45). Eder bezeichnet die Filme der Postmoderne als „Schizophrenie-Maschine“, die durch ihre doppelten Kodierungen mehrere Zielgruppen ansprechen können. Die Intertextualität versuchen die postmodernen Filme nicht zu verbergen, sondern sie zu betonen und herauszustellen. Die Filme weisen eine „demonstrative Künstlichkeit“ auf, die sich unter anderem in unkonventionellen Kamerabewegungen, Farbdramaturgien oder auffälligen Designs von Gegenständen äußern können. Der Bruch der Illusion wird durch Schaueffekte, Schocks oder einer technischen Perfektionierung auf visueller und akustischer Ebene kompensiert (vgl. ebd.: 21).
Unter Spektakularität und Ästhetisierung versteht Eder unter anderem „auffällige Ausstattung, bizarre Schauplätze und Schockeffekte, die ein von ein eigentlichen Erzählstrang ablösbares Eigenleben entwickeln können“ (ebd.: 19). Im Vergleich zur narrativen Dramaturgie gestehen postmoderne Filme spektakulären und audiovisuellen Attraktionen einen höheren Stellenwert zu. Die These, die Handlung sei für die postmodernen Regisseure lediglich Mittel zum Zweck, spektakuläre Sequenzen einbauen zu können, lehnt er jedoch ab (vgl. ebd.). Die Anti-Konventionalität, die Eder als ein Bestandteil der postmodernen Ästhetik erachtet, bezieht sich insbesondere auf dekonstruierte Handlungsabläufe und auf die Unterwanderung von audiovisuellen Darstellungskonventionen (vgl. ebd.: 22). Die Erzählmittel sollen auf spielerische Weise erweitert, die Zuschauererwartungen gebrochen werden (vgl. ebd.: 23). Thematische Schwerpunkte postmoderner Filme umfassen die Auflösung von Identität in Verbindung mit dem technischen Fortschritt und die Hinterfragung von Geschlechterrollen, motivische Tabubrüche jedweder Art sowie Sex und Gewalt. Gerade letzteres werde durch Kontrastierung mit Banalitäten in seiner Wirkung entschärft und wirkt dadurch grotesk (vgl. ebd.: 24).
Im September 2018 wurde Quentin Tarantino eine besondere Ehre zuteil: Die Oxford University Press nahm die mediale Wortschöpfung tarantinoesque offiziell in ihr Wörterbuch auf. Eine Ehre, die im Zuge dessen auch seine Regisseur-Kollegen David Lynch ( lynchian ) und posthum Stanley Kubrick ( kubrickian ) erfuhren (Oxford University Press 2018). Es ist ein Indiz für den hohen Wiedererkennungswert seiner Filme und für die enorme Popularität, die der Regisseur bei Fans, Medien und Wissenschaftlern genießt. Der Oxford-Definition zufolge gelten jene Filme als tarantinoesque, die den Werken Tarantinos ähneln oder sie imitieren, mit ihren Charakteristiken an sie erinnern. Weiter heißt es: “Tarantino’s films are typically characterized by graphic and stylized violence, non-linear storylines, cineliterate references, satirical themes, and sharp dialogue” (ebd.). Diese kurze und bündige Definition fasst die offenkundigen Merkmale der Filme Tarantinos bereits zusammen, doch im Detail lassen sich noch genauere Differenzierungen vornehmen.
Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier teilen Tarantinos Filmästhetik in drei Oberbegriffe ein: die hybride Erzählweise, Selbstreferenzialität sowie Komik und Gewalt (vgl. Kaul/Palmier 2013: 13). Zu der hybriden Erzählweise gehören das Kombinieren unterschiedlicher Genremerkmale sowie intertextuelle Verweise auf Handlungs- und Musikebene und im gesprochenen Wort (vgl. ebd.: 14). Ein weiteres Merkmal der tarantinoesken Erzählweise sei ihre Episodenhaftigkeit. Viele Filme sind in einzelne Episoden aufgeteilt, die sich häufig schon räumlich und audiovisuell klar voneinander abgrenzen, wie es etwa in Kill Bill und Inglourious Basterds der Fall ist (vgl. ebd.: 15f). Einige sind non-linear aufgebaut, die Episoden stark verschachtelt ( Reservoir Dogs, Pulp Fiction, abermals Kill Bill ). Als einen weiteren Baustein der hybriden Erzählweise Tarantinos benennen Kaul und Palmier die Dialogizität. In Tarantino-Filmen gebe es eine Vielzahl an Szenen, in denen sich die Figuren ausgiebig meist über triviale oder popkulturelle Themen unterhalten, ohne dabei die Handlung voranzutreiben. Die Szenen sorgen häufig für Komik, da sie Genrekonventionen unterwandern. Zugleich kämen zuweilen eloquente Figuren vor, die mittels ihrer Wortgewandtheit Macht ausüben, wie etwa Christoph Waltz in Inglourious Basterds (vgl. ebd.: 16). Selbstreferenziell seien Tarantinos Filme insofern, als sie den Film an sich als Konstrukt ausweisen. Kaul und Palmier führen als Beispiel die Gewohnheit Tarantinos an, Schauspieler für Rollen zu auszuwählen, die mehr oder weniger explizit an eine ihrer früheren Rollen erinnern oder ihnen zumindest Szenen schreibt, die auf frühere Rollen hinweisen. Des Weiteren zitiere Tarantino bewusst Kameraeinstellungen und Musikstücke, die mit bestimmten Genres in Verbindung gebracht werden (vgl. ebd.: 17). Eine selbstreferenzielle Fiktionalität erschaffe Tarantino außerdem durch Einblendungen von grafischen Elementen wie Schrifttafeln, durch extradiegetisch eingefügte Pieptöne wie bei Kill Bill oder durch absichtliche Schnittfehler wie in Death Proof (vgl. ebd.: 18) . Der dritte und letzte Oberbegriff, Komik und Gewalt, bezieht sich zum einen auf Erwartungsbrüche; also Gewalt, die nicht wegen ihrer Darstellung, sondern ihrer Plötzlichkeit, Übertriebenheit und Beiläufigkeit witzig wirke, ferner auf komische Dialoge als solche und komische Gewaltdarstellungen wie etwa den absurden Blutspritzfontänen, die in Kill Bill zu sehen sind. Für Tarantino ist Gewalt eine ästhetische Darstellungsform, die Unterhaltungswert schaffen soll. Die dargestellte Gewalt habe dagegen nicht den Anspruch, einen moralischen Standpunkt zu vermitteln (vgl. Peary 1998: 96).
Jörg Helbig geht mit der Definition von Kaul und Palmier konform, ergänzt sie aber um weitere Punkte, die zu Tarantinos Status als “Ikone” beitragen. Dies ist zum einen sein puristischer Ansatz, sich klassischen kinematografischen Techniken zu bedienen, seine Filme auf Zelluloid zu drehen und fast gänzlich auf digitale Hilfsmittel zu verzichten. In einer Zeit, in der sich viele Regisseure mit ihren Produktionen zunehmend Streaming-Diensten zuwenden, bleibt Tarantino dem Kino treu und spielt dessen Potenziale aus, beispielsweise mit der Wiederentdeckung von verjährten Breitbandformaten wie in The Hateful Eight (vgl. Helbig 2020: 6). Tarantino ist heute zudem einer der wenigen auteure, einer der sich für gesamten Schaffensprozess des Filmes hauptverantwortlich zeichnet und nur Drehbücher verfilmt, die aus seiner eigenen Feder stammen. Dadurch erhalten seine Filme einen unverkennbaren Stil (vgl. ebd.: 7). Dies geht so weit, dass Tarantino im Gegensatz zu vielen anderen Regisseuren Wert darauflegt, sogar Gewalt- und Kampfdarstellungen selbst zu inszenieren und zu choreografieren. In einem Interview mit dem Magazin Fangoria sagte er:
I never understood this [notion of] doing an action movie and letting someone else do the action scenes, while you’re directing the exposition. That’s like having sex and letting somebody else have the orgasm. (Timpone 2003: 31)
In Bezug auf die bereits erwähnte Intertextualität der Filme Tarantinos hebt Helbig hervor, dass Tarantino nicht einfach nur Zitate “stiehlt”, sondern sie in neue Kontexte setzt und so etwas genuin Eigenes schafft, was ihn von einem Plagiator unterscheidet (vgl. Helbig 2020: 9).
D. K. Holm merkt an, dass die Filme Tarantinos sowohl den Ansprüchen eines geeks als auch eines Filmkritikers gerecht werden. Ein geek, der Filme aus hedonistischen Motiven und für die Lust an Entdeckungen und trivialen Geschichten schaut, komme bei Tarantino genauso auf seine Kosten wie ein Filmkritiker, der hinter die Oberfläche blicken und interpretieren möchte. Tarantinos Filmwissen sei enzyklopädisch, das gesamte Kino sei eine Ressource, aus der er schöpft. Zugleich verleihe er diesen Ressourcen jedoch neuen Bedeutungsebenen und rekontextualisiert sie (vgl. Holm 2004: 144).
Tarantinos Stil wurde insbesondere in den Jahren nach der Veröffentlichung von Pulp Fiction mehrfach nachgeahmt. Holm nennt unter anderem die frühen Werke von Guy Ritchie, mit denen das Genre des britischen Gangsterfilms wiederbelebt wurde, oder Doug Limans Go (1999), das den Werken Tarantinos in seiner visuellen Ausdruckskraft und narrativen Flair besonders nahekomme. Dazu kommen weniger geglückte Parodien wie Plump Fiction (1997). Selbst Filme, die stilistisch keine Ähnlichkeiten zu jenen von Tarantino haben, wie etwa The Last Days of Disco (1998), haben einzelne Merkmale Tarantinos – belanglose Diskussionen über popkulturelle Themen – integriert. The Way of the gun (2000) wurde aufgrund seiner Gewalt und vulgärer Sprache ebenfalls mit Filmen Tarantinos verglichen, von den Kritikern aber eher negativ aufgenommen (ebd.: 143). Der Einfluss Tarantinos auf das internationale Kino beschränkt sich nicht nur auf einzelne Filme, sondern auch auf die Karrieren einiger beinah in Vergessenheit geratener Schauspieler, wie John Travolta und Robert Foster, die nach ihren Rollen in Tarantino-Filmen wieder häufiger und teils für ähnliche Rollen gecastet wurden. Zugleich liege ein Verdienst Tarantinos darin, unbekannte Werke und Regisseure der Vergangenheit, wie etwa der Exploitation-Regisseur Jack Hill nachträglich mehr Popularität verschafft zu haben (ebd.).
Man erinnert sich an die ganze Serie von Paradigmen, durch die sich damals das Neue vom Alten absetzte und das Frische vom Abgestandenen: [...] Die Idee, dass das Kino eher eine Leidenschaft als ein Handwerk sei und dass man das Filmemachen besser als Kinogänger denn als Regieassistent lernt. (Daney, zitiert nach Blümlinger 2000: 33)
You don't have to know how to make a movie. If you truly love cinema with all your heart and with enough passion, you can't help but make a good movie. (Tarantino 2002: 07:38-07:51)
Ein Altersunterschied von 19 Jahren lag zwischen dem bereits 1992 verstorbenen Serge Daney, Verfasser des ersten Zitates und Quentin Tarantino, der sich für das zweite Zitat verantwortlich zeichnet. Trotz des Generationsunterschieds steckt hinter den Zitaten eine identische Auffassung davon, worauf es beim Dreh eines Filmes ankommt. Serge Daney war einer der hauptverantwortlichen Autoren des Cahiers du cinéma, jenem französischen Filmmagazin, in dem die rebellische Bewegung der Nouvelle Vague ihren Ursprung nahm (vgl. Grob/Kiefer 2006: 8). Denn jene Erfolgsregisseure, darunter Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Jacques Rivette und Eric Rohmer, die in den Sechzigerjahren die Nouvelle Vague begründen, prägen und die heimische Filmindustrie drastisch verändern sollten, waren wenige Jahre zuvor Filmkritiker des erwähnten Filmmagazins und äußerten beständig ihren Unmut gegenüber dem zeitgenössischen französischen Kino (vgl. ebd.: 11). Rivette bezeichnete es als “Kino des rhetorischen Diskurses”, in welchem sich “alles den vielseitig verwendbaren Formeln, zu Stereotypen für jeden Zweck erstarrt, beugen” müsse (ebd.: 8). Truffaut beklagte dagegen die komplizierten Beleuchtungseffekte und die “geleckte” Fotografie. Die Filmkritiker sprachen sich gegen das Konventionelle und Allseitsbekannte aus und appellierten an ein neues, innovatives Kino (vgl. ebd).
Ihrer Idee, Filme zu erschaffen, lag ein Streben nach Authentizität zugrunde. Godard beschrieb es wie folgt: “Wir können euch nicht verzeihen, dass ihr nie Mädchen gefilmt habt, so wie wir sie mögen, Jungen, denen wir täglich begegnen [...], kurz, die Dinge so wie sie sind” (Godard 1971: 146). Der Film müsse sich den Illusionen der Studios entziehen und das Leben auf der Straße repräsentieren. Dabei sollte der Autor gegenüber dem Produzenten wieder in den Vordergrund rücken und mehr Würdigung als Künstler erfahren (vgl. Grob/Kiefer 2006: 10), denn er schreibe mit der Kamera “wie ein Schriftsteller mit seinem Federhalter” (Astruc 1964: 112). Von maßgeblicher Bedeutung war die Auteur-Theorie, der zufolge der Regisseur (oder auteur ) drei wesentliche Kompetenzen in sich vereinen sollte: die technische Gestaltung, der persönliche Stil und die Erzeugung von innerer Bedeutung (vgl. Caughie 1981: 63 f.). Für die Nouvelle Vague galt zudem die Devise, dass kleines Budget genüge, um großes Kino zu erschaffen (vgl. Grob/Kiefer 2006: 12). Die Regisseure der Nouvelle Vague wollten alte Erzähltechniken wieder entdecken und Neue entwickeln. Sie setzten bei den Zuschauern Kinobildung voraus und die Fähigkeit, Verrätselungen folgen und entwirren zu können. Sie wollten erreichen, dass Zuschauer sich aufgefordert fühlen, die Filme wieder und wieder anzuschauen (vgl. ebd.: 15). Sie sollten in der Lage sein, visuelle Kompositionen als solche und in ihrer Konstruiertheit zu erkennen und filmische Details wahrzunehmen (vgl. ebd.: 17).
Was die filmische Umsetzung anbelangt, so fällt es nicht leicht, die Werke der Nouvelle Vague auf gemeinsame Nenner zu bringen. Eine der auffälligsten Stilmerkmale betrifft die Kameraarbeit. In den meisten Filmen der Nouvelle Vague wurden leichte, handliche Kameras genutzt, mit denen man die sich fortbewegenden Figuren auf Augenhöhe verfolgen und überdies die Umgebung genauestens erfassen konnte (vgl. Bordwell/Thompson 2013: 486f). Beim Schnitt wurden insbesondere durch sogenannte Jump Cuts Brüche in der Kontinuität erzeugt. Die Plots sind oft gekennzeichnet durch ziellos agierende Protagonisten, deren teils abschweifende Handlungen oft nicht zur Entwicklung des Plots beitragen, die Einbindung von Figuren und Sequenzen, deren Bedeutungen für den Plot sich nicht erschließen sowie mehrdeutige Enden. Die Filme, die sich auf den Pfaden von Genres wie dem Drama oder Gangsterfilm bewegen, verfügen meist dennoch über humoristische Szenen, es werden also Genre-Elemente miteinander verwoben. Außerdem sind Referenzen auf vergangene Filme und Schauspieler nicht selten (vgl. ebd.: 487).
Einige der aufgeführten Charakteristiken lassen sich auf dem ersten Blick auch bei Tarantino und seinen ersten Filmen, Reservoir Dogs und Pulp Fiction, wieder entdecken. Tarantino drehte beide Filme fast in Gänze an Originalschauplätzen (Delion, o. D.: Pulp Fiction ) mit kleinem ( Pulp Fiction 7) beziehungsweise sehr kleinem ( Reservoir Dogs 8) Budget. Tarantino ist seit jeher ein Autorenfilmer und bei beiden Filmen sowohl für das Drehbuch als auch für die Regie verantwortlich gewesen. Er verwendete sowohl in Reservoir Dogs als auch in Pulp Fiction vom klassischen Hollywood-Kino abweichende Erzähltechniken, eine stark verschachtelte, non-lineare Anordnung der Sequenzen. Damit fordert er die Zuschauer heraus, genauso wie mit Rätseln, die ungelöst bleiben.9 Die Kamera ist oft nah an den Figuren, folgt ihnen manchmal über weite Strecken. Figuren verfolgen nicht durchgängig ein Ziel, sondern gehen auch mal alltäglichen Handlungen nach und werden so als Charaktere beleuchtet, ohne initiativ die Handlung voranzutreiben. Im Fall von Pulp Fiction lässt sich konstatieren, dass dieser Genre-Grenzen überschreitet und dass Humor auf unterschiedliche Weisen eingesetzt wird. Die Intertextualität, insbesondere zur Popkultur, ist womöglich das größte Erkennungsmerkmal der Filme Tarantinos.
Die Nähe Tarantinos zur Strömung der Nouvelle Vague in stilistischer und narrativer Hinsicht in seiner Anfangszeit als Regisseur soll im nächsten Kapitel vertiefend und anhand konkreter Beispiele untermauert werden. Dazu wird Pulp Fiction, Tarantinos bis heute bekanntester Film , den Filmen Tirez sur le pianiste von François Truffaut sowie À bout de souffle, Vivre sa vie und Bande à part von Jean-Luc Godard gegenübergestellt und Ähnlichkeiten auf Handlungs- und Figurenebene und in der Mise en Scène bis hin zu direkten intertextuellen Verweisen aufgezeigt. Anschließend wird auf weitere postmoderne Charakteristiken von Pulp Fiction hingewiesen, wie der fragmentierten Erzählweise und der Multiperspektivität, die Pulp Fiction von der Nouvelle Vague abheben und den Film somit zu einer postmodernen Bearbeitung von Nouvelle-Vague -Motiven und -themen macht.
Zunächst einmal soll die Handlung von Pulp Fiction wiedergegeben werden. Wie im vergangenen Kapitel angemerkt, ist die Erzählweise des Filmes non-linear. Die erzählte Zeit beträgt vier Tage und diese vier Tage werden in mehreren Zeitsprüngen und wechselnden Figurenkonstellationen und Schauplätzen erzählt. Die Ereignisse der Eröffnungsszene wirken lange isoliert und werden erst in der letzten Szene aufgegriffen und kontextualisiert, sodass die Anfangs- und Endszene den Film in gewisser Weise umklammern. Die Szenen zwischen dem Anfang und dem Ende werden erst sukzessive miteinander in Relation gesetzt. Zum besseren Verständnis wird der Inhalt chronologisch wiedergegeben.
Die Gangster Jules Winnfield (Samuel L. Jackson) und Vincent Vega (John Travolta) fahren im Auftrag ihres Bosses Marsellus Wallace (Ving Rhames) zu einem Apartment, in dem sich ehemalige Geschäftspartner von Marsellus aufhalten, die allerdings in dessen Ungnade gefallen sind, da sie ihn bestohlen haben. Jules und Vincent erschießen sämtliche Bewohner des Apartments abgesehen von Marvin (Phil LaMarr), der offenbar als ein Spitzel Marsellus’ vor Ort war. Einer der Bewohner hatte sich zuvor in einem Nebenraum versteckt und stürmt bewaffnet in das Wohnzimmer, um Jules und Vincent zu erschießen. Seine Schüsse aus naher Entfernung verfehlen die überraschten Jules und Vincent jedoch, sodass diese auch ihn töten können. Diesen Vorfall deutet Jules später als göttliches Eingreifen und als Zeichen, seinen Job als Auftragsmörder an den Nagel zu hängen. Der Auftrag von Marsellus sah neben der Ermordung der Geschäftspartner auch die Mitnahme seines in der Wohnung befindlichen gestohlenen Koffers vor, dessen leuchtender Inhalt nicht offenbart wird. Jules und Vincent verlassen mit dem geheimnisvollen Koffer und Marvin die Wohnung. Während der Autofahrt erschießt Vincent versehentlich Marvin, woraufhin der ganze Innenraum des Autos und die Kleidung beider mit Blut bespritzt wird. Da sie mit dem verunreinigten Auto Aufsehen erregen würden, fährt Jules zu seinem Freund Jimmie (Quentin Tarantino), der Winston Wolf (Harvey Keitel) zur Hilfe ruft, welcher ihnen bei der Reinigung des Autos und ihrer selbst hilft. Das Auto samt der Leiche entsorgen sie auf einem Schrottplatz. Anschließend gehen Jules und Vincent in einem Diner frühstücken. Zur selben Zeit frühstücken dort auch das Verbrecherpaar Yolanda (Amanda Plummer) und Ringo (Tim Roth), die sich nach einer kurzen Unterhaltung dazu entscheiden, das Diner zu überfallen (dies ist die erste Szene des Filmes). Als sich Ringo zu Jules begibt, um ihn mit Waffengewalt zur Abgabe seines Portemonnaies zu zwingen, gelingt es Jules, Ringo die Waffe zu entwenden und sie gegen ihn zu richten. Jules schüchtert Ringo und Yolanda derart ein, dass diese ihren Überfall nicht fortführen, verschont sie allerdings und überlässt ihnen sogar sein Geld. Jules und Vincent verlassen das Diner, was das Ende des Filmes markiert. Noch am selben Tag besuchen Jules und Vincent ihren Boss Marsellus. Erstmals tritt der Boxer Butch (Bruce Willis) in Erscheinung, der auch in einem Geschäftsverhältnis zu Marsellus steht. In einem Vieraugengespräch überzeugt Marsellus ihn vermeintlich davon, seinen nächsten Kampf absichtlich zu verlieren.
Am zweiten Tag besucht Vincent einen befreundeten Drogenhändler Lance (Eric Stoltz) und kauft ihm Heroin ab. Da Marsellus Wallace verreist ist, hat er Vincent zuvor darum gebeten, seiner Frau Mia (Uma Thurman) einen Abend lang Gesellschaft zu leisten. Vincent besucht sie in ihrem Haus und gemeinsam fahren sie in ein Lokal, in dem sie sich besser kennenlernen, gemeinsam essen und an einem Tanzwettbewerb teilnehmen. Als sie anschließend wieder bei Mia zuhause sind, bahnen sich zwischen den beiden Intimitäten an. Dazu kommt es allerdings nicht, weil Mia das Heroin von Vincent für Kokain hält, es schnupft und zusammenbricht. Panisch fährt Vincent mit der bewusstlosen Mia zu Lance, der ihm eine Adrenalinspritze reicht. Vincent versetzt Mia damit eine Injektion ins Herz und rettet ihr so das Leben.
Am darauffolgenden Tag bricht Butch die Vereinbarung mit Marsellus, indem er seinen Boxkampf nicht nur gewinnt, sondern dabei seinen Gegner, so wird es in einem Autoradio berichtet, umbringt. Es stellt sich heraus, dass er selbst Profit aus dem Kampf geschlagen hat, da er im Vorfeld mehrere Wetten auf seinen eigenen Sieg abgeschlossen hat.
Am vierten Tag der Handlung möchte Butch schließlich mit seiner Freundin Fabienne (Maria de Medeiros) die Flucht vor Marsellus antreten, doch Fabienne hat die Taschenuhr von Butch, ein Familienerbstück, in seinem Apartment liegen gelassen, weshalb sich Butch entschließt, nochmal zu seinem alten Apartment zu fahren, wohlwissend, dass es von Marsellus oder seinen Handlangern belagert werden könnte. Das Apartment scheint zunächst leer. Butch ergreift seine Uhr, sieht aber eine Maschinenpistole auf dem Tresen liegen. Vincent kommt unbewaffnet und nichtsahnend aus dem Badezimmer und Butch erschießt ihn mit dessen eigener Waffe. Auf der Autofahrt zurück trifft er an einer Kreuzung auf Marsellus. Als dieser ihn sieht, fährt Butch ihn an und verursacht einen Unfall, aus dem beide schwer verletzt hervorgehen. Butch flieht humpelnd in ein Pfandleihhaus, wo er den hinter ihm heraneilenden Marsellus überwältigt und bewusstlos schlägt, dann jedoch seinerseits vom Besitzer des Leihhauses, Maynard (Duane Whitaker), ausgeknockt wird. Gefesselt und geknebelt wachen Marsellus und Butch im Keller des Ladens auf. Maynard hat sich seinen Kollegen Zed (Peter Greene) hinzugeholt, der sich dazu entschließt, Marsellus in einem Nachbarraum zu führen und zu vergewaltigen. Butch bleibt gefesselt zurück, kann sich aber eigenständig befreien. Hinter dem Kassentresen des Leihhauses findet er ein Katana10, mit dem er in den Raum eindringt, in dem Marsellus vergewaltigt wird, und Meynard absticht. Während er auch Zed mit dem Schwert bedroht, schafft es Marsellus sich zu befreien, eine Waffe zu ergreifen und auf Zed zu schießen. Butch und Marsellus, der in dem Pfandleihhaus bleibt, um den noch lebenden Zed zu foltern, schließen Frieden unter der Bedingung, dass Butch die Stadt dauerhaft verlässt. Er holt Fabienne mit dem Chopper von Zed ab und die beiden fahren davon.
Tirez sur le pianiste von François Truffaut stammt aus dem Jahr 1960 und basiert auf dem Roman Down There von David Goodis (IMDb-Redaktion, o.D.: Tirez sur le pianiste, Trivia). Protagonist des Filmes ist der Pianist Edouard Saroyan (Charles Aznavour), der versucht, seine tragische Vergangenheit, die aus einer gescheiterten Musiker-Laufbahn und dem Selbstmord seiner Geliebten bestand, mit neuer Identität zu verdrängen. Überraschend jedoch tritt sein älterer Bruder Chico (Albert Rémy) wieder in sein Leben und zieht ihn in Konflikte mit den Gangstern Ernest (Daniel Boulanger) und Momo (Claude Mansard) hinein. Gleichzeitig verliebt sich die Kellnerin Lena (Marie Dubois) in ihn und möchte ihm dabei helfen, sein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
In Bezug auf Pulp Fiction ist ein genauer Blick auf die Gangster in Tirez sur le pianiste, Ernest und Momo, besonders ertragreich. Es ergeben sich Parallelen zu Jules Winnfield und Vincent Vega hinsichtlich des Gangster-Typus. In beiden Filmen wird der Stereotyp des Gangsters dekonstruiert und teilweise parodiert. So wirken Ernest (Daniel Boulanger) und Momo (Claude Mansard) trotz ihrer kriminellen Energie mitnichten furchteinflößend. Mit ihrer Kleidung – Seidenschals, Schiebermütze und Hut – und ihren Pfeifen widersprechen sie dem visuellen Stereotyp von Gangstern, wirken unscheinbar und harmlos. Auch ihr Auftreten lässt jegliche Souveränität und Finesse vermissen. Als die beiden Edouard und Lena mit dem Hintergedanken, sie gefangen zu nehmen, folgen, tun sie dies so auffällig, dass Lena sie entdeckt und die beiden flüchten können (Truffaut 1960: 16:26). Als es ihnen tatsächlich gelingt, Edouard zu entführen, sind sie sich erst nicht einig, ob sie ihn mit oder ohne Waffengewalt in das Auto zwingen wollen (ebd.: 24:17). Im Laufe der Entführung verlieren sie sich in belanglose, teils lüsterne Diskussionen, die darin gipfeln, dass Momo erzählt, er habe mal die Seidenstrümpfe seiner Schwester anprobiert (ebd.: 28:49). Die beiden Gangster unterhalten sich beinahe freundschaftlich mit ihren Geiseln, scherzen gar mit ihnen. Die Ernsthaftigkeit der Situation wird durch die Dialoge und dem beiderseitig ruhigen Sprachduktus konterkariert und ad absurdum geführt. Ernest und Momo agieren abgesehen davon nervös und unüberlegt, woran die Entführung Edouards und Lenas letztendlich scheitert. Der hektische Fahrstil von Ernest macht einen Polizisten misstrauisch, der das Auto anhält und die beiden Geiseln zur Flucht verhilft (ebd.: 29:20). Auch der junge Fido, den die beiden Gangster am Ende des Films entführen, kann ihnen relativ einfach entwischen (ebd.: 01:18:03).
Jules und Vincent entsprechen zumindest visuell zunächst dem Gangster-Typus, beide tragen Anzüge, die ihnen Seriosität verleihen. Obschon beide weitgehend souverän und insbesondere in der Apartment-Szene auch angsteinflößend wirken, agieren sie zum Teil fahrlässig. In dem Apartment, in dem sie die Geschäftspartner von Marsellus Wallace umbringen, vergessen sie alle Zimmer nach Anwesenden zu prüfen und werden so beinahe von einem der Bewohner, der sich versteckt hielt, erschossen (Tarantino 1994: 01:48:28). Bei der chronologisch daran anknüpfenden Autofahrt erschießt Vincent versehentlich Marvin, während er sich mit ihm unterhält (ebd.: 01:51:17). Jules und Vincent verlieren sich in Hektik und Schuldzuweisungen. In Jimmys Haus beklagt sich Vincent über eine respektlose Behandlung durch Wolf, statt sich auf das Wesentliche, die Reinigung des Autos, für welche sie nur wenig Zeit haben, zu konzentrieren (ebd.: 02:00:09-02:01:00). Da Jimmy eine Verunreinigung des Bades vermeiden möchte, werden Jules und Vincent in einem Garten mit einem Schlauch abgespritzt und ihnen werden T-Shirts einer universitären Sportmannschaft als Ersatzkleidung für die beschmutzt-en Anzüge gereicht (ebd.: 02:03:57-02:05:36). Die Dusche mit dem Gartenschlauch kommentiert Wolf mit den Worten: “You’ve both been to county11 before I’m sure, here it comes” (ebd.: 02:04:40). Und in der Tat wirken die beiden Gangster in den Szenen eher wie Gefängnisinsassen und werden dementsprechend von Jimmy und Wolf verspottet (ebd.: 02:05:14-02:05:29). Genauso wie Ernest und Momo diskutieren Vincent und Jules über Banalitäten wie etwa den Namen von McDonalds-Produkten (ebd.: 07:42-08:21) oder den Stellenwert von Fußmassagen (ebd.: 10:51-13:00). Die Rolle des Gangsters wird entmystifiziert, die Charaktere wirken normaler und nahbarer als Gangster normalerweise dargestellt werden. Sie sind keine Villains, sondern Menschen mit banalen Gedanken und Sorgen. Und im Falle von Vincent und Jules – weniger bei Ernest und Momo – helfen solche Dialoge dabei, sie als Identifikationsfiguren zu betrachten. Insbesondere die Tatsache, dass Jules und Vincent gelegentlich souverän und seriös wirken, nur um kurze Zeit später über Trivialitäten zu sprechen oder in absurde Situation zu geraten, erinnert stark an Linda Hutcheons postmodernen Prinzip von inscribe and subvert : Stereotype Darstellungen, wie die des toughen Gangsters werden aufgegriffen, im Verlauf des Filmes jedoch untergraben.
Die Gangsterduos in beiden Filmen bewegen sich bevorzugt im Auto vorwärts, was ihnen in unterschiedlicher Weise zum Verhängnis wird. Analog zu den Blutspritzern von Marvin, die das Innere des Autos von Jules und Vincent inklusive der Scheiben beflecken, ist es eine von Edouards kleinem Bruder, Fido, geworfene Milchbombe, die in Tirez sur le pianiste auf die Windschutzscheibe des Autos von Ernest und Momo knallt und es in Mitleidenschaft zieht.
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Oben: Die Milchbombe auf der Windschutzscheibe von Ernest und Momo (Truffaut 1960: 23:37). Unten: Die Blutspritzer auf der Rückscheibe von Jules und Vincent (Tarantino 1994: 01:51:17).
Auch das Autofahren als solches wird jeweils thematisiert. So kritisiert Momo Ernest mehrmals für seinen Fahrstil (ebd.: 26:21-26:36) und Vincent beschuldigt Jules, um sich für die Erschießung Marvins zu rechtfertigen, über eine Bodenwelle gefahren zu sein (Tarantino 1994: 01:51:30). Das Auto ist in beiden Filmen nicht nur ein prominenter Schauplatz, sondern auch einer, der mit Problemen und Konflikten in Verbindung steht. In Pulp Fiction gilt dies auch für die Szene, in der Butch nach seiner gebrochenen Vereinbarung mit Marsellus auf eben jenen trifft, während er im Auto unterwegs ist (ebd.: 01:30:43). Das Auto spielt auch für die musikalische Untermalung der Filme eine zentrale Rolle. Vor der erwähnten Szene, in der Butch unerwünschterweise auf Marsellus trifft, ertönt im Autoradio Flowers On the Wall von The Statler Brothers (ebd.: 01:29:59-01:30:49). In Tirez sur le pianiste dreht Edouard in einer Autofahrt mit Lena das Radio auf und es ertönt der Song Dialogue D’amour (Truffaut 1960: 01:07:07-01:08:33). Die Filmmusik wird auf diese Weise in die Diegese integriert, der Unterschied liegt hierbei in der Funktion. In Pulp Fiction erfüllt der Song im Autoradio den Zweck, Butchs beschwingte Stimmung nach der Ermordung von Vincent und der Wiedererlangung seiner Uhr zu akzentuieren, was daran erkennbar ist, dass er das Lied mitsingt. In Tirez sur le pianiste handelt es sich bei der vermeintlichen Radiomusik um eine kenntlich gemachte Illusion. Der Song läuft kontinuierlich, während die visuellen Überblendungen verdeutlichen, dass die beiden dabei unterschiedliche Orte passieren.
Der zweite Film, der als Vergleichsgegenstand für Pulp Fiction dienen soll, ist zugleich der Populärste: À bout de souffle aus dem Jahr 1960. Auch hieran war Truffaut insofern beteiligt, als er die Idee für den Film beisteuerte. Doch es war Jean-Luc Godard, der diese filmisch umsetzte (IMDb-Redaktion, o. D.: À bout de souffle).
À bout de souffle handelt von dem Ganoven Michel (Jean-Paul Belmondo), der, auf der Flucht befindlich, einen Polizisten erschießt und sich nach Paris absetzt. Dort besucht er die junge US-amerikanische Journalistin Patricia (Jean Seberg), in die er verliebt ist und die er davon überzeugen möchte, ihn nach Italien zu begleiten und ein neues Leben zu beginnen. Um das finanzieren zu können, möchte er Geld von einem Bekannten beschaffen. Dies gestaltet sich schwierig, da bald Fahndungsfotos von ihm in den Medien kursieren und er nicht mehr unentdeckt bleibt. Patricia, die sich ihrer Gefühle zu Michel unsicher ist, liefert ihn schließlich der Polizei aus, und einer der Polizisten erschießt ihn auf offener Straße. À bout de souffle gilt als Paradebeispiel für die Nouvelle Vague, gerade in Bezug auf die Schnitttechnik – es ist der erste Film, der konsequent Jump Cuts nutzt –, auf die originalen und unverfälschten Schauplätze, Lichtverhältnisse und die Durchbrechung der vierten Wand durch Figuren, die direkt in die Kamera blicken.
Eine Parallele zu Pulp Fiction ist in der elliptischen Erzählweise zu entdecken. Der Film startet in media res mit der kryptischen Aussage Michels: “Après tout, je suis con. Après tout, si, il faut” (sinngemäße deutsche Übersetzung: Eigentlich bin ich dumm, aber es ist notwendig) (Godard 1960: 00:36-00:41). Der Charakter wird mitten in der Tat, einem Autodiebstahl, eingeführt, ohne dass seine Motive klar werden oder das Setting mittels eines Establishing Shots umrissen wird. Pulp Fiction verzichtet ebenfalls auf einen Establishing Shot, begibt sich mitten in ein schon vorher begonnenes Gespräch (der erste Satz des Filmes lautet: “Forget it, it’s too risky”), das schnell in einen Überfall gipfelt – bevor die Beweggründe von Ringo und Yolanda thematisiert werden können (Tarantino 1994: 00:25). Der Zuschauer wird sofort mit Aktionsszenen konfrontiert, die er als gegeben hinnehmen muss. Die Ereignisse werden den Erklärungen vorangestellt, wobei Erklärungen von Zusammenhängen weder für À bout de souffle noch für Pulp Fiction von wesentlicher Bedeutung ist. In À bout de souffle wird offengelassen, warum Michel zu Beginn des Filmes ein Auto stiehlt, wie genau er Patricia kennenlernte und wie eng ihr Verhältnis war, in was für einem Verhältnis er zu dem Charakter Antonio steht und ob oder warum dieser ihm Geld schuldet. Über Patricia weiß man nicht viel mehr, als dass sie belesen ist und als Journalistin in Paris arbeitet. Bewusst werden Figuren mit umfangreichen Biografien vermieden und der Fokus auf die narrative Gegenwart verstärkt. In Pulp Fiction werden Beziehungen als gegeben vorausgesetzt. Es wird nie erklärt, welche Geschäfte Marsellus Wallace betreibt oder wie er Butch kennenlernte. Einige Figuren bleiben sehr obskur, wie etwa Jimmy, der Freund Jules, und vor allem Winston Wolf12. Die Geschehnisse rund um den Auftragsmord an Brett werden nur angedeutet und das größte Geheimnis ist sicherlich der Inhalt des gestohlenen Koffers, den Vincent und Jules für Marsellus abholen. Die Lebensläufe von Yolanda und Ringo werden ebenfalls nicht beleuchtet. Godard und Tarantino experimentieren mit Zufälligkeiten und Kausalitäten, Tarantino noch mehr als Godard, und die Gestaltung und Anordnung von Szenen scheinen Vorrang vor der Ausgestaltung eines lückenlosen Plots zu haben.
Elliptisch ist auch eine der Schlüsselszenen in À bout de souffle, die Erschießung eines Polizisten durch Michel. Godard bricht einmal mehr mit filmischen Konventionen, indem er einen Achsensprung vollzieht. Der Polizist auf dem Motorrad erscheint von links, doch in der Nahaufnahme der Pistole Michels bei der Auslösung zielt diese nach rechts (Godard 1969: 05:18-05:31). Der Polizist ist bei seiner Anfahrt zu dem stehenden Auto Michels nur silhouettenhaft und bei seinem Tod nur den Bruchteil einer Sekunde lang zu sehen. Obschon Tarantinos Werke blutiger sind, legt auch Pulp Fiction es nicht auf explizite Aufnahmen von Toten an. Marvin wird nach seinem Kopfschuss nicht in Nahaufnahme gezeigt, die Geschehnisse im Boxring, bei denen Butch seinen Gegner umbringt, werden gänzlich ausgespart, man erfährt darüber nur durch einen Bericht im Autoradio der Taxi-Fahrerin Esmeralda (Tarantino 1994: 01:06:03-01:06:29). Die Ausgestaltung der Szene ist der Fantasie der Zuschauer überlassen.
Neben der elliptischen Erzählweise sind es auch die Kamerafahrten, die Ähnlichkeiten aufweisen. Einige Male folgt die Kamera den Charakteren Michel und Patricia auf Rumpfhöhe durch die Straßen von Paris. Obwohl der Film reich an Schnitten ist, sind die Kamerafahrten auf den Straßen einige Male recht lang. Exemplarisch dafür ist das erste Aufeinandertreffen der beiden, als Patricia Ausgaben der New York Herald Tribune verteilt, für die sie tätig ist (Godard 1960: 10:08-10:51). Die niedrige Kameraperspektive simuliert für den Zuschauer das Gefühl, selbst auf der Straße unterwegs zu sein. Die Atmosphäre der belebten Pariser Innenstadt wird authentisch eingefangen, was durch die Tatsache verstärkt wird, dass die Stadtaufnahmen tatsächlich ohne Genehmigung durchgeführt wurden (Coutard 2010). In Pulp Fiction gibt es ebenfalls Kamerafahrten über mehrere Minuten. Die einprägsamste aller Fahrten ist die hinter Butch auf dem Weg zu dessen alten Apartment, in welchem er seine Uhr abholen möchte (Tarantino 1994: 01:24:39-01:25:58). In Pulp Fiction, so scheint es, dienen die Fahrten vor allem zur Spannungssteigerung. Das Sichtfeld des Zuschauers ist genauso eingeschränkt, wie das von Butch und somit kann der Zuschauer auch erst gemeinsam mit der Figur Butch mögliche Gefahren erkennen. Sowohl À bout de souffle als auch Pulp Fiction gewinnen durch dichte Kamerafahrten an Lebendigkeit und Nahbarkeit.
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Kamerafahrten dicht hinter den Protagonisten in A bout de suffle (Godard 1960: 10:20) und Pulp Fiction (Tarantino 1994: 01:24:49).
Bevor Butch sich auf den beschriebenen Weg zu seinem alten Apartment macht, sieht man ihn in einer 12-minütigen Sequenz mit seiner Freundin Fabienne in einem Hotelzimmer (Tarantino 1994: 01:12:33-01:24:23). Ein solches Hotelzimmer dient auch in À bout de suffle als Schauplatz einer langen Sequenz mit den beiden Protagonisten. Mit knapp 24 Minuten ist diese gar doppelt so lang wie jene in Pulp Fiction (Godard 1960: 28:38-52:43). Genau wie Butch durch sein Eintreten Fabienne aus dem Schlaf reißt, tut dies Patricia mit Michel. Die Ausgangssituation der männlichen Protagonisten Michel und Butch ähnelt sich, beide sind auf der Flucht: Michel vor der Polizei und Butch vor Marsellus. Beide verfolgen dabei das Ziel, mit der Freundin die Stadt zu verlassen. Während in À bout de suffle mit Patricia der weibliche Charakter eine US-Amerikanerin ist und der männliche ein Franzose, verhält es sich in Pulp Fiction andersherum. Die französische Herkunft Fabiennes legt eine Inspiration durch den Vorbildfilm A bout de suffle nahe. Die Dialogpassagen in der Hotelszene von À bout de suffle sind sehr sprunghaft und bruchstückhaft. Es kristallisiert sich dabei heraus, dass Patricia sehr auf ihr gutes Aussehen bedacht ist und Michael unter anderem fragt, was er an ihr am schönsten findet (Godard 1960: 51:20). Auch Fabienne beschäftigt sich mit dem eigenen Aussehen und äußert vor Butch den Wunsch einen Kugelbauch (pot belly) zu haben (Tarantino 1994: 01:13:12). In beiden Filmen wechselt der Schauplatz zwischen Schlaf- und Badezimmer, es werden jeweils sexuelle Intimitäten angedeutet. Patricia äußert die Sehnsucht, mal nach Mexiko zu reisen (Godard 1960: 43:12), Butch schlägt Mexiko ebenfalls als Reiseziel vor (Tarantino 1994: 01:18:14). In einen der vielen thematischen Sprünge, die die Hotel-Dialoge zwischen Patricia und Michel prägen, stellt sich Michel vor einem Spiegel und sagt unvermittelt, er sei ein guter Boxer (Godard 1960: 51:40) – die Parallele zu Butch, der als Profiboxer sein Geld verdient, ist selbsterklärend. Patricia fragt Michel kurz darauf, ob dieser im Krieg diente, was er bejaht (ebd.: 52:02). Auch Butch hat eine Beziehung zum Krieg, da sein Vater in einem solchen gefallen ist und dort jene goldene Uhr mühsam versteckte, die Butch zu einer waghalsigen Rückkehr in sein altes Apartment veranlassen sollte.
An dieser Stelle enden die Parallelen. Die Funktionen, die diese Sequenzen innerhalb der Filme erfüllen, sind gänzlich unterschiedlich. In À bout de suffle dient die Hotelzimmersequenz vor allem dazu, zu veranschaulichen wie sehr sich die Lebenswelten und die Weltanschauungen der Protagonisten unterscheiden. Die kultivierte und wissbegierige Patricia steht im Kontrast zum Kleinkriminellen Michel, der Patricia auf ihr Aussehen und sexuelle Anziehungskraft reduziert, ihre Interessen und Bildung nicht zu würdigen weiß. Die Sprunghaftigkeit der Dialoge liegt darin begründet, dass die beiden Protagonisten im Wesentlichen aneinander vorbeireden. Die Hotelzimmersequenz in Pulp Fiction führt zu einem Konflikt hin, aus dem sich ein neuer, wesentlicher Handlungsstrang entwickelt: das Fehlen der goldenen Uhr von Butch, welche Fabienne vergessen hatte, einzupacken. Dieser Konflikt bewirkt einen heftigen Stimmungsumschwung inmitten einer harmonischen, gar liebevollen Sequenz zwischen den Charakteren. Als Butch das Fehlen der Uhr bemerkt, rastet er derart aus, dass er das Fernsehgerät wutentbrannt gegen die Hotelzimmerwände wirft und Fabienne als „fucking stupid“ bezeichnet (Tarantino 1994: 01:22:28-01:22:37). Der Wutausbruch ist nur von kurzer Dauer, doch er ist charakteristisch für Pulp Fiction : Unvermittelte Konflikte und Stimmungswechsel prägen den Plot, wie sich zuvor an den Drogen-Zwischenfall Mias zeigte und später durch die Erschießung Marvins ein weiteres Mal zeigen sollte.
À bout de souffle ist auch ein Film über Filme. Die Hommage, die er dem Film Noir zollt, ist nicht versteckt, sondern wird offen zur Schau gestellt. Michel ahmt die Gesten des Schauspielers Humphrey Bogart nach, vor allem das Streichen mit dem Daumen über die Lippen (Godard 1960: u.a. 00:55). An einer Stelle stellt er sich vor einem Plakat von Bogart und starrt es bewundernd an (ebd.: 18:43-19:09). Mehrfach sind Filmplakate zu sehen, unter anderem eine Plakatreklame für Ten Seconds to Hell (1959) mit Jeff Chandler (ebd.: 13:15). Patricia und Michel schauen sich einen Western im Kino an (ebd.: 01:12:00) und Patricia erwähnt an einer Stelle, sie hieße gerne Ingrid, was als eine Referenz an die schwedische Schauspielerin Ingrid Bergman zu deuten ist (ebd.: 47:57). Zu Beginn des Filmes trifft Michel zudem eine alte Bekannte namens Liliane, die erzählt, sie sei Scriptgirl (08:16). In Pulp Fiction sind die Charaktere Yolanda und Ringo von Bonnie & Clyde in deren filmischen Darstellung von 1967 inspiriert, in der es auch eine Diner-Szene gibt, die der von Pulp Fiction in einigen Einstellungsgrößen und -perspektiven nahekommt (Penn 1967: 11:11-13:02). Analog zu Liliane in À bout de souffle ist Mia Wallace ebenfalls im Filmgeschäft tätig und erzählt davon, wie sie in einer erfolglosen Pilotfolge für eine Superheldenserie mitgewirkt hat (Tarantino 1994: 37:02-38:05). Im Jack Rabbit Slims bedienen Doubles von Schauspielern wie etwa James Dean (ebd.: 34:28). Der Milchshake, den Mia bestellt, nennt sich Martin & Lewis (ebd.: 35:50), in Anspielung an ein Comedy-Duo der Fünfzigerjahre, bestehend aus Dean Martin und Jerry Lewis. Neben den Einblendungen von eingeschalteten Fernsehgeräten sind auch die Dialoge voller Anspielungen auf Fernsehserien, die im Einzelnen darzustellen, den Rahmen sprengen würde. Bei einer Diskussion zwischen Vincent und Jules über Schweinefleisch erklärt Jules etwa ein Schwein müsse zehnmal so viel Charme besitzen wie Arnold von der Serie Green Acres (1965 -1971), damit er es nicht als unsauber betrachtet (ebd.: 02:09:02).
Sowohl Godard und Tarantino huldigen unverblümt Helden aus Film und Fernsehen und verarbeiten sie in einen Gangsterplot. Sie richten sich an eine Zielgruppe, die als Konsumenten von Film und Fernsehen die Verweise verstehen und sich mit ihnen identifizieren können. In der Hinsicht erweisen sich beide Filme als postmodern. Dies zeigt sich ebenfalls in der Anwendung von Techniken und Kunstgriffen zur Erzeugung von Diskontinuität und Desorientierung: Godard tut dies insbesondere mit Jump Cuts, die den Film abgehackt erscheinen lassen. Tarantino dagegen schafft Diskontinuität und Desorientierung durch den Verzicht auf klassische Film-Konventionen wie Establishing Shots und durch Fragmentierung der Handlung.
Nicht in allen Filmen der Nouvelle Vague stehen die Machenschaften von Gangstern oder Kleinkriminellen im Vordergrund. Mit Vivre sa vie schuf Jean-Luc Godard 1962, zwischen den Produktionen von A bout de suffle und Bande à part, ein Charakterdrama über die junge Nana Kleinfrankenheim (Anna Karina), die aufgrund von Geldnot in das Gewerbe der Prostitution abrutscht, aus welchem sie sich nicht befreien kann und an dem sie letztendlich zu Grunde geht.
Eine auffällige Parallele zu Pulp Fiction liegt in der episodischen Struktur. Vive sa vie besteht aus zwölf einzelnen Episoden, die zwar chronologisch angeordnet, aber nur lose aneinandergeknüpft sind. Der Film ist fragmentarisch, wirkt eher wie eine Collage einzelner Szenen. Wie in Pulp Fiction werden die Episoden durch Zwischentitel eingeleitet. Ein Großteil der Episoden besteht aus Dialogen von Nana mit anderen Männern, darunter Ex-Partnern, Freiern, aber auch Freundinnen. In diesen Dialogen erhält man einen Einblick in die Gedanken, Träume und Probleme der Protagonistin.
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1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden entsprechende Begriffe in der maskulinen Form verwendet, dabei ist jedoch die weibliche und männliche Form miteingeschlossen.
2 Der Wahrheitsgehalt dieser Anekdote wird angezweifelt.
3 Siehe dazu: Höffe, Ottfried (2004): Friedrich Nietzsche - Genealogie der Moral, 1. Aufl., Berlin, Deutschland: Akademie-Verlag.
4 Siehe dazu: Bublitz, Hannelore (2003): Foucaults Genealogie der Moral und die Macht, in: Junge, Matthias: Macht und Moral, 1. Aufl., Wiesbaden, Deutschland: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
5 Siehe dazu: Zima, Peter (1994 ): Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, 1. Aufl., Tübingen, Deutschland: Narr Francke Attempto Verlag.
6 Siehe dazu: Woods, Tim (1999): Beginning Postmodernism, 1. Aufl., Manchester, Vereinigtes Königreich: Manchester University Press.
7 Das Budget für Pulp Fiction betrug in etwa 8 Millionen US-Dollar (IMDb-Redaktion, Box Office Mojo, o.D.: Pulp Fiction ). Zur Einordnung dieser Summe bieten sich Vergleiche zu den Filmen True Romance und Natural Born Killers an, deren Drehbücher jeweils aus Tarantinos Feder stammen und die im gleichen Zeitraum von Tony Scott beziehungsweise Oliver Stone produziert und veröffentlicht wurden. True Romance kostete 12,5 Millionen (The Numbers-Redaktion, o.D.: True Romance ) und Natural Born Killers 34 Millionen US-Dollar (IMDb-Redaktion, Box Office Mojo, o.D.: Natural Born Killers ).
8 Das Budget für Reservoir Dogs betrug nach Angaben von Box Office Mojo gerade einmal 1,2 Millionen US-Dollar (IMDb-Redaktion, Box Office Mojo, o.D.: Reservoir Dogs ).
9 Hierbei sei vor allem auf den Koffer mit unbekanntem Inhalt in Pulp Fiction verwiesen, auf dem im Laufe des Kapitels noch eingegangen wird.
10 Japanisches Langschwert.
11 Mit county ist county jail gemeint. So werden die Bezirksgefängnisse in den Vereinigten Staaten bezeichnet.
12 Die Figur des Winston Wolf ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine Referenz an Harvey Keitels Rolle in Point of No Return (1993), in der er ebenfalls einen Cleaner verkörpert, der Spuren an Tatorten beseitigt.
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