Diplomarbeit, 2000
112 Seiten, Note: 2,0
Anliegen der Arbeit
Methodik
1 Gesellschaftspolitisches Bedingungsgefüge als Ursache der Entwicklung von Gegenkulturen
1.1 Krisensymptome der bürgerlichen Gesellschaft
1.2 Entstehen von jugendkulturellen Szenen aus gesellschaftspolitischer Sicht
1.2.1 Jugendkultur oder Subkultur - ein Klärungsversuch
1.2.2 Szene als Gegenwelt
1.2.3 Punk als Vorläufer der Gruftszene
1.2.4 Der Weg in die Szene
1.2.5 Die Szene als Schutzraum
1.2.6 Die Rolle der Postadoleszenz
1.2.7 Szene und „Normalbürger“
1.3 Stilbildung und Stilmix
1.4 „Ich möchte eigentlich alt werden“
1.5 Jugendkulturelle Lebensmilieus
2 Die Gruftszene - ein religiös-spirituelles Lebensmilieu?
2.1 Okkultes Interesse Jugendlicher und Medien
2.2 Antireligiöse und atheistische Positionen der Gruftszene
2.3 Bezeichnung, Wertebild und Abgrenzungen der Szene
2.4 Schwarze Symbolik - Accessoire oder Bekenntnis?
2.5 Die Farbe Schwarz - dominantes Merkmal der Kultur
2.5.1 Schwarz als Lebensgefühl
2.5.2 Sackhosen, Pikes und Capes
2.5.3 Gruft-Outfit im Wandel
2.6 Friedhöfe, Katakomben und Ruinen - Stille und Zerfall
2.7 Verhältnis zum Tod
2.8 Musik als Ausdruck von Befindlichkeit
2.8.1 Ursprung der Gruftmusik
2.8.2 Ausfächerung des Stils in der Gegenwart
2.8.3 Industrial - Einfallstor rechtslastiger Musik in die Szene?
2.8.4 Der Tanzstil
3 Entstehen der Schwarzen Szene in Leipzig
3.1 Politisches und soziales Umfeld
3.1.1 Privatparties und privat gestylte Schuhe
3.1.2 Szenenauseinandersetzungen
3.2 Der Wendeknick
3.3 Die VILLA - Leipziger Zentrum der Gruftkultur
3.3.1 Organisationsstruktur des Hauses
3.3.2 Der Offene Jugendbereich
3.3.2.1 Offener VILLA-Treff
3.3.2.2 Der Kellerrat
3.3.2.3 Veranstaltungen und Projekte
3.3.3 Sozialarbeit mit Grufts
3.3.3.1 Beratungsangebote
3.3.3.2 Spezifische Gruft-Sozialarbeit - ja oder nein?
4 Die Szene ausgangs der 90er Jahre
4.1 Vom Werk II zur Sixtina - Dark City
4.2 Das Wave-Gotik-Treffen
4.2.1 Meilen und Feste
4.2.2 Kommerz und Preise
4.2.3 Ein Offener Brief
4.3 Grufts für oder gegen Rechts?
4.3.1 Swirling Swastikas - nur ein „origineller“ Name?
4.3.2 Viel Verständnis für andere Szenen
4.3.3 Grufts gegen Rechts
5 Tendenzen - Versuch eines Ausblicks
5.1 Splitting des Stils
5.2 Kommerzialisierung und Vermassung
5.3 Ideologisierung
5.4 Aufweitung der Altersstruktur
5.5 Statt einer Zusammenfassung
Literatur
Versucht nicht, uns zu verstehen. Ihr könnt uns
untersuchen, befragen, interviewen, Statistiken
über uns aufstellen, sie auswerten, interpretieren,
verwerfen, Theorien entwickeln und diskutieren,
Vermutungen anstellen, Schlüsse ziehen,
Sachverhalte klären, Ergebnisse verkünden,
sogar daran glauben. Unseretwegen.
Aber ihr werdet uns nicht verstehen.
(König, 1993)
Nach vierjähriger Sozialarbeit mit einer relativ stabilen Gruppe von Angehörigen der Gruft- oder - nach negativer Besetzung dieser Bezeichnung zu Beginn der 90er Jahre durch tendenziöse Medienberichte in ihrem Selbstverständnis eher - Schwarzen Szene und dieser Szene sich verbunden fühlenden Jugendlichen in einem sozio-kulturellen Kinder- und Jugendzentrum, sehe ich einen Bedarf, zur Darstellung von Geschichte und Gegenwart dieser Jugendszene in Leipzig als einer ihrer Hochburgen einen Beitrag zu leisten. Daran anknüpfend möchte ich versuchen, einen Ausblick auf mögliche Entwicklungstendenzen dieser jugendkulturellen Szene zu geben.
Anliegen dieser Arbeit ist es insbesondere, im ersten Abschnitt nach einem Blick auf die Entwicklung jugendkultureller Szenen in Deutschland und dem Aufzeigen der kulturellen Wurzeln der Gruftszene im Mittelteil die unterschiedlichen Entwicklungsphasen der Schwarzen Szene seit Mitte/Ende der 80er Jahre zu erhellen, die Anforderungen an die soziale Arbeit mit Angehörigen dieser speziellen Jugendszene im VILLA e.V. in Leipzig darzustellen und im letzten Abschnitt problematischen Entwicklungen näher zu beleuchten.
Die Verfasserin führte Interviews mit Szeneangehörigen, ehemaligen Grufts und Sympathisanten der Szene, in denen ein alltags- und lebensweltbezogener qualitativer Ansatz verfolgt wurde. Methodisch kommen leitfadenorientierte oder offene, narrative Interviews, daneben auch ein Gruppeninterview und die teilnehmende Beobachtung, zur Anwendung (vgl. Hurrelmann, 1994).
So wie nach Rogers „... empirische Kontrolle ... Verpflichtung (ist), denn sie ist die einzige Möglichkeit, Wissen von persönlichem Vorurteil oder Wunschdenken zu unterscheiden“ (Rogers 1973, S. 241), verlangt gerade auch der spezielle wissenschaftliche Gegenstand - Jugendliche in der Umbruchphase ihres Lebens - nach einer geeigneten Methode, um die Besonderheiten dieses Abschnitts adäquat zu erfassen und wiederzugeben. Die Auswertung der Befragungen wird nicht in einem separaten Abschnitt vorgenommen, sondern fließt in die Ausführungen zu den einzelnen Aspekten der behandelten Thematik ein, begründet und stützt diese.
Für die Verfasserin war es wichtig, den Blick auf die Gruftszene von innen einzunehmen, was bedeutete, oftmals eine kulturelle und in einigen Fällen auch eine politisch nicht unbedeutende Distanz zu überwinden. Es bedeutet aber auch, daß es wichtiges Anliegen ist, Verhalten und Lebensmuster der Jugendlichen in erster Linie in ihren eigenen Darstellungen, Interpretationen und Deutungen vorzustellen, sie damit in ihren eigenen Kommentaren und Erklärungen zu akzeptieren und darüber ihr Selbstbewußtsein zu verstehen und vor allem ernst zu nehmen.
Die biografisch orientierten Fragen waren sowohl an individuellen wie auch den Szenekontext berührenden Entwicklungen und Prozessen interessiert und damit in diesem Punkt anwendungsorientiert. Anhand der vollständig transkribierten Interviews wurde versucht, die situationsspezifischen Deutungen der Jugendlichen herauszuarbeiten und im Vergleich untereinander Ähnlichkeiten und Varianten bei mehreren Jugendlichen zu Deutungsmustern und einer gewissen Szene-Typologie zusammenzufassen (vgl. Heinz et al, 1985)
Zu dem narrativen Charakter der Interviews ist zu bemerken, daß Freimütigkeit in den Äußerungen und Lockerheit im Dialog sicher insbesondere der Tatsache jahrelanger Beziehungsarbeit sowohl in der Offenen als auch der Beratungsarbeit mit einigen der Probanden geschuldet sind, wodurch der Eindruck zeitweiliger Abwesenheit von wissenschaftlicher Distanz entstehen mag. Das von Ferchhoff erwähnte Prinzip einer sozialwissenschaftlich orientierten Jugendforschung „to go go into the actors world“, mittels dessen sich der Interviewer „näher“ an „Selbstdefinitionspotentiale jugendlicher Alltagswelten und -kulturen, Erfahrungsbestände, Vorstellungen, Lebensorientierungen und Zukunftsentwürfe“ (Ferchhoff/Neubauer, 1997, S. 171) herantasten kann, findet bereits im Kontext der Entstehungsgeschichte dieser Arbeit seine Anwendung.
Besonderes Augenmerk wurde in diesem Zusammenhang bereits bei der Erarbeitung der Fragen auf das Vermeiden des Eindrucks gelegt, das durch größere Nähe bedingte erleichterte Aufspüren persönlicher alltagskultureller Nischen sei nicht am Gewinn geschichtlicher und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse orientiert, sondern könnte u.U. dem „genüßlichen Vorführen von illustren Existenzen“ (Lüders 1995, S. 334) dienen.
Entscheidend bei der Planung aller Interviews war, daß die Verfasserin auch in der Rolle als Interviewerin (neben der als Sozialarbeiterin) durch die Befragten zugelassen war. Es entstand darüber hinaus der Eindruck, daß bei einigen der Probanden ein lebhaftes Interesse an der Korrektur eines in der Gesellschaft vorherrschenden verzerrten Abbildes der Gruft- oder Schwarzen Szene besteht, zu welcher sie in dieser Arbeit eine Möglichkeit erblicken:
Kerstin:... Damals haben sich die Menschen also auch nur sehr wenige Gedanken über die Kirche gemacht und noch weniger um Satanismus Und heute ist aber doch die Kirche sehr mächtig im Staate geworden. Und daß heute die Schwarzen mit Satanismus auf eine Stufe gestellt werden zum größten Teil, ist auch erst nach der Wende so stark geworden. Und alles, was schwarz ist, wird immer in die satanistische Ecke gedrängt. Und dadurch ist man, egal in welchem Bereich - man kann kommen, wohin man will - die Vorurteile sind da. Und dementsprechend ist man natürlich sehr vorsichtig. Ich bin das eigentlich auch.
Herrmann:... Und Gruftie war eigentlich der Begriff, der, ... worüber man eigentlich aus der BILD-Zeitung unbedingt Bescheid wußte, der halt von den Medien immer verwendet wurde, um von „bösen“ Satanisten und Grabschändern und was weiß ich nicht alles zu berichten.
Das Altersspektrum der Befragten reicht von 24 bis 32 Jahren, in einem Fall beträgt das Alter 37. Ein Ausdruck der vertrauensvollen Basis, auf der die Gespräche geführt wurden, ist sicher die Tatsache, daß von allen Probanden auf die angebotene Anonymisierung verzichtet wurde.
Jugendphänomene sind ... als soziokulturelle
Phänomene nicht zu erklären ohne die
ökonomische, politische und zeitgeistige
Struktur der Gesellschaft.
(Ferchhoff, 1984)
Der Beginn der 80er Jahre dieses Jahrhunderts war von starken Gefühlen der Beunruhigung in beiden Gesellschaftssystemen gekennzeichnet, verstärkten sich doch signifikant die Zeichen einer existentiellen Bedrohung für den Fortbestand der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Die politische Krise dieser Jahre fand ihren Höhepunkt nach Reagans Amtsantritt in der forcierten Entwicklung und Stationierung einer neuen Generation von nuklearen Waffen, die von den beiden sich kompromißlos gegenüberstehenden Systemen zunehmend aufeinander gerichtet wurden.
Der Protest gegen eine unterdrückende Klassengesellschaft, die solche Risiken heraufbeschwor, war primär ein Jugend-Protest (insbesondere in seiner ersten Phase). Er wandelte sich zur Alternativbewegung, die in den 80er Jahren äußerst vielfältig war und „in der Schüler, Studenten, Lehrlinge, junge Arbeiter, Arbeitslose, Frauen, Jugendliche mit Drogenerfahrungen, Ökologie- und Friedensbewegung ihren Platz hatten.“ (Behr, 1982)
Krisensymptome unterschiedlichsten Charakters kennzeichneten die bürgerliche Gesellschaft zu Beginn dieses Jahrzehnts, wie:
- die Zunahme der sozialen Probleme in allen Ländern durch wachsende Kriminalität, Arbeitslosigkeit (insbesondere innerhalb der Jugend), Drogenabhängigkeit, Alkoholismus, Suizid, Instabilität von Ehen, Gewalt und Vandalismus
- eine gewisse Lethargie im politischen Bereich und die Zunahme privatistischer Tendenzen
- der Versuch der Uniformierung des Individuums durch die Gesellschaft im Arbeitsprozeß
- eine zunehmende Orientierungslosigkeit der Bürger und dadurch
- die Abwendung von gesamtgesellschaftlichen Bezügen und ein damit verbundener Trend zum Rückzug in private, mikrosoziale Strukturen. (vgl. Hollstein, 1983)
Die jugendliche Generation zu Beginn der 80er Jahre, die zwar von den alternativen und ökologischen Lebensstilen der 70er Jahre geprägt, sich aber zugleich von Arbeitslosigkeit und großen Zukunftsängsten in bisher nicht gekanntem Ausmaß bedroht und damit mit den Gefühlen großer Verunsicherung und Sinnverluste in allen Lebensbereichen konfrontiert sah, wurde so zur besonderen Problemgeneration, die in ihr gemäßer Weise auf das gesellschaftliche Chaos reagierte: mit dem Entstehen von jugendkulturellen Szenen.
Zur Begriffsklärung ist anzuführen, daß die Verfasserin sich bei der Verwendung des Terminus’ „Jugendkulturen“ Baacke/Ferchhoff (1988) und Baacke (1992) und in Erweiterung Krüger (1993) anschließt und somit nicht den ursprünglich in der Jugendkultur- bzw. Jugendsubkulturdiskussion (der BRD) der 60er und 70er Jahren von den Sozialwissenschaftlern (nach seiner Einführung durch angloamerikanische Soziologen und Kulturanthropologen bereits in den 20er, 30er und 40er Jahren) benutzten Begriff „Subkulturen“ verwendet, der allerdings immer darunter litt, kein abgeschlossener, in sich abgerundeter Begriff zu sein. Baacke/Ferchhoff bemerken dazu: „Über das, was unter Subkultur zu verstehen ist, gibt es in der sozialwissenschaftlichen Debatte keine allgemeinverbindliche Auffassung, empirische Analysen fehlen ...“ (Baacke/Ferchhoff, 1993, S. 413).
An Gründen für diesen Begriffswechsel nennt Krüger (1993, S. 433):
- Der Prefix „sub“ suggeriert einen „unterhalb“ der offiziell anerkannten (Hoch)Kultur liegenden Bereich und enthält somit eine negative Konnotation als gering geschätztes kulturelles Segment (eine auch heute noch relativ häufig anzutreffende polarisierende Deutung, die jedoch nicht mehr den Gegebenheiten sozialer Differenzierungen entspricht).
Der Terminus „Jugendkultur“ deutet im tendenziellen Gegensatz zum Begriff „Jugendsubkultur“ an, daß mit der Entwicklung der Gesellschaft und der damit verbundenen Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung klassenstrukturelle und auch klassenkulturelle Traditionen (die im klassischen Ansatz des Centre for Contemporary Cultural Studies ‘CCCS’ Birmingham eine zentrale Rolle spielten) zunehmend verschwinden. Die Erosion traditioneller Lebensmilieus sowie der Einfluß der Kulturindustrie auf jugendliche alltägliche Lebenssituationen ist so groß, daß man von authentischen jugendlichen subkulturellen Einheiten kaum noch sprechen kann (vgl. Ferchhoff, 1990).
Baacke führt dazu aus, daß die „Subkultur“-Theorie davon ausgeht, daß einzelne Subkulturen in einer bestimmten sozialen Schicht oder politischen Grundhaltung genau lokalisierbar seien, was mittlerweile nicht mehr bestätigt werden kann. Er führt als Beispiel den Punk an, der eindeutig weder „rechts“ noch „links“ und teils kommerziell, teils unabhängig einzuordnen ist.
Wie am Beispiel des Punk so ist auch an Subkulturen wie den Rockern, Teds und Mods, Hippies, Skins und Heavy-Metal-Fans
(auch die Grufts sind hier aufzuführen, die Verf.) zu erkennen, daß diese nicht einzelnen Gesellschaften zuzuordnen sind, sondern kulturelle Gruppierungen sind, die sich international ausbreiten und unter dem gleichen Erscheinungsbild unterschiedliche Formen von Selbständigkeit entwickeln können (vgl. Baacke, 1999).
Zusammenfassend ist zu bemerken, daß die von den zitierten Autoren angeführten Gründe sowie eigene Befindlichkeit und Erfahrungen in der Anwendung pejorativ besetzter (oder möglicherweise zu besetzender) Termini in beruflichen Kommunikationszusammenhängen zur erwähnten Ablehnung des „Subkultur“begriffs führten.
Die sich unter den Jugendlichen verstärkt ausbreitende Verweigerungshaltung gegenüber der Gesellschaft der Erwachsenen am Ende der Wirtschaftswunder-Ära, mit welcher sie bereits frühzeitig enttäuschende und frustrierende Erfahrungen verbanden und in der einige von ihnen zum ersten Mal begriffen, daß das bis dahin ungebremste Wirtschaftswachstum nur durch ökologischen Raubbau und auf Kosten der „Dritten Welt“ zu bekommen war und daß der traditionelle Industriekapitalismus die Grenzen seines Wachstums erreicht hatte, mündete, wie bereits angedeutet, in die verstärkte Bildung von Jugendkulturen - von Szenen - quasi als Gegenwelt zur offiziellen Gesellschaft, die neben den oben erwähnten Mißständen in ihrem Inneren durch Mangel an Kommunikation, Isolierung ihrer Individuen und deren Egoismus untereinander gekennzeichnet ist.
Eine dieser Szenen hieß Punk, der Mitte der 70er Jahre in Großbritannien entstand und zunächst nur „Spaß ohne Rücksichtnahme auf Konventionen“ bedeutete. Als unübersehbare Provokation der ihn umgebenden Konsumgesellschaft des schönen Scheins löste er in musikalischer Hinsicht den „erwachsen“ gewordenen Rock, der aus der Perspektive der nächsten Generation mittlerweile „rührselig, bieder und langweilig“ (Farin, 1998, S. 75) geworden war, ab. Seine Botschaft war sicher am treffendsten so zu beschreiben: „Wenn ‘s eh bald vorbei ist, laßt uns noch solange richtig Spaß haben. Und denen, die den Dreck zu verantworten haben, zeigen, was die uns können unter dem Motto: - There’s no future - for you!“ (ebenda)
Auf die Vereinnahmung des Punks durch das Establishment schon drei(!) Jahre nach dem ersten Auftritt der Sex Pistols[1] 1976 reagierte die Szene unterschiedlich: Die einen schlossen ihren Frieden mit der Gesellschaft und gründeten eine Familie, die anderen (der größere Teil) drückten ihre Opposition weiterhin, doch auf veränderte Weise, aus. Es gab die, die gegen die Ende der 80er Jahre verstärkt aufkommende neonazistische Szene auftraten, es gab jene, die selbst in die rechtsradikale Szene abdrifteten, es gab die, die demonstrativ ihr Proll-Punk-Dasein auf der Straße weiterpflegten und es gab jene, die schon immer Gewalt ablehnten, keinen Spaß an Bierorgien hatten, gerne nächtelang über den Sinn des Lebens meditierten, dabei wenig Interesse für Politik zeigten, umso mehr jedoch für ihr edles, dabei nicht minder unkonventionelles (in Teilen auch der Punk-Szene entlehntes) Outfit: die Introvertierten der Szene, die zu Grufts oder Gothics wurden.
Sie sind nicht unbedingt gleich, weisen doch aber Gemeinsamkeiten auf - die Anlässe, Umstände, Stimmungen, unter denen die befragten Jugendlichen zur Schwarzen Szene als der ihrer Befindlichkeit gemäßen fanden.
Herrmann sieht die Gründe einmal in der mangelnden Akzeptanz des sozialen Umfelds und zum anderen in der Hilfestellung, die die Szene dem einzelnen bei der Aufarbeitung daraus resultierender depressiver Gefühle geben kann:
... - Viele Leute, die auch negative Erfahrungen hatten, in Gruppen wie Schule oder sonstwo nicht ganz so akzeptiert wurden, die aber in dem Bereich der Schwarzen Szene halt ‘ne Akzeptanz gefunden haben, vielleicht Verarbeitung von depressiven Gefühlen, vielleicht hat man auch gelernt, einfach gewisse depressive Gefühle aufzuarbeiten und da Energie und Kraft draus zu schöpfen.
Graf A . beschreibt individuelle Befindlichkeiten, die dem Übergang von familialer in Szenesozialisation nach seinen Erfahrungen zugrundeliegen können, folgendermaßen:
- Ja, aber die Szene hat irgendwie kein, kein, ich weiß nicht, wie soll ich ‘n das ausdrücken, es ist immer, ... die Szene findet sich aus Leuten, die mit ihrem anderen Umfeld Probleme hatten, fast immer. Also, fast immer, ich kenne nun auch einige Leute, die hatten aus irgendwelchen Gründen mit ihrer sozialen Umgebung, in der Schule, im Kindergarten oder wie auch immer - weiß ich nicht - auf jeden Fall irgendwelche Probleme, weil sie eben anders waren aus irgendwelchen Gründen, weil sie ... vielleicht intelligenter waren, vielleicht auch dümmer, weiß ich nicht, und aus dieser Isolation heraus, daß sie eben dort ausgestoßen wurden, haben sie sich halt, sagen wir mal, woandershin orientiert. Oftmals eben grad in die Schwarze Szene. Also zumindest, ich weiß es nicht, es ist einfach so meine unterschwellige Wahrnehmung. Also, ich empfinde das so. Viele von den Leuten, die ich mir angucke, hatten irgendwelche Probleme mit dem Elternhaus oder so, da gibt es tausend Beispiele. dafür. Also, da sag ich, wir kennen einfach viele ... na gut, ich will keinen Namen nennen, ja ?...(Tom lacht)
Graf A. befindet sich hier in Übereinstimmung mit anderen Befragten , die gleich ihm feststellten, daß bereits ihr „Anderssein“ in der Phase der Pubertät (oder der früheren Kindheit), das Gefühl des Ausgegrenztseins, sei es in Schule oder im Freundeskreis, das Gefühl des Unverstandenseins und der fehlenden Kommunikation - kurz: eine gewisse Isolation - dazu führten, sich der Schwarzen Szene zuzuwenden und in die - damals etwa altershomogene - Gruppe der Grufts aufgenommen zu werden.
Kerstin: - Ich war auch als Kind schon ein Außenseiter. Dementsprechend habe ich das nicht wahrgenommen, daß es anders war, als es normalerweise hätte alles sein sollen. ...
Diese erste Identitätskrise am Ende der Pubertät, in der man auf der Suche nach Gleichgesinnten war, mit denen man die Gedanken über den Sinn des Lebens und vor allem die Art und Weise seiner Bewältigung austauschen konnte, diese Zeit der Enttäuschung in den ersten Liebesbeziehungen, der Familienprobleme aufgrund fehlender Beziehungen zu den Eltern und deren Gleichgültigkeit ihnen als Kindern gegenüber, suchten die befragten Jugendlichen in der Gemeinschaft von anderen zu lösen, die ähnlichen Stimmungen unterworfen waren und sich den gleichen grüblerischen, oft melancholischen Gedanken zu ihrem eigenen Schicksal und dem der Menschheit hingaben.
Immer häufiger stellt Micha heute fest, daß er dieses Gefühl des Andersseins und des Lebens in einer „zweiten“ Welt mit nicht wenigen Angehörigen der Schwarzen Szene teilt:
... ich hab’ mich irgendwie wie in ‘ner ander’n Welt gefühlt. Also, das heißt, das, was mich umgeben hat, das war irgendwie ... ich kam damit teilweise auch nicht klar; ich hab’ mir einfach so noch ‘ne zweite Welt geschaffen. Und dachte, daß ich damit eigentlich relativ allein bin. Und bei Kontakt mit anderen hat sich das auch immer wieder ‘rausgestellt, daß ich irgendwie doch ‘n bissel anders bin (lacht). Das klingt bescheuert, auch wenn ... ich hab’ in der letzten Zeit das sehr oft auch von anderen gehört aus der Szene, daß denen das irgendwie ähnlich ging. Ja, man kann sagen im pubertären Alter, da bin ich dann auch mehr oder weniger ausgebrochen aus dem Elternhaus, auch Schule, und ... um sozusagen mich selbst zu finden und auch Gleichgesinnte oder Leute mit gleichen Problemen kennenzulernen. ...
... und drückt damit aus, wie er sich (gemeinsam mit anderen Jugendlichen ähnlicher Orientierung) eigene und von der Erwachsenenwelt seiner Eltern unabhängige Wertvorstellungen und Normen und damit seine eigene „Zwischenwelt“ schuf, die natürlich auch in einem sichtbaren Gegensatz zu den Gegebenheiten dieser Erwachsenenwelt stand und so ein gewisses Widerstandspotential in sich barg.
Die Szene als Rahmen einer überschaubaren Gruppe bietet dem einzelnen die Möglichkeit, bisher vermißte Solidarität, Zusammenarbeit, Verständnis und Selbstverwirklichung kennenzulernen. An die Stelle von Karriere, Konsum und der Jagd nach Erfolg treten Autonomie in den Handlungen, Kreativität, Selbstverwirklichung und Gemeinsamkeit.
Katha : -... Und dann hast du dich nach und nach kennengelernt, und es war wie ‘ne Familie im Endeffekt. Ich bin eigentlich immer dort gewesen, weil ich zu Hause nicht unbedingt das gefunden hab’, was ich finden wollte. Das war eigentlich immer richtig schön. Ich hab’ mich dort richtig wohlgefühlt. Und halt eben familiär . ...
Oft lernen die Jugendlichen erst in der Szene Emotionalität und wirkliches Miteinander kennen, stellen die Eltern doch allzuoft nur den materiellen Rahmen für ihre „Aufzucht“ zur Verfügung. Zum ersten Mal erfahren sie ein Dasein ohne Autoritäten und lernen frei über ihr eigenes Dasein zu entscheiden. Dieses Finden von bisher vermißten Gefühlen der Zusammengehörigkeit geben Herrmann und Kerstin mit folgenden Worten wieder:
Herrmann: - ... Es gibt immer verschiedene Leute, die aus verschiedenen Gründen der Meinung sind, der Szene zugehörig zu sein, viele, die halt in der Szene einen Kreis von Leuten finden, der, unter dem sie akzeptiert werden, wo sie vielleicht gewisse Gefühle ausleben können, oder in dem sie sich wohlfühlen, wo sie einfach wissen, hier gehör’n sie dazu ...
Kerstin drückt dieses Finden der Gruppe von Gleichaltrigen und Gleichgesinnten, die sich aufgrund persönlich-individueller Wahl und gegenseitiger Sympathie und Zusammengehörigkeit konstituiert, folgendermaßen aus:
... Und ich denke, man kann aber ein Gespür dafür entwickeln, wenn jemand auf dieser Suche ist. Man kann aber niemandem die Suche abnehmen. Aber man kann ihm immer sagen: - „Für dich ist hier Platz, die bist hier willkommen. Du kannst hier sein. Du kannst dich hier wohl fühlen, wir mögen dich.“ Ich denke, das ist eigentlich das. Und jeder muß Sein‘s selbst für sich finden. Wie woanders auch. Aber ich glaube, gerade Nähe und vielleicht auch noch zu erfahren, was Freundschaften sind, das kann man vielleicht in einem Bereich, wo man Ideologien zu vertreten hat, wesentlich schwerer als in einem so freien Bereich.
Die Wege der Jugendlichen in die Szene weisen deutliche Gemeinsamkeiten auf, die einmal in dem mehr oder weniger starken, letztlich jedoch bei allen vorhandenem „schwarzen Lebensgefühl“, einer gewissen Nachdenklichkeit über das Anderssein der eigenen Person vor dem Hintergrund ihrer Familienbiographie, und zum anderen in den Erfahrungen der Jugendlichen, isoliert, vereinsamt und ohne ausreichende soziale Einbindungen zu sein, bestehen.
Bei der verstärkten Herausbildung von Jugendszenen im betrachteten Zeitraum spielt auch die Verlängerung der Jugendphase um die Postadoleszenz eine nicht unbedeutende Rolle. Ferchhoff beschreibt diese als „eine wachsende Gruppe von Menschen ..., (die bedingt) durch verlängerte Schul- und Ausbildungszeiten sowie durch die tendenzielle Entkopplung von Bildung, Ausbildung und Berufstätigkeit, kulturell, politisch sowie freizeitbezogen in der Gestaltung ihrer Lebensformen und in der Wahl ihrer Lebensstile, ... weitgehend autonom sind, als auch keiner ‘pädagogischen Betreuung’ mehr bedürfen, während sie beruflich und ökonomisch weiterhin vom Elternhaus bzw. von sozialpolitischen Alimentierungen abhängig und damit auch im Rahmen der Durchsetzung ihrer endgültigen Lebensplanungen zwar offen und noch nicht festgelegt, aber dennoch unselbständig sind.“ (Ferchhoff, 1993, S. 78)
Sie weist neben positiven Aspekten, wie eigenverantwortlicher Lebensgestaltung und rechtlicher Autonomie, natürlich auch nachdenklich stimmende Aspekte auf, so z.B., wenn einige Enddreißiger freiwillig oder unfreiwillig ihre Jugendzeit bis in den Vorruhestand verlängern (vgl. Ferchhoff; Neubauer, 1997). Die postadoleszente Phase ist dafür verantwortlich, daß viele Erwachsene sich nach wie vor in „ihrer“ Szene zu Hause fühlen:
Herrmann: - Man wird alt. Na sicher, man wird irgendwann älter, sieht vielleicht aus dem heutigen Aspekt einige Sachen, die man damals selber mitgemacht hat, aus ‘nem ganz ander’n Blickwinkel. Ich selber hab ‘s nie bereut, Gruftie zu sein oder gewesen zu sein oder vielleicht bin ich ‘s auch bald wieder, so wie ich mich fühle (lacht), alt, ... nee... ja, also, ‘ne gewisse Verbundenheit fühle ich ja sicherlich immer noch, weil, sonst würde ich mich nicht versuchen weiterhin zu engagieren auf dem Sektor, sei es als DJ oder im musikalischen Bereich oder sei es in Gesprächen über die Szene, weil, ‘ne gewisse Aufklärungsarbeit gegenüber anderen Bereichen oder so, die gehört einfach dazu. Also, ‘n gewisser Bezug ist da. Gut, ich schminke mich jetzt nicht mehr, und style mir nicht die Haare hoch und renne nicht groß in Sackhosen ‘rum. Wenn natürlich mal ‘n Anlaß ist, da mache ich auch mal einen auf „mystisch“, aber nicht mehr so vordergründig , ...
Frage: - Und du könntest dir auch vorstellen, daß der Zustand bestehen bleibt?
Herrmann: - Ja.
Sicher ist es für den an die Normen der Leistungsgesellschaft angepaßten Bürger schwer, die Daseinsweise solch einer Szene zu verstehen - geschweige denn - zu akzeptieren. Sie bietet sich ihm lediglich als faules, zielloses, mitunter aggressives (Punks, Skins), mitunter skandalumwittertes (Grufts) Miteinander von Jugendlichen dar, das sich nicht an seinen - offensichtlich korrekten, da von der Majorität des gesellschaftlichen Umfelds „mit“vertretenen - Maßstäben messen läßt.
Richter führt zur Konfliktdynamik dieser gesellschaftlichen Konstellation - „Normal“bürger vs. jugendlichen Angehörigen einer Szenekultur - aus:
„Denn wie verwirrt, abseitig, unvernünftig, krankhaft, asozial die Erscheinungsformen der Jugendkulturen sich auch immer in den Augen der Angepaßten ausnehmen - es ist zugleich die verdeckte Verwirrung, die Abnormität, die Unvernunft, die Krankheit, die Asozialität aller. “ (Richter, 1979, S. 73)
Um bei dieser Sicht zu bleiben, bedeutet dies, daß die Szenejugendlichen als Symptomträger der Gesellschaft nur die in dieser latent oder auch manifest vorhandenen Probleme verdeutlichen oder anders ausgedrückt, die sich ausgrenzenden Jugendlichen (siehe Graf A.) es zwar freiwillig, aber natürlich unbewußt übernehmen, Symptom- oder sozialer Träger all’ dessen zu sein, was die Erwachsenen - die Normalen, die Angepaßten - an Negativem in sich unterdrücken (müssen) und an heimlichen Wünschen nicht verwirklichen zu können glauben.
Diese Unterdrückung oder Verdrängung durchaus vorhandener Wünsche, die man sich selbst verbietet, äußert sich dann in lebhafter Ablehnung derjenigen (in diesem Falle der Grufts), die sich sichtbar durch ihr Äußeres zu solchen Handlungen bekennen:
Graf A.: - Oftmals habe ich festgestellt, was heißt festgestellt, ich habe den Eindruck, sag’ ich jetzt einfach mal, daß viele von denen, die dann irgendwie in die Gruftszene gekommen sind, von ihren meisten Kameraden belästert, behänselt, in irgendeiner anderen Art und Weise ausgestoßen worden sind, vielleicht auch wegen ihrer Freiheit, vielleicht auch wegen ihrer Neigung, zu sich selbst zu stehen, ‘ne eigene Meinung zu haben, als auch verschiedene andere Geschichten, die vielleicht dazu führten, daß man sich eher ausgrenzt, daß man eher zum Außenseiter gemacht wird. Man ist kein Außenseiter, Menschen sind soziale Wesen, Menschen sind keine Außenseiter von Natur aus, die werden zu Außenseitern gemacht, definitiv. Das ist so ...
Ausgrenzung und Stigmatisierung durch die „normalen“ Erwachsenen sind jedoch nur die eine Seite der sozialen Kontrolle, der insbesondere die Gruftszene ausgesetzt ist, die versuchte Ausforschung vermuteter Szeneinterna durch die Medien die andere.
Und so verrät die „lüsterne Neugier, mit der die Medien und ihre Konsumenten in das Leben der Drogen-, Sekten- und Alternativszene einzudringen versuchen, sehr deutlich das Bedürfnis nach partizipierender Surrogat-Befriedigung in der Phantasie“ (Richter, 1979, S . 112). In der Bemerkung von Herrmann zu skandalierenden Presseberichten kommt dieser Wunsch des nach Sensationen „hechelnden“ Lesers nach einer zumindest mittelbaren Beteiligung gut zum Ausdruck:
Herrmann:... Es war auch, wir sind damals, wir sind auch auf Friedhöfe gegangen oder so was, aber nicht, wie ‘s halt in der Presse verstanden wurde halt, irgendwelche Orgien auf den Friedhöfen oder wie auch immer, wie der „Volksmund“ sich so das vorgestellt hat ...
Das Interesse des gesellschaftlichen Umfelds - an zumal exotisch anmutenden - Jugendszenen ist also groß, so z.B. stellten Allerbeck; Hoag in einer repräsentativen Umfrage 1985 fest, daß Punker, Hausbesetzer und Alternative zu fast 100% in ihrem gesellschaftlichen Umfeld bekannt seien, während nur wenige der befragten Jugendlichen selbst einer der Gruppen angehören. So entsteht ein merkwürdiges verzerrtes Bild der jugendlichen Generation in der Gesellschaft, nämlich das einer Überrepräsentanz der jugendkulturellen Szenen. In der erwähnten Umfrage prägten fünf Punks das Bild der Jugend in der Öffentlichkeit mehr als z.B. 37 Jugendliche in der Freiwilligen Feuerwehr oder 17 Rettungsschwimmer, die nicht sonderlich „interessant“ waren. Auch dies erklärt sich natürlich mit einer aufsehenerregenden Berichterstattung der Medien, die für die Bekanntheit der fünf Punks sorgen, so daß deren „abweichendes“ Verhalten wesentlich deutlicher wahrgenommen wird als das „normaler“ Jugendlicher. (Allerbeck; Hoag, 1986, S. 46)
Tatsächlich ist die zahlenmäßige Mitgliedschaft Jugendlicher in besonders auffälligen Jugendkulturen jedoch immer sehr begrenzt gewesen.[2]
Pluralisierung und Differenzierung von jugendlichen Milieus sind verantwortlich für die seit den 80er Jahren anhaltende Vermehrung und Ausfächerung von Jugendszenen, die mittlerweile zu einem fast unüberschaubaren „Pool“ von Kulturen und Stilrichtungen innerhalb dieser geführt haben:
Herrmann:... Und die Szene ist erst so im Verlauf der Entwicklung und aufgrund der Vielfalt des Musikangebotes, also die ist ein bißchen auseinandergedriftet. Also, die Szene, die Schwarze Szene, die sich selber auseinandergefächert hat in verschiede Bereiche, also, sagen wir mal, von den Lebenseinstellungen her in verschiedene Bereiche, das heißt in Richtung „mystisch“ oder auch in Richtung „böse“ oder wie auch immer, ja, halt, das gab dann immer mehr Teilrichtungen ja, ‘n gewissen Zerfall. ...
Auf die Bildung von Stilen, ursprünglich eine „selektive Aneignung symbolischer Objekte, mit der sich eine Gruppe ‘integrierte kulturelle Tätigkeitsfelder’ schafft, um nach außen die Beziehung zur direkten Umwelt zu reformulieren und nach innen die kollektive Identität zu stabilisieren“ (Shell-Studie ‘82, S. 116), folgten die Misch- und Übergangserscheinungen neuer soziokultureller Formierungen, der Stilmix der 90er Jahre, - der daraus resultiert, daß die „heutigen Jugendkulturen“ - ganz anders als die der 60er und 70er Jahre - „von ihren sozialen Herkunftmilieus weitgehend abgekoppelt“ (sind). Die Stelle ehemals milieubezogener Jugendkulturen (wie Skinheads, Mods, Teddy-Boys und Punks im Großbritannien der 60er und 70er Jahre) werden heute weitgehend von „Freizeit-Szenen als wählbaren und abwählbaren Formationen“ eingenommen. (Vollbrecht, 1995 S. 32)
Erwähnung findet diese für diesen Zeitraum charakteristische Vermischung der Szenen, die sich nicht selten auch in Szenewechseln äußerte, bei mehreren der Befragten:
Micha:... Was mir eben auch eingefallen ist zu „biographischen Verläufen von Szenezugehörigkeiten“, da muß ich immer dran denken, gerade nach der Wende, da war ‘s das Typische, daß irgendwie jeder - ich nehme jetzt auch so die einfachen Begriffe - daß jeder Gruft und Punk und Fascho, das war irgendso jeder, jeder war so mal alles, irgendwie, ja (lacht) ...
Herrmann: - Also, wie soll ich jetzt sagen, da spielte es keine Rolle, ob Punk, Sharp Skin oder Gruftie. Es war halt die VILLA, und es war eben unser Haus, ...
Prinz: - Ja, es gab welche, die sich als Punk meinten, andere das, und ja ... Es gab Menschen, die ihr Ich bewahrt haben oder weiter entdeckt haben, auf dem Weg waren, egal, ob sie nun schwarz waren oder mal mit roten Haaren waren. Dann gab ‘s eben auch andere noch, die sind mal als Punk ‘rumgerannt, dann mal als das. Irgendwann haben sie dann eben ihren eigenen Weg gefunden. Mir waren - ehrlich gesagt - auch die Leute lieber, die dann mehrere Sachen durchlaufen sind, und dann schließlich vielleicht doch sich zur Normalität bekannt haben äußerlich, weil sie ‘s im Endeffekt vielleicht auch sein wollten, weil sie ‘s wirklich waren und gemerkt haben, sie sind eben ... sie wollen nichts besonderes darstellen. Wenn jemand das wird, was er innerlich eigentlich sein möchte, dann ist es o.k. ...
Tobi: - Na, so die ersten Male, als ich in der VILLA war, also da waren viele Punks und Skins da und nicht so viele Grufts. Das hat sich dann alles erst im Nachhinein entwickelt. ...
Neben dem beschriebenen Szenemix ist seit Ende der 80er Jahre eine Ausfächerung von Stilen innerhalb einzelner Szenen zu beobachten, wofür exemplarisch der Punk stehen soll, aus dem sich:
- Scater Punks,
- Surf Punks,
- Waver,
- Trasher,
- Hardcore Punks,
- Grindcore Punks und
- Gothic Punks oder Grufts
entwickelten, die im alltäglichen Erscheinungsbild jedoch oft miteinander vermischt auftauchen und zuweilen (für Szenefremde) schwer zu unterscheiden sind (vgl. Ferchhoff/Neubauer, 1997).
Der Aussage von Baacke, daß der Anschluß an eine Szene heute als „ kurzfristig“ (Hervorhebung d. Verf.) wirkender Stimulus eines reizvoll erscheinenden Arrangements, aufgrund der Orientierung an Freunden, die das Experiment des ‘Andersseins’ schon eingegangen sind“ (Baacke, 1994, S. 23) erscheint, kann nur im zweiten Teil zugestimmt werden, wie aus Toms und Graf As. Aussagen dazu ersichtlich wird:
Tom: - Ja, mehr oder weniger war es durch ‘nen Klassenkameraden, mit dem ich in der Schule war. Der hat halt etwas andere Musik gehört unter anderem The Cure, The Cave und so ‘was. Da ist man so ins Gespräch gekommen. ...
Graf A.: - Ja, das ist dadurch passiert, ich war wohl bis ‘90/91 bei der Armee. Ich hatte dort einen Kameraden, der mir durch seine Äußerlichkeit, durch sein Verhalten usw. aufgefallen ist. Er hat mir auch seine Ansichten erläutert zu verschiedenen Fragen des Lebens. Das fand ich recht interessant, und da habe ich mich mit ihm angefreundet. Und er hat mir irgendwann mal die VILLA gezeigt, und seitdem bin ich eben mehr oder weniger in den Sog der VILLA geraten, sag’ ich jetzt mal so. Ja.
Zur Widerlegung der Annahme Baackes sollen die folgenden Antworten dienen, die durch zahlreiche eigene Beobachtungen innerhalb der Szene verstärkt werden, so daß hier möglicherweise eine relative Besonderheit der Schwarzen Szene deutlich wird: langfristige Orientierung auf das Gothic-Sein, da mit dieser Orientierung bei den meisten Jugendlichen eine grundsätzliche Lebenseinstellung verbunden ist.
Frage:... Könntest du dir vorstellen, was dich zum Ausstieg bewegen könnte aus der Szene? Aber du hast es eigentlich schon beantwortet.
Tom: - Nee, eigentlich nicht. Nö, ich wüßte eigentlich nicht, was mich dazu bewegen sollte auszusteigen. Das liegt nicht daran, daß ich vielleicht schon zu lange dabei bin, nee, die anderen Stile, Richtungen interessieren mich nicht so, daß ich jetzt wechseln müßte, ...
Katha: -... Ne, ich würde sagen, ich möchte eigentlich so in der Richtung ‘ne ganze Weile noch bleiben. Ich möchte eigentlich alt werden.
Kerstin: - Ja, eigentlich ist es so, für mich ist es so, für mich ist das ein Lebensstil, ich lebe das, was ich denke. Ich kann eigentlich gar nicht anders sein. Und ich kenne sehr viele, die auch nicht anders sein können. Weil, das kommt von innen, das ist nichts von außen aufgesetztes.
Krüger unterbreitet im Rahmen sozialwissenschaftlich orientierter Jugendforschung den Vorschlag, Jugendliche und Jugendkulturen auf der Basis unterschiedlicher Lebensstile und Lebensmilieus typologisch zu unterscheiden (vgl. Krüger, 1993), da sich insbesondere seit den späten 80er Jahren eine bis dahin unbekannte, breite, vielschichtige und bunte Palette jugendlicher alltagskultureller Lebensweisen und -welten sowie vor allem freizeit- und konsumbezogener Stilvarianten ausdifferenziert.
In seiner beschreibenden und alltagsweltlich angelegten Typisierung, die auf empirischen Erhebungen wie auch Datenerhebungen aus der qualitativen Sozialforschung (die hier notwendige Erfassung des Selbst- und Wirklichkeitsverständnisses der handelnden Jugendlichen ist quantitativ nicht möglich, vgl. Fuchs-Heinritz, 1993) beruht, kristallisieren sich folgende Jugendszenen als „Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster“ (Ferchhoff, 1993, S. 143) der gegenwärtigen problematischen Lebenslagen heraus, wobei festzustellen ist, daß trotz der immer noch recht unterschiedlichen Lebenswelten der Jugendlichen in den alten und neuen Bundesländern - und hier besonders in der subjektiven Wahrnehmung und Verarbeitung - keine grundlegenden Differenzen in den jugendkulturellen Grundorientierungen bestehen (vgl. hierzu Jugendwerk der Deutschen Shell, 1992):
[...]
[1] Erste britische Punkband
[2] Statistisches Material zur beschriebenen Szene war allerdings nicht verfügbar, nur Schätzungen. So spricht der Berliner Szene-Insider Andreas Bromba Ende 1997 von „etwa 20 000“ Angehörigen der Gruftszene (zit. nach Farin, 1999), andere Schätzungen gehen bereits von 50 000 Gothics (Micha Brunner, 1999) aus, wobei der Programmleiter des alljährlichen Leipziger Wave-Gotik-Treffens eine Zäsur zwischen denen, die „ ‘n bißchen so aussehen und denen, die „dort besonders inhaltlich stark Anlehnung haben“ und deren Zahl er lediglich auf 5 000 bis 10 000 schätzt, macht.
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