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Bachelorarbeit, 2021
73 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Die Grundrechte im Grundgesetz der BRD
2.1 Die Begriffe der Menschenrechte, der Grundrechte und der Burgerrechte
2.2 Arten von Grundrechten
2.3 Funktionen der Grundrechte
2.3.1 Die subjektiv-rechtliche Dimension
2.3.2 Die objektiv-rechtliche Dimension
2.4 Beschrankbarkeit von Grundrechten
2.4.1 Schutzbereich der Grundrechte
2.4.2 Eingriff
2.4.3 Schranken
3. Das Grundrecht der Berufsfreiheit in Art. 12 GG
3.1 Geschichte der Berufsfreiheit
3.2 Die Berufsfreiheit im deutschen Grundgesetz
4. Systematik der Grundrechtsprufung der Berufsfreiheit
4.1 Schutzbereich der Berufsfreiheit
4.1.1 Personlicher Schutzbereich der Berufsfreiheit
4.1.2 Sachlicher Schutzbereich der Berufsfreiheit
4.2 Eingriff
4.3 Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
4.3.1 Schranken
4.3.2 Schranken-Schranken
4.3.2.1 Formelle VerfassungsmaBigkeit
4.3.2.2 Materielle VerfassungsmaBigkeit
5. Die Corona-Pandemie
5.1 Das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2
5.1.1 Ausbruch der Pandemie weltweit und in Deutschland
5.1.2 Virologische Charakteristika von SARS-CoV-2
5.1.3 Eindammungsmoglichkeiten aus epidemiologischer Sicht
5.2 Krisenmanagement des Staates zur Eindammung der Corona-Pandemie in der BRD
5.2.1 Erste MaBnahmen im Fruhjahr 2020 und deren legislative Grundlagen
5.2.2 Anpassungen im Verlauf des Jahres und Lockdown Light
5.2.3 Bundeseinheitliche MaBnahmen ab Marz 2021
5.3 RechtmaBigkeit der staatlichen CoronamaBnahmen
6. Praxisbeispiel: SchlieBung des Theaters
6.1 Beschreibung Praxisbeispiel
6.2 Fallprufung
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
9. Anhangsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Lockdown, Kontaktverbote, Ausgangssperren, Maskenpflicht, Grenzkontrollen - alles Begriffe, die vor nicht einmal zwei Jahren nur Teil des aktiven Wortschatzes von Exper- ten waren. Das Auftauchen von SARS-CoV-2, dem „Severe Acute Respiratory Syndrome Corona Virus Type 2“, einem neuartigen Coronavirus, das als Ausloser der Krank- heit COVID-19, dem „Corona Virus Disease 2019“ identifiziert wurde1, stellt die Welt vor bisher unbekannte Herausforderungen, die die Bekampfung der Pandemie durch Staa- ten und Gesellschaften im Fokus haben.2
Seit dem Fruhjahr 2020 bestimmt die Corona-Pandemie auch das Leben der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD). Zur Eindammung der steil ansteigenden Kurve der Infektionszahlen ergreifen Bund und Lander seit Marz 2020 MaBnahmen, wel- che die Grundrechte der Menschen weitreichend einschranken. Die MaBnahmen bein- halten unter anderem Kontaktbeschrankungen, Einschrankungen der Bewegungsfrei- heit und Berufsverbote.3 Dazu sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits im Marz 2020: „Ich weiB, wie dramatisch schon jetzt die Einschrankungen sind: keine Veranstal- tungen mehr, keine Messen, keine Konzerte und vorerst auch keine Schule mehr, keine Universitat, kein Kindergarten, kein Spiel auf einem Spielplatz. Ich weiB, wie hart die SchlieBungen ... in unser Leben und auch unser demokratisches Selbstverstandnis ein- greifen. Es sind Einschrankungen, wie es sie in der Bundesrepublik noch nie gab.“4 Nachdem die erste Infektionswelle im Sommer 2020 uberstanden schien, folgte bereits im Herbst die zweite. Bund und Lander beschlossen demzufolge Ende Oktober zunachst einen sogenannten „Lockdown Light“. So galten ab November wieder Kontaktverbote und alle kulturellen Einrichtungen sowie die Gastronomie- und Tourismusbranche muss- ten schlieBen. Schulen, Handel und Wirtschaft dagegen wurden am Laufen gehalten. Nachdem die Infektionszahlen im Lockdown Light nicht ausreichend zuruckgingen, wurde er Mitte Dezember durch einen harten Lockdown mit noch massiveren MaBnah- men abgelost, der im Jahr 2021 weiter verlangert wurde.5
Ziel all dieser grundrechteinschrankenden MaBnahmen ist, die Infektionsgefahr zu sen- ken und einer Uberlastung des Gesundheitssystems entgegenzuwirken.6 Primar sind die Grundrechte Abwehrrechte der Burgerinnen und Burger gegenuber dem Staat. Sie im- plizieren aber auch Schutzpflichten des Staates. So besagt der Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
(Grundgesetz): „Jeder hat das Recht auf Leben und korperliche Unversehrtheit“. Der Staat hat somit die Aufgabe, die Gesundheit der Burger zu schutzen.
Die konkrete Rechtsnorm zur Umsetzung des Gesundheitsschutzes bildet im Fall einer Pandemie das Infektionsschutzgesetz (IfSG), das wahrend der Corona-Pandemie Ge- setzesanderungen erfuhr, die im Laufe des Jahres 2020 und im April 2021 verabschiedet wurden.7 Die Kehrseite dieser Politik fuhrt jedoch zur teilweise starken Einschrankung der Grundrechte.
Die Corona-Krise wirft in den unterschiedlichsten Bereichen des gesellschaftlichen Le- bens taglich neue Fragen auf. Mittlerweile existieren mehr als eine halbe Million wissen- schaftliche Publikationen zu COVID-19 und jeden Tag kommen neue Studien von Uni- versitaten, Forschungsinstitutionen und weiteren Einrichtungen hinzu.8 Auch in ver- schiedensten Rechtsbereichen werden stets neue Fragen aufgeworfen, die in Publika- tionen wie Zeitschriften oder Wissenschaftsblogs intensiv diskutiert werden. Mittlerweile gibt es auch eine Vielzahl an juristischer Fachliteratur in Buchform, die sich mit Rechts- fragen zur Corona-Krise befasst. Es lasst sich festhalten, dass die publizierten Werke oftmals nur einen gewissen Zeitraum beziehungsweise eine bestimmte Entwicklungs- phase abdecken und somit gewisse Aspekte schnell nicht mehr aktuell sind.
Im Hinblick auf die Rechtsprechung sind seit Beginn der Corona-Pandemie in der BRD eine Vielzahl von gerichtlichen Entscheidungen erfolgt. Mehr als 10.000 Gerichtsverfah- ren hat es allein im Jahr 2020 gegeben. Laut dem Deutschen Richterbund (DRB) sind in den Jahren 2020 und 2021 in etwa neun von zehn Einzelfallen die Einschrankungen, die dem Burger im Zuge einer Corona-Verordnung auferlegt wurden, bestatigt worden, meist mit der Begrundung, dass der Gesundheitsschutz der Bevolkerung hoher zu gewichten sei als die jeweilige Einschrankung. Im vergangenen Jahr waren am Bundesverfas- sungsgericht (BVerfG) uber 880 Verfahren anhangig, die MaBnahmen zur Eindammung der Pandemie betrafen. Bisher lehnte es fast alle Eilantrage, welche im Zuge der Corona-Krise gestellt wurden ab. 9
Die vorliegende Arbeit verfolgt im Wesentlichen eine Grundrechtsprufung der MaBnah- men des Lockdown Light in Bezug auf das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG. Dies geschieht anhand eines selbstgewahlten Praxisbeispiels, an welchem konk- ret die Vereinbarkeit der staatlichen MaBnahmen zur Eindammung der Pandemie mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit analysiert, gepruft und diskutiert wird. Diese Grund- rechtsprufung soll offenlegen, inwieweit die MaBnahmen in Bezug auf die Berufsfreiheit unverhaltnismaBig sind und gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoBen. Als Praxisbeispiel dient die SchlieBung eines kleinen Theaters in Munchen im Lockdown Light. Die Betreiberin des Theaters hatte nach dem Ende des ersten Lockdowns ein besonderes Hygienekonzept entwickelt, aufgrund dessen sie das Theater im Herbst wieder offnen konnte. Doch nach nur einem Monat musste sie Anfang November erneut schlieBen, wahrend die Geschafte des GroB- und Einzelhandels ge- offnet blieben.10
Der Fallprufung vorangestellt werden fur deren Durchfuhrung notwendige Grundlagen. Der erste Teil dieser herleitenden Abschnitte widmet sich einer eingehenden Betrach- tung der Grundrechte in der BRD. Dieser theoretische Teil dient als Basis der Grund- rechtsprufung der VerhaltnismaBigkeit der Einschrankung des Grundrechts der Berufs- freiheit wahrend der Corona-Pandemie. Es werden zunachst die Begrifflichkeiten der Menschenrechte, Grundrechte und Burgerrechte aufgefuhrt und analysiert. Daraufhin beschaftigt sich das Kapitel mit den unterschiedlichen Arten von Grundrechten und deren Funktionen sowie Beschrankbarkeiten. Einen weiteren wichtigen Aspekt stellt die Vorstellung des Schutzbereichs der jeweiligen Grundrechte, der sich in einen sachlichen und personlichen Teil aufgliedert, dar. Nach dieser Differenzierung folgt eine Erorterung der Eingriffsmoglichkeiten des Staates in die Grundrechte sowie eine Definition und rechtswissenschaftliche Einordnung des Begriffs der Schranke eines Grundrechts. Diese kennzeichnet die Beschrankungsmoglichkeiten, die dem Staat zur Verfugung ste- hen, um Eingriffe in den Schutzbereich eines Grundrechts vornehmen zu konnen.
Im nachsten Kapitel der Arbeit richtet sich der Fokus auf den wesentlichen Themenkom- plex des Grundrechts der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG. Nach einem historischen Abriss uber die Entstehungsgeschichte der Berufsfreiheit wird das Grundrecht definiert und seine wichtigste Funktion vorgestellt. Zudem wird auf die Eingriffsmoglichkeiten des Staates in dieses Grundrecht intensiv eingegangen. Das darauffolgende Kapitel be- schaftigt sich mit der Systematik der Grundrechtsprufung der Berufsfreiheit. Anhand die- ser Systematik wird aufgezeigt, wie staatliche MaBnahmen, die einen Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit bedeuten, in der Praxis auf ihre VerfassungsmaBigkeit uberpruft werden. Im Rahmen der Grundrechtsprufung werden der Schutzbereich des Grundrechts, die Art des Eingriffs in den Schutzbereich der Berufsfreiheit und die recht- liche Regelung, auf deren Grundlage eine Einschrankung des Grundrechts der Berufs- freiheit geschieht, untersucht. In der Fallprufung des Praxisbeispiels wahrend der Corona-Pandemie wird auf die hier vorgestellte Systematik immer wieder zuruckverwie- sen.
Ein weiteres Kapitel dieser Arbeit beschaftigt sich mit den Ereignissen wahrend der welt- weiten Ausbreitung von SARS-CoV-2/COVID-19 und insbesondere mit den MaBnah- men, die in der BRD 2020 zur Eindammung der Pandemie ergriffen wurden. Hierbei werden auch die Charakteristika des Coronavirus in seiner Symptomatik, in seinem Krankheitsverlauf und in seiner Ausbreitung genauer beschrieben. Der Fokus im darauf- folgenden Abschnitt liegt vor allem auf den wichtigsten gesetzlichen Grundlagen in der BRD, auf die sich die MaBnahmen, die das offentliche Leben fast zum Erliegen brachten, stutzen. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels werden die jeweiligen Aspekte zusammen- gefugt und unter dem Gesichtspunkt der Recht- und VerhaltnismaBigkeit dieser MaB- nahmen kritisch beleuchtet und diskutiert.
Der letzte Teil der Arbeit befasst sich mit der eigentlichen Fallprufung der Vereinbarkeit der staatlichen MaBnahmen im Rahmen des Lockdown Light mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit anhand eines Praxisbeispiels. Zunachst wird das Praxisbeispiel vorge- stellt, um im nachsten Punkt die Systematik der Grundrechtsprufung anzuwenden. In dieser Fallprufung wird zunachst kurz auf den Rechtsschutz, der der Betreiberin des Theaters zusteht, eingegangen. Den Schwerpunkt der Fallprufung bildet die Prufung der VerhaltnismaBigkeit. Das folgende Fazit fasst die gewonnenen Erkenntnisse zusam- men, gibt einen Ausblick bezuglich offener Rechtsfragen im Zusammenhang mit der le- gislativen Ausgestaltung der CoronamaBnahmen und enthalt eine personliche Einschat- zung dieser.
An dieser Stelle wird auf die Natur der Grundrechte der BRD in Gesetzgebung und Rechtsprechung eingegangen, die die Basis fur die Fallprufung von Recht- und Verhalt- nismaBigkeit der Beschrankung des Grundrechts der Berufsfreiheit wahrend der Corona-Pandemie bilden.
„Die Wurde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schutzen ist Verpflich- tung aller staatlicher Gewalt.“ Mit diesen Satzen beginnt der erste Abschnitt des deut- schen Grundgesetzes, der Grundrechtsteil. In Art. 1 Abs. 2 GG werden die Menschen- rechte „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerech- tigkeit in der Welt“ benannt. Der Begriff der Grundrechte erscheint erstmals in Art. 1 Abs. 3 GG. Dort wird ausgefuhrt, dass die Grundrechte die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. Somit werden in Art. 1 GG sowohl der Begriff der Menschenrechte als auch der der Grundrechte verwendet. Obwohl die beiden Begriffe in der Umgangssprache ahnlich verwendet wer- den, bedeuten sie im Sinne des Grundgesetzes nicht das Gleiche.11
Der Begriff der Menschenrechte hat seine geschichtlichen Wurzeln im Zeitalter der Auf- klarung und des Humanismus. Zu dieser Zeit entwickelte sich die Auffassung, dass je- dem Menschen von Natur aus Rechte zustehen, die unverauBerlich sind und eine welt- weite Geltung haben.12 Dieses positive Naturrecht liegt dem Staat voraus, das heiBt, es benotigt keine rechtliche Gewahrleistung und Anerkennung durch die Staatsmacht. Viel- mehr ist der Staat ihm verpflichtet und muss eine mogliche Einschrankung rechtfertigen. Das wird im deutschen Grundgesetz insbesondere durch die Bezugnahme auf die Men- schenwurde und die Unverletzlichkeit der Menschenrechte in Art. 1 Abs. 1 und 2 GG manifestiert.13
Die Grundrechte in Art. 2 GG ff. beziehen sich ihrem Inhalt und ihrer Bedeutung nach auf die Menschenrechte, jedoch liegen sie dem Staat nicht voraus. Sie werden dem Menschen nicht von Natur aus, sondern erst als Teil des Staates von diesem zugespro- chen und anerkannt. Trotzdem sind die Grundrechte individuelles Recht. Sie binden und verpflichten den Staat in der Ausubung seiner Staatsgewalt. Wenn der Staat Eingriffe in die Grundrechte vornimmt, dann muss er sie gesetzlich rechtfertigen. Deutlich wird dies in Art. 1 Abs. 3 GG, der den drei Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht vorschreibt. Der hohe Stellenwert der Grundrechte in der BRD verdeutlicht sich durch ihren Verfassungsrang.14
Gleich dem Begriff der Grundrechte bezieht sich der Begriff der Burgerrechte auf die Staatsburger. Sie betreffen die individuellen Grundrechte, auf die sich nur die einzelnen Burger eines Staates berufen konnen. Damit wird eine klare Trennung zwischen Men- schenrechten und Burgerrechten vollzogen. Im deutschen Grundgesetz wird diese Auf- teilung durch die Formulierung „alle Deutschen“, welche sich in den betroffenen Grund- rechten findet, offensichtlich. Wer im Sinne des Grundgesetzes ein „Deutscher“ ist, wird in Art. 116 GG definiert.15 Beispiele fur die Trennung von Menschen- und Burgerrechten im Grundgesetz lassen sich in Art. 2 GG und in Art. 8 GG finden. Auf die freie Entfaltung der Personlichkeit, das Recht auf Leben, auf korperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person kann sich nach Art. 2 GG „Jeder“ berufen, folglich sind diese den Mensch- rechten zuzuordnen. Sie stehen jedem Menschen zu und jeder kann diese individuellen Rechte fur sich einfordern. Das Recht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG beispiels- weise steht hingegen nur deutschen Staatsburgern zu.16
Die Grundrechte in Abschnitt I des deutschen Grundgesetzes, also Art.1 bis 19 GG, lassen sich klassischerweise in Freiheits- und Gleichheitsrechte unterteilen. Die Frei- heitsrechte schutzen den Einzelnen davor, dass seine Freiheit durch unzulassige Ein- griffe der Staatsgewalt verletzt wird. Die Gleichheitsrechte wiederum sollen den Burger vor einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung durch die Staatsmacht bewahren.17
Zudem wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur zwischen den Grundrechten des ersten Abschnitts und den grundrechtsgleichen Rechten , die spater im Grundgesetz folgen, unterschieden. Letztere befinden sich im Abschnitt II, III und IX des Grundgeset- zes. Auch wenn hier von grundrechtsgleichen Rechten gesprochen wird, sind sie den Grundrechten gleichwertig. Das wird durch Art. 93 Abs. Nr. 4a GG deutlich, der besagt, dass eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ebenso zulassig ist, wenn sich der Grundrechtstrager in seinen „grundrechtsgleichen Rechten“ aus den Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 GG verletzt fuhlt.18
In Abschnitt I des Grundgesetzes gibt es auBerdem Artikel, die Vorschriften uber Grundrechte enthalten. Zu finden sind diese Vorschriften in Art. 1 Abs. 3 GG, welcher die Grundrechtsbindung von Legislative, Exekutive und Judikative als unmittelbares Recht vorschreibt, sowie in Art. 19 GG, welcher in Abs. 1 und 2 Vorschriften fur Eingriffe des Staates in die Grundrechte benennt. Zusatzlich wird in Art. 19 Abs. 3 GG die Geltung der Grundrechte auf inlandische juristische Personen ausgeweitet, wenn sie auf diese anwendbar sind. Diese generellen Vorschriften gelten sowohl fur alle Grundrechte in Abschnitt I als auch fur die grundrechtsgleichen Rechte.19
Die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes lassen sich in zwei Dimensionen unter- teilen. Diese werden als subjektiv-rechtliche Dimension und als objektiv-rechtliche Dimension bezeichnet. In der subjektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte wird die Perspektive des Burgers eingenommen. Dieser ist berechtigt, ein staatliches Handeln zu verlangen, das in den Grundrechten verankert ist. Jedes „Subjekt“ im Sinne eines bewusst handelnden Wesens kann sich somit sowohl gegen staatliche Eingriffe in seine Grundrechte wehren als auch Anspruche auf staatliche Leistungen erheben.20
Innerhalb der objektiv-rechtlichen Dimension findet ein Perspektivwechsel statt. Hier finden sich Grundrechte, deren Thema das staatliche Handeln ist. Einerseits begrenzen sie die Handlungsfahigkeit des Staates, Eingriffe in Grundrechte vorzunehmen, und zwar unabhangig davon, ob ein Einzelner ein Grundrecht geltend macht. Andererseits wird der Staat angewiesen, die grundrechtlich verankerten Rechtsguter zu schutzen. 21
Die klassische Einteilung der Grundrechtsfunktionen in ihrer subjektiv-rechtlichen Dimension wurde von Georg Jellinek in seiner 1892 erschienen Schrift „System der sub- jektiven offentlichen Rechte“ vorgenommen.22 Jellinek bezeichnet die drei wesentlichen Funktionen der Grundrechte als status negativus, status positivus und status activus. Allen drei Begriffen gemeinsam ist, dass sie das Verhaltnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat beschreiben.23
Der Begriff status negativus ist gleichzusetzen mit dem Zustand des Einzelnen, der ihm durch die Grundrechte „Freiheit vom Staat“ zusichert. Damit werden die Grundrechte in erster Linie als Abwehrrechte des Burgers gegenuber dem Staat verstanden.24 So betont es auch das BVerfG in seinem „Luth-Urteil“ vom 15. Januar 1958 und erganzt: „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphare des Ein- zelnen vor Eingriffen der offentlichen Gewalt zu sichern.“25 Somit ist die primare Funktion der Grundrechte im Sinne des status negativus der Schutz des Einzelnen vor ungerecht- fertigten Eingriffen des Staates in Freiheits-, Eigentums- und Gleichheitsrechte. Diese verlangen immer nach einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.26
Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG kann sich jeder in Form einer Verfassungsbeschwerde gegen Akte der offentlichen Gewalt wehren, wenn er sich durch einen solchen Akt in seinen Grundrechten verletzt fuhlt. Die Zustandigkeit fur Verfassungsbeschwerden liegt hierbei beim BVerfG, was ebenfalls durch den Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG festgeschrieben ist. Stellt das BVerfG in einer Entscheidung fest, dass der staatliche Eingriff in ein Frei- heitsrecht ungerechtfertigt ist oder eine verfassungsrechtlich verbotene Ungleichbe- handlung vorliegt, dann ist der Staat gezwungen, Akte staatlicher Gewalt zu unterlassen oder aufzuheben. Davon konnen Normen, Verwaltungsakte und tatsachliche Beeintrach- tigungen betroffen sein.27
Der status positivus beschreibt den Zustand des Einzelnen, der seine Freiheit ohne den Staat nicht ausuben kann. Er ist davon abhangig, dass der Staat Vorkehrungen trifft, die seine Freiheiten gewahrleisten, diese fordern und absichern. Die Grundrechte er- moglichen es dem Einzelnen, diese Leistung vom Staat einzufordern.
Die Grundrechte im Sinne des status positivus lassen sich in originare und derivative Leistungsrechte einteilen.28 Die originaren Leistungsrechte ergeben sich unmittelbar aus dem jeweiligen Grundrecht, beziehen sich allerdings auf noch nicht vorhandene staatliche Leistungen oder Institutionen. Diese mussen vom Staat erst geschaffen wer- den. Das kann dazu fuhren, dass der Staatshaushalt durch die Ausgaben fur die neu zu erbringenden Leistungen erheblich belastet wird und dadurch seine Gestaltungsfreiheit in anderen Bereichen erheblich eingeschrankt wird. Deshalb werden solche Anspruche nur selten gewahrt. Zumeist werden sie durch das BVerfG festgestellt.29 Ein Beispiel hierfur ist das Grundrecht auf die staatliche Gewahrleistung eines menschwurdigen Exis- tenzminimums. Dieses Grundrecht hat das BVerfG aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs. 1 GG, dem Sozialstaatsprinzip, abgeleitet.30
Die sogenannten derivativen Leistungsrechte , die als Teilhaberechte bezeichnet wer- den, haben gegenuber den originaren Leistungsrechten eine weitaus groBere Bedeu- tung fur die Grundrechtstrager. Da sich die Teilhaberechte auf bereits bestehende staat- liche Gewahrleistungen beziehen, kann sich der Grundrechtsberechtigte direkt auf diese staatliche Leistungspflicht berufen.31 Hierbei stehen vor allem die Gleichheitsrechte, im Speziellen aus Art. 3 GG, im Vordergrund, die der Staat zu beachten hat. Er muss die Voraussetzungen dafur schaffen, dass jedem Grundrechtstrager die gleichen Chancen zustehen, von einer staatlichen Leistung zu profitieren.32 Ein sehr bekanntes Beispiel hierfur ist die Chancengleichheit fur Studienbewerber bei der Vergabe von Studienplat- zen an staatlichen Hochschulen beziehungsweise Universitaten. Dieser Anspruch leitet sich aus dem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG ab.33 Das unterstreicht das „Numerus Clau- sus-Urteil“ des BVerfG vom 18. Juli 1972. In seiner Entscheidung stellte es unter ande- rem fest, dass die Abiturnote als Kriterium zur Eignung fur ein Hochschulstudium verfas- sungsrechtlich nicht bedenklich sei, jedoch die Beschrankung der Bewerbung auf sechs Studienorte nicht zu rechtfertigen sei.34 Unter die derivativen Teilhaberechte fallen eben- falls die Verfahrensrechte. Beispielsweise garantiert Art. 19 Abs. 4 GG jedem einen Rechtsschutz auf ein gerichtliches Verfahren, wenn er sich durch die offentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt sieht. 35
Der Zustand des status activus schlieBlich ermoglicht jedem Grundrechtstrager eine aktive Teilnahme am Staats- und Gemeinwesen. Diese subjektiven Teilhaberechte wer- den auch staatsburgerliche Rechte genannt. Der Burger kann durch sie im Staat mitwir- ken und auf dessen Ausrichtung Einfluss nehmen. Zu den staatsburgerlichen Rechten gehoren vor allem die grundrechtsgleichen Rechte des aktiven und passiven Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 2 GG und der gleichberechtigte Zugang zu jedem offentlichen Amt aus Art. 33 Abs. 2 GG.36
In der objektiv-rechtlichen Dimension wirken die Grundrechte als negative Kompetenz- normen fur den Staat. Denn auf der einen Seite gewahrleisten die Grundrechte die sub- jektive Freiheit des Einzelnen, welche auf der anderen Seite den Staat in seinem Handlungs- und Gestaltungspielraum beschrankt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Einzelne tatsachlich von seinen subjektiven Rechten Gebrauch macht.
Durch Art. 1 Abs. 3 GG ist der Staat grundsatzlich an die Grundrechte gebunden. Er darf seine Kompetenzen nicht beliebig einsetzen, sondern diese nur im Rahmen der Grund- rechte ausuben.37 In diesem Absatz von Art. 1 tritt die objektiv-rechtliche Dimension am deutlichsten in Erscheinung, hier wird die Grundrechtsbindung des Staates festgelegt. Der Staat darf seine Kompetenzen innerhalb der Gesetzgebung, der vollziehenden Ge- walt und der Rechtsprechung nur im Rahmen der Grundrechte ausfuhren und muss die Grundrechte bei jeder seiner Handlungen achten.38
Gleichzeitig wirken die Grundrechte in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension als Grund- lage fur objektive Wertentscheidungen. Die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes geben mit dieser Funktion zu verstehen, dass ihre Rechtsguter, uber die in der subjektiv- rechtlichen Dimension geschutzten Interessen des Einzelnen hinaus, wertvoll sind. So- mit bilden die Rechtsguter der Grundrechte die Grundlage fur das soziale und gesell- schaftliche Zusammenleben. Zugleich ist der Staat durch seine Grundrechtsbindung dazu verpflichtet, diese Rechtsguter anzuerkennen und zu schutzen. Beispiele hierfur sind die Meinungsvielfalt, die sich aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG begrundet und die freie Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG.39
Daraus abgeleitet ergeben sich Schutzpflichten und -rechte fur den Staat . Diese be- inhalten den Grundsatz der grundrechtskonformen Auslegung, den Schutz durch Teil- habe, den Schutz vor Gefahren und die Institutionsgarantien.40 Der Grundsatz der grundrechtskonformen Auslegung bindet die Rechtsprechung und die Verwaltung in der Anwendung und der Auslegung von Normen daran, den Grundrechten in ihren Ent- scheidungen und ihrem Handeln Geltung zu verleihen.41 Aus diesem Grundsatz ergibt sich auch die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte: Zwar sind Privatrechtsbeziehun- gen nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden, dennoch wirken sie mittelbar. Diese mittelbare Drittwirkung entfalten die Grundrechte dadurch, dass sowohl die Gesetzge- bung bei der Schaffung des einfachen Rechts als auch die Rechtsprechung in Zivil- rechtstreitigkeiten die Grundrechte berucksichtigen mussen.42
Eine weitere Schutzfunktion haben die Grundrechte, indem sie den Staat verpflichten, allen Grundrechtsberechtigten die gleichen Teilhaberechte an staatlichen Leistungen zu gewahrleisten. Das Recht auf gleiche Teilhabe bezieht sich insbesondere auf Art. 3 Abs. 1 GG, der allen Menschen Gleichheit vor dem Gesetz garantiert und eine Ungleich- behandlung des Menschen aufgrund seines Geschlechts, seiner Heimat und Herkunft, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seines Glaubens, seiner religiosen oder politischen Anschauungen oder einer Behinderung nach verbietet. Der Grund- rechtsberechtigte kann somit einen Anspruch auf die gleiche Teilhabe aktiv geltend machen. Jedoch kann der Staat in einigen Bereichen seiner staatlichen Leistungen und Einrichtungen die Teilhabe nur nach MaBgabe der von ihm geschaffenen Moglichkeiten gewahren, beispielsweise bei der Bereitstellung von Studienplatzen. Somit kann er die Anspruche auf die Zulassung an gewisse Kriterien oder Qualifikationen knupfen, wie zum Beispiel den Numerus Clausus. Die Verfahren zur Auswahl unter den Interessenten mussen aber unter Wahrung der Chancengleichheit durchgefuhrt werden. Der Staat muss somit Regelungen schaffen, die allen einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen oder Einrichtungen ermoglichen.43
AuBerdem gehort es zu den staatlichen Schutzpflichten, den Staat und seine Burger vor Gefahren zu bewahren . Dies bedeutet einerseits, dass er seine Burger und seine grundrechtlichen Rechtsguter vor Bedrohungen durch Dritte oder vor auBeren Einwir- kungen zu schutzen hat. Andererseits muss der Staat den Einzelnen ein Recht einrau- men, sich auf diese Schutzpflicht berufen zu konnen. Fur das BVerfG ist diese Schutz- pflicht des Staates in vielerlei Hinsicht ausgepragt, wie aus mehreren Urteilen hervor- geht: Im Schutz von Leben und Gesundheit seiner Burger, aber auch im Verfolgen des technischen Fortschritts und einem kontrollierenden Einschreiten, wenn durch ihn neue Risiken und Gefahren drohen. Ebenso muss der Staat fur den Schutz und den Bestand von staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen sorgen. Auch fur zivilrechtliche Konflikte trifft den Staat eine Schutzpflicht, wenn die grundrechtlich geschutzten Interessen der einen Seite gegenuber denen der anderen chancenlos sind.44
Fur die Erfullung dieser Schutzpflichten raumt das BVerfG der Legislative regelmaBig einen betrachtlichen Ermessens- und Gestaltungsspielraum ein. Ausschlaggebend fur die Entscheidung des Staates, wie er dieser Schutzpflicht nachkommt, sind grundsatz- lich Faktoren wie das drohende AusmaB der Gefahr oder der Rang der beteiligten indi- viduellen und staatlichen Interessen.45
Der Gestaltungs- und Ermessensspielraum des Staates hinsichtlich seiner Schutzpflicht ist begrenzt durch das UntermaBverbot . Dieses verpflichtet ihn dazu, einen gewissen Mindeststandard zu gewahrleisten. Ein VerstoB gegen das UntermaBverbot liegt vor, wenn die offentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder uberhaupt nicht getroffen hat, oder die getroffenen Regelungen und MaBnahmen ganzlich ungeeignet oder vollig unzulanglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zuruck- bleiben.“46 Das Gegenteil davon ist das UbermaBverbot. Dies bedeutet, dass die MaB- nahmen des Staates in einem angemessenen Verhaltnis zu dem angestrebten Ziel ste- hen mussen. Sie durfen das erforderliche MaB nicht uberschreiten.47
Weiterhin begrunden die Schutzpflichten und -rechte des Staates Einrichtungsgaran- tien . Hinsichtlich der Einrichtungen, die der Staat einerseits normativ auszuformen und andererseits zu schutzen hat, gibt es zwei unterschiedliche Arten: Einerseits die so ge- nannten Institutsgarantien, die von privatrechtlicher Natur sind, und die so genannten institutionellen Garantien, die dem offentlich-rechtlichen Bereich zugeordnet sind. Bei- spiele fur Institutsgarantien sind die Garantie der Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG und die Gewahrleistung des Eigentums- und des Erbrechts aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. Zu den institutionellen Garantien gehoren das Berufsbeamtentum aus Art. 33 Abs. 5 GG und die kommunale Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG. Beiden Einrichtungs- garantien gemeinsam ist, dass der Staat sie zwar rechtlich gestalten kann, aber der Kern der Grundrechte von ihm nicht verandert werden darf.48
Eine uneingeschrankte Ausubung der Grundrechte wurde im sozialen Verbund der Burger beziehungsweise Grundrechtstrager haufig zu Kollisionen fuhren. Der grundrechtlich uneingeschrankte Freiheitsgebrauch des einen konnte einen anderen in seinen grund- rechtlichen Freiheiten einschranken oder verletzen. Deshalb wurden fur die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes Moglichkeiten vorgesehen, dem uneingeschrankten Frei- heitsgebrauch Schranken zu setzen. Dies ware beispielsweise der Fall, wenn die Hand- lungsfreiheit eines Grundrechtstragers aus Art. 2 Abs. 1 GG fur den anderen Grund- rechtstrager eine Gefahr fur die ihm aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG grundrechtlich garantierte Unversehrtheit darstellen wurde. Nach Art. 2 Abs. 2 S. 3 konnte der Staat auf Grundlage eines Gesetzes in die Handlungsfreiheit eingreifen.49
Der Schutzbereich eines Grundrechts umfasst einen konkreten Lebensbereich, das heiBt, die Verhaltensweisen, Eigenschaften, Situationen, Rechtspositionen und -guter des Grundrechtstragers, die ihm das Grundgesetz garantiert und die generell vor staat- lichen Eingriffen geschutzt sind. Aufgeteilt wird ein solcher Schutzbereich in einen sach- lichen und einen personlichen Teil. Im sachlichen Schutzbereich definiert das Grund- recht, welches Rechtsgut gewahrleistet und geschutzt ist. Mit dem personlichen Schutzbereich bringt das Grundrecht zum Ausdruck, welche Personen zu diesem Grundrecht berechtigt sind beziehungsweise davon Gebrauch machen durfen.50 Bei- spielsweise ist der sachliche Schutzbereich der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Der personliche Schutzbereich geht aus der Bezeichnung „Alle Deutschen“ in Art. 8 Abs. 1 GG hervor. Somit sind alle Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG grundrechts- berechtigt.51 Da die Schutzbereiche der einzelnen Grundrechte oftmals sehr unkonkret und weit gefasst sind, ist es die Aufgabe der Gesetzgebung, den Inhalt des Grundrechts durch Gesetze naher zu bestimmen und Beschrankungsmoglichkeiten festzulegen. Das betrifft zum Beispiel den Schutzbereich des Eigentums und des Erbrechts aus Art. 14 GG.52
Ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts durch den Staat liegt vor, wenn dem Grundrechtsberechtigten dadurch ein Verhalten, welches in den Schutzbereich des Grundrechts fallt, eingeschrankt, beeintrachtigt oder verwehrt wird. Das kann durch eine MaBnahme des Staates erfolgen, die auf den Einzelnen gerichtet ist, wie zum Beispiel durch einen Verwaltungsakt oder durch Rechtsprechung. Ein staatlicher Eingriff kann aber auch generell durch ein Gesetz, eine Rechtsverordnung oder eine Satzung vorge- nommen werden.53 Hinsichtlich des Eingriffsbegriffs wird zwischen einem klassischen und einem modernen Eingriff unterschieden. Der klassische Eingriffsbegriff ist auf die traditionellen staatlichen Handlungsformen ausgerichtet. Fur das Vorliegen eines klassi- schen Eingriffs mussen vier Voraussetzungen erfullt sein: Einerseits muss die staatliche MaBnahme ein rechtsformiger Vorgang sein, der eine rechtliche und nicht nur tatsachli- che Wirkung herbeifuhrt. Zweitens muss die MaBnahme final ausgerichtet sein und darf nicht bloB eine unbeabsichtigte Nebenfolge eines auf andere Ziele ausgerichteten Han- delns des Staates sein. Zum Dritten muss die staatliche MaBnahme den Eingriff unmit- telbar verursachen und darf keine mittelbare Folge staatlicher MaBnahmen sein, auch wenn diese beabsichtigt war. Die letzte Voraussetzung fur das Vorliegen eines klassi- schen Eingriffs verlangt, dass die MaBnahme mit Befehl und Zwang auferlegt bezie- hungsweise durchgesetzt wird. Somit ist ein klassischer Eingriff direkt auf eine staatliche MaBnahme zuruckzufuhren, zum Beispiel durch ein Gesetz oder aufgrund einer Rechts- verordnung.54
Der moderne Eingriffsbegriff stellt eine Erweiterung des klassischen Verstandnisses dar. Nach diesem modernen Verstandnis muss die staatliche MaBnahme nicht unmittel- bar auf den Einzelnen gerichtet sein. Er kann ebenso mittelbar durch staatliches Handeln betroffen sein und deswegen in seinen Grundrechten eingeschrankt werden.55 Diese moderne Interpretation eines Eingriffs ist auf die „Osho-Entscheidung“ des BVerfG vom 26. Juni 2002 zuruckzufuhren. Das BVerfG fuhrte in seiner Urteilsbegrundung aus, dass das Grundgesetz „. den Schutz vor Grundrechtsbeeintrachtigungen nicht an den Be- griff des Eingriffs gebunden oder diesen inhaltlich vorgegeben ...“ hat.56 Ein Eingriff nach dem modernen Verstandnis „. ist jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Ver- halten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fallt, ganz oder teilweise unmoglich macht, gleichgultig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittel- bar, rechtlich oder tatsachlich (faktisch, informal), mit oder ohne Befehl und Zwang ein- tritt.“57
Der Begriff der Schranke eines Grundrechts bezieht sich in der Rechtswissenschaft auf die Beschrankungsmoglichkeiten, welche der Staat hat, um Eingriffe in den Schutzbereich eines Grundrechts vornehmen zu konnen.58 Solche Schranken ergeben sich zumeist direkt aus dem Wortlaut des jeweiligen Grundrechts: So darf nach Art. 2 Abs. 1 GG die freie Entfaltung der Personlichkeit eingeschrankt werden, wenn sie die Rechte anderer verletzt oder gegen die verfassungsmaBige Ordnung oder das Sittenge- setz verstoBt. Art. 8 Abs. 2 GG definiert hingegen, dass die Versammlungsfreiheit unter freiem Himmel durch ein Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschrankt werden kann. Andere Grundrechte wie die Religions- oder Glaubensfreiheit aus Art.4 Abs. 1 GG besitzen nach dem Wortlaut keine Beschrankung, gelten aber dennoch nicht vorbehalt- los.
Aus den oben ausgefuhrten Beispielen lassen sich somit drei verschiedene Typen er- kennen, die aufzeigen, wie Eingriffe in Grundrechte durch den Staat vorgenommen wer- den konnen. Zum einen gibt es Grundrechte mit verfassungsunmittelbaren Schran- ken , fur die das Grundgesetz die ausdruckliche Beschrankungsmoglichkeit im Grund- recht selbst enthalt.59 Neben Art. 2 Abs. 1 GG, in welchem die Handlungsfreiheit einge- schrankt werden kann, wenn sie die Rechte anderer verletzt oder gegen die verfas- sungsmaBige Ordnung oder das Sittengesetz verstoBt, beinhaltet die Vereinigungsfrei- heit aus Art. 9 GG in Abs. 2 ebenfalls eine verfassungsunmittelbare Schranke. Sie be- sagt, dass Vereinigungen verboten sind, wenn sie ihrem Zweck oder ihren Tatigkeiten nach den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder sie sich gegen die verfassungsmaBige Ord- nung oder gegen den Gedanken der Volkerverstandigung richten.
Der zweite Typ von Schranken betrifft die Grundrechte, die aufgrund eines einfachen oder qualifizierten Gesetzesvorbehalts vom Staat beschrankt werden konnen. Der Gesetzesvorbehalt verlangt fur einen Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts, dass dieser durch oder aufgrund eines Gesetzes vorgenommen wird.60 Dies gilt auch fur Grundrechtseingriffe und Regelungen, welche die Verwaltung vornimmt. Sie benotigt da- fur eine gesetzliche Grundlage beziehungsweise eine Ermachtigung durch ein vom Parlament beschlossenes formliches Gesetz.61 Bei Grundrechten mit einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt werden daruber hinaus besondere Anforderungen an das beschran- kende Gesetz gestellt.62 Das Grundgesetz verlangt, „. dass das Gesetz an bestimmte Situationen anknupft, bestimmten Zwecken dient oder bestimmte Mittel benutzt.“63 Ein Beispiel fur ein Grundrecht, dessen Einschrankung durch ein Gesetz an bestimmte Um- stande geknupft sein muss, findet sich in Art. 11 Abs. 2 GG.
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1 Vgl. Vgl. Robert Koch-Institut, 2021, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19.
2 Vgl. Knieps,2020, S. 6.
3 Vgl. Kersten/Rixen, 2021, S. 27 ff.
4 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (BPA), 2020, Fernsehansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel.
5 Vgl. Kersten/Rixen, 2021, S. 28 ff.
6 Vgl. Abele-Brehm et al., 2020, S. 1 f.
7 Vgl. Kersten/Rixen, 2021, S. 48 ff.
8 Vgl. Rohwedder, 2021, Studien zu Covid: Zu hastig, zu schlampig, zu leichtfertig?.
9 Vgl. ETL Rechtsanwalte, 2021, Uber 650 Gerichtsentscheidungen zum Coronavirus: Rechtsprechung rund um die Coronavirus-Pandemie.
10 Vgl. Anhang 1.
11 Vgl. Geuther, 2017, S. 14.
12 Vgl. Ebd.
13 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 43 ff.
14 Vgl. Ebd.
15 Vgl. Papier/Kronke, 2018, Rn. 6 ff.
16 Vgl. Geuther, 2017, S. 17.
17 Vgl. Epping, 2017, Rn. 9 f.
18 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 65 f.
19 Vgl. Ebd.
20 Vgl. Ebd.
21 Vgl. Epping, 2017, Rn. 11.
22 Vgl. Pauly/Siebinger, 2020, S. 139 ff.
23 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 75 f.
24 Vgl. Ebd.
25 BVerfGE 7, 198, Rn. 24.
26 Vgl. Papier/Kronke, 2018, Rn. 33 ff.
27 Vgl. Ebd, Rn. 37 ff.
28 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 78.
29 Vgl. Papier/Kronke, 2018, Rn. 38 f.
30 Vgl. BVerfGE 125, 175.
31 Vgl. Papier/Kronke, 2018, Rn. 38 ff.
32 Vgl. Epping, 2017, Rn. 18.
33 Vgl. Papier/Kronke, 2018, Rn. 40.
34 Vgl. BVerfGE 33, 303.
35 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 78 f.
36 Vgl. Papier/Kronke, 2018, Rn. 49.
37 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 91 ff.
38 Vgl. Epping, 2017, Rn. 11.
39 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 94.
40 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 101 ff.
41 Vgl. Ebd., Rn. 101.
42 Vgl. Epping, 2017, Rn. 347.
43 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 104 ff.
44 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 110.
45 Vgl. Ebd., Rn. 113.
46 Vgl. BVerfGE 92, 26., Rn. 74.
47 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 289.
48 Vgl. Papier/Kronke, 2018, Rn. 50 ff.
49 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 222.
50 Vgl. Papier/Kronke, 2018, Rn. 128 ff.
51 Vgl. Geuther, 2017, S. 17.
52 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 977 ff.
53 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 223.
54 Vgl. Ebd., Rn. 251.
55 Vgl. Papier/Kronke, 2018, Rn. 135.
56 BVerfGE 105, 279, Rn. 70.
57 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 253.
58 Vgl. Papier/Kronke, 2018, Rn. 139.
59 Vgl. Ebd., Rn. 139 ff.
60 Vgl. Ebd.
61 Vgl. Pieroth et al., 2013, Rn. 271 ff.
62 Vgl. Ebd., Rn. 264 ff.
63 Pieroth et al., 2013, Rn. 266.