Bachelorarbeit, 2022
55 Seiten, Note: 2.0
1 Einleitung
2 Die Neue Sachlichkeit
2.1 Die Zeit der Weimarer Republik
2.2 Großstädte um die Jahrhundertwende
2.2.1 Allgemeines
2.2.2 Berlin
2.2.3 Großstadtkindheit
2.3 Neues Kindheitsbild
3 Die Großstadt in der Literatur der Neuen Sachlichkeit
3.1 Die Großstadt in der Kinder- und Jugendliteratur der Neuen Sachlichkeit - Ein Überblick
4 Kai aus der Kiste
4.1 Wolf Durian
4.2 Entstehungsgeschichte
4.3 Inhalt
4.4 Analyse
4.4.1 Allgemeines
4.4.2 Die Straßenbande
4.4.3 Kritik
4.5 Fazit
5 Emil und die Detektive
5.1 Erich Kästner
5.2 Entstehungsgeschichte
5.3 Inhaltsangabe
5.4 Analyse
5.4.1 Die Straßenbande
5.4.2 Schauplätze
5.4.3 Kritik
5.5 Fazit
6 Ede und Unku
6.1 Alex Wedding
6.2 Inhaltsangabe
6.3 Entstehungsgeschichte
6.4 Analyse
6.4.1 Politisches
6.4.2 Lernprozesse
6.4.3 Schauplätze
6.4.4 Realitätsgehalt
6.4.5 Kritik
6.5 Fazit
7 Einbettung der Werke in den Gesamtkontext
8 Fazit
9 Literaturverzeichnis
Das Leben in Großstädten wird heutzutage als etwas Normales empfunden. Längst haben sich die Menschen an die Menschenmassen, das hohe Verkehrsaufkommen, die öffentlichen Verkehrsmittel und die moderne Technik gewöhnt. Doch erst seit Beginn der Industrialisierung haben sich die Städte zu solch enormen Ballungsgebieten verdichtet. Zur Zeit der Weimarer Republik stellen all diese Elemente immer noch etwas Neues dar. Erst jetzt wird moderne Technik im großen Stil sichtbar – besonders in Großstädten.
Zur Zeit der Weimarer Republik scheinen die Menschen eine besondere Faszination für die Großstadt zu entwickeln. Dies macht sich in zahlreichen literarischen Werken jener Zeit bemerkbar. Auch in der Kinderliteratur findet sich die Großstadtthematik wieder, was die zu untersuchende Thematik dieser Arbeit darstellt.
Um die Großstadtmotivik in der Kinder- und Jugendliteratur in ihren facettenreichen Erscheinungsformen greifbar zu machen, sollen die drei Werke Kai aus der Kiste, Emil und die Detektive und Ede und Unku jeweils unter dem Aspekt der Großstadt analysiert werden.
Ziel der Arbeit ist anhand der genannten Werke herauszuarbeiten, wie das Motiv der Großstadt in der Kinder- und Jugendliteratur der Neuen Sachlichkeit zustande kommt und wie es sich äußert. Dabei soll vergleichend konkretisiert werden, welchen Zweck die Motivik in den jeweiligen Werken verfolgt. Die Auswahl der analysierten Werke erfolgte nach Kriterien der Relevanz für die literarische Strömung.
Kai aus der Kiste gilt als die erste Großstadtgeschichte der Kinder- und Jugendliteratur, die eindeutig neusachliche Elemente aufweist. An diesem Werk orientieren sich viele weitere Autor*innen der Zeit, wie sich am Beispiel von Emil und die Detektive zeigen wird.
Emil und die Detektive ist der erfolgreichste und populärste Großstadtroman für Kinder.
Ede und Unku ist im speziellen deshalb von großer Bedeutung für die Neue Sachlichkeit, da die Geschichte explizit auch politische Themen in einem Kinder- und Jugendbuch verarbeitet.
Die vorliegende Arbeit befasst sich zunächst mit der Entstehung der Neuen Sachlichkeit als Strömung der literarischen Moderne. Anschließend wird das Leben in den deutschen Städten jener Zeit analysiert. Dabei wird ein besonderer Schwerpunkt auf die Metropole Berlin und auf das Phänomen der Großstadtkindheit gelegt. Es folgt die Analyse des Großstadtmotives in den einzelnen Werken. Hierfür wird jedes Werk zunächst kurz vorgestellt und anschließend im Hinblick auf die Großstadtmotivik untersucht. Abschließend sollen die Werke in den Gesamtkontext eingeordnet werden, um im Anschluss die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung in einem Fazit zusammenzufassen.
Es wird sich zeigen, dass die Großstadt das notwendige Setting darstellt, um die Interessen der Neuen Sachlichkeit zu repräsentieren und dass sich dabei in der Kinderliteratur eine eigene Großstadtmotivik entwickelt hat, die sich teilweise von jener der Erwachsenenliteratur unterscheidet.
Die Neue Sachlichkeit ist eine Literaturströmung, die sich gegen Ende der literarischen Moderne etabliert.
Der Begriff „Neue Sachlichkeit“, wurde von der Malerei auf die Literatur übertragen. Dort wurde der Begriff unter anderem durch die 1925 eröffnete Ausstellung Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus von Gustav Friedrich Hartlaub in der Mannheimer Kunsthalle populär.1 Der Titel der Ausstellung suggeriert bereits, dass sich die Neue Sachlichkeit klar von der expressionistischen Kunst unterscheidet, was sowohl für die Malerei als auch für die Literatur zutreffend ist: Die ‚Sachlichkeit‘ kann als „anti-expressionistische Komponente[…], als […] Abrücken vom visionären Anspruch der spätexpressionistischen Literatur [verstanden werden.]“2
Hinsichtlich der genauen zeitlichen Begrenzung dieser literarischen Strömung herrscht keine allgemeine Einigkeit: Während einige Literaturwissenschaftler der Auffassung sind, dass sich die Neue Sachlichkeit auf die Stabilisierungsphase der Weimarer Republik von 1924 bis zur Wirtschaftskrise 1929 beschränkt, verorten andere die Strömung auf den gesamten Zeitraum der Weimarer Republik, von deren Ausrufung 1918 bis zu deren Zerfall durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933.3 Dies wird dadurch begründet, dass sich auch bereits vor 1924 und noch nach 1929 neusachliche Inhalte in der Literatur finden lassen.4 Diese Meinungsverschiedenheiten werden von Literaturwissenschaftlern unter anderem darauf zurückgeführt, dass kein einheitliches Verständnis zum Definitionsbereich ‚neusachlicher‘ Elemente existiert.5 Dies liegt daran, dass die neusachliche Strömung ein sehr „breite[s] Spektrum teils konkurrierender Schreib- und Funktionsweisen“6 enthält.
In den unmittelbaren Nachkriegsjahren (1919-1925) ist die Literatur inhaltlich überwiegend von der Verarbeitung des zurückliegenden Krieges,7 sowie von den Erfahrungen mit der Novemberrevolution8 geprägt In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre thematisiert die Literatur dagegen insbesondere eine „Auseinandersetzung mit der Entwicklung der modernen Technik und der Welt der Arbeit“9. Ab 1929 rücken dann die Weltwirtschaftskrise und deren ökonomische Folgen, insbesondere für die Angestellten, in den Fokus.10
Gemeinsam haben all diese unterschiedlichen, und dennoch für die Strömung typischen Thematiken, das ‚Sachliche‘, auf das bei deren Darstellung großen Wert gelegt wird. ‚Sachlichkeit‘ kann zum einen als „Nüchternheit, Präzision, Schmucklosigkeit, […] Anti- Psychologismus“11, zum anderen aber auch als Darstellung von ‚Sachlichkeit‘ als „die neue, die veränderte Wirklichkeit“12 gedeutet werden. Dieses „Bedürfnis […] nach Objektivität und Realismus“13 äußert sich in der Literatur unter anderem durch neue Schreibweisen. Insbesondere reportagenhafte Literaturformen erfreuen sich in der Neuen Sachlichkeit großer Beliebtheit.14 Diese „regelrechte Mode der Reportage und des Dokumentarismus“15 zieht sich durch alle literarischen Gattungen, wobei Prosa die dominierende Gattung der Neuen Sachlichkeit darstellt16. In Reportage- und Dokumentarromanen sehen die Autor*innen eine Möglichkeit „die drängenden Probleme der Zeit - Krieg, Revolution, Technik, gesellschaftliche Missstände, Militarisierung, Faschisierung usw. - zu thematisieren.“17
So wie der neu entwickelte „kalte Blick für die Wirklichkeit“18, die Orientierung am Alltag und die Benutzung einer verständlichen Sprache ohne artistische Ausgestaltung19, ist auch das „Einverständnis mit gesellschaftlich- technischen Modernisierungsprozessen [und die] Faszination für Technikvorgänge“20 ein starker Ausdruck der Abwendung vom Expressionismus, in dem zuvor Technik eine überwiegend kritische Betrachtung erfuhr.21 Dennoch ist die neue Sachlichkeit nicht mit einem „blinden Technikkult“22 gleichzusetzen. Für zahlreiche Autor*innen ist auch weiterhin die Verwendung poetischer sowie unwirklicher Elemente ein wichtiger Bestandteil ihrer Werke.23 Allgemein gilt: „‚Sachlichkeit‘ erweist sich innerhalb […] der Weimarer Republik als eine mögliche Kategorie der kritischen Hinterfragung der gesellschaftlichen Modernisierungsschübe.“24 Diese Modernisierungsprozesse sind auch im kulturellen Bereich erfahrbar: Fotografie, Rundfunk und Film bieten ganz neue ästhetische Gestaltungsmöglichkeiten.25
Der deutsche Film, der in der Weimarer Republik seinen Durchbruch erlebt26, fasziniert die Massen und wird damit gleichzeitig zur Konkurrenz des Romans27, wobei es hier durchaus auch zu „produktiven Wechselwirkungen“28 kommt, was sich in der „Übernahme filmischer Techniken […] [und der] Thematisierung der neuen Medien in der Literatur“29 äußert.
Ein Problem der neuen Medien, aber auch der Literatur, zur Zeit der Weimarer Republik, ist die Abhängigkeit vom Markt.30 Nicht der künstlerische Wert eines Werkes steht im Vordergrund, sondern es geht darum ein möglichst breites Publikum zu begeistern, sodass Autor*innen und Regisseur*innen gezwungen sind, sich den Forderungen der Verlage beziehungsweise Filmfirmen zu beugen.31 Hinzu kommt, dass sowohl das größte Presseimperium32 als auch das größte deutsche Filmunternehmen unter der Kontrolle des rechtsextremen Hugenberg Konzerns stehen, was viele linke und proletarische Autor*innen stark einschränkt und dazu zwingt eigenständige Verlage zu gründen und sich in Buchgemeinschaften und Schriftstellerorganisationen zu organisieren.33
Doch das ist nicht der einzige Aspekt, der Kunstschaffende der Zeit einschränkt: Auch wenn im Artikel 118 der Verfassung der Weimarer Republik klar formuliert ist, dass „jeder Deutsche […] das Recht [hat], innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern“34 und dass keine Zensur stattfindet35, so sieht die Praxis anders aus: Gesetze wie das Gesetz zum Schutz der Republik ( 1922) und das Schund- und Schmutzgesetz (1926/30) verbieten vielen liberalen, linksbürgerlichen, sozialistischen und kommunistischen Autor*innen die Publikation ihrer Werke.36 Die Pressenotverordnung (1931) macht es schließlich möglich „ohne richterliche Anordnung Druckschriften zu beschlagnahmen und das Erscheinen von Zeitungen und Zeitschriften für die Dauer von bis zu acht Monaten zu verbieten.“37 Hierbei wird deutlich, wie die Macht der Nationalsozialisten im Verlauf der Zeit der Weimarer Republik stetig anwächst.
Auch wenn unter der Führung der NSDAP im Nachhinein viele Autor*innen hohe Haftstrafen bekommen sollen und ins Exil getrieben werden - zur Zeit der Weimarer Republik können sich die proletarisch-revolutionären Schriftsteller*innen noch Gehör verschaffen. Insbesondere der 1928 gegründete Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller [38] ist dabei von großer Bedeutung, aber auch der 1919 in Berlin gegründete Bund für proletarische Kunst [39] , hat großen Einfluss auf das Vorhaben den Klassenkampf und die Revolution voranzutreiben. Auch die proletarische Filmbewegung, die Arbeiter- Radio Bewegung [40] und insbesondere das Proletarische Theater [41] , das sich in seiner kurzen Erscheinungsphase vor seinem Verbot zu einer Konkurrenz zur sozialdemokratischen ‚Volksbühne‘ entwickelt, erreichen große Massen mit den „Kunstäußerungen der unterdrückten Klasse“42.
Aber nicht alle Autor*innen der Neuen Sachlichkeit wollen politisch wirksam sein, es gibt eine Minderheit mit einer „programmatisch apolitischen Haltung“43. Dies kann ebenfalls als Versuch gewertet werden die Wirklichkeit so neutral wie möglich zu beschreiben. Aus dem Verlangen danach die ‚Sache‘ in den Fokus der Handlungen zu rücken und sich am äußerlich Wahrnehmbaren der Oberfläche zu orientieren, entwickeln Autor*innen eine beobachtende Schreibweise, die im neusachlichen Roman durch Ich- Erzähler oder unpersönliche wissenschaftliche-, beziehungsweise journalistische Beobachter wiedergegeben wird. Hauptfiguren der Romane werden zu gesellschaftlich repräsentativen Typen, deren psychische Befindlichkeit sich lediglich in ihrem Verhalten, ihren Reaktionen und ihren Handlungen offenbart, da innere Prozesse in der Regel nicht näher erläutert werden.44
Die Industrialisierung des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert führt zu einem weltweiten Verstädterungsprozess.45 Die Hochphase dieses Prozesses in Deutschland kann in etwa auf den Zeitraum von 1870-1920 datiert werden.46 Somit sind die Urbanisierung und die damit verbundenen Folgen Teil des aktuellen Zeitgeschehens der Neuen Sachlichkeit, das es gilt so wirklichkeitsnah wie möglich darzustellen.
Die neu geschaffenen Arbeitsplätze durch die Fabriken treiben viele Menschen vom Land in die Städte. Dort verdichtet sich der Lebensraum stark durch die zahlreichen Neubauten, die aufgrund des Wohnungsbedarfs geschaffen werden. Dadurch kommt es auch zur sozialen Segregation durch Quartiersbildung: Bürgerliche Landvillen und Arbeitervorstädte befinden sich außerhalb, während Etagenwohnungen und zahlreiche Mietskasernen, die für möglichst viele Parteien Wohnraum schaffen sollen, hauptsächlich im Stadtinneren zu finden sind.47
Die räumliche Expansion führt außerdem zu einem Ausbau der Verkehrswege und viele Gebäude werden an Kanalisations-, Wasser-, Gas- und Elektrizitätsnetze angeschlossen.48
Doch die Wohnsituation in den Großstädten, insbesondere in den Mietskasernen, ist äußerst dürftig:
„Meist bestand die Wohnung aus einer zweifenstrigen Stube und einer einfenstrigen Kammer. Küchen waren in den Arbeiterwohnungen kaum vorhanden; man konnte es sich gar nicht leisten, 2 Zimmer zu heizen. Die kleinsten Wohnungen besaßen die Proletarier mit dem geringsten Verdienst oder mit großer Kinderzahl. Die Stubeneinrichtung war dürftig; in der Regel bestand sie aus Tisch, Sofa, Kommode, Spiegel, Stühlen sowie einigen Bildern. Die Kammer war fast vollständig durch Bettstellen belegt; in ihr befanden sich sowohl die Eßvorräte wie auch alle anderen zum Haushalt benötigten Dinge – ein eigenes Bett besaßen die Familienmitglieder kaum.“49
Im Zuge der durch die Industrialisierung vorangetriebenen Verstädterung kommt es vor allem auch in Berlin zu einem rasanten Bevölkerungsanstieg. Die Stadt, die seit der Reichsgründung 1871 Hauptstadt ist, und damals etwa 900.000 Einwohner zählt, wächst bis zur Jahrhundertwende auf ca. 2.000.000 Einwohner an. Als sich dann 1920, mit der Verabschiedung des Groß-Berlin-Gesetzes, mehrere Städte zusammenschließen, wächst die Stadt in kürzester Zeitauf über 4.000.000 Einwohner an.50
Die Hauptstadt entwickelt sich schnell zu einem politischen und kulturellen Zentrum, das Intellektuelle, Künstler und Literaten aus ganz Deutschland anzieht.51
Die Entstehung und Vergrößerung von Städten führt zu einem „Typus von Kindheit […], der sich als ‚Straßenkindheit‘ charakterisieren lässt.“52 Zur Zeit der urbanen und industriellen Hochphase finden sich auch die meisten ‚Gassenkinder‘ auf den Straßen.53 Dies ist den knappen Wohnräumen geschuldet: Da große Familien auf engstem Raum leben, müssen die Kinder für ihre alltäglichen Beschäftigungen zwangsläufig in den Raum außerhalb der Wohnung ausweichen. Vor allem in den Mietskasernen ist der Raum knapp. So werden „Quartiersstraßen und daran angrenzende städtische Raumzonen wie Innenhöfe, Hausflure, öffentliche Plätze das bevorzugte Raummedium kindlichen Lebens und kindlicher Sozialisation.“54
Hinzu kommen Prozesse des sozialdemographischen Übergangs: Da Familien erst allmählich durch Geburtenplanung anfangen die Kinderzahlen zu beschränken und sich gleichzeitig die Kindersterblichkeit, aufgrund verbesserter medizinischer Vorsorge, verringert, gibt es zu der Zeit besonders viele Kinder, die auf dem beschränkten Raum leben.55 So kommt es dazu, dass die Kinder ein „relativ eigenständige[s] soziokulturelles Milieu [in] der Nachbarschaft“ bilden.56
Doch es sind nicht Kinder aller Schichten gleichermaßen auf den städtischen Straßen anzutreffen. Zinnecker erklärt, dass die Straßenkindheit an die Zugehörigkeit zu bestehenden Stadtklassen gebunden ist und allmählich ein Prozess der Verhäuslichung von Kindheit einsetzt. Dieser Prozess, der um 1800 zunächst bei bürgerlichen Familien einsetzt, sorgt dafür, dass um 1900 hauptsächlich noch Kinder der städtischen Unter- und Mittelschichten zu den Straßenkindern gehören.57
Wie der Lebensraum von Großstadt aussehen kann hat Martha Muchow in ihrem Werk Der Lebensraum des Großstadtkindes versucht zu erheben.58 Es zeigt sich: Das Großstadtkind lebt „wie auf dem Dorfe“59. Der Lebensraum eines typischen Großstadtkindes umfasst demnach keinesfalls die ganze Stadt, nur ca. 6% der Fläche werden von den Kindern intensiv besucht. Um diesen Heimatraum herum lagern sich die übrigen Stadtgebiete in Zonen unterschiedlichen Bekanntheitsgrads.60 Dabei gilt: „Je näher ein Bezirk [am] Heimatraum liegt, umso bekannter ist er.“61 Im Übrigen ist der Aufbau des Lebensraums von Kriterien wie „Spielplatznähe, Bebauungsart, Geeignetheit als Spielgelände, Naturgrenzen und Zugehörigkeit zur Heimat“62 abhängig. Zudem unterscheiden sich die Lebensräume „nach Lebensalter, Geschlecht, Begabung, Bildungsgrad […] [sowie] Seßhaftigkeits- oder Beweglichkeitsgrad“63.
Die vorhandenen räumlichen Gegebenheiten der Großstadt werden von den Kindern für ihre eigenen Ansprüche umfunktioniert. So werden beispielsweise unbebaute Grundstücke in der Nachbarschaft der Kinder als ‚Sportplatz‘ genutzt oder Holzgitter werden als ‚Klettergerüste‘ zweckentfremdet.64 Dieses Erleben des städtischen Raumes kommt auch in der Kinder- und Jugendliteratur der Neuen Sachlichkeit zum Ausdruck.
Doch die Kinder jener Zeit finden sich nicht nur zum Vergnügen auf den Straßen. Viele Kinder sind aufgrund der finanziellen Situation ihrer Familien dazu gezwungen erwerbstätig zu werden. 1903 versucht man dem entgegenzuwirken, indem man das Deutsche Kinderschutzgesetz verabschiedet. Das Kinderschutzgesetz verbietet Kindern unter zwölf Jahren jegliches Arbeitsverhältnis.65 Die Praxis sieht anders aus: Das Gesetz wird vielfach umgangen.66 Durch den verfrühten Eintritt in die Arbeitswelt wird die Kindheit verkürzt.67 Um die Jahrhundertwende müssen etwa 1/8 aller Schulkinder arbeiten gehen, was circa 1.000.000 Kindern entspricht.68
Nicht nur die räumlichen Gegebenheiten sind für Veränderungen in der Kindheit jener Zeit verantwortlich: Auch die reformpädagogische Bewegung, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Pädagogik grundlegend verändern soll, trägt dazu bei, dass sich ein neues Kindheitsbild durchsetzt, das die Gesellschaft mit einer neuen Sichtweise auf den Lebensabschnitt der Kindheit blicken lässt.69
Besonders hervorzuheben ist hier die Reformpädagogin Ellen Key, die 1900 das 20. Jahrhundert zum ‚Jahrhundert des Kindes‘ erklärt.70
Nennenswerte reformpädagogische Bewegungen stellen die Jugendbewegung, die Pädagogik ‚vom Kinde aus‘, die Kunsterziehungsbewegung, die Landerziehungsbewegung, die Arbeitsschulbewegung, die Volksbildungsbewegung und die Einheitsschulbewegung dar.71
Auch wenn die Pädagog*innen der Zeit durchaus unterschiedliche Ansätze verfolgen, steht bei allen der Glaube an das Gute im Kind, dessen Kräfte nur entfacht werden müssen, im Zentrum der Forschung. So sollen durch die richtige Erziehung der Kinder langfristig positive Veränderungen in der Gesellschaft erzielt werden.72
All diese Bewegungen der Reformpädagogik führen zusammen zu einer neuen Wahrnehmungsweise von Kindheit. Dem Lebensabschnitt kommt nun eine neue Bedeutung zu: Um eine gelingende Erziehung zu ermöglichen, muss das Kind sich entfalten können. Daher werden Erzieher*innen und Erwachsene im Allgemeinen in die Pflicht genommen ein hierfür förderliches Umfeld zu schaffen. Neue Prinzipien und pädagogische Grundbegriffe lauten:
„Eigenart und Eigenwert des Kindes sowie Verpflichtung des Erziehers, sich daran zu orientieren, Rücksicht auf Selbstentfaltung und Wachsenlassen, Naturgemäßheit und Freiheit, Spontanität und Aktivität, Pflege des Gemeinsinns und des Gemeinschaftslebens, Förderung des kindlichen Spiels und Betonung des Musischen […]“73.
Diese Neuerungen in der Pädagogik tragen dazu bei, dass Kindern fortan mehr Selbstständigkeit zugetraut wird. Auch diese Neuerungen des Kindheitsbildes finden sich in der Literatur der Weimarer Republik wieder.
Die Großstadtthematik wird in der Literatur der Neuen Sachlichkeit immer wieder aufgegriffen und gilt als charakteristisch für die Strömung.74 Die „einschneidenden Veränderungen moderner Zivilisation“75 beschäftigen die Autor*innen jener Zeit. „Straßenverkehr, Menschenmassen, Lärm, moderne Massenmedien, Telefon, Straßenbeleuchtung, elektrisches Licht usw.“76 prägen den Alltag der Menschen und ebendies ist Gegenstand der neusachlichen Literatur. In der Großstadt werden die „Erscheinungen westlicher Zivilisation […] und ihre weitreichenden Auswirkungen“77 so spürbar, wie sonst nirgends und damit wird der großstädtische Lebensraum zu einem beliebten Schauplatz der Literatur. Unter dem Setting Großstadt setzt man sich, teils begeistert, teils kritisch, mit jenen Veränderungen auseinander.78 Insbesondere die Urbanisierung an sich, führt zu verschieden Positionen unter den Autor*innen. Die „Kampfbegriffe“79 jener Debatten nennen sich ‚Provinz‘ und ‚Metropole‘. Während einige Schriftsteller*innen die Stadt und das dazugehörige Leben in der Masse loben und ihre Faszination, insbesondere anhand der Millionenstadt Berlin, zum Ausdruck bringen, äußern sich Andere eindeutig negativ zu den Metropolen und dem Leben in den Städten.80 Es entsteht eine Reihe von Provinzromanen, die die Vorteile des Lebens auf dem Lande aufzeigt und auch in der Dramatik entwickelt sich mit dem ‚Volksstück‘ ein vergleichbares Genre, das als Antwort auf die neusachlichen Zeitstücke gesehen werden kann.81 Zudem entwickeln sich unter dem Begriff ‚Regionalismus‘ Texte, die sich kritisch mit dem Provinzleben auseinander setzen.82
Obwohl in der Anfangsphase der Strömung die Kinderliteratur, insbesondere in der unmittelbaren Nachkriegszeit, stark von Märchenerzählungen geprägt ist, flacht diese Begeisterung für Märchen ab circa 1925 langsam ab.83 Zwar sind Märchen weiterhin ein beliebtes Genre, jedoch kann man sagen, dass diese Erzählungen das Medium wechseln. Insbesondere in den neu aufkommenden Kinder- und Jugendhörbüchern, werden sie fortan, häufig von Prominenten Schauspieler*innen, vorgelesen.84
[...]
1 Vgl. Becker, Sabina (1995): Neue Sachlichkeit im Roman. In: Becker, Sabina / Weiß, Christoph (Hg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart: J.B. Metzler. S.7-26, hier: S.14 f.
2 Ebd., S.13.
3 Nachdem Deutschland den ersten Weltkrieg verloren hat und die Novemberrevolution 1918 gescheitert ist, bricht das deutsche Kaiserreich zusammen. Mit der Ausrufung der Republik am 09. November 1918 beginnt die Zeit der Weimarer Republik. Die erste parlamentarische Demokratie für Deutschland ist geschaffen. Doch der demokratische Zustand, der die konstitutionelle Monarchie der Kaiserzeit ablöst, hält nicht lange an: Die Weimarer Republik, und damit die Demokratie, verfällt mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und der Benennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Vgl. https://studyflix.de/geschichte/weimarer-republik-3843 (zuletzt abgerufen am: 27.03.2022, um 12:08 Uhr)
4 Ebd., S.15 f.
5 Vgl. Becker, Sabina (1995), S.8.
6 Allkemper, Alo / Eke, Norbert Otto (Hg.) (2006): Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag. S.246.
7 Vgl. Allkemper, Alo / Eke, Norbert Otto (Hg.) (2006), S.246.
8 Vgl. Beutlin, Wolfgang et al. (2019): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neunte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Berlin: J.B. Metzler. S.425.
9 Allkemper, Alo / Eke, Norbert Otto (Hg.) (2006), S.246.
10 Vgl. Becker, Sabina (1995), S.16.
11 Allkemper, Alo / Eke, Norbert Otto (Hg.) (2006), S.247.
12 Ebd.
13 Vgl. Beutlin, Wolfgang et al. (2019), S.417.
14 Allkemper, Alo / Eke, Norbert Otto (Hg.) (2006), S.247.
15 Beutlin, Wolfgang et al. (2019), S.417.
16 Vgl. Allkemper, Alo / Eke, Norbert Otto (Hg.) (2006), S.248.
17 Beutlin, Wolfgang et al. (2019), S.417.
18 Allkemper, Alo / Eke, Norbert Otto (Hg.) (2006), S.247.
19 Vgl. Becker, Sabina (1995), S.11.
20 Ebd.
21 Vgl. Beutlin, Wolfgang et al. (2019), S.427.
22 Becker, Sabina (1995), S.18.
23 Vgl. Ebd., S.11.
24 Ebd.
25 Ebd., S.247
26 Vgl. Beutlin, Wolfgang et al. (2019), S 400.
27 Vgl. Ebd., S.417.
28 Ebd., S.418.
29 Ebd., S.401.
30 Vgl. Ebd.
31 Vgl. Ebd., S.394.
32 Vgl. Ebd., S.393.
33 Vgl. Ebd., S.393 ff.
34 Artikel 118 der Verfassung der Weimarer Republik, zitiert nach: Beutlin, Wolfgang et al. (2019), S.397.
35 Ebd.
36 Vgl. Beutlin, Wolfgang et al. (2019), S.397 ff.
37 Ebd., S.399.
38 Vgl. Allkemper, Alo / Eke, Norbert Otto (Hg.) (2006), S.248.
39 Vgl. Beutlin, Wolfgang et al. (2019), S 403.
40 Vgl. Ebd., S 401.
41 Vgl. Ebd., S.404.
42 Ebd. S. 403.
43 Ebd. S.410.
44 Vgl. Becker, Sabina (1995), S.20 f.
45 Vgl. Ebd., S.80.
46 Vgl. Zinnecker, Jürgen (1990): Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind. Kindheitsgeschichte im Prozeß der Zivilisation. In: Behnken, Imbke (Hg.): Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Konfiguration städtischer Lebensweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Opladen: Leske u. Budrich. S.151.
47 Vgl. Ebd., S.153.
48 Vgl. Ebd.
49 Hofmann, Ernst (1971): Volkskundliche Betrachtungen zur proletarischen Familie in Chemnitz um 1900. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt- Universität Berlin. Gesellschaftliche und Sprachwissenschaftliche Reihe 20. Berlin: Selbstverlag. S. 65-81, hier S.65 ff.
50 Vgl. Beutlin, Wolfgang et al. (2019), S.442.
51 Vgl. Ebd.
52 Vgl. Zinnecker, Jürgen (1990), S.151.
53 Vgl. Ebd., S.151 f.
54 Vgl. Ebd., S.151.
55 Vgl. Ebd.
56 Ebd.
57 Vgl. Ebd., S.153.
58 Muchows Untersuchungen fanden im Zeitraum von 1930-1932 in der Stadt Hamburg statt. Da der Zeitraum in das Ende des Zeitraums der Neuen Sachlichkeit fällt, können diese Daten durchaus repräsentativ sein. Dennoch kann der Lebensraum in anderen Städten unter anderen Bedingungen anders aussehen und die vorhandenen Daten stellen auch keine Vollständige Analyse der Stadt Hamburg dar. Dennoch gilt Muchows Werk als wegweisend für die Sozialisationsforschung in Deutschland.
59 Muchow Hans Heinrich, Muchow Martha (1998): Der Lebensraum des Großstadtkindes. Neuausgabe mit biographischem Kalender und Bibliographie Martha Muchow. Herausgegeben und eingeleitet von Jürgen Zinnecker. (= Kindheiten. Band 12.) Weinheim, München: Juventa Verlag. S.147.
60 Vgl. Ebd., S.87 f.
61 Vgl. Ebd., S.88.
62 Ebd.
63 Ebd., S.147.
64 Vgl. Ebd., S.149f.
65 Vgl. Weber-Kellermann, Ingeborg (1979): Die Kindheit. Kleidung und Wohnen, Arbeit und Spiel. Eine Kulturgeschichte. Frankfurt am Main: Insel-Verlag. S.156.
66 Vgl. Ebd.
67 Vgl. Ebd., S.157.
68 Vgl. Ebd., S.156.
69 Vgl. März, Fritz (1998): Personengeschichte der Pädagogik. Ideen – Initiativen – Illusionen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S.565.
70 Vgl. Ebd., S.566.
71 Vgl. Ebd., S. 567 -581.
72 Vgl. Ebd., S.566 f.
73 Ebd., S.566.
74 Vgl. Becker, Sabina (1995), S.15.
75 Mieles, Myriam (1995): Zivilisationsraum Großstadt – Kinderliterarische Großstadtprosa in der Weimarer Republik. In: Nassen, Ulrich (Hg.): Naturkind, Landkind, Stadtkind. Literarische Bilderwelten kindlicher Umwelt. München: Wilhelm Fink Verlag, S.85 - 106, hier S.86.
76 Ebd.
77 Ebd., S.89.
78 Vgl. Becker, Sabina (1995), S.19.
79 Beutlin, Wolfgang et al. (2019), S.422.
80 Vgl. Ebd.
81 Vgl. Ebd., S.428.
82 Vgl. Ebd., S.423.
83 Vgl. Karrenbrock, Helga (1995): Das stabile Trottoir der Großstadt. Zwei Kinderromane der Neuen Sachlichkeit: Wolf Durians ‚Kai aus der Kiste‘ und Erich Kästners ‚Emil und die Detektive‘.In: Becker, Sabina / Weiß, Christoph (Hg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart: J.B. Metzler, S.176-194, hier: S.177.
84 Vgl. Wicke, Andreas (2020): Hörbuch und Hörspiel. In: Kurwinkel, Tobias/ Schmerheim, Phillipp (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Berlin: J.B. Metzler, S.277-282, S.277 f.
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