Magisterarbeit, 2016
98 Seiten, Note: 1,0
1. Prae pictura fatio: Bevor das Wort das Bild aussprach (4)
2. Landschaft: Hintergründe der Ekphrasis-Tradition im Hinblick auf die (spanische) Postmoderne (8)
3. Figur: Offene Fragen um La Derelitta (13)
4. Figur in einer Landschaft: Analyse: „La Derelitta“ von Núñez (18)
a. Warum La Derelitta: Programmatisches Sonett (18)
b. Kompensierung und Interpretation (23)
i. A. Núñez’ Übersetzungstheorie im Dienste der Ekphrasis (23)
ii. Rhythmus versus Reim (28)
iii. Enjambements für schnurgrade Leintücher (34)
iv. Visualisierung durch Phonetik:
Die Autorschaft liegt im phonematischen Duktus (38)
v. Beabsichtigte Ambivalenzen: Opera Aperta als implizierter Zwang (52)
vi. Die Beschreibungsstruktur als Analogon: ut pictura poiesis (57)
vii. Imperative Beschreibung auf syntaktischer, morphologischer und phonetischer Ebene: Die unabdingbare Eskalation der Verneinung (59)
viii. Berechtigung der Kolloquialismen: Kontinuität der Tradition mit allen Folgen (61)
ix. Perfektion des Schmerzes: Erhobenheit in der nihilistischen Sackgasse (64)
c. Übertragbare Codes: Übersetzung der „Übersetzung“ eines Bildes (70)
i. Anmerkungen zur deutschen Übersetzung von Núñez’ „La Derelitta“ (73)
5. Post pictura fatio: Nachdem das Wort das Bild aussprach (76)
“Eine Malerei ist ein Gedicht ohne Wörter.”
QUINTUS HORATIUS FLACUS
„... die Beziehung der Sprache zur Malerei ist eine unendliche Beziehung; das heißt nicht, dass das Wort unvollkommen ist und angesichts des Sichtbaren sich in einem Defizit befindet, das es vergeblich auszuwetzen versuchte. Sprache und Malerei verhalten sich irreduzibel: vergeblich spricht man das aus, was man sieht: das, was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt; und vergeblich zeigt man durch Bilder, Metaphern, Vergleiche das, was man zu sagen im Begriff ist.“
MICHEL FOUCAULT
„No creo en una poesía que valga por su mera intención de ser confesión, y sí, en cualquier intervención que se atenga al lenguaje, que renueve la fantasía o la crónica con un previo compromiso con la palabra instrumental. „
ANÍBAL NÚÑEZ
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Neulich bekam ich von einer italienischen Freundin eine weitergeleitete Rundmail über Hundefolter in China mit einem Link zu einem Video. Dort wurden Hunde, wie der Text schon ankündigte, bei lebendigem Leib enthäutet. Ich habe diese Mail unterschrieben und weitergeleitet. Ein paar Tage später kommentierte ich meiner italienischen Kollegin, wie erschütternd die Bilder waren. Sie antwortete, ihr hätte der Text schon gereicht, und sie hatte aus diesem Grund das Video nicht anschauen wollen. Die Wörter jener Mail hatten sie davon abgehalten, das Video sehen zu wollen. Sie meinte, der Text wäre schon zu gewalttätig für sie gewesen. Sie fasste die rohe Beschreibung des Videoinhaltes als „Milderung“ der bildlichen Botschaft auf. Ich frage mich, was sie empfunden hätte, wenn die Wörter als Steigerung der Videobilder verfasst worden wären und ob sie in diesem Fall die Lektüre abgebrochen hätte.
Eine weinende Figur sitzt, die Hände ihr Gesicht bedeckend, vor dem Eingang eines Gebäudes, dessen bronzene Türen verschlossen sind. Vor der Figur auf der Treppe liegen zerrissene sienafarbene Leinwände. Was ist geschehen? Warum weint diese gesichtslose Gestalt? Gezeigt wird das Ergebnis einer vorangegangenen Handlung, die trotz aller Andeutungsversuche unsichtbar bleibt. Der Raum hinter den Türen ist für die sitzende Figur genau so verschlossen wie die Bedeutung der Szene für den Beobachter geheimnisvoll wirkt.
Eine historische Analyse über die Entstehung und die Autorschaft dieses Bildes könnte hier etwas Licht werfen. Jedoch würde dieses Licht nur die äußeren Bedingungen des Kunstwerkes beleuchten. Das Bild an sich bliebe dabei als rückblickende Darstellung eines unsichtbaren Geschehens unberührt. In seiner Verschlossenheit ist die entworfene Szene vollkommen und offen zugleich. Es ist ein Verdienst der mimetischen Malerei nicht nur illusorische Barrieren zu sprengen und mit diesen auf rätselhafter Weise zu spielen, sondern auch die lineare (zeitlich gebundene) Erzählung einer Begebenheit in die zeitlose Präsenz eines mehrdeutigen Augenblickes zu verwandeln. Von einem ausgewählten Standpunkt ausgehend erzählt dieses Bild eine tragische Geschichte, deren Einzelheiten man nicht erfahren muss, um das intensive Gefühl einer unerträglichen Hoffnungslosigkeit nachempfinden zu können. Man befindet sich außerdem in der außergewöhnlichen Situation, dass der ausgehende Standpunkt zugleich das Ende einer Tragödie repräsentiert oder zu repräsentieren scheint. Wenn das so ist, dann bleibt keine Ruhe nach dem Sturm sondern nur ein unaufhörlich mitleiderregter Blick.
Wie können Wörter dieses Bild beschreiben, welches alle Erzählmöglichkeiten in seiner Verschlossenheit auszuschließen scheint? Wie kann ein derart offenes Kunstwerk ohne jegliche schriftliche Anhaltspunkte, seien diese aus der Geschichte, der Literatur oder der religiösen Überlieferung, mit einem zeitlich gebundenen Medium wie das Wort gebührend beschrieben, verinnerlicht, zelebriert oder je nach Dreistigkeit „des schreibenden Künstlers“ in eine höhere oder tiefere (etwa parodierende) Kunstebene befördert werden? Gewiss liegt Foucault nicht falsch wenn er sagt: „Sprache und Malerei verhalten sich irreduzibel: vergeblich spricht man das aus, was man sieht: das, was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt; und vergeblich zeigt man durch Bilder, Metaphern, Vergleiche das, was man zu sagen im Begriff ist“ (Foucault 1974:38). Sowohl der Maler als auch der Lyriker stehen in jedem Augenblick der Schöpfung vor einem Übertragungsproblem seiner eigenen Vorstellungen. Die Schwierigkeit ist kognitiver Natur und damit auf die Sinnprozesse der künstlerischen und lyrischen Kreation übergreifend. Das Verneinen der Übertragbarkeit von Malerei in Dichtung und viceversa ist nach dieser Prämisse per se ein schwaches Argument. Man kann mit unterschiedlichen Medien die gleiche Idee nicht ganz wiedergeben und ihre beabsichtigte Wirkung nicht hundertprozentig erzielen, weil die materiellen Unterschiede dieser Medien und vor allem die mit ihnen verbundenen Erwartungen der Rezipienten dies nicht erlauben. Aber jede Disziplin des Kunstschaffens bedient sich ihrer eigenen Mitteln, um Ähnliches auszudrücken. Wenn man von Kunstbeschreibung in der Literatur spricht, steht eine umfangreiche Vielfalt an schriftlichen Ansätzen zur Verfügung. Gerade diese Vielfalt macht es beinah unmöglich von übersetzbaren Kunstkategorien zu sprechen.
Eine Kunstbeschreibung, welche sich nicht mit der Zelebrierung eines Bildes begnügen will und sich auf den Kern des betreffenden Kunstwerkes konzentriert, seine Grundsteine erschüttert und wieder aufbaut, bietet durchaus die Gelegenheit an, den ausführlichen Prozess der Ekphrasis in einer selbstreflektierenden Arbeitsweise zu untersuchen. Aber wo findet man derartige Texte? Man mag hier etwa an den Ausdruck „ut pictura poiesis“ denken, wie Horaz diesen in seiner Ars Poetica prägte. Das Gedankengut hinter diesen Worten mag er einem Zitat von Plutarch aus seinem Werk De Gloria Atheniesium entnommen haben. Plutarch schrieb dort den Satz „Poema pictura loquens, pictura poema silens“ dem Dichter Simonides von Keos zu. Im Grunde genommen unterstützen beide Zitate das gleiche Argument: Der Literatur wird die sonst der Malerei zugeschriebene Fähigkeit eingeräumt, ästhetischen Genuss im Betrachter zu wecken. Die mimetische Repräsentation des Lebens in der Malerei und in der Literatur hat seit der Entstehung dieses theoretischen Ansatzes für nicht wenige Interpretationen gesorgt.[1] Aber unabhängig davon, wie man den „(Pseudo)konflikt“ Dichtung-Malerei analysiert, sind beide Tätigkeiten gleichberechtigte Ausdrucksmittel, welche der Laune des herrschenden Kulturdiskurses gezwungenermaßen unterworfen sind. Aus der Praxis der Ekphrasis entstehen im schlimmsten Fall nur schwache Kulturdialoge. Das neue Objekt wird immer mit den kulturellen Ansprüchen seiner Entstehungsepoche gemessen. Dass die besten Bildgedichte der Moderne hauptsächlich Vorlagen aus dem reichen Becken der zeitgenössischen Kunst beachteten, ist also kein Wunder.[2] Wie verhält sich dann Dichtung aus der Gegenwart zu Renaissance-Malerei? Wie kann eine Sprache, die seit der Moderne ihre Selbstverständlichkeit aufgegeben hat, nach einer mimetischen Vorlage ein Bildgedicht komponieren? Steckt in diesem Unternehmen vom Vornherein nicht eine Art lyrische Regression? Oder handelt es sich vielmehr um eine Revidierung unbeachteter Kulturwerte anderer Epochen?
Zahlreiche Dichter der Postmoderne haben neue Wege der Ekphrasis erforscht und zu einem umfassenden forschungswürdigen Thema ausgebaut. Dabei handeln ihre Texte nicht immer von Bildern, die in derselben Zeitepoche des Dichters zu verankern sind.[3]
Dass Spanien traditionell ein Dichterland ist, mag den meisten bekannt sein. Was man aber dabei beachten soll, ist, dass gerade die Technik der Ekphrasis sich in der Heimat von Cervantes im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts um hundertachtzig Grad gedreht hat. Einige Namen wie Gil de Biedma, Carmen Martín Gaite, José Angel Valente oder Ana Rosetti glänzen mit „revolutionären“ Ekphrasisansätzen in der westlichen Lyrikszene.
Dennoch, um den passenden Gegenstand dieser Studie zu finden, welche das postmoderne Bildgedicht in vitro erforschen möchte, müsste man am besten einen Dichter aufspüren, der zugleich ein guter Maler und Übersetzer ist und diese Tätigkeiten bewusst in seine Lyrik einfließen lässt. Nach diesen Vorgaben reduziert sich augenblicklich das Exerzierfeld dieser Studie auf wenige Namen.
Wie so oft in der Lyrik kommt die passende Figur völlig unerwartet aus dem Reich der verkannten Dichter. Das Lebenswerk vom Dichter, Maler und Übersetzer Aníbal Núñez (1944-1987) entwickelte sich unbemerkt auf einer dem poststrukturalistischen Diskurs verwandten Ebene, die seine Zeitgenossen nur begrenzt verstanden.
Nachdem man zugeben musste, dass „der gefallene Ikarus“ den (stillen) Krieg der Sinnprozesse aus dem Grab unaufhaltsam weiter führt, erscheint sein Name immer wieder in ernsthaften Anthologien. Er erscheint zu Recht aber ohne viel Kommentar: Dennoch öffnet die unvollendete Perfektion seines Lebenswerkes neue Wege der literarischen Kreation.[4] Um sein lyrisches Design aussprechen zu können, muss man vorher einen langen Weg zurücklegen. Die einzige Abkürzung geht bergaufwärts, aber Aníbal Núñez hat dafür gesorgt, dass man die passenden Utensilien für diese Expedition zur Verfügung gestellt bekommt.[5]
Man erstrebt hier, durch die richtige Auswahl des Dichters und des zu untersuchenden Bildgedichtes eine plausible Antwort auf die Frage zu finden: Was passiert, wenn Renaissancebilder durch das Gedankengut der klassischen Moderne in der Lyrik revidiert werden? Das ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Schrift. Das Bild La Derelitta existierte bereits seit 500 Jahren, als der Dichter, Maler und Übersetzer Aníbal Núñez (1944-1987) ein gleichnamiges Bildsonett dazu schrieb.
„What is the basis for this technique, why does it hold so much interest for the spanish poetry of the twentieth century, and what does it have to do with the nuanced differences between the representations supposedly based upon objective reality –mimesis– and others that call that mode into question?“
MARGARETE H. PERSIN
kfrasi$, was bedeutet dieses griechische Wort? Etymologisch betrachtet handelt es sich nur um „eine ausführliche Beschreibung“. Eine leicht geänderte Definition liefert das Oxford English Dictionary: „Ekphrasis: a plain declaration, description or interpretation of a thing“. Es soll nicht wundern, dass solch eine offene Definition manche Missverständnisse um den Begriff Ekphrasis, geschweige denn deren Techniken, verursacht hat. Eine gute Ekphrasis war zum Beispiel für Aristoteles Homers Beschreibung des Schildes des Achilles in der Ilias. Ekphrasis wurde im literarischen Kontext als reine Beschreibung von Kunstwerken durch die literarische Kunst des Wortes verstanden. Aber seitdem Horaz’ bekannter Spruch ut pictura poiesis in der Renaissance revidiert wurde, begann man hier eine zwar missverstandene, deswegen aber auch fruchtbare Auseinandersetzung zwischen bildender Kunst und Literatur zu interpretieren.
Vasari ist etwa der erste, der eine phänomenologische Bildbeschreibung pflegte. Seine Kunstbeschreibungen, wenn auch in Prosa, waren eine Lektüre des Bildes aus der Sicht des Betrachters. Seine Texte versuchten jedoch nicht dem Bild ebengleich zu sein oder dieses zu ersetzen. Die Polemik Malerei-Dichtung entstand etwas später.
Im 18. Jahrhundert lehnte Gotthold Ephraim Lessing den Vergleich von Poesie und Malerei ab. Der Grund dafür war, dass die Malerei räumliche Aspekte betrachtet, während die Dichtung von sprach- und zeitbasierten Grundlagen abhängig ist. Kritiker aus dem 20. Jahrhundert räumen die Möglichkeit einer visuell-verbalen Verbindung ein. Joseph Frank in Spatial Form in Modern Literature (1945) behauptet, dass ein Text eine räumliche Qualität durch Techniken wie Juxtaposition und Simultaneität wiedergeben kann. Erwähnenswerte Beispiele sind Djuna Barnes, T.S. Eliot, James Joyce, Ezra Pound und Marcel Proust.
Auch Murray Krieger kehrt in seinem Buch Ekphrastic Principle and the still movement of poetry; or Laoköon revisited zurück zu einem berühmten Text von John Keats, “Ode on a Grecian Urn”, und zitiert dabei Leo Spitzers Ansichten über Ekphrasis: Er machte darauf aufmerksam, dass durch die Macht der Metapher die Literatur sich das erwünschte Objekt, “the plastic work of art”, aneignen kann.
Für die vorliegende Studie interessiert hauptsächlich die Ekphrasis-Definition von Margaret H. Persin, welche die überlieferte Polemik um die Fähigkeit des Wortes, Kunstobjekte wiederzugeben, beachtet, seien diese mimetisch (nach einer Vorlage) nachempfunden oder vollständig erfunden.
„The definition I utilize... borrows from, and is dependent upon previously debated conceptual parameters [bzw. Lessing, Krieger, Spitzer und poststrukturalistische Ansichten u.a.]. I therefore therm as ekphrastic a poetic text that makes reference to a visual work of art, whether real or imagined, canonized or uncanonized, and thus allows the art object, in truth the object of (artistic) desire, to “speak for itself” within the problematically ruptured framework of the poetic text.”[6]
„Uncanonized“ ist hier wohl gemerkt als „mass media“ und „mass culture“ zu verstehen. Als Überbegriff für alle Kunstmanifestationen im Ekphrasis-Kontext dient der Ausdruck „the object of (artistic) desire“. In dieser Hinsicht stellt die Kunstbeschreibung eine „Bewegung des Geistes“ an sich dar, eine epibolé dianoias griechisch gesagt, einen Sinn gebenden Prozess.
[...]
[1] Siehe weiter unten: „Landschaft: Hintergründe der Ekphrasis-Tradition im Hinblick auf die Postmoderne“
[2] Symptomatisch ist diesbezüglich die Gedichtauswahl von Pestalozzi zum Thema Bildgedicht in der Moderne (Pestalozzi 1995:583-586).
[3] Ein großer Teil der Ekphrasis-Ansätze, die sich traditioneller oder klassischer Bildvorlage bedient, entspricht einer weiblichen Revision der patriarchalischen Literatur (Persin 1997:89-113).
[4] Siehe zum Beispiel die auf A.N.s basierende Gedichtsammlung von Gonzalo Alonso Bartol: Palabras para un cuerpo. Madrid: Hiperión 1995, Gewinner des gewichtigen Literaturpreises “Ciudad de Jaén” im Jahre 1995.
[5] A.N. hinterließ auch theoretische Schriften über Linguistik, Phonetik und Übersetzungstheorie. Siehe O.P. II, S.117-218 [O.P. = Obra Poética. Alle Texte von Aníbal Núñez wurden 1995 in zwei Bändern veröffentlicht. In der vorhandenen Schrift wird die Nomenklatur O.P. I oder O.P. II für Núñez, Aníbal: Obra Poética. (2 Bd.) Madrid: Hiperión, 1995 verwendet.]
[6] (Persin 1997:17-18)
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