Examensarbeit, 2008
119 Seiten, Note: 1,9
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffliche Grundlagen
2.1 Muttersprache versus Erstsprache
2.2 Bilingualismus versus Zweitsprache
2.3 Zusammenfassung
3. Erstspracherwerb
3.1 Erbe-Umwelt-Debatte
3.2 Bedeutung nonverbaler Mittel und konkreten Handelns
3.3 Ebenen des Spracherwerbs
3.3.1 Semantisch-lexikalische Ebene
3.3.1.1 Lexikalische Entwicklung
3.3.1.2 Semantische Entwicklung
3.3.1.3 Zusammenfassung
3.3.2 Zusammenhänge der semantisch-lexikalischen Ebene mit den weiteren Sprachebenen
3.3.2.1 Phonetisch-phonologische Ebene
3.3.2.2 Syntaktisch-morphologische Ebene
3.3.2.3 Pragmatisch-kommunikative Ebene
4. Zweitspracherwerb
4.1 Formen von Zweisprachigkeit
4.1.1 Simultane und sukzessive Zweisprachigkeit
4.1.2 Natürliche und kulturelle Zweisprachigkeit
4.1.3 Additive und subtraktive Zweisprachigkeit
4.2 Bedingungen des Zweitspracherwerbs
4.3 Hypothesen des Zweitspracherwerbs
4.3.1 Identitätshypothese
4.3.2 Kontrastivhypothese
4.3.3 Interlanguagehypothese
4.4 Erwerb semantisch-lexikalischer Kompetenzen zweisprachiger Kinder
4.4.1 Umfang und Struktur des Wortschatzes
4.4.2 Probleme und Sprachbildungsstrategien
4.4.3 Ein oder zwei Sprachsysteme?
4.5 Zusammenfassung
5. Sprachliche Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund
5.1 Situationsbezogener Ansatz
5.1.1 Vernetzte Sprachförderung
5.1.2 Lebensbedeutsame Sprachförderung
5.1.3 Familienorientierte Sprachförderung
5.1.4 Handlungsorientierte Sprachförderung
5.2 Interkulturelle Erziehung
5.3 Prinzipien der Förderung Deutsch als Zweitsprache im Überblick
5.4 Methodische Aspekte der Sprachförderung
5.4.1 Spiele als Sprachfördermittel
5.4.2 Handpuppen
5.4.3 Bilderbücher
5.4.4 Reime, Fingerspiele und Lieder
5.4.5 Rollen- und Theaterspiele
5.4.6 Malen und Basteln
5.5 Spielesammlung
5.5.1 Hinweise zur Wortschatzarbeit und Handhabung
5.5.2 Spiele
6. Fazit
Literaturverzeichnis
A. Interkulturelle Kreisspiele, Kinderlieder, Kindertänze
B. Interkulturelle Kinderbücher
C. Wortschatz fördernde Bilderbücher
D. Fingerspiele und Reime
E. Wortschatz fördernde Kinderlieder
F. Zeichenspiele
G. Spieleregister
H. Spiele aus dem Fachhandel
K. Spielematerialien
Abbildung 1: Darstellung einer semantischen Hierarchie am Beispiel des Wortfeldes Lebewesen
Abbildung 2: Troponymie des Verbs „sprechen“
Abbildung 3: Überdehnung des Wortes „Mond“
Abbildung 4: Anstieg der Flexionsmorpheme in Abhängigkeit vom Wortschatz
Abbildung 5: Anstieg der Satzkomplexität in Abhängigkeit vom Wortschatz
Tabelle 1: Entwicklung des Wortschatzumfangs im Vorschulalter
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Knapp 10% der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland sind Ausländer (Bundes- amt für Migration und Flüchtlinge, 2006). Ungefähr vier Millionen leben seit mehr als acht Jahren hier; fast drei Millionen seit mehr als 15 Jahren; schätzungsweise 50000 aus- ländische Kinder werden jährlich hierzulande geboren. Insgesamt haben etwa 30% der nachwachsenden Generation einen Migrationshintergrund (Belke & Conrady, 2005). Das ist die Herausforderung: Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft.
Man kann bei Kindern mit Migrationshintergrund nicht von einer Minderheit sprechen. Sie machen vielmehr eine große Gruppe aus. Zu ihnen zählen Kinder, die mit ihren Eltern nach Deutschland eingewandert sind oder deren Eltern Migranten waren, auch wenn das Kind selbst in Deutschland geboren ist oder einen deutschen Pass besitzt (Bundes- ministerium des Inneren, 2005).
Ihre Erstsprache ist oftmals nicht die Deutsche und mit der Zweitsprache Deutsch kommen sie nicht selten erst mit dem Eintritt in den Kindergarten, oder sogar noch später mit dem Schuleintritt, verstärkt in Berührung (Loos, 2007).
Erziehungs- und Bildungseinrichtungen berichten zunehmend über ein sinkendes Sprachniveau von Migrantenkindern. Experten rechneten in der Vergangenheit damit „dass sich Migrantenfamilien im Rahmen eines intergenerationellen Eingliederungs- prozesses in einem sprachlichen Anpassungsprozess befinden, an dessen Ende sie die Herkunftssprachen aufgeben werden“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2000). Und auch in der Gegenwart wird auf politischer Ebene davon aus- gegangen, dass sich das „Sprachproblem“, welches infolge der Migration nach Deutsch- land entsteht, „auswachsen“ werde, da der größte Teil der Kinder mit Migrationshinter- grund in Deutschland geboren oder aufgewachsen ist. Die Realität zeigt jedoch, dass dies keineswegs der Fall ist. Im Gegenteil: Untersuchungen belegen, dass der Sprachenerhalt der Herkunftssprachen in Migrantenfamilien ein dauerhaftes Phänomen darstellt und Kinder und Jugendliche auch in Zukunft mit Zweisprachigkeit als Bildungsvoraussetzung in den institutionellen Bildungsprozess eintreten werden (Gogolin, 2005).
Dieser Erhalt der Erstsprachen muss aber keine beeinträchtigende Bedingung für den Zweitspracherwerb im Deutschen darstellen, wie es Schule und Staat deklarieren, denn das „Gehirn hat Platz für viele Sprachen“ (List, 2001, S. 11). Frühere Annahmen negativer Auswirkungen der Zwei- oder Mehrsprachigkeit auf den Spracherwerb gelten als überholt. Neuere Forschungsergebnisse zeigen vielmehr leichte kognitive Vorteile bei Kindern, die mit zwei oder mehr Sprachen aufwachsen (Reich & Roth, 2002). Auch global betrachtet ist Zweisprachigkeit zunehmend normal und Einsprachigkeit eher die Ausnahme. Heute sprechen 70% der Menschen täglich mehr als eine Sprache und 50% der Kinder dieser Welt in der Schule andere Sprachen als zuhause. In Deutschland wachsen 20% der Kinder zweisprachig auf (Günther & Günther, 2007). Durch die immer weiter zunehmende Globalisierung wird das Beherrschen von mehr als einer Sprache in Zukunft notwendig sein und wir müssen kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit als Bereicherung begreifen.
Bereits im Mittelalter sah Kaiser Karl V. Mehrsprachigkeit als Reichtum an und betonte ihre große Rolle als Schlüssel zur Welt. Leider scheint dieser Schlüssel nicht für die deutschen Schulen zu passen (Utecht, 2003). Die Ergebnisse der internationalen Schul- leistungsstudie PISA aus den Jahren 2000 und 2003 sind alarmierend. Sie belegen, dass Kinder mit Migrationshintergrund in Deutschland schlechtere Schulleistungen erbringen als deutsche Kinder und somit bildungsbenachteiligt sind (Stanat & Christensen, 2007). Für Handlungsbedarf sprechen auch die Zahlen der Repräsentation der Schüler mit Migrationshintergrund an Sonderschulen. Sie machen etwa 10% aller Schüler und 16% aller Sonderschüler aus (Statistisches Bundesamt, 2003).
Auf der Suche nach Gründen für dieses häufige Schulversagen fallen vorrangig die mangelhaften Kenntnisse der deutschen Sprache auf (Begemann, 1996; Klein, 2002). Da die Probleme bereits vor Schuleintritt beginnen, ergibt sich die Aufgabe nach einer früh- zeitigen Sprachförderung im Elementarbereich. Diese stellt seit der PISA-Studie auch ein anerkanntes Bildungsziel dar.
Der sprachlichen Förderung im Vorschulalter kommt deshalb eine besondere Be- deutung zu, weil sie die Chancen unterstützt, den späteren schulischen Anforderungen zu entsprechen und die Entwicklungsmöglichkeiten sowie die soziale Integration der Kinder deutlich zu verbessern. In unserer Gesellschaft hat Sprache eine tragende Funktion. Sie ist das wichtigste Mittel der Verständigung zwischen den Menschen und Grundlage für die Kontaktaufnahme und die Kommunikation mit anderen (Sander & Spanier, 2001).
Maier (2003) verweist auf die Tatsache, dass „ein ausländisches Kind bereits im ersten Kindergartenjahr einen Wortschatzrückstand von weit über 1000 Wörtern [gegenüber drei- jährigen deutschen Kindern] hat, der sich ohne systematische Hilfe laufend vergrößert“ (S. 20). „Ein ‚automatisches Lernen’ im ‚Sprachbad der deutschen Sprache’ erfolgt nicht“ (Loos, 2007, S. 8).
Daraus und auf Grundlage der aufgezeigten Problematik der Kinder mit Migrations- hintergrund im deutschen Bildungssystem, die die Bedeutsamkeit des Themas verdeutlicht hat, ergibt sich die zentrale Fragestellung der Arbeit: Wie muss eine gezielte Sprach- förderung bei Kindern mit Migrationshintergrund im Elementarbereich auf semantisch- lexikalischer Ebene aussehen? Welche Überlegungen und Maßnahmen hierzu notwendig sind, soll in der Arbeit dargestellt werden. Den Blick auf die semantisch-lexikalische Ebene zu lenken, liegt darin begründet, dass dieser eine entscheidende Bedeutung in der Sprachförderung zukommt. Zum einen stellt der Wortschatzerwerb eine der wichtigsten Aufgaben beim kindlichen Spracherwerb dar, weil er das Kommunizieren und Verstehen ermöglicht, auch wenn die betreffenden Satzkonstruktionen noch nicht gelernt worden sind. Das Kind kann zwar nicht alles sagen oder verstehen, was es möchte, aber sehr viel eher, als wenn es nur die Regeln theoretisch gelernt hat und fast keine Wörter kennt. Zum anderen steht die semantisch-lexikalische Entwicklung im engen Zusammenhang mit den weiteren Sprachebenen. Insbesondere für die Entwicklung grammatischer Kompetenzen ist der Wortschatzaufbau wichtig.
Um eine sprachliche Förderung angemessen durchführen zu können und einen kompetenten Einstieg in das Thema zu gewährleisten, sind theoretische Grundlagen- kenntnisse über den Erst- und Zweitspracherwerb unverzichtbar.
Eröffnet wird die Arbeit im zweiten Kapitel mit den Bestimmungen begrifflicher Grund- lagen, die im Rahmen einer zweisprachigen Erziehung immer wieder genannt werden. Eine begriffliche Abgrenzung und Einordnung ist notwendig, da die zu diskutierenden Schlüsselbegriffe individuell unterschiedlich verstanden werden können und auch in der Literatur keine übereinstimmenden Definitionen gelten.
Das dritte Kapitel ist dem Erstspracherwerb gewidmet. Es wird im Speziellen darauf eingegangen, dass Sprache zwar auf einer biologischen Grundlage basiert, aber Kinder auch die Gelegenheit brauchen diese zu erwerben. Dabei spielt das sprachliche Angebot der Umwelt eine ebenso wesentliche Rolle wie die nicht-sprachlichen Mittel. Beide Aspekte gilt es, bei der Förderung sprachlicher Kompetenzen zu berücksichtigen. Die Entwicklung der semantisch-lexikalischen Fähigkeiten und deren Zusammenhänge mit den weiteren Sprachebenen werden in den folgenden Subkapiteln behandelt.
Im vierten Kapitel steht der Zweitspracherwerb im Mittelpunkt. Es wird aufgezeigt, dass Kinder aus Migrationsfamilien in unterschiedlichen Formen der Zweisprachigkeit auf- wachsen. Nach der Erläuterung der Theorien, die im Rahmen des Zweitspracherwerbs zur Diskussion stehen, folgt die Auseinandersetzung mit einigen Faktoren, welche sich positiv oder negativ auf den Erwerb der Zweitsprache auswirken können. Anschließend werden wesentliche Erkenntnisse zum Erwerb semantisch-lexikalischer Kompetenzen bei zwei- sprachigen Kindern beschrieben.
Das fünfte Kapitel bildet den Schwerpunkt der Arbeit und behandelt ausführlich die sprachliche Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund. Zunächst wird mit dem situationsbezogenen Ansatz ein Konzept vorgestellt, dass die individuelle Lebenssituation zum Ausgangspunkt pädagogischen Handelns macht, bevor konkrete Vorschläge zur interkulturellen Erziehung und spielerischen Sprachförderung erfolgen. Der letzte Punkt umfasst eine Sammlung ausgewählter Spiele zur Förderung semantisch-lexikalischer Fähigkeiten.
Die Arbeit schließt im sechsten Kapitel mit einem Fazit.
In der vorliegenden Hausarbeit umfasst die maskuline Schreibweise, zur Gewähr- leistung einer besseren Lesbarkeit, stets beide Genera.
Bei dem Versuch, sich dem Gebiet der Zweisprachigkeit zu nähern, müssen zunächst inhaltliche Grenzen gesteckt werden. Dies erweist sich als nicht immer einfach, da sich bisher zahlreiche Autoren mit dem Thema beschäftigt haben. Dementsprechend finden sich in der Literatur zahlreiche Definitionen, die den Forschungsstand auf unterschiedliche Weise zu fassen versuchen und sich zum Teil deutlich voneinander unterscheiden. Dennoch soll im Folgenden versucht werden, einen kurzen Überblick der theoretischen Grundlagen zu geben, auf denen die vorliegende Arbeit aufbaut.
Apeltauer (1997) definiert den Begriff Muttersprache formal als „die Sprache, die die Mutter spricht und die das Kind folglich als erste lernt“ (S. 11). Der Erwerb geschieht auf natürliche Art und Weise und wird im engen Kontakt von der Mutter oder einer sonstigen Bezugsperson erworben (Günther & Günther, 2007). Darüber hinaus ist die Muttersprache mit Emotionen und Vertrautheit verbunden und das kindliche Selbstbild bestimmt sich in großem Maße über diese (Böhm, 2001). Auch wenn im Lebenslauf weitere Sprachen er- worben werden, bleibt die als erstes erworbene Sprache die Muttersprache (Triarchi- Herrmann, 2003).
Der Begriff Muttersprache kann jedoch zu Missverständnissen führen, denn es besteht zum einen die Möglichkeit, dass die Muttersprache einer Person eine andere ist als die Sprache der Mutter. Zum anderen kann das Kind auch gleichzeitig mit zwei Sprachen auf- wachsen, wenn die Mutter eine andere Sprache spricht als der Vater.
Genauer und weniger Verwirrung stiftend, ist an dieser Stelle der Begriff Erstsprache. Oksaar (2003) bezeichnet diese als die Sprache, die ein Mensch als erstes erwirbt. Kielhöfer und Jonekeit (2004) nehmen eine Unterscheidung in dominante, starke und weniger ausgeprägte, schwache Sprache vor. Meistens ist die Erstsprache die starke Sprache, sie muss es aber nicht zwangsläufig sein (Günther & Günther, 2007).
In diesem Abschnitt soll versucht werden die besondere sprachliche Situation von zwei- sprachig aufwachsenden Kindern zu erfassen. Bei der Beschreibung der Zweisprachigkeit spielt neben dem Grad der Beherrschung beider Sprachen v.a. auch die Art des Sprach- erwerbs eine Rolle.
Bilingualismus meint nach Günther und Günther (2007) Zweisprachigkeit bzw. die Ver- wendung von zwei Sprachen. Oft wird der Begriff Bilingualismus auch synonym für den der Mehrsprachigkeit verwendet. Diese beinhaltet den Erwerb und Gebrauch von mindestens zwei Sprachen (Günther & Günther, 2007; Küpelikilinç & Ringler, 2007).
Nach Weinreich (1974) bezeichnet Zweisprachigkeit den abwechselnden Gebrauch zweier Sprachen: „The practice of alternativaly using two languages in alternation will be called here bilingualism, and the persons involved bilinguals“ (S. 8). Diese Aussage ist jedoch sehr allgemein gehalten und legt kein bestimmtes Niveau fest. Im Hinblick auf die Sprachbeherrschung stellt sich die Frage, was genau unter Zweisprachigkeit zu verstehen ist bzw. wie gut ein Kind beide Sprachen beherrschen muss. Zur Beantwortung dieser Frage lassen sich in der Fachliteratur zahlreiche Vorstellungen finden, die sich jedoch bis- lang extrem unterscheiden. Bei dem Dilemma der Findung einer exakten Begriffsdefinition gestaltet sich die Polarisierung wie folgt: „Die eine Extremposition wäre: Beide Sprachen müssen vollkommen und gleichmäßig beherrscht werden“ (Kielhöfer & Jonekeit, 2004, S. 11). Demnach gäbe es nur sehr wenige Zweisprachige. „Die andere Extremposition wäre: Es genügt, von einer zusätzlichen Sprache etwas verstehen zu können, um zweisprachig zu sein“ (Kielhöfer & Jonekeit, 2004, S. 11). In diesem Fall sind nahezu alle Menschen zweisprachig. Eine gültige Definition muss sich zwischen diesen beiden Positionen be- finden.
Meist beherrschen Zweisprachige die beiden Sprachen auf unterschiedlichem Niveau. Hier kommen die Bezeichnungen starke und schwache Sprache zum Tragen (Kielhöfer & Jonekeit, 2004). Eine des Öfteren vorzufindende Ansicht im Hinblick auf die Sprach- beherrschung geht von einer ausgewogenen Zweisprachigkeit aus. Nach dieser kann in Bezug auf eine aktuelle Definition von Günther & Günther (2007) „eine Person als zwei- sprachig angesehen werden, wenn sie regelmäßig im Alltag fähig ist, zwischen zwei oder mehr Varietäten schnell zu wechseln und sie zu verwenden“ (S. 61).
Die genannte allgemeine Definition für Bilingualismus bzw. Zweisprachigkeit von Günther & Günther (2007) lässt bis dahin offen, wann genau das Kind mit den unter- schiedlichen Sprachen in Kontakt treten muss. Im Gegensatz dazu stehen die Begriffs- bestimmungen von Jedik (2003), Loos (2007), Meisel, Jekat und Jürgens (1986) sowie Ulich (2005). Sie stimmen überein und sprechen von Bilingualismus, wenn von Geburt an gleichzeitig zwei Sprachen erworben werden. Somit wird Bilingualismus bzw. Mehr- sprachigkeit als „simultaner Erwerb von mehreren Erstsprachen verstanden und unter- schieden vom ... Zweitspracherwerb“ (Meisel et al., 1986, S. 28). Häufig ist in diesem Zu- sammenhang auch von Doppelspracherwerb oder bilingualem Erstspracherwerb die Rede (Klein, 1987; Kracht 2001; Küpelikilinç & Ringler, 2007; Loos, 2007).
Die Zweitsprache meint dagegen die Sprache, die nach dem angefangenen oder gar abgeschlossenen Erwerb der ersten Sprache erworben wird (Grohnfeldt, 2007; Günther & Günther, 2007; Triarchi-Herrmann, 2003). Kracht (2001) bezeichnet den Zweitsprach- erwerb auch als sukzessiven Bilingualismus. Zu unterscheiden ist dabei zwischen ge- steuertem und ungesteuertem Zweitspracherwerb. Ersterer meint den Fremdsprachen- erwerb im schulischen Kontext, letzterer den natürlichen Erwerb, wenn die Zweitsprache lebensbedeutsam ist und aus der Notwendigkeit heraus erworben wird, wie es bei Migrantenkindern der Fall ist (Günther & Günther, 2004).
In der Literatur besteht keine Einigkeit über die Altersgrenze, ab der nicht mehr von zwei Erstsprachen gesprochen, sondern zwischen Erst- und Zweitsprache unterschieden wird. Als eine oft genannte Grenze für die Unterscheidung zwischen Erst- und Zweit- spracherwerb ist das Alter von drei Jahren zu finden (Klein, 1987; Ulich, 2005).
Aufgrund der aufgezeigten Definitionsdefizite wird in dieser Arbeit von dem Begriff Mutter- sprache Abstand genommen und dieser nicht verwendet, sondern auf den inhaltlich korrekteren Begriff Erstsprache zurückgegriffen. Wenn überhaupt, kann das Wort Mutter- sprache nur für die Sprache gebraucht werden, mit der sich jemand in besonderem Maße identifiziert. Es wäre jedoch anmaßend diese Identifizierung vorzuschreiben oder gar ab- zusprechen.
Da der Begriff der Mehrsprachigkeit über die lebensweltliche Bedeutung von zwei Sprachen hinausgeht und die gesellschaftliche Lage, in der viele verschiedene Sprachen zusammenkommen, bezeichnet, wird der Begriff Zweisprachigkeit gegenüber diesem be- vorzugt (Gogolin, 2005). Die individuelle Zweisprachigkeit beruft sich überwiegend auf den Erwerb und Gebrauch von zwei Sprachen. Eine des Öfteren vorzufindende Ansicht, die auch dieser Arbeit zugrunde liegen soll, versteht unter Zweisprachigkeit die Beherrschung zweier Sprachen in einem Maße, die es den betroffenen Personen ermöglicht, beide Sprachen in wichtigen Lebensbereichen zu gebrauchen. Entscheidend ist, dass bezüglich der Sprachkompetenz eine gewisse Ausgewogenheit zwischen beiden Sprachen vorliegt. Bezüglich der zweisprachigen Situation ausländischer Kinder sollten die Vorstellungen nicht von einer idealen Zweisprachigkeit ausgehen. Sie ist in der Realität nur äußerst selten anzutreffen. Diese Arbeit soll auf der Bezeichnung „zweisprachig aufwachsende Kinder“ basieren, wohl wissend, dass in ihren Familien oft mehr als zwei Sprachen eine Rolle spielen. Denn es geht zunächst um eine Lebensform: Kinder mit Migrationshinter- grund leben überwiegend in und mit verschiedenen Sprachen.
Für die Zweisprachigkeit konnte bisher deutlich gemacht werden, dass es verschiedene Formen der Aneignung gibt, die sich nach Alter und Kontext des Erwerbs unterscheiden. Diesbezüglich betont jede Definition andere Aspekte. Genauer eingegangen wird hierauf im 4. Kapitel unter dem Punkt 4.1. Breit gefasst gibt es zwei Möglichkeiten, wenn Kinder zweisprachig aufwachsen: Den Bilingualismus oder bilingualen Erstspracherwerb, d.h. den gleichzeitigen Erwerb beider Sprachen von Geburt an, oder den Zweitspracherwerb, bei dem die eine Sprache ab der Geburt und die zweite später erworben wird.
Aufgrund der vielfältigen Begrifflichkeiten, die die Autoren verwenden, wie Bilingualis- mus, primärer Bilingualismus, sekundärer Bilingualismus, Zweitsprache, primäre und sekundäre Zweitsprache usw., wird dem weiteren Verlauf der Arbeit der Begriff Zweit- spracherwerb zugrunde gelegt. Dieser soll als „Sammelbegriff für jeden Spracherwerb verstanden werden, der sich gleichzeitig ... oder als Folge ... zum ... Erstspracherwerb vollzieht“ (Günther & Günther, 2007, S. 141).
„Die Sprache ist die bedeutendste Errungenschaft im Leben eines Menschenkindes und unter seinen großen Gaben vielleicht diejenige, die am gleichmäßigsten und gerechtesten verteilt ist“ (Butzkamm & Butzkamm, 2004, S. 1).
Aber wie erwirbt der Mensch die Sprache? Diese Frage führte in den vergangenen Jahrzehnten zu verschiedenen Theorien, von denen jedoch keine eine ausreichende und zufriedenstellende Erklärung liefert. Im Hinblick auf diese Theorien wird zwischen von außen nach innen gerichteten (Outside-in) und von innen nach außen gerichteten (Inside- out) Theorien unterschieden. Während erstere den angeborenen biologischen Strukturen nur eine geringe Bedeutung zukommen lassen und hingegen die Bedeutung genereller Lernmechanismen betonen, gehen letztere davon aus, dass es ein angeborenes Sprach- wissen gibt (Grimm, 1998).
Für die Outside-in-Theorien spielen folgende zwei Erklärungsansätze eine Rolle: Die kognitivistischen Theorien, die die Denkentwicklung des Kindes mit der Sprachentwicklung verknüpft sehen (Wygotski, 1993), und die interaktionistischen Theorien, deren Hauptaus- sage darin besteht, dass Sprache in der Interaktion mit der Umwelt erworben wird. Dabei kommt den Gesprächspartnern eine aktive Rolle zu (Bruner, 2002). Zu den Inside-out- Theorien zählen die nativistischen Spracherwerbstheorien. So kann in Bezug auf Lenne- berg (1986) davon ausgegangen werden, dass Sprache aufgrund angeborener bio- logischer Determiniertheit erworben werden kann. Dabei stellt die sprachliche Umwelt einen „Auslöser für das Verhalten der Sprache, das sich als genetisch determinierter, fertiger Bauplan entfaltet“ (Szagun, 2006, S. 271) dar.
Die Tatsache, dass keine der aufgeführten Theorien den Spracherwerb vollständig er- klären kann, aber jede ihre Vor- und Nachteile hat, verlangt nach einer Vernetzung der Ansätze. Außer Zweifel ist, dass sowohl genetische Voraussetzungen als auch sprach- licher Input aus der Umwelt die Grundlage für den Erwerb von Sprache bilden. Insbesondere in Anlehnung an Kauschke (2007) soll im Folgenden ein Einblick darüber gegeben werden, welche Rolle den Umwelteinflüssen und den angeborenen Fähigkeiten beim Spracherwerb zukommt, bevor anschließend ein Modell vorgestellt wird, das die Überlagerungen und das Ineinandergreifen der unterschiedlichen Spracherwerbstheorien zu erklären versucht.
Die Debatte hat ihren Ursprung in der von Chomsky (1965) aufgestellten Behauptung, dass die Sprache der Umwelt, aufgrund ihrer Mangelhaftigkeit nicht ausreicht, um den Erwerb von Sprache möglich zu machen. Als Vertreter des Nativismus bestärkt ihn dies in seiner Annahme, dass der Mensch genetisch vorgegebene Voraussetzungen besitzt und somit dennoch fähig ist, Sprache zu erwerben. Dass der Input jedoch nicht so unvoll- kommen ist, wie Chomsky behauptet, konnte empirisch belegt werden. Die Erwachsenen bieten dem Kind ein „Unterstützungssystem“ (Bruner, 2002, S. 32) an mit dessen Hilfe diese die Sprache erwerben. Dabei „unterstützt [die Bezugsperson] den Spracherwerbs- prozess aktiv, indem sie kommunikativ anregende Kontexte herstellt, eine an die jeweiligen Fähigkeiten des Kindes angepasste und Verständnis sichernde Sprache ver- wendet sowie ganz besondere Techniken einsetzt, die geeignet sind, dem Kind Informationen über Regelmäßigkeiten der Sprachstruktur zu geben“ (Grimm, 2003, S. 52). Des Weiteren ist es wichtig, dass die Bezugspersonen emotional vertraut sind und für das Kind bedeutsame Dinge vermitteln (Thiersch, 2007).
Kauschke und Klann-Delius (2007) untersuchten die Verbindung zwischen Inputmerkmalen und der Sprachentwicklung des Kindes hinsichtlich der semantisch- lexikalischen Sprachebene. Es ließen sich im Alter von 36 Monaten signifikante Zu- sammenhänge zwischen dem Wortgebrauch der Mutter und des Kindes nachweisen. Das bedeutet, die Kinder kommen ihrem Sprachangebot in Umfang und Ausdifferenzierung ihres Lexikons näher. Ebenso vollzieht sich in der Verteilung und Häufigkeit im Auftreten der Wortarten allmählich eine Übereinstimmung. In Bezug auf Wörter für innere Zustände besitzen die Kinder zunächst nur wenige Kategorien, passen sich aber nach und nach der Mutter an, und verfügen mit drei Jahren über ähnliche Kategorien. Aus diesen empirischen Belegen zur Struktur des Lexikons und zu den Wörtern für innere Zustände lässt sich schlussfolgern, dass „der kindgerichtete Input notwendige datenliefernde Eigenschaften … enthält“ (Kauschke, 2007, S. 8). Darüber hinaus gibt es Hinweise dafür, dass der Input auch über sozial-pragmatische Merkmale verfügt, denn die Mütter erleichtern die Kommunikation, indem sie mit zunehmender Sprachfähigkeit der Kinder auf personal- soziale Wörter, wie ja, nein, hm usw. verzichten und sich zudem in ihren sprachlichen Äußerungen auf die inneren Zustände der Kinder beziehen (Kauschke, 2007). „In beiden Fällen gibt der Input also ein Modellangebot vor, an dem sich die Kinder orientieren und das sie mit drei Jahren in groben Zügen erreicht haben“ (Kauschke, 2007, S. 9).
Anhand aktueller empirischer Ergebnisse konnte bis hierhin gezeigt werden, dass das Sprachangebot im Prozess des Spracherwerbs von Bedeutung ist, indem sich die Sprache der Mutter zum einen an das Verständnis des Kindes anpasst, und zum anderen auch Vorbildfunktion hat. Es konnte aber auch nachgewiesen werden, dass den genetischen Faktoren eine entscheidende Rolle zukommt. So sprechen nach Stromswold (2001) so genannte Zwillings- und Adoptionsstudien dafür, dass anlagebedingte Faktoren einen Ein- fluss auf die Sprachfähigkeit, v.a. jedoch auf das Auftreten von Sprachstörungen haben. Ergebnisse einer Zwillingsstudie von Spinath et al. (2004) belegen, dass sich sowohl Umwelteinflüsse als auch genetische Einflüsse auf den Spracherwerb auswirken (Kauschke, 2007).
In Emergenzmodellen werden die extremen Positionen in der Debatte um den Einfluss von Erbe und Umwelt überwunden, indem beide Einflussfaktoren aufeinander bezogen werden. Für Kauschke (2007) gilt: „Sprache als spezialisiertes Wissenssystem ist ... ein [emergentes] Entwicklungsprodukt, das aus einem Zusammenspiel von kindlichen Fähig- keiten und Umweltfaktoren hervorgeht“ (S. 12 f.). Die Basis dafür legen genetisch bedingte Lernmechanismen zur effizienten Verarbeitung des Sprachinputs. Diesen Input muss das Kind so für sich brauchbar machen, dass sich neue Strukturen herausbilden. Das somit erweiterte Wissenssystem wirkt dann in einer Art und Weise auf die Prozesse der Ver- arbeitung zurück, dass es gelingt, die Inputdaten anders zu verarbeiten und neue Arten von Informationen zu nutzen. Dabei liegt die „besondere Dynamik und Qualität des Spracherwerbs“ (Kauschke, 2007, S. 13) in der sich immer wieder verändernden Art der Verarbeitung und der vom Alter abhängigen Gewichtung und Verwendung der von außen herangetragenen Daten (Kauschke, 2007).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass durch empirische Untersuchungsergeb- nisse aus dem Bereich des Lexikons gezeigt werden konnte, dass Kinder von Beginn an „reichhaltige, relevante und auf sie abgestimmte Informationen im sprachlichen Angebot“ (Kauschke, 2007, S. 9) vorfinden, die sie nutzen, was Chomkys Argument der Inputarmut widerlegt. Zugleich hat der Spracherwerb aber auch immer eine biologische Basis. In Emergenzmodellen werden streng nativistische sowie absolute interaktionistische Theorien aufgegeben. Stattdessen befinden sich innere Voraussetzungen des Kindes und äußere Umweltfaktoren in einem dynamischen System in ständiger Wechselwirkung mit unterschiedlicher Gewichtung in den einzelnen Phasen der Entwicklung.
Wenn Kinder dabei unterstützt werden ihre sprachlichen Kompetenzen zu erweitern, ge- schieht dies, wie bereits erläutert, mithilfe von verbaler Kommunikation. Aber auch der nonverbalen Kommunikation kommt, insbesondere für die semantisch-lexikalische Ent- wicklung, eine tragende Bedeutung zu. Was scheinbar so selbstverständlich ist, trägt ent- scheidend dazu bei, ob und wie Kinder sprachfördernde Anregungen aufnehmen können.
Sprache ist nicht ausschließlich „eine Produktion von Lauten, sondern ein komplexer und vielgestaltiger Prozess der Kommunikation, bei dem über den Einsatz der Sprech- organe und Sprechwerkzeuge hinaus der ganze Mensch mit all seinen unterschiedlichen Ausdrucksmitteln beteiligt ist“ (Zimmer, 1993, zitiert nach Sander & Spanier, 2006, S. 78). Das bedeutet, dass wir neben den Worten auch Mimik, Gestik, Körperhaltung und Stimme als nicht-sprachliche Mittel einsetzen.
Bereits in den 70er Jahren hatte Bruner die Feststellung getroffen, dass Kinder schon im ersten Lebensjahr wichtige Fähigkeiten in der nonverbalen Kommunikation entwickeln und sich somit verständigen können, bevor sie überhaupt sprechen. Der Dialog, in den sich das Kind zunächst mit nicht-sprachlichen Mitteln einbringt, ist für den Spracherwerb grundlegend (Kolonko, 2001). Kinder setzen die nonverbalen Ausdrucksmittel jedoch nicht nur selbst in großem Maße ein, sondern orientieren sich auch an ihnen. Besonders Kinder, die nicht oder nur unzureichend über die verbale Sprache verfügen, bilden ein empfind- sames Gefühl für die nicht-sprachliche Kommunikation aus (Sander & Spanier, 2006).
„Die Unterschiedlichkeit der Botschaften wird umso deutlicher, je klarer der Erwachsene sie mit Stimme, Mimik und Gestik begleitet und unterstreicht“ (Jampert, 2002, S. 49). Die gemeinsame Ausrichtung der Aufmerksamkeit von dem Kind und der Bezugsperson auf Objekte oder Ereignisse bildet die Basis für die Entwicklung des Sprachverständnisses und den verbalen Austausch über Dinge und Ereignisse. Je häufiger die Aufmerksamkeit des Kindes auf seine Umwelt gelenkt wird, umso größer wird sein produktiver Wortschatz (Grimm, 1998). Die Herstellung der gemeinsamen Aufmerksamkeit kann dabei von beiden Seiten durch Blickkontakt oder gestische Mittel, wie Zeigen, erfolgen. So kann das Kind eine Verbindung zwischen den von dem Erwachsenen gesprochenen Wörtern und dem bezeichneten Objekt herstellen und erste Wortbedeutungen erschließen. Dabei lernt es auch, in welcher Beziehung die Wörter zueinander stehen und nach welchen regelhaften Prinzipien sie zu Sätzen und Texten aneinander gereiht werden (Kolonko, 2001).
Nonverbale Mittel sollten aber nicht nur mit Blick auf die Lautsprache betrachtet werden. Sie liefern zudem auch Informationen über abstrakte Begriffe, wie Freude oder Trauer, die sich mimisch und gestisch besser ausdrücken lassen als sprachlich (Militzer, 2002).
Darüber hinaus spielt auch das konkrete Handeln für den Spracherwerb eine ent- scheidende Rolle. Das Kind macht durch seine Eigenaktivität bzw. durch seinen handelnden Umgang mit der Umwelt differenzierte Wahrnehmungen. Diese werden durch die von Piaget beschriebenen Vorgänge der Assimilation und Akkomodation mit seinen bis dahin bestehenden Wahrnehmungen und Erfahrungen verbunden und kognitiv strukturiert. Je besser diese Vernetzungen und Strukturierungen dabei erfolgen, umso weniger Schwierigkeiten hat das Kind beim Spracherwerb (Holler-Zittlau, 2007a).
In einem mehrstufigen Prozess vollzieht sich beim Kind die Aneignung der Realität. Dabei ahmt es zunächst Gegenstände, die es darstellen möchte, gestisch nach. Darüber hinaus erkennt es mit etwa 18 Monaten eine vollständige Objektpermanenz. Das heißt, es weiß, dass Objekte auch außerhalb der eigenen Wahrnehmung und Tätigkeit existieren.
Damit einher geht die Symbolbildung. Dieser Schritt ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erwerb von Bedeutungen, semantischen Strukturen und die Bildung von Begriffen (Holler-Zittlau, 2006). Parallel dazu entdeckt das Kind in Handlungsgegebenheiten die Kausalität von Gegenständen und Personen. Ein Beispiel dafür ist das Ziehen an einer Schnur, an der das Spielzeugauto befestigt ist, welches sich so dem Kind nähert. Aufgrund des Erkennens der Kausalität wird das Kind befähigt, zwischen Mittel und Intention zu differenzieren. Zur Zielerreichung setzt es immer mehr Mittel ein und wird sich bewusst, dass Handlungen mit Intentionen in Verbindung stehen. Von da an beginnt die ziel- gerichtete Kommunikation (Holler-Zittlau, 2007a).
Auch für Kolonko (2001) sind Erfahrungen, die das Kind im Handeln mit der dinglichen und sozialen Umwelt macht, wichtig für den Erwerb von Bedeutungen und den Aufbau von Begriffen. „Dem Interesse am Objekt, an der gemeinsamen Handlung und der emotionalen Bewertung kommt dabei ein zentraler Stellenwert zu“ (Kolonko, 2001, S. 94), da sie die Begriffsbildung und Wortschatzerweiterung erleichtern. Im Umgang mit realen Dingen lernen die Kinder über verschiedene Sinne die Beschaffenheit und Eigenschaften dieser kennen. Tätigkeiten lassen sich über das Tun, Eigenschaften über die Sinne erfahren (Militzer, 2002). Sie lernen z. B., dass der Ball hochspringt, indem dieser auf die Erde ge- prallt wird. Wenn ein Kind das weiche Fell oder die spitze Gabel spürt, dann kann es die Wörter im wörtlichen Sinn auch begreifen.
Die Erfahrungen, die die Kinder durch das Handeln machen, werden über die Ver- knüpfung mit Sprache zu Begriffen. Deshalb ist es unerlässlich, die Handlungen mit Sprache zu begleiten (Militzer, 2002).
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die nonverbalen Kommunikationsmittel sowie das konkrete Handeln für den Spracherwerb bedeutsame Faktoren darstellen, und auch in der Förderung berücksichtigt werden sollten. Für die Erwachsenen ist es wichtig, die non- verbalen Signale zu beachten. Zum einen, um zu verstehen, was die Kinder meinen, und zum anderen, um den Kindern dabei zu helfen, die nonverbalen Äußerungen in Sprache zu überführen. Darüber hinaus sollten sie aber auch fähig sein, in nonverbaler Sprache Antworten zu erteilen und ihre Sprache mit Mimik und Gestik, Sprechmelodie und Tonfall zu begleiten. Dies erleichtert den Kindern das Verstehen von Wörtern und Sätzen und über stimmliche und mimische Veränderungen werden Kinder zudem angeregt und motiviert. Daraus lässt sich schließen, dass die nonverbale Kommunikation gerade auch in der interkulturellen Zusammenkunft als Hilfe in Gesprächssituationen dienen kann, in denen sich die Beteiligten nicht mit Worten verständigen können.
Im gesamten Prozess des Spracherwerbs stellt die semantisch-lexikalische Entwicklung einen zentralen Bestandteil dar. Die Aufgabe des Kindes beim Erwerb ist es, einen Bezug zwischen verbalen und nonverbalen Ausdrucksformen und allen wahrnehmbaren Reizen aus der Umwelt herzustellen (Kauschke, 2003). Das Kind muss über die Beurteilung von Situationen der Eltern-Kind-Interaktion, bei der nonverbale Elemente und die Sprache an sich wirksam werden, lernen zu verstehen, was die Bezugsperson meint. Die Frage lautet: Wie entwickelt das Kind aus den verschiedenen herangetragenen Angaben eine eigene Begriffsbildung und in welcher Abfolge erweitert sich der kindliche Wortschatz?
Der Erwerb dAbbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltener Sprache stellt sich stets als eine sehr komplexe Aufgabe dar. Der ganz- heitlich ablaufende Spracherwerb wird im Allgemeinen aus Gründen der Systematik in verschiedene Sprachebenen unterteilt. Tatsächlich sind die Ebenen eng miteinander ver- bunden und verlaufen zum Teil synchron. Dabei lassen sich die folgenden Sprach- erwerbsebenen unterscheiden: die semantisch-lexikalische, die phonetisch-phonologische und die syntaktisch-morphologische Ebene. Diesen übergeordnet ist die pragmatisch- kommunikative Ebene.
Die semantisch-lexikalische Ebene bezieht sich auf die Begriffsbildung sowie den aktiven und passiven Wortschatz. Das Lexikon beinhaltet den Wortschatz. Hier sind die Inhalts- wörter, die eine eigenständige Bedeutung haben, d.h. Nomen, Verben und Adjektive, sowie Funktionswörter, die v.a. für die Syntax wichtig sind, wie Artikel, Konjunktionen und Präpositionen, gespeichert. Die Semantik umfasst die Bedeutung eines Wortes, d.h. das abstrakte Konzept, welches wir mit einem Wort in Verbindung bringen. Dabei stehen ver- schiedene Konzepte in Form von Ober- und Unterbegriffen miteinander in Beziehung (Leuckefeld, 2006).
Der Entwicklungsprozess beginnt im ersten Lebensjahr. Das Kind verbindet in einem Ab- bildungsprozess, dem Mapping, sprachliche und konzeptuelle Einheiten miteinander. Dies stellt die Voraussetzung für den Erwerb von Wörtern dar, der die Teilprozesse des Wort- verstehens und der Wortproduktion beinhaltet. Tatsache ist, dass Kinder bedeutend mehr Wörter verstehen, als sie produzieren. Die stetig wachsende Anzahl erworbener Wörter wird im mentalen Lexikon aufgenommen und strukturiert (Meibauer & Rothweiler, 1999).
In der produktiven Entwicklung des Lexikons gilt das Auftreten der ersten Wörter als Meilenstein. Diesen gehen jedoch Vorläuferformen des Benennens voraus. Mit neun Monaten tauchen als erste sprachliche Mittel die Protowörter auf. Von „echten“ Wörtern unterscheiden sie sich durch ihre stärkere Bindung an die jeweilige Situation und dadurch, dass sie nicht Bestandteil des Lexikons der Erwachsenensprache sind (Kauschke, 2003).
Das Sprechen der ersten „echten“ Wörter erfolgt nach Angaben von Kauschke (2003) und Szagun (2006) tendenziell mit etwa 12 Monaten. Die Protowörter treten mit den echten Wörtern vorübergehend parallel auf. Dabei kann es, wie Stern und Stern (1928) berichten, auch zur Verbindung beider kommen, wie in <Piepvogel> (Dittmann, 2006).
Es lassen sich zwei Wege der Aufnahme neuer Wörter unterscheiden. Zum einen ver- wenden Kinder Wörter in der frühen Phase kontextgebunden und bilden sozial- pragmatische Wörter auf Ereignisrepräsentationen ab. Zum anderen können sie auch erste prototypische Konzepte für Objekte, Aktionen und Eigenschaften ausbilden, so dass Objektwörter auf Objektkategorien abgebildet werden können (Meibauer & Rothweiler, 1999). Ersterer Weg kann als expressive Strategie mit sozial-kommunikativer Funktion und letzterer als referenzielle Strategie mit Bezeichnungsfunktion angesehen werden. In der Regel nutzen Kinder beide Stile (Dittmann, 2006).
Die frühe, durch ihr langsames Wachstum, geprägte Wortschatzentwicklung endet mit etwa eineinhalb Jahren in der 50-Wort-Grenze. Bis dahin erwirbt das Kind im aktiven Wortschatz etwa zwei bis drei neue Wörter pro Woche und besitzt um die 200 Wörter im passiven Wortschatz (Meibauer & Rothweiler, 1999).
Ab diesem Punkt erfolgt eine sprunghafte Erweiterung des Wortschatzes, die mit Vokabel- bzw. Wortschatzspurt bezeichnet wird. Die Kinder erwerben jetzt mehrere Wörter täglich, so dass sie um den zweiten Geburtstag bereits 200 Wörter beherrschen. Gopnik und Reznick (1990) erklären das Auslösen der Benennungsexplosion mit dem Erkennen, „dass alle Dinge benannt werden können“ (Grimm, 1998, S. 719). Außerdem entwickeln die Kinder ein Symbolbewusstsein und erfahren zudem, dass alle Objekte kategorisiert werden können. Allerdings vollzieht sich der Vokabelspurt nicht bei allen Kindern als eine plötzliche Steigerung der Erwerbsrate. Bei vielen erfolgt der Erwerb auch kontinuierlich, statt sprunghaft. Andere Kinder machen mehrere kurze Spurts hintereinander, so dass die Entwicklung treppenförmig verläuft (Szagun, 2007).
Ab dem dritten Lebensjahr findet ein weiteres Wortschatzwachstum statt und das Kind erwirbt etwa fünf bis zehn neue Wörter am Tag. Mit drei Jahren beträgt der Umfang des kindlichen Lexikons durchschnittlich 500 Wörter. Mit dem Ende des vierten Lebensjahres setzt dann eine Verlangsamung des Erwerbs ein (Klann-Delius, 1999). Mit sechs Jahren verfügen Kinder über ein aktives Lexikon von etwa 3000 bis 5000 und über ein passives Lexikon von etwa 9000 bis 14000 Wörtern (Meibauer & Rothweiler, 1999). Kinder zwischen sieben und 16 Jahren lernen ungefähr 3000 Wörter im Jahr dazu (Kauschke, 2003).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: „Entwicklung des Wortschatzumfangs im Vorschulalter“ (Schrey-Dern, 2006, S. 65)
Aber was sind die Inhalte des frühkindlichen Wortschatzes? Für sie lässt sich fest- stellen, dass Kinder v.a. über Aspekte ihrer unmittelbaren Umgebung reden. Zweijährige bezeichnen Menschen - Mama, Papa; Tiere - Hund, Katze; Spielzeuge - Ball, Puppe und Fahrzeuge wie Auto und Zug. Gleichfalls werden Bezeichnungen für Nahrungsmittel, Be- kleidung und Körperteile erworben. Ein- und Zweijährige verwenden ferner oft Laut- malereien, wie <miau> und <wauwau>. Auch die Verben des frühen Wortschatzes stammen aus dem unmittelbaren Erfahrungsbereich der Kinder und sind zunächst mit den eigenen Bewegungen verbunden, wie <essen> und <laufen>. Erst später werden Verben wie <geben> und <öffnen> erworben, da sie das Verständnis für kausale Zusammen- hänge implizieren. Adjektive werden im zweiten Lebensjahr für die Beschreibungen sicht- barer Zustände von Gegenständen und für erlebbare innere Zustände von Personen ge- nutzt. Im dritten Lebensjahr steigt die Entwicklung des Sprechens über Emotionen an. Generell ähneln sich die Bereiche des Wortschatzes in den verschiedenen Sprachen (Dittmann, 2006; Szagun, 2006).
Die Lexikonentwicklung zeigt sich auch in einer ansteigenden Vielfalt der Wortarten. Sprachübergreifend konnte bisher beobachtet werden, dass unter den ersten 50 Wörtern bei den meisten Kindern die Nomen überwiegen. Neben den Nomen treten aber auch personal-soziale Wörter (hallo, danke) sowie relationale Wörter (mehr, ab) auf. Verben, Adjektive und Funktionswörter treten tendenziell erst später hinzu (Szagun, 2006). Szagun errechnete 2002 bei 22 Kindern aus Deutschland die relativen Häufigkeiten der Wortarten Nomen, Verben, Adjektive und Funktionswörter, wobei das frühe Wortschatzniveau im Durchschnitt 74 und das späte 187 Wörter umfasst. Es ergaben sich folgende Werte:
Auf dem frühen Wortschatzniveau gebrauchten die Kinder noch überwiegend Nomen, näm- lich 47.9%, und nur 10% Verben und 4.1% Adjektive. Auf dem späteren Wortschatzniveau ging der relative Anteil der Nomen zurück auf 33.1%, während der relative Anteil der Verben auf 23.4% stark anstieg und die Adjektive mit 5.1% nur geringfügig anstiegen. Der relative Anteil von Funktionswörtern war auf beiden Wortschatzniveaus sehr ähnlich, 37.4% und 38.3%. (Szagun, 2006, S. 121)
Im kindlichen Lexikonerwerb lassen sich somit typische Entwicklungsverläufe für Wort- arten nachweisen. Die Erklärung für das frühe Auftauchen von Nomen gegenüber Verben sieht Szagun (2006) darin, dass Objektbegriffe für Kinder leichter sind, da Objekte sichtbar und beständig vorhanden sind. Verben sind schwieriger, weil sie sich auf veränderbare Zustände beziehen und Relationen zwischen Personen und Dingen beschreiben.
Die Unterschiede in der Verteilung der Wortarten lassen sich neben unterschiedlichen individuellen Erwerbsstilen auch auf einzelsprachliche Struktureinflüsse zurückführen. Es konnte nachgewiesen werden, dass Kinder, die die Sprachen Mandarin oder Koreanisch erwerben, schon in frühen Phasen der Lexikonentwicklung einen großen Anteil an Verben produzieren. Im Koreanischen z.B. steht das Verb immer am Satzende, in einer hervor- gehobenen festen Position, und das Auslassen von Nomen ist gestattet, wenn sich aus dem Kontext schließen lässt, worauf sich der Sprecher bezieht. In einem kognitiven Test von koreanisch und englisch sprechenden Kindern stellte sich heraus, dass die englischen Kinder früher über ein differenziertes Benennvokabular verfügen und besser bei Aufgaben der Objektkategorisierung abschneiden. Koreanische Kinder hingegen gebrauchen früher ein differenziertes Verbsystem und erlernen eher Mittel-Zweck-Beziehungen, die für Hand- lungen von Bedeutung sind (Dittmann, 2006). Aufgrund des Wachstums an Verben im dritten Lebensjahr konnte auch für Sprachen mit anfänglicher Nomendominanz, wie Deutsch oder Englisch, beobachtet werden, dass sich das quantitative Nomen-Verb- Verhältnis umkehrt. Der Anteil an Verben übersteigt in der Spontansprache den Nomenanteil. Mit drei Jahren ist die Lexikonkomposition dann im Gleichgewicht und kann mit dem Aufbau bei Erwachsenen verglichen werden (Kauschke, 2003).
Mit der Entwicklung des Lexikons vollzieht sich gleichzeitig der Aufbau der Wortsemantik und des semantischen Netzwerkes. Als Auslöser gilt, wie bereits im Punkt 3.2 be- schrieben, die sich im 8. Monat entwickelnde Objektpermanenz. Zusammen mit prosodisch-phonologischen Bedingungen ermöglicht deren Anwendung die Etablierung von mentalen Repräsentationen als unabhängige Symbole. Indem im Fast-mapping- Prozess der Wortform eine Bedeutung zugeteilt wird, kann diese als Wortbedeutung in das semantische Netzwerk integriert werden. Demzufolge entwickelt sich die Bedeutung zum einen im Aufbau der einzelnen Bedeutungen eines Wortes und zum anderen als Ein- gliederung dieser in das semantische Netzwerk (Siegmüller, 2003).
Das semantische System teilt sich in Kategorien oder semantische Felder, in denen die Einheiten nach Gleichartig- oder Ähnlichkeit zusammengefasst gespeichert werden (Siegmüller, 2003). Dabei stehen die Wörter in einer paradigmatischen Beziehung zu- einander und zählen zur gleichen Wortklasse. So formen rot, gelb, blau, rosa usw. das Wortfeld der Farbnamen. Banane, Apfel, Kiwi usw. das Feld der Obstnamen und backen, kochen, braten bilden das Wortfeld der Verben des Kochens. Die Wörter der ent- sprechenden Felder verfügen über gemeinsame semantische Merkmale und einen ge- meinsamen Referenzbereich (Schwarz & Chur, 2007). In einem hierarchisch geordneten Begriffssystem werden Basic Level-Begriffe oder auch Unterbegriffe (Hyponyme) aus typischen semantischen Feldern meist zuerst produziert und Obergriffen (Hyperonymen) zugeteilt. Alle untergeordneten Elemente, die einen gemeinsamen Oberbegriff besitzen, werden als Kohyponyme von diesem bezeichnet. Dabei ist es nicht zwingend erforderlich, dass ein Obergriff als Wortform existiert, um ein semantisches Feld aufgrund von semantischen Merkmalen zu bilden (Siegmüller, 2003). Waxman und Hatch (1992) er- mittelten, dass es im Alter von drei bis vier Jahren zum Erwerb vieler Begriffe kommt, die die Basisebene übersteigen. Aber bereits auch im zweiten und dritten Lebensjahr sind vereinzelt Ober- und Unterbegriffe feststellbar (Kauschke & Stan, 2004).
In der semantischen Organisation zwischen Nomen und Verben lassen sich Unter- schiede aufzeigen. Nomen sind, wie in Abbildung 1 dargestellt, in hierarchische Taxonomien angeordnet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: „Darstellung einer semantischen Hierarchie am Beispiel des Wortfeldes Lebe- wesen“ (in Anlehnung an: Siegmüller, 2003, S. 103)
Auch Verben lassen sich in einer hierarchischen Struktur organisieren, der Troponymie, diese umfasst aber nur zwei Ebenen und ist somit flacher aufgebaut (Kauschke & Stan, 2004). Die Abbildung 2 stellt das Wortfeld der Verben des Sprechens dar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Troponymie des Verbs „sprechen“ (in Anlehnung an: Schwarz & Chur, 2007, S. 61)
Neben den Bedeutungsbeziehungen in Form von Ober- und Unterbegriffen gibt es u.a. auch die der Synonymie, bei der eine Bedeutungsähnlichkeit bis -gleichheit zwischen den Wörtern besteht, wie in <Zimmer> und <Stube> oder <anfangen> und <beginnen>.
Außerdem gibt es die Beziehung der Polysemie, bei der das gleiche Wort für verschiedene Bedeutungen eingesetzt wird, wie z.B. <Fuchs> für das Tier, die Schmetterlingsart oder metaphorisch für einen listigen Menschen. Insbesondere derartige Bedeutungs- beziehungen sind für Kinder oftmals schwer einsichtig (Gadler, 2006).
Die Aufgaben der semantischen Entwicklung umfassen das Anlegen der semantischen Felder sowie die fortschreitende Ausdifferenzierung innerhalb eines semantischen Feldes. Wenn das Kind semantische Felder angelegt hat, schließt sich die Phase des lexikalischen Wachstums, der Wortschatzspurt, an. Dieser bedeutet auch im Bereich der Semantik einen quantitativen Anstieg (Siegmüller, 2003).
Eines der auffallendsten Merkmale der semantischen Entwicklung ist, dass Kinder Wörter oftmals anders gebrauchen als Erwachsene. Zum einen überdehnen sie sie, d.h. sie wenden ein einziges Wort für Objekte und Ereignisse an, für die Erwachsene jeweils eine eigene Bezeichnung besitzen, zum anderen unterdehnen sie sie, was meint, dass der Bedeutungsumfang des kindlichen Wortes enger gefasst ist als in der Sprache der Er- wachsenen (Grimm, 1998).
Im Falle der Überdehnung neigen Kinder z.B. dazu alles auf vier Beinen laufende als Hund zu bezeichnen, auch das Schaf oder die Katze. Auch bspw. der Begriff Mond kann auf runde, gelbe Objekte übergeneralisiert werden, z.B. beim Anblick einer Zitrone, eines Balls oder Stierhörnern (Szagun, 2007).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Überdehnung des Wortes „Mond“ (Szagun, 2007, S. 66)
Im Fall der Unterdehnung kann es sein, dass nur schwarz-weiße Kühe als Kühe be- zeichnet werden, braune oder anders einfarbige nicht (Trautner, 1997).
Wie Kinder Wörter erwerben, wird von verschiedenen Ansätzen her betrachtet, aber keiner der Ansätze reicht allein. Sie heben auf unterschiedliche Aspekte ab und erfassen in diesen Bereichen jeweils etwas Relevantes. Zwei wesentliche traditionelle Theorien werden im Folgenden vorgestellt. Clark (1973) geht in seiner semantischen Merkmals- theorie von der Annahme aus, dass die Bedeutung eines Wortes die Summe seiner semantischen Merkmale ist. Kinder sehen mit einem Wort nur ein oder zwei Merkmale verbunden. Diese wenigen Merkmale bilden für das Kind die Bedeutung des Wortes und nur darauf baut es, wenn es die Umweltereignisse benennt (Trautner, 1997). Erst nach und nach fügt das Kind seinem Lexikoneintrag weitere Merkmale hinzu. So wird mit dem Wort Hund nicht nur das semantische Merkmal Vierbeinigkeit verbunden, sondern auch dass er bellt, eine Schnauze hat usw. Sieht es nun eine Kuh, erkennt es das gefleckte Fell, das Euter, hört die anderen Laute und kann anhand der wahrnehmbaren Merkmale zwischen Hund und Kuh unterscheiden lernen (Szagun, 2006).
Kinder orientieren sich jedoch nicht nur an Merkmalen, die für sie variabel sind, sondern auch an Prototypen. Die Prototypentheorie von Rosch (1973), die im Hinblick auf die Frage nach der Struktur von Konzepten und den ihnen zugrunde liegenden Kate- gorisierungseigenschaften entwickelt wurde, geht davon aus, dass Menschen Mitglieder einer Begriffskategorie als weniger typisch als andere empfinden. Unseren Vorstellungen entspricht eine Amsel mehr der Kategorie Vogel als ein Pinguin. Das bedeutet, dass über eine Kategorie viele Merkmale verteilt sind, jedoch besitzen einige mehr und andere weniger dieser Merkmale. Die Mitglieder mit den meisten zutreffenden Merkmalen werden als „prototypische Fälle“ bezeichnet. Im Gegensatz zur Merkmalstheorie gibt es also ein- deutige und weniger eindeutige Zugehörigkeiten. Daten zeigen, dass Kinder meist als erstes die Prototypen sprechen lernen. Kommt es zur Anwendung des Wortes, greift das Kind einzelne Merkmale des Prototypens heraus und bringt es zur Anwendung. So ist es möglich, dass Bedeutungserweiterungen eines Wortes zustande kommen, denn das Kind nutzt jeweils verschiedene Merkmale (Szagun, 2006).
Überdehnungen und Unterdehnungen kommen nicht mehr vor, wenn das Kind die hierarchische Struktur des entsprechenden semantischen Feldes und damit erkennt, dass die gleiche Sache mit unterschiedlichen Wörtern bezeichnet werden kann (Grimm, 1998). So haben die meisten Kinder das Konzept von Ober- und Unterbegriffen, sowie einander ein- und ausschließenden und teilweise überlappenden Kategorien gegen Ende der Vor- schulzeit verstanden (Rossmann, 1996).
Die Schwierigkeit, dass sich verschiedene Bedeutungen mit einem Wort verbinden lassen, wird als induktives Problem bezeichnet. „Neuere“ Ansätze u.a. von Markmann (1991), nehmen zur Erklärung des schnellen Worterwerbs constraints, lexikalische Be- schränkungen, an. Durch sie werden die Möglichkeiten der Bedeutungen reduziert. Die drei wichtigsten constraints für den Bedeutungserwerb von Wörtern sind die taxonomic constraint, die whole object-contraint und die mutual exclusivity constraint. Der Taxonomie-Annahme zufolge beziehen sich Wörter auf kategoriale statt auf thematische Relationen zwischen Objekten. Kinder im Alter von etwa 18 Monaten wechseln demnach von im handelnden Umgang thematisch organisierten Kategorien zu taxonomischen, in- dem sie davon ausgehen, dass mit dem Wort eine Objektklasse gemeint ist. Im Sinne der zweiten Beschränkung, der Ganzheitsannahme, gehen Kinder davon aus, dass neue Wörter sich eher auf ganze Objekte beziehen und nicht auf Teile oder eine Eigenschaft. Diese Hypothese wird von Kindern im Alter von 18 bis 24 Monaten, eventuell auch früher, bevorzugt. Beide Beschränkungen führen zu einem schnellen Wortlernen von Objekt- begriffen. Damit Kinder aber auch Wörter für Objektteile oder Eigenschaften erwerben, muss die Ganzheitsannahme überwunden und eine weitere Beschränkung angenommen werden. Dies ist die dritte, später auftretende, mutual exclusivity constraint oder auch Dis- junktionsannahme. Sie besagt, dass sich die Wortbedeutungen gegenseitig ausschließen und es für jedes Objekt nur einen Namen gibt. Wenn das Kind demnach schon ein Wort für ein Objekt kennt, muss es davon ausgehen, dass ein neues Wort für eine andere Be- deutung steht. So ist es möglich, dass Teile von Objekten, Eigenschaften, Oberbegriffe und Eigennamen erschlossen werden. Für alle drei Lernbarkeitsbeschränkungen konnte ein Auftreten zur Zeit des Wortschatzspurts nachgewiesen werden (Grimm, 1998; Kauschke, 2000).
Ab dem dritten Lebensjahr sind Kinder auch fähig, Wortneuschöpfungen zu produzieren und damit Wortschatzlücken zu schließen. Die dabei zum Tragen kommenden Prozesse der Derivation und Komposition stehen für entsprechende Fortschritte im Bereich der Morphologie. Man fand heraus, dass im Spracherwerb bereits sehr früh Nomen-Verb- Beziehungen etabliert werden. Die zu beobachtenden Prozesse der Konversion (Schnur → schnuren) sowie der −er-Derivation (schießen → Schießer) reflektieren dabei das Wissen des Kindes darüber, dass mittels derartiger Wortbildungsregeln Verben in Nomen und auch Nomen in Verben überführt werden können. Im Verlauf der sprachlichen Ent- wicklung sind Kinder durch das Lexikonwachstum immer weniger von solchen Neu- bildungen abhängig (Kauschke & Stan, 2004).
Für den Bereich der Semantik bleibt letztlich noch hervorzuheben, dass sich der Be- deutungserwerb nicht nur auf den Erwerb von Referenzen und Wortbedeutungen bezieht, sondern auch auf den Erwerb der Satz- und Textsemantik. In der Sprache kommt es nicht nur zur Anwendung einzelner Wörter, stattdessen werden diese zu Sätzen und Texten verbunden. So sind zwar Inhaltswörter ein wesentlicher Bestandteil der lexikalischen Semantik, im Gegensatz zu diesen aber haben Funktionswörter eine Bedeutung, die erst im syntaktischen Kontext einen Sinn ergibt. In diese Richtung zielt auch die Feststellung Freges (1884): „Es ist also die Unvorstellbarkeit des Inhaltes eines Wortes kein Grund ihm jede Bedeutung abzusprechen […] Man muss aber immer einen vollständigen Satz ins Auge fassen. Nur in ihm haben die Wörter eigentlich eine Bedeutung“ (zitiert nach Meibauer et al., 2007, S. 170). Darüber hinaus befasst sich die Semantik auch mit der Be- deutung von Texten, d.h. der Kombination von Wörtern und Sätzen im kontextuellen Zu- sammenhang wie in Erzählungen oder Beschreibungen. Beispielsweise lässt sich ohne Hintergrundwissen nicht entscheiden, ob sich das Pronomen <sie>, im folgenden Text auf Maria oder Susi bezieht: <Maria hat gestern mit Susi gesprochen. Jetzt ist auch sie über- zeugt, dass es wahr ist.> (Meibauer et al., 2007). Damit steht die Semantik im direkten Zusammenhang mit der Grammatik.
Auch wenn hier der Wort- und Bedeutungserwerb getrennt beschrieben wurden, so sind diese letztendlich nicht zu trennen. Die semantisch-lexikalische Entwicklung vollzieht sich zum größten Teil zwischen dem ersten und sechsten Lebensjahr. Die gemachten Alters- angaben sind dabei nicht absolut zu verstehen, vielmehr geben sie grobe Anhaltspunkte, in welcher Reihenfolge der Erwerb erfolgt. Sinnvoll ist es, zwischen zwei Phasen des Lexikonerwerbs zu unterscheiden: der Phase der ersten 50 Wörter und der sich an- schließenden Phase des Wortschatzspurts. Dabei stellt sich der Lexikonerwerb als eine kreative Leistung dar und steht mit der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten eng im Zu- sammenhang. Aus dem Überblick über die lexikalische Entwicklung wird ersichtlich, dass die Verfügbarkeit über verschiedene Wortarten von der jeweiligen Phase der Entwicklung bestimmt wird.
Außer Frage steht, dass Kinder vor einer schwierigen Aufgabe stehen. Sie müssen den Wörtern die Bedeutung zuschreiben. Dabei ist der entscheidende Punkt in der Ent- wicklung, dass Kinder ein Verständnis über die fortdauernde Existenz eines Objektes, un- abhängig von der eigenen Wahrnehmung, erwerben. Das ist die erste Stufe auf dem Weg zur Entwicklung der Symbolfunktion. Durch das Fast-mapping weisen Kinder einem Wort schnell vorläufige Bedeutungen zu. Wie Kinder Wörter erwerben, wird von verschiedenen Ansätzen her betrachtet: z.B. der semantischen Merkmalstheorie und der Prototypen- theorie. Die vorläufigen Bedeutungen müssen im weiteren Verlauf durch semantische Merkmale und andere Informationen ergänzt werden. Wenn das Kind ein Wort sagt, dann muss es bereits eine Hypothese haben und bei dieser Hypothese soll es eingeschränkt sein. Es wurden drei solcher Beschränkungen beschrieben: die Taxonomie-, die Ganzheits- und die Disjunktionsannahme. So werden im Laufe der Zeit Über- und Unter- dehnungen überwunden.
Zusätzlich zur Erleichterung des Worterwerbs nutzt das Kind neben den Über- generalisierungen, den lexikalischen Beschränkungen und Wortneuschöpfungen auch andere Informationen. Hierzu zählen v.a. grammatische und pragmatische Hinweise.
Auch wenn sich der Spracherwerb auf verschiedenen Ebenen vollzieht, handelt es sich nicht nur um parallel ablaufende Entwicklungen, sondern um Prozesse, die sich auch gegenseitig durchdringen und bis zu einem gewissen Maß voneinander abhängig sind. Der Lexikonaufbau ist ein wesentlicher Bestandteil des Spracherwerbs, der neben den semantischen auch phonetisch-phonologische, syntaktisch-morphologische und pragmatisch-kommunikative Aspekte umfasst und zueinander in Beziehung setzt. Das Kind muss zahlreiche Informationen über ein Wort aufnehmen, diese miteinander ver- knüpfen und Verbindungen zu bereits vorhandenen Einträgen des Lexikons aufbauen (Meibauer & Rothweiler, 1999). Wörter müssen aus einem Sprachstrom herauskristallisiert und identifiziert werden, um sie zu verstehen. Unter anderem steht diese Fähigkeit eng mit phonologischen und syntaktischen Fähigkeiten im Zusammenhang (Menyuk, 2000).
Während die Phonetik die lautliche Seite des Kommunikationsvorgangs unter den Aspekten der Produktion und Wahrnehmung von Lauten untersucht, fasst die Phonologie die Prozesse, die über den einzelnen Laut hinausgehen und beschäftigt sich mit den be- deutungsunterscheidenden Sprachlauten (Leuckefeld, 2006).
Kinder sind bereits sehr früh in der Lage, phonetische und phonologische Merkmale der Sprache wahrzunehmen. Schon kurz nach der Geburt können sie mittels prosodischer Merkmale wie Rhythmus und Intonation ihre Erstsprache von einer anderen Sprache unterscheiden. Anhand der Grundstruktur der Silbenfolgen in der deutschen Sprache ist es möglich, dass das Kind Wortgrenzen erkennt und notwendige Regeln für die Wortbildung sowie die Grammatik ableitet. Erst dann kann es Wörter wieder erkennen und erwerben (Sayilir, 2007).
Beginnt das Kleinkind sich auf Bedeutungen von Wörtern zu konzentrieren, wechselt es seine Strategie, indem es Wörter nicht mehr ganzheitlich lernt. Zunächst brauchte es noch keine genauen phonologischen Darstellungen, da der Wortschatz gering und in den Kontext integriert war. Je umfangreicher der Wortschatz wird und je häufiger die Er- wachsenen über nicht kontextgebundene Dinge reden, desto mehr muss das Kind auch phonetischen Details seine Beachtung schenken. Nur so kann es verstehen und ver- standen werden. Kindern ist es bereits im Alter von 19 Monaten möglich, geringfügige phonetische Kontraste zu nutzen, um Wörter voneinander zu unterscheiden. Das Wort- schatzwachstum ist demnach sehr mit der fortschreitenden Entwicklung der phono- logischen Fähigkeiten verknüpft (Sayilir, 2007).
Die erste Phase des Wortschatzerwerbs ist durch Langsamkeit gekennzeichnet. Das hängt auch damit zusammen, dass das Kind nicht nur neue Wörter lernen, sondern vorher die Fähigkeit erwerben muss, konkrete Laute zu bilden, um damit neue Wörter in wieder- erkennbarer Weise zu sprechen (Meibauer & Rothweiler, 1999). Indem die Kinder die Sprache der Bezugspersonen mittels eines artikulatorischen Filters strukturieren, werden die Erinnerungen an Wörter, die in phonetischer Reichweite liegen, verstärkt und auf diese Weise ihre motorische Abrufbarkeit verbessert. So gebrauchen die Kinder zunächst phonologisch und phonetisch einfachere Wörter. An diese können sie sich erinnern und den erwachsenen Sprechern ähnliche Produktionen liefern (Sayilir, 2007). Auch Clark (1993) ist der Ansicht, dass die Schnelligkeit des Lexikonerwerbs von der motorischen Entwicklung abhängt. Die Kinder, die lange Zeit für die artikulatorischen Programme be- nötigen, verzögern die Produktion der Wörter. Die anderen hingegen, bei denen die motorische Entwicklung schneller voranschreitet, produzieren früher die Wort- kombinationen. Kinder, die perzeptive und/ oder motorische Probleme noch nicht gelöst haben, vereinfachen die Lautformen von Wörtern.
Mit dem Wortschatzspurt folgt auch der Ausbau der phonetisch-phonologischen Fähig- keiten. Diese Phase geht mit einer Erweiterung des Inventars an Lauten und einem Regelerwerb der Lautproduktion einher (Jahn, 2001). Beim Erwerb ihrer phonologischen Kompetenzen orientieren sich Kinder am bisher aufgebauten Lexikon. Nimmt dieses zu, bildet sich auch das eigentliche phonologische System heraus. Somit stellt das Lexikon die Grundlage für die Entwicklung des phonologischen Systems der Kinder dar (Sayilir, 2007).
Der Wortschatz ist, wie bereits angedeutet, sehr eng mit der Entwicklung auf syntaktisch- morphologischer Ebene verbunden. Beide Bereiche hängen in jeder Sprache zusammen (Sayilir, 2007). Während sich die Morphologie mit der Struktur von Wörtern beschäftigt, d.h., wie Wörter gebildet und flektiert werden, erklärt die Syntax die Anordnung von Wörtern zu Sätzen (Schrey-Dern, 2006).
Je nachdem, wie das Kind Erfahrungen bei der Verwendung von Wörtern in unter- schiedlichen semantischen Zusammenhängen und syntaktischen Bezügen macht, wächst sein Wissen über die Bedeutung und Verwendung dieser Wörter (Glück, 1998). Mit der Entwicklung von Bedeutungen verändern sich nicht nur die Wortinhalte, vielmehr beruhen auch grammatische Strukturen auf einem sich entwickelnden Verständnis für Zusammen- hänge und Relationen. Der Erwerb dieser Strukturen und die Fähigkeit, sie stimmig zu verwenden, sind daran gebunden, sie in ihrer Bedeutung zu verstehen (Jampert, 2002).
Die deutsche Sprache zählt aufgrund ihrer Wortstruktur zur Kategorie der flektierenden Sprachen, in der es nicht-flektierende und flektierende Wörter gibt. Sayilir (2007) weist nicht nur auf einen engen Zusammenhang zwischen Wortschatz und Grammatik hin, sondern erklärt auch, dass die Entwicklung der Grammatik in reich flektierenden Sprachen, wie der deutschen, früher beginnt und linear zum Wortschatzerwerb verläuft.
Die Aufgabe des Kindes besteht darin, die komplexen Regeln der Flexion, der Wort- bildung und der Wortstellung zu erwerben. Es muss die Flexionsregeln beherrschen, da sich in Sätzen eine Wortform in Abhängigkeit von ihrer syntaktischen Funktion verändert, wobei sich die Wortformen in ihren Flexionsmerkmalen unterscheiden. Zu diesen zählen Numerus, Genus, Person, Kasus, Genus verbi und Komparation (Sayilir, 2007). Auch für die Bildung von Wörtern gibt es im Deutschen zahlreiche Möglichkeiten, deren Haupttypen die Komposition und Derivation sind.
Beträgt der kindliche Wortschatz zwischen 100 bis 400 Wörtern, vollzieht sich eine Ausdifferenzierung nach Wortarten. Überwiegen zu Beginn des Wortschatzspurtes im Deutschen noch die Nomen, treten jetzt die Verben und Adverbien hinzu. Ab dem 3. Lebensjahr wird die Syntax zum Rahmen für die weitere Entwicklung der Semantik und die Ausdifferenzierung des Wortschatzes, denn das Kind nimmt z.B. syntaktische Informationen für den Aufbau der Verbbedeutungen in Anspruch (Sayilir, 2007).
Mit dem Wortschatzaufbau eignet sich das Kind nach und nach die Voraussetzungen für die grammatische Klassifizierung seiner Wörter an. Hierzu muss es potenzielle Morpheme und Wörter im Input identifizieren und herauslösen können.
Zum Beispiel muss es zunächst über die lautliche Einheit /ball/ verfügen, bevor es sie mit dem Begriff BALL [Hervorhebung im Original] verbinden kann. Und um die Einheit /ball/ syntaktisch kategorisieren zu können, muss es unter anderem auch schon Einheiten wie /der/ identifiziert haben, um etwa aufgrund des gemeinsamen Vorkommens von /der/ und /ball/ die Einheit /ball/ als Substantiv zu klassifizieren. (Weissenborn, 2000, S. 145)
Im Bereich der Syntax muss das Kind die Regeln erlernen, die die Verbindung von Inhalts- und Funktionswörtern zu grammatischen Sätzen und Texten ermöglichen. Dabei folgt jede Sprache ihren eigenen Gesetzen. Gerade Funktionswörter, die nur eingeschränkt mit anderen Wörtern kombinierbar sind, nehmen im Satz eine feste Position ein. Aus diesem Grund ist es so entscheidend, dass das Kind funktionale Einheiten und Regelmäßigkeiten im Input erkennt, die mit der grammatischen Struktur der Sprache übereinstimmen (Weissenborn, 2000).
Nach Ansicht von Sayilir (2007) ist es „durchaus plausibel anzunehmen, dass ein Kind mit einem grösseren Wortschatz daraus mehr Hinweise für die Morphologie und die Syntax entnehmen kann als ein Kind, das diese Informationen aus einem kleineren Wort- schatz ableiten muss“ (S. 168).
Auch Szagun (2001) hat in einer empirischen Studie mit 333 deutschsprachigen Kindern zum einen spezielle Aspekte der Flexionsmorphologie und zum anderen die Satz- komplexität der Kinder in Abhängigkeit vom Wortschatzerwerb untersucht. Die Ergebnisse belegen, dass zwischen der Schnelligkeit des Wortschatzerwerbs und der Schnelligkeit des Erwerbs der Grammatik ein sehr starker Zusammenhang besteht. Kinder zwischen 1;6 und 2;6 Jahren, die schnell ihren Wortschatz erwerben, eignen sich auch schnell Flexionsmorpheme an und können auf diesen aufbauend komplexere Sätze bilden. Damit sich der Erwerb der Grammatik vollzieht, muss eine kritische Masse an Wörtern, die flektierbar und kombinierbar sind, existieren. Bis zu einem Wortschatz von 200 Wörtern zeigt sich kaum ein Fortschritt im Grammatikerwerb. Erst wenn der kindliche Wortschatz zwischen 200 und 300 Wörtern beträgt, ist ein Wachstum im Bereich der Grammatik nachweisbar. Das betrifft sowohl den Flexionserwerb als auch die Komplexität der Sätze. Auch danach stehen in jedem Fall im Alter bis zu zweieinhalb Jahren Fortschritte im Grammatikerwerb mit Fortschritten im Erwerb des Wortschatzes im engen Zusammen- hang. Dieser hat sich auch in anderen Sprachen bestätigt (Szagun, 2006). Die nach- stehenden Abbildungen 4 und 5 stellen den Zusammenhang grafisch dar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: „Anstieg der Flexionsmorpheme in
Abhängigkeit vom Wortschatz“
(Szagun, 2006, S. 128)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5: „Anstieg der Satzkomplexität in
Abhängigkeit vom Wortschatz“
(Szagun, 2006, S. 129)
Kinder müssen Sprache auch auf dieser Ebene beherrschen lernen. Die pragmatisch- kommunikativen Regeln sind für den sozial adäquaten Gebrauch von Sprache mindestens so wichtig wie ein angemessener Wortschatz, eine verständliche Aussprache und eine korrekte Grammatik.
Gelegentlich wird die Pragmatik als ein Teil der Semantik angesehen, denn auch in diesem Bereich geht es um Bedeutung. Dabei handelt es sich um die Bedeutung, die eine bestimmte Äußerung in einer bestimmten Situation hat (Gadler, 2006).
Kommunikativ-pragmatische Kompetenzen beinhalten die Fähigkeit, verbale und non- verbale Mittel der Kommunikation angemessen auszuwählen, dass die Kommunikations- situation gelingt. Darüber hinaus gilt es den Einsatz dieser Mittel bei anderen Personen so zu interpretieren, dass auch deren Intentionen so gut wie möglich erkannt werden (Sayilir, 2007). „Es genügt … nicht, die Form einer Äußerung und ihren Bedeutungsgehalt un- abhängig vom Kontext und Sprecher zu analysieren. Berücksichtigt werden muß auch die Absicht, die der Sprecher mit der Äußerung verfolgt, und die Wirkung der Äußerung auf den Hörer“ (Trautner, 1997, S. 258). In Bezug auf solche Anpassungsleistungen eignen sich die Kinder beim Spracherwerb auch Kenntnisse über die soziale und situative Ange- messenheit von Sätzen an. Es müssen Regeln und Normen des Kommunizierens er- worben und ihr entsprechender Einsatz gelernt werden, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Der Begriff der kommunikativen Kompetenz umfasst auch Aspekte der nonverbalen Kommunikation wie Mimik und Gestik. Die Bedeutung von etwas Gesagtem kann nicht nur aus sprachlichen Hinweisen ermittelt werden und dieselbe Bedeutung kann verschieden ausgedrückt werden. Zur Interpretation der Bedeutung leisten die non- verbalen Mittel einen entscheidenden Beitrag (Sayilir, 2007). Somit ist Sprechen also auch immer eine Form des Handelns. Sprachliche Äußerungen können als kommunikative Handlungen unterschiedliche Funktionen haben. Sie können Aussagen, Fragen, Befehle, Bitten, Verbote, Erlaubnisse usw. übermitteln. Diese gilt es, zu produzieren und zu ver- stehen. Es ist z.B. möglich, dass Äußerungen Aufforderungen darstellen, die auf semantischer Ebene nicht zu erkennen sind. So könnte der Satz <Es zieht> eine Aussage oder auch eine Aufforderung, das Fenster zu schließen, sein. Hier muss das Gesagte zum Handlungskontext in Beziehung gesetzt werden, um die pragmatische Kommunikations- ebene zu entschlüsseln. Gestik, Mimik, Tonfall, situative Umstände sowie das Wissen über die Beziehung steuern die pragmatische Dekodierung (Hamburger, 1995).
Auf den Punkt gebracht, muss das Kind lernen, wie ein Gespräch aufgebaut ist, wer wann redet und wie das Thema festgelegt wird. Es muss wissen, wie es eine Rolle im Ge- spräch übernimmt und gleichfalls die Rolle des Gesprächspartners berücksichtigen. Darüber hinaus muss sich auch die referentielle Kommunikationskompetenz herausbilden, d.h., dass der Sprecher bei seiner Äußerung bedenkt, was der Gegenüber weiß und was er noch nicht weiß. Irgendwann muss es auch erlernen, wie eine Geschichte aufgebaut wird, wie ein Witz funktioniert oder wie Spielregeln erklärt werden. Auch Regeln der Höf- lichkeit und die Wahl des passenden Registers zählen zu den pragmatischen Fähigkeiten, die sich ein Kind anzueignen hat. Für all diese genannten Funktionen der Pragmatik muss es die geeigneten sprachlichen Mittel erwerben (Meibauer et al., 2007).
Grundlegende kommunikative Fähigkeiten können als Bedingung für den Erwerb sprachlichen Wissens auf den einzelnen Ebenen betrachtet werden. Hingegen basiert die differenziert ausgebildete Gesprächsfähigkeit auf fortgeschrittenen lexikalischen und grammatischen Fähigkeiten. Pragmatische Aspekte lassen sich nicht von den weiteren Sprachebenen trennen, sondern sind als Basis und Komponente der Anwendung von Sprachwissen anzusehen (Kauschke & Siegmüller, 2002).
Wir leben in einer mehrsprachigen Gesellschaft, in der Kinder nicht nur eine Sprache, sondern teilweise von früh auf zwei oder mehr Sprachen erwerben. Diese Zahl von Kindern steigt stetig und mehr als jeder fünfte Heranwachsende kommt in Deutschland aus einer Migrationsfamilie (Röhner, 2005). „Wenn die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gesellschaftlich handlungsfähig sein wollen im Sinne der Selbstbestimmung, müssen sie ihr Leben und das ihrer Kinder in der Bundesrepublik Deutschland zwei- sprachig organisieren und gestalten“ (Günther & Günther, 2007, S. 145). Aufgrund ihrer speziellen Situation sind Migrantenkinder darauf angewiesen, neben ihrer Erstsprache auch die deutsche Sprache als Zweitsprache zu erwerben, um u.a. am sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen (Günther & Günther, 2007).
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