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Masterarbeit, 2022
74 Seiten, Note: 2,0
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Forschungsstand / Problemaufriss
2.1 Entwicklung der Bürgerbeteiligung in der Bundesrepublik Deutschland
2.2 Bürgerbeteiligung und Ratsvertreter
2.3 Reformmodell Bürgerkommune
3. Theoretischer Bezugsrahmen
4. Konzeption der Hausarbeit
4.1 Hypothese und Variable
4.2 Fallauswahl
4.3 Methode Fallanalyse und Experteninterview
4.4 Entwicklung des Fragebogens
5. Analyse der empirischen Ergebnisse
5.1 Auswertung der Befragungen
5.1.1 Aufgabe a) Die zentralen Ziele kommunaler Aufgaben festlegen
5.1.2 Aufgabe b) Die Vertretung der Forderungen und Anliegen der örtlichen Gemeinschaft
5.1.3 Aufgabe c) Die Kontrolle kommunaler Aktivitäten
5.1.4 Aufgabe d) Die Interessen von Minderheiten fördern
5.1.5 Aufgabe e) Die Debatte über lokale Angelegenheiten öffentlich machen, bevor Entscheidungen getroffen werden
5.1.6 Aufgabe f) Den Bürgern kommunalpolitische Entscheidungen vermitteln
5.1.7 Aufgabe g) Das Programm meiner Partei/Wählergruppe umsetzen
5.1.8 Aufgabe h) Die Verwaltung unterstützen
5.1.9 Aufgabe i) Bei Konflikten in der Gemeinde vermitteln
5.1.10 Aufgabe i) Die Interessen von Frauen fördern
5.2 Überprüfung der Hypothese
5.2.1 Überprüfung der Hypothese entlang der Antworten von SV1
5.2.2 Überprüfung der Hypothese entlang der Antworten von SV2
5.2.3 Überprüfung der Hypothese entlang der Antworten von SV3
5.2.4 Überprüfung der Hypothese entlang der Antworten von SV4
5.2.5 Überprüfung der Hypothese entlang der Antworten von SV5
6. Zusammenfassung und Erklärungsansätze für den Befund
7. Fazit
Quellenverzeichnis
Anhang
Abb. 1: Formen von Bürgerbeteiligung in Deutschland
Abb. 2: Kommunale Leitbilder im Wandel
Abb. 3: Die Bürgerkommune
Abb. 4: Beteiligungsangebote in Potsdam
Abb. 5: Untersuchungsanordnungen
Abb. 6: Überblick der Interviewpartner
Abb. 7: Rollenprägende Aufgaben von Stadtverordneten
Abb. 8: Selbsteinschätzung der Stadtverordneten
„Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ (Brandt 1969). Diese Absicht hat der damalige Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, am 28.10.1969 im Rahmen seiner viel beachteten Rede vor dem DeutschenBundestag erklärt. Weiter heißt es: „Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werdendarauf hinwirken, dass nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.“ (Brandt 1969). Diese Forderung, jedem Bürger dieMitwirkung an Reformprozessen zu ermöglichen, scheint auch heute, nach über fünfzig Jahren, noch so aktuell zu sein wie ehedem. Nicht ohne Grund findet das Thema Bürgerbeteiligung parteiübergreifend Eingang in alleKoalitionsverträge der Bundesregierungen der letzten Jahre. So forderte das Bündnis aus CDU, CSU und SPD im Koalitionsvertrag von 2018, dassVorschläge erarbeitet werden sollen, ob und in welcher Form Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie die bewährte parlamentarisch-repräsentativeDemokratie ergänzen könnten (Koalitionsvertrag 2018, S. 163), und auch die aktuelle Bundesregierung, bestehend aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und F.D.P. fordert eine verbesserte Entscheidungsfindung durch neue Formen desBürgerdialogs (Koalitionsvertrag 2021, S. 10).
Bei der Umsetzung dieser Forderungen kommt den Kommunen einebesondere Bedeutung zu, da sich hier politische Entscheidungen aller Ebenen unmittelbar auswirken (König 2019, S. 1). Insofern wundert es nicht, dass sich die Leitbilder der deutschen Städte und Gemeinden in den letztenJahrzehnten stetig gewandelt haben, bis hin zu einem ReformmodellBürgerkommune, wodurch die Bürger stärker in die kommunalen Entscheidungsprozesse eingebunden sollen, wie die vorliegende Arbeit zu einem späteren Zeitpunkt belegen wird.
Dabei stellen die Leitbilder eher Absichtserklärungen dar, die bisher kaum in der kommunalen Praxis umgesetzt wurden. So schreiben Bogumil undHoltkamp: „Mit der Bürgerkommune ist es so ähnlich wie mit demUngeheuer von Loch Ness - alle reden darüber, aber noch keiner hat siegesehen.“ (Bogumil u. Holtkamp 2002a, S. 5) und noch im Jahr 2012 stellt Paul-Stefan Roß für Baden-Württemberg fest, dass es noch keine Kommune gebe, die das Leitbild Bürgerkommune eins zu eins umgesetzt habe (Roß 2012, S. 549). Diese Befunde dürften nach eigener Recherche, abgesehen von wenigen Ausnahmen, bis heute gültig sein. Die auf der normativen Ebenebeschriebenen Vorteile der Bürgerkommune zur Optimierung der Input- und Outputlegitimität entsprechend der komplexen Demokratietheorie (Holtkamp 2021, S. 4) sollten eigentlich alle entscheidenden Akteure überzeugen. Doch wie kommt es, dass trotz der scheinbar breiten Akzeptanz und desBekenntnisses zum Reformmodell Bürgerkommune in vielen kommunalen Leitbildern entsprechende Beteiligungsverfahren kaum zur Anwendungkommen? Ein Grund könnte in der oft zitierten Neugestaltung des Kräftedreiecks zwischen Bürgern, Kommunalvertretungen und Verwaltung bestehen, die durch mehr Beteiligungsmöglichkeiten zwangsläufig entsteht (Holtkamp u. Bogumil 2007, S. 12). Von den genannten Akteuren sind es oftmals die Kommunalpolitiker, die Bedenken gegenüber der Mitwirkung von Bürgern an Planungsprozessen haben (Holtkamp 2021, S. 8). Diese Bedenken können auf Akteurzielen wie Machtsicherung oder Wiederwahl fußen (Bogumil und Holtkamp 2002, S. 29). Es liegen umfangreiche Studien zu der Fragestellung vor, wodurch das Demokratieverständnis von Repräsentanten determiniert wird (Heinelt 2013; Vetter 2017), hinsichtlich der Motivation von Ratsvertretern, die Bürgerkommune zu unterstützen oder abzulehnen, besteht diesbezüglich jedoch eine Forschungslücke. Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag dazu leisten, diese Forschungslücke zu schließen und damitinsgesamt die Herausforderungen auf dem Weg zu einer Bürgerkommune besser zu verstehen. Das Thema ist aus verschiedenen Gründen relevant. Die hohe gesellschaftliche Relevanz wurde bereits exemplarisch an den Koalitionsverträgen der Bundesregierungen verdeutlicht. Zudem erfreut sich das Reformmodell Bürgerkommune auch in der politikwissenschaftlichenDiskussion einem wachsenden Interesse (Holtkamp und Bogumil 2007; Deth 2013; Kleger 2017; König 2019; Holtkamp 2021). Darüber hinaus konnte der Autor dieser Arbeit, der selber bei einer Kommune beschäftigt ist, dieRelevanz von Bürgerbeteiligungsverfahren ganz allgemein, aber auch der Bürgerkommune im Speziellen für die kommunale Praxis feststellen.
In Anlehnung an die bereits genannten Studien hinsichtlich des Demokratieverständnisses von Repräsentanten wird vermutet, dass die Akzeptanz von Bürgerbeteiligung durch Ratsvertreter damit zusammenhängt, welcheVorstellung sie von der eigenen Rolle im politischen Entscheidungsprozess haben. Als theoretischen Rahmen zur Erklärung der Einstellungen vonRepräsentanten greift diese Arbeit daher auf die Rollentheorie zurück und geht folgender Forschungsfrage nach:
Welche Einstellungen haben Ratsvertreter (Stadtverordnete) gegenüber der Bürgerkommune und inwiefern kann ihr Rollenverständnis diese Einstellungen erklären?
Zur Klärung dieser Frage wird zunächst der aktuelle Forschungsstanddiskutiert und die Rollentheorie als theoretischer Bezugsrahmen vorgestellt. Im Rahmen der Konzeption der Arbeit wird anschließend die Hypotheseentwickelt, woraus sich die abhängigen und unabhängigen Variablen ableiten, zudem werden das methodische Vorgehen und die Fallauswahl begründet. Nachdem die empirischen Befunde der durchgeführten Experteninterviews vorgestellt wurden, werden diese zusammengefasst und vor dem Hintergrund der diskutierten Literatur bewertet, worauf schließlich im Fazit die wesentlichen Erkenntnisse dieser Arbeit präsentiert und kritisch hinterfragt werden, sowie ein Ausblick auf weitere Fragestellungen gegeben wird.
Zum Zwecke der besseren Lesbarkeit wird grundsätzlich die männliche Form für die relevanten Akteure benutzt. Ausnahme hiervon bilden dieInterviewpartner*innen, da diese trotz der Anonymisierung der Beiträgevermutlich ihren Beitrag erkennen werden und sich entsprechend ihresGeschlechts wiederfinden sollen.
Mein besonderer Dank gilt den Stadtverordneten, die sich im August desJahres 2021 Zeit für ein persönliches Gespräch in Potsdam, bzw. per Videokonferenz genommen haben.
Die Begriffe Partizipation bzw. Beteiligung - beide Begriffe werden imWeiteren synonym verwendet - sind sehr vielschichtig und bedürfen zunächst einer näheren Definition. Beteiligung umfasst in der Regel die Teilhabe als auch die Teilnahme z. B. an politischen Entscheidungen, wobei Teilhabe eher auf passive Zusammenhänge verweist, während Teilnahme als eine aktive Beteiligung an (Entscheidungs-)Prozessen zu verstehen ist (Gottschalk und Elstner 1997, S. 155). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird Partizipation als aktive Teilnahme an den unterschiedlichen Entscheidungsprozessenverstanden. Darüber hinaus lassen sich in der sozialwissenschaftlichen Literatur vielfältige Formen der Beteiligung finden, wobei grundsätzlich zwischen politischer und sozialer Beteiligung zu unterscheiden ist (Steinbrecher 2009, S. 27 - 29). Wie die nachfolgende Diskussion zeigen wird, ist eine klare Abgrenzung zwischen politischer und sozialer Beteiligung zum Teilunmöglich, gleichwohl soll in der vorliegenden Arbeit die politische Beteiligung im Fokus des Erkenntnisinteresses stehen.
Die ersten Studien zur Beteiligungsforschung in den 1930er-Jahren befassten sich mit der Frage, wo die Gründe für die unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung in verschiedenen Ländern lagen und welche Faktoren zu einer Veränderung der Wahlbeteiligung führen. Bei diesen Untersuchungenwurden ausschließlich Wahlen als Form der Beteiligung in den Fokusgenommen (Vetter und Remer-Bullow 2017, S. 56). Neben den Wahlhandlungen wurden aber auch Parteiarbeit und Kontakt zwischen Bürgern und Behörden als Partizipationsmöglichkeiten akzeptiert und werden bis heute als konventionelle Form der Partizipation bezeichnet (Deth 2009, S. 146).
Ende der 1960er Jahre fanden weitreichende gesellschaftliche Veränderungen statt, die durch Studentenunruhen und dem Aufkommen neuer sozialerBewegungen wie Frauen- oder Friedensbewegungen in neuen Beteiligungs-formen mündeten (Vetter und Remer-Bullow 2017, S. 57 - 58). Dadurch wurde klar, dass nicht nur allgemein akzeptierte Aktivitäten eine Form der politischen Beteiligung sind, sondern dass auch Protest und Ablehnung klare Ausdrucksformen bürgerlicher Interessen sein können. Diese Beteiligungsformen rückten schließlich als unkonventionelle Partizipationsformen in den Interessensbereich der Beteiligungsforschung (Deth 2009, S. 146). So kamen Milbrath und Goel zu dem Schluss, dass „als konventionell diejenigen Beteiligungsformen bezeichnet [werden], die mit hoher Legitimitätsgeltung auf institutionalisierte Elemente des politischen Prozesses, insbesondere die Wahl bezogen sind, auch wenn diese Formen selbst nicht institutionalisiert sind. […] Als unkonventionell werden hingegen alle die Beteiligungsformen bezeichnet, die auf institutionell nicht verfaßte unmittelbare Einflußnahme auf den politischen Prozess abstellen“ (Milbrath und Goel 1977, S. 162). Mit dieser Unterscheidung wurden nun auch Bürgerinitiativen, Demonstrationen, Unterschriftenaktionen, Streiks, Gebäudebesetzungen oder Verkehrsblockaden als Beteiligungsformen von der Forschung erfasst. (Vetter und Remer-Bullow 2017, S. 57 - 58).
Weitere drei Jahrzehnte später fand in den 1990er Jahren wiederum eineerhebliche Ausweitung politischer Partizipation statt, indem die Grenzenzwischen politischer und nicht-politischer Sphäre allmählich verschwanden (Deth 2009, S. 146). Ursache hierfür waren gesellschaftliche und politische Veränderungen, wie beispielsweise die Expansion des Wohlfahrtsstaates in Deutschland, die dazu führte, dass der Bürgerbeteiligung eine neue Rolle als Ressource staatlicher Leistungsfähigkeit zugeschrieben wurde, um denvermeintlich unfinanzierbar gewordenen Sozialstaat zu entlasten, aber auch um die Humanisierung und Qualitätssteigerung der öffentlichen Leistungsproduktion zu fördern (Olk und Hartnuß 2011, S. 147). Ein weiterer Argumen-tationsstrang folgte dem Gedanken, dass eine Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie erforderlich sei, um den Bürgern angesichts der zunehmenden Komplexität von Politik effektivere Möglichkeiten derMitbestimmung und Beteiligung bei der der Gestaltung von Politik einzuräumen (Vetter und Remer-Bullow 2017, S. 60 - 61). So wird z. B. in Entscheidungsprozessen wie Stuttgart 21 der „Inbegriff für die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung“ gesehen (Eder 2011, S. 84). Im Ergebnis führte diese Entwicklung dazu, dass beinahe alle erdenklichen Formennicht-privater Aktivitäten dem Gebiet der politischen Partizipationzugerechnet wurden (Deth 2009, S. 146). Eine neue Form politischer Partizipation wird als political consumerism bezeichnet, wenn sich nämlich der Versuch der Einfluss-nahme nicht auf Kanäle der Repräsentation bezieht (wie z. B. durch Wahlen oder Bürgerinitiativen), sondern durch Produktboykotte oder durch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung versucht wird, direkt auf eine Sachentscheidung einzuwirken (Deth 2009, S. 147). Während, wie dargestellt, in der Partizipationsforschung zu Beginn lediglich ein Instrument der Beteiligung berücksichtigt wurde (die Wahl), wurden ab Mitte der 1990er Jahren über 50 Beteiligungsformen in Forschungsprojekten berücksichtigt (Vetter und Remer-Bullow 2017, S. 60 - 61). Jan van Deth zählt in unterschiedlichen, von ihm betrachteten Studien sogar über 70 Aktivitäten von Bürgerinnen und Bürgern, die er als Bürgerbeteiligung wertet (Deth 2009,S. 146). Die bisherigen Ergebnisse der Partizipationsforschung habennachgewiesen, dass den Bürgern heutzutage breit angelegte, über Wahlen deutlich hinausgehende Beteiligungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die sie in Abhängigkeit von bestimmten Situationen und Zielen gezielt nutzen (Kaase 2002, S. 354).
Dieser Entwicklung trägt eine allgemein anerkannte Definition vonpolitischer Beteiligung nach Max Kaase Rechnung. „Unter politischer Beteiligung werden in der Regel jene Verhaltensweisen von Bürgern verstanden, die sie alleine oder mit anderen freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Einfluß auf politische Entscheidungen zu nehmen“ (Kaase 2002, S. 350; ähnlich Parry et al. 1992, S. 16; Verba et al. 1995, S. 37 f.; Norris 2002: 5).
Diese Definition ist von mehreren Merkmalen gekennzeichnet, die für das instrumentelle Verständnis von politischer Partizipation charakteristisch sind (Deth 2009, S. 143 - 144). Erstens bezieht sich politische Partizipation auf Bürger und nicht etwa auf Politiker oder Staatsbeamte. Zweitens folgt Kaase der bereits vorgestellten Auffassung, wonach Partizipation als Verhalten im Sinne einer Tätigkeit zu verstehen ist - Fernsehdiskussionen zu verfolgen oder zu behaupten, sich für Politik zu interessieren, ist demnach keine Partizipation. Drittens sollen die genannten Aktivitäten freiwillig und nicht etwa durch Autoritäten oder Gesetze angeordnet sein. Abschließend soll politischeBeteiligung zum Ziel haben, Entscheidungen des politischen Systems zubeeinflussen. Dabei wird die Einflussnahme bewusst weit gefasst. Sie istweder auf die Form (beispielsweise Wahlhandlungen), noch auf das Stadium der Entscheidungsfindung (beispielsweise parlamentarische Diskussion)beschränkt.
Bei der Fülle der neu entstandenen, und allgemein akzeptierten Partizipationsmöglichkeiten ist bemerkenswert, dass diese nicht in gleichem Umfang genutzt werden. Verschiedene Untersuchungen haben belegt, dass vieleBürger ihre politische Beteiligung größtenteils auf Wahlhandlungen und Unterschriftenaktionen beschränken. (Deth 2009, S. 149; Gabriel u. Neller 2010, S. 92 f.). Dieser Befund wird auch durch letzte Befragungen desOnline-Portals für Statistik Statista gestützt (vgl. Abb. 1). So antworteten auf die Fragestellung Welche Formen von politischer Beteiligung praktizieren Sie/kämen für Sie in Frage und welche kommen nicht in Frage? 94 % der Befragten, dass sie an Wahlen teilnehmen (würden), während nur für 27 % der Befragten an zeitintensiveren Beteiligungsformen wie dem Einsatz als Sachkundiger Bürger im Rat in Betracht kommen würde (Statista Research Department 2011).
Dabei ist die geringe Nutzung der vielfältigen Beteiligungsinstrumente nicht generell negativ zu beurteilen. Vielmehr kann argumentiert werden, dass viele Beteiligungsformen nicht als Alternative, sondern zusätzlich undsituationsspezifisch von Bürgern genutzt werden (Kaase 1995, S. 525).Außerdem wird zum Teil der wachsende Wohlstand unserer Gesellschaft als Erklärungsfaktor gesehen, dass Bürger sich verstärkt anderen Aktivitätenzuwenden, statt Politik durch soziale Konflikte zu beeinflussen (Deth 2009, S. 156).
Abb. 1: Formen von Bürgerbeteiligung in Deutschland
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Statista Research Department 2011
Trotz dieser Befunde ist die Frage, warum politische Partizipation stattfindet, nicht einfach zu beantworten. Grade die große Vielfalt der Partizipationsmöglichkeiten, aber auch die stark unterschiedlichen Ziele der Beteiligten machen es schwierig, allgemeine Erklärungen zu finden (Deth 2009, S. 152). Hier wird die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten, wenn zum einen die Partizipationsmöglichkeiten beleuchtet werden, die sich im Rahmen einer Bürgerkommune bieten, aber auch das Rollenverständnis von handelnden Akteuren (hier: Stadtverordnete) in den Blick genommen wird.
Diese Arbeit untersucht die Einstellung von Ratsvertretern / Stadtverordneten gegenüber der Bürgerkommune anhand deren Rollenverständnis. Da imWeiteren auch auf Studien zu nationalstaatlichen Beteiligungsverfahrenzurückgegriffen wird, ist zunächst zu begründen, inwiefern Konzeptedemokratischer Repräsentation auch auf lokale Kontexte übertragen werden können.
Die Kommunen sind staatsrechtlich Teil der Bundesländer, denen zumgroßen Teil die Aufgabe zufällt, Gesetze des Bundes auszuführen(Barkowsky 2014, S. 184). Gleichwohl wird in politik-, rechts- undverwaltungswissenschaftlicher Literatur immer wieder die Frage diskutiert, inwiefern die kommunale Ebene faktisch politisch ist. Während auf der einen Seite argumentiert wird, kommunale Entscheidungen seien überwiegend sachlicher Natur, die nicht parteipolitisch, sondern von einer Versammlung ehrenamtlicher Bürger getroffen werden (Ziebill 1972, S. 62; Holtmann et al. 2017, S. 123), wird andererseits diskutiert ob, es sich bei Gemeinderäten um vollwertige Parlamente handelt (Kuhlmann und Wollmann 2013, S. 77 ff.).
Zunächst ist festzuhalten, dass deutschen Städten und Gemeindengrundgesetzlich das Recht zufällt, „alle Angelegenheiten der örtlichenGemeinschaft im Rahmen der Gesetze in Eigenverantwortung zu regeln“ (Art. 28 II GG). Ebenso ist verankert, dass „in den Ländern, Kreisen undGemeinden [...] das Volk eine Vertretung haben [muss], die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist“ (Art. 28 I 2 GG). Damit ist auf kommunaler Ebene eindeutig ein demokratisch legitimiertes Repräsentationsorgan vorgesehen, welches die gleichen Aufgaben wahrnimmt, wie die Parlamente auf den höheren Ebenen (Reiser 2006, S. 38). Gemeinderäte erfüllen zwar keine legislativen Aufgaben oder wählen das Regierungsoberhaupt, was eine klassische Funktion von Parlamenten wäre, aber sie stellen den Gemeindehaushalt auf und legen grundsätzliche Entscheidungen in ihrer Kommune fest, wodurch sie wie Parlamente aufnationaler Ebene allgemeinverbindliche Regelungen treffen (Egner 2013,S. 92). Anders als ihre Kollegen auf den höheren politischen Ebenen sind Gemeinderäte zwar keine Berufspolitiker, aufgrund der wachsenden Komplexität der Aufgaben und dem steigenden Arbeitsaufwand weisenStudien jedoch eine zunehmende „informelle Verberuflichung des kommunalen Ehrenamtes“ (Bogumil et al. 2017, S. 43) nach. Auch terminologische Verschiebungen vom traditionellen Begriff kommunale Selbstverwaltung zu Kommunalpolitik, oder von kommunaler Vertretung zu Kommunalparlament zeigen, dass eine politische Sicht der Kommunen vorherrschend ist (Ruzio 2011, S. 350). Auch Björn Egner konstatiert: “Die Repräsentationsfunktion des Gemeinderats ist durchaus mit dem eines Parlaments zu vergleichen“(Egner 2013, S. 103). Sie bilden faktisch eine dritte Politik- und Verwaltungsebene innerhalb des nationalen Systems (Kuhlmann u. Wollmann 2013,S. 77). Trotz ihrer formellen Zugehörigkeit zur Exekutive der Länder lässt sich aus den genannten Gründen schlussfolgern, dass Gemeinderäte faktisch als Kommunalparlamente und als Vertretungsorgan der Bürgerschaftbetrachtet werden können. Entsprechende Befunde aus Untersuchungen zu Nationalparlamenten können damit auf die vorliegende Arbeit übertragen werden.
Bevor eigene empirische Befunde analysiert werden können, soll zunächst reflektiert werden, welche Erkenntnisse im Kontext der Fragestellung bereits vorliegen. In verschiedenen Studien wurde untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Demokratieverständnis von Ratsvertretern und den institutionellen Rahmenbedingungen oder den persönlichen Merkmalen der Ratsmitglieder gibt. Das Demokratieverständnis wurde hier unterschieden zwischen repräsentativem / liberalem Demokratieverständnis und partizipativem / deliberalem Demokratieverständnis (Heinelt 2013, S. 105 u. 107). Hinsichtlich der persönlichen Merkmalen wie Alter, Geschlecht und Parteizugehörigkeit konnten signifikante Zusammenhänge festgestellt werden (Heinelt 2013, S. 117 ff.). Es konnten jedoch bezüglich der institutionellen Rahmenbedingungen kein Zusammenhang zwischen der institutionellen Stärke (Handlungskompetenzen) des Rates, Verschuldung, Steuereinnahmen oder Gemeindegröße mit dem Demokratieverständnis der Ratsmitglieder nachgewiesen werden (Heinelt 2013, S. 114 f.). Allerdings gibt es Befunde, wonach eine gelebte, örtliche Beteiligungspolitik unabhängig vom persönlichen Demokratieverständnis der Repräsentanten eher zu einer positiveren Beurteilung von Bürgerbeteiligung seitens der Repräsentanten führt. So konnte Angelika Vetter ihre These in einer Studie von 2017 bestätigen: „Je intensiver ein partizipatives Klima vor Ort ist [...], umso geringer sind die Vorbehalte der einzelnen Gemeindevertreter gegenüber Bürgerbeteiligung - unabhängig von individuellen Erklärungsfaktoren [...]“ (Vetter 2017, S. 444). Diese Feststellungen sind für die vorliegende Arbeit aus zweierlei Gründen bedeutsam. Erstens kann durch eine bewusste Auswahl der Interviewpartner nach Geschlecht, Alter und Parteizugehörigkeit eine hohe Varianz derGesprächsinhalte sichergestellt werden. Zweitens wird das Ergebnis derArbeit auf andere Kommunen übertragbar sein, da Unterschiede der institutionellen Rahmenbedingungen zwischen verschiedenen Gemeinden unerheb-lich sind.
Während vorstehend dargestellt wird, wie die Einstellung von Repräsentanten hinsichtlich ihres Demokratieverständnisses beeinflusst wird, soll nachfolgend diskutiert werden, wie sich ganz konkret die ablehnende, bzw. befürwortende Haltung der Ratsmitglieder hinsichtlich unterschiedlicherBeteiligungsverfahren erklären lassen.
Bei der grundsätzlichen Gestaltung und Umsetzung von Kommunalpolitik kann ganz allgemein zwischen Systemzielen und Akteurzielen unterschieden werden, wobei diese übereinstimmen können, meist jedoch nicht identisch sind (Bogumil et al. 2003, S. 36 - 37). Während Systemziele allgemeine Zielvorgaben sind, die der Herstellung des Gemeinwohls dienen, können Akteurziele von spezifischen Handlungsrationalitäten beeinflusst werden, wie Machtsicherung, Wiederwahl und Beibehaltung eines Arbeitsplatzes mit angenehmen Arbeitsbedingungen (Bogumil et al. 2003, S. 36 - 37). Wenn Bogumil et al. feststellen, dass „die Bürgerkommune auf eine Neugestaltung des Kräftedreiecks zwischen Bürgern, Kommunalvertretung und Verwaltung“ zielt (Bogumil et al. 2003, S. 7), kommen den Akteurzielen eine besondere Bedeutung zu. Grade bei der Fragestellung, welche Einstellung Ratsvertreter gegenüber der Bürgerkommune haben, ist zu erwarten, dassderen individuellen Handlungsrationalitäten mit den Systemzielen derBürgerkommune kollidieren, denn direkte Teilhabe der Bürgerschaft an politischen Entscheidungsprozessen bedeutet auch Machtverlust für diegewählten Repräsentanten (Holtkamp et al. 2006, S. 72).
Die starke Betonung der individuellen Überzeugungen findet sich auch in Studien wieder, wie einer im Jahr 2007/2008 durchgeführten Befragung unter Gemeinderatsmitgliedern in 15 europäischen Ländern und Israel, die gezeigt hat, dass die Gemeinderäte sich nicht grundsätzlich für oder gegen einerepräsentative oder partizipative lokale Demokratie aussprechen, sondern vielmehr beide Demokratievorstellungen unabhängig voneinander unterstützen, wobei ein partizipatives Demokratieverständnis leicht überwog (Vetter 2017, S. 418). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Hubert Heinelt in einer Untersuchung, in der er feststellt, dass deutsche Ratsmitglieder stärker, aber nicht ausschließlich dem Modell einer partizipativen Demokratie zuneigen (Heinelt 2013, S. 111) und Angelika Vetter mit einer Studie in Hessen, in der sie ebenfalls feststellt, dass die Unterstützung eines eher partizipativenDemokratieverständnisses unter den Kommunalpolitikern leicht überwiegt (Vetter 2017, S. 424).
Während bei der grundsätzlichen Einstellung des Demokratieverständnisses in allen genannten Studien ein sehr ausgewogenes Bild mit Tendenz zumpartizipativen Demokratieverständnis vermittelt, kommen teilweise die gleichen Studien zu einem differenzierten Bild hinsichtlich der unterschiedlichen Partizipationsformen. So sehen die Meisten der befragten deutschen Gemeinderäte in den Wahlen das effizienteste Mittel, um die Meinung der Bevölkerung abzubilden (Vetter 2017, S. 419). An zweiter Stelle werdenöffentliche Veranstaltungen und Debatten sowie Bürgerbegehren genannt und selbst Bürgerforen, Bürgerpanel und andere Befragungen werden von mehr als der Hälfte der Ratsvertreter als effektiv oder sehr effektiv eingestuft (Vetter 2017, S. 419). Dieser Befund steht im Widerspruch zu anderenUntersuchungen. So stellen Coleman und Gotze fest, dass Repräsentanten bei den meisten Beteiligungsverfahren „conspicuous by their absence“ (Coleman und Gotze 2001, S. 20) sind, ihnen also keinen hohen Stellenwert zubilligen.
Auch wenn die Zahl der befragten Ratsvertreter mit einer Einstellung pro Bürgerbeteiligung leicht überwiegt, wird gleichzeitig deutlich, dass beiumgekehrter Betrachtungsweise ein großer Teil der Befragten sich eher für ein repräsentatives Demokratieverständnis aussprechen. Dieser Befund deckt sich mit Beobachtungen von Jörg Bogumil, der feststellt, dass man in der kommunalen Praxis auf einige grundlegende Vorbehalte gegen den Ausbau von Bürgerbeteiligung stößt. Diese sind auf die bereits skizzierten Akteurziele zurückzuführen, insbesondere auf den Erhalt der noch vorhandenen Entscheidungskompetenzen (Holtkamp et al. 2006, S. 167). Durch die Einführung von Bürgerbegehren, Direktwahl des hauptamtlichen Bürgermeisters und teilweise prekären Haushaltssituationen in den Kommunen sehen sich die Stadträte bereits in ihren Entscheidungskompetenzen beschnitten, und wollen nun nicht noch freiwillig mehr Kompetenzen im Rahmen von Bürgerbeteiligungsverfahren abgeben (Holtkamp et al. 2006, S. 167). Hier ließe sich entgegnen, dass zum einen die Partizipationsmöglichkeiten eher Detailfragen tangieren, während die grundlegende Fragen weiterhin in der Zuständigkeit des Gemeinderates verbleiben, weil sich gerade für diese Fragen die Bürger eher weniger interessieren, zum anderen kann argumentiert werden, dass die Bürgerbeteiligung lediglich ein zusätzliches Beratungsangebot darstellt und es dem Rat unbenommen bleibt, anders zu entscheiden, als von den Bürgern empfohlen (Bogumil u. Holtkamp 2002a, S. 41 - 42).
Doch grade die Nichtumsetzung von Entscheidungen, an deren Erarbeitung die Bürger beteiligt waren, birgt gewisse Risiken. In einigen Untersuchungen gaben die befragten Ratsmitglieder an, dass die ablehnende Entscheidung des Rates auf die engen kommunalen Handlungsspielräume und Finanzierungsprobleme zurückzuführen sei (Holtkamp et al. 2006, S. 166). Aus Sicht des Bürgers wird neben der knappen finanziellen Lage auch der Widerstand aus Politik und Verwaltung für eine mangelnde Umsetzung von Beteiligungsergebnissen verantwortlich gemacht - ein Umstand, der einem Ziel der Kommunalpolitik zuwider laufen dürfte, nämlich wenn durch Bürgerbeteiligung einer allgemeinen Politikverdrossenheit entgegen gewirkt werden soll (Holtkamp et al. 2006, S. 166).
Zudem kann Bürgerbeteiligung dahingehend kritisiert werden, dass dieGefahr besteht, bestimmte Bevölkerungsschichten von Beteiligungsverfahren auszuschließen, bzw. dass nur die üblichen Verdächtigen an solchen Verfahren teilnehmen, wodurch eine ausgewogene Interessenvertretung nicht möglich ist (Vetter 2017, S. 416 - 417). Hier kann jedoch auch positiv argumentiert werden, dass es eine besondere Aufgabe bürgergesellschaftlich engagierter Kommunalpolitik sein kann, breite Bevölkerungsschichten durch besondere Beteiligungsangebote anzusprechen (Bogumil u. Holtkamp 2002a, S. 41). Insgesamt kann die Kommunalpolitik von einer aktiven Beteiligungskultur profitieren, indem sie die Interessen der Bürger verstärkt in ihre Entscheidungen einfließen lässt, um so letztlich ihre Legitimation zu stärken (Vetter 2017, S. 444). Für Oppositionsfraktionen kann sogar die Chancebestehen, ihre Position durch Bürgerbeteiligung zu stärken, und sich so in Entscheidungsprozesse einzubringen, an denen sie sonst nicht beteiligtgewesen wäre (Holtkamp et al. 2006, S. 167).
Der Begriff der Bürgerkommune wird seit Anfang der 2000er Jahre vor allem in der kommunalen Praxis mit wachsendem Interesse diskutiert (Holtkamp u. Bogumil 2007, S. 1; Ross u. Roth 2018, S. 168). Letztlich kann sie als derzeit letzte Evolutionsstufe in einer Folge sich verändernder kommunaler Leitbilder identifiziert werden.
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