Masterarbeit, 2021
78 Seiten, Note: 1,3
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hintergründe und Forschungsdesign
2.1 Einführung
2.2 Themen entwicklungspolitischer Inlandsarbeit
2.3 Forschungsdesign und Methoden
3. Kritische Betrachtungen der Entwicklungszusammenarbeit
3.1 Neoliberale Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit
3.2 Postkoloniale Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit
3.3 Post-Development
4. Bedeutung entwicklungspolitischer Inlandsarbeit
4.1 Aktuelle Trends und Entwicklungen
4.2 Herausforderungen und Grenzen der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit
4.3 Chancen und Perspektiven der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Aktuelle Bedeutung der Inlandsarbeit für entwicklungspolitische NRO
Abbildung 2: Ausgaben BMZ
Abbildung 3: Entwicklung der Ausgaben für Inlandsaktivitäten
„If rich people in the global North want to help poor people in the global South, they can best do so by taking less rather than by giving more” (Esteva et. al., 2013, S. 93).
So fasst Gustavo Esteva, einer der bekanntesten Kritiker der Entwicklungszusammenarbeit (EZ), in dem Buch The Future of Development die zukünftige Rolle des Globalen Nordens1 in Entwicklungsfragen zusammen. Der Aussage liegt ein strukturelles Verständnis globaler Zusammenhänge zugrunde, das die wesentlichen Ursachen für Problemlagen im Globalen Süden in der Lebensweise des Globalen Nordens begründet sieht. Auch Lessenich zufolge wird immer deutlicher, wie die Produktions- und Konsum-, sowie Arbeits- und Lebensweisen des Globalen Nordens nicht bloß eng mit Problemlagen im Globalen Süden verknüpft sind, sondern diese gar systematisch hervorrufen (Lessenich, 2018, S.24 ff.).
Paradoxerweise wird diese mit hohen externen Kosten verbundene Lebensweise des Globalen Nordens noch immer im Rahmen der meisten entwicklungspolitischen Aktivitäten im Ausland als zu erreichende Norm propagiert. Dies ist einer der Gründe, warum immer mehr Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen die EZ grundsätzlich infrage stellen und für deren Beendigung plädieren. Ökonom*innen wie Dambisa Moyo warnen vor den schädlichen Einflüssen der EZ auf die Wirtschaft der Länder des Globalen Südens, Vertreter*innen der postkolonialen Theorie oder des Post-Development-Diskurses kritisieren nicht nur die EZ als solche, sondern das gesamte Konzept der „Entwicklung“2 und alle damit implizierten Assoziationen, Rassismen, sowie die Hierarchisierung von Entwicklungspfaden als Machtinstrument des Globalen Nordens. Da sich zunehmend die Frage stellt, ob Auslandsprojekte den notwendigen gesamtwirtschaftlichen strukturellen Wandel hervorrufen, dessen es zu einer (wie auch immer definierten) Verbesserung der Lage im Globalen Süden bedarf, vermuten Wissenschaftler*innen, wie z.B. Hartmeyer, dass die Bedeutung der Auslandsarbeit in Zukunft abnehmen wird (Hartmeyer, 2005, S. 10).
Ein Ende der EZ würde auf Seiten der Geberländer jedoch den Zusammenbruch einer ganzen Branche inklusive vieler Arbeitsplätze bedeuten. Mit diesen Arbeitsplätzen gingen auch wertvolle Kompetenzen verloren, die bei einer langfristigen Umstrukturierung des Bereiches auch auf andere Art und Weise für entwicklungspolitische Ziele eingesetzt werden könnten. Entwicklungspolitische Akteure stehen also vor der Herausforderung, mit fundamentaler Kritik an der EZ, die eine grundlegende Neuausrichtung des Verständnisses von „Entwicklung“ und des Engagements hierfür fordert, und dem damit verbundenen Anpassungsdruck umzugehen.
Die verstärkte Konzentration auf Aktivitäten der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit, die die Zusammenhänge globaler Problemlagen mit dem Handeln des Globalen Nordens aufzeigt und ursächlich bearbeitet, kann eine Alternative zur klassischen Auslandsarbeit darstellen. Eine Vielzahl entwicklungspolitischer Zielsetzungen kann und muss auch im Globalen Norden bearbeitet werden. Eine NRO, die im Rahmen von Auslandsprojekten gegen Hunger in bestimmten Regionen kämpft, kann dies genauso gut oder sogar effektiver in Deutschland tun. Beispielsweise, indem sie dazu beiträgt, die Zusammenhänge zwischen übermäßigem Fleischkonsum im Globalen Norden und Nahrungsmittelknappheiten im Globalen Süden zu verdeutlichen, die durch die Besetzung von Agrarflächen für den exportbestimmten Sojaanbau entstehen. Im Rahmen von Bildungsarbeit könnte die NRO die Bevölkerung für das Thema sensibilisieren und zu einem kritischen Konsum motivieren, oder durch Kampagnen und Lobbyarbeit Einfluss auf die hiesige Gesetzgebung im Bereich der Landwirtschaft nehmen. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, dass die Erreichung entwicklungspolitischer Zielsetzungen Bemühungen erfordert, die weit über das klassische auslandsorientierte Engagement der EZ hinausgehen (Hartmeyer, 2005, S. 10). Denn zur Erreichung dieser Ziele bedarf es eines umfassenden, gesamtgesellschaftlichen Wandels sowie individueller Bewusstseins- und Verhaltensänderungen überall auf der Welt. Dementsprechend müssen auch hierzulande bisherige ökologische, soziale und wirtschaftliche Gewohnheiten verändert werden (BMZ, 2021, S. 3). Diesen Wandel und individuelle Bewusstseins- und Verhaltensänderungen zu fördern, ist Aufgabe der in dieser Arbeit im Fokus stehenden entwicklungspolitischen Inlandsarbeit.
Die entwicklungspolitische Inlandsarbeit umfasst einen eigenständigen Bereich der EZ, welcher als Gesamtheit aller Maßnahmen verstanden werden kann, die nicht im Ausland angesiedelt sind, sondern deren Zielgruppen im Inland liegen. Bereits jetzt ist sie integraler Bestandteil der Entwicklungspolitik (BMZ, 2021, S. 4). Viele entwicklungspolitische Akteure betätigen sich neben der klassischen Auslandsarbeit zunehmend in der entwicklungspolitischen Informations-, Bildungs- und/oder Lobbyarbeit in Deutschland. So setzt fast jede größere entwicklungspolitische Organisation auch Aktivitäten im Inland um, die für globale Zusammenhänge, wie sie oben skizziert wurden, sensibilisieren sollen. Hierzu gehören bspw. das Durchführen von Schulveranstaltungen oder das Erstellen von Bildungsmaterialien zum Thema Fairer Handel, postkoloniale Stadtrundgänge, Vorträge über Buen Vivir3 oder Petitionen und Lobbyarbeit für ein effektives Lieferkettengesetz. Im Vergleich zur Auslandsarbeit scheint die Inlandsarbeit, trotz der Möglichkeit, Problemlagen im Globalen Süden ursächlich zu bearbeiten, bisher jedoch eher ein Nischendasein zu fristen. In diesem Sinne wird im Rahmen dieser Arbeit die Relevanz der Inlandsarbeit verdeutlicht und deren Stellenwert für entwicklungspolitische Akteure in Deutschland ermittelt.
Konkret wird folgender Frage nachgegangen: Welche Bedeutung wird der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit in Deutschland beigemessen? Dabei wird untersucht, welcher Stellenwert ihr aktuell zukommt, wie sich dieser über die Zeit entwickelt hat und wie er sich zukünftig entwickeln könnte. Gleichzeitig werden Faktoren, die einen Einfluss auf die Bedeutung der Inlandsarbeit haben, identifiziert.
Die aktuelle Forschung zum Thema konzentriert sich vornehmlich auf einzelne Aspekte der Inlandsarbeit, wie etwa die entwicklungspolitische Bildungs- oder Lobbyarbeit. Vor allem zu verschiedenen Konzepten der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit, wie dem Globalen Lernen oder der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE), finden sich eine Vielzahl an Arbeiten. Darüber hinaus leisten insbesondere nichtstaatliche Akteure einen großen Beitrag zur bestehenden Literatur, etwa der Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V. (VENRO). Er hat zum Thema eine Reihe von relevanten Leitfäden, Handreichungen und Stellungnahmen veröffentlicht. Insgesamt weist die bisherige Forschung einen sehr starken Praxisbezug auf, bislang gibt es jedoch kaum wissenschaftliche Arbeiten, die das Thema übergreifend bearbeiten und einordnen. Dies begründet die Relevanz des Forschungsgegenstands.
Um die Fragestellung zu beantworten, werden im zweiten Kapitel zunächst theoretische Hintergründe des Themenfeldes dargelegt. Dazu gehören die Definition und Eingrenzung des Begriffs und der Ziele der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit, ebenso wie ein zusammenfassender historischer Überblick über die Entwicklungen des Bereichs und die Identifizierung relevanter Akteure. Zur Verdeutlichung der Relevanz und Inhalte entwicklungspolitischer Inlandsarbeit wird anschließend auf das Konzept der Imperialen Lebensweise und den sich daraus ergebenden Themen für die Inlandsarbeit eingegangen. Da zur Bearbeitung der Fragestellung, neben Fachliteratur und Dokumenten, auch die Ergebnisse einer im Rahmen dieser Arbeit erhobenen Online-Umfrage herangezogen werden, wird dem Forschungsdesign und den angewandten Methoden das anschließende Unterkapitel gewidmet.
Im dritten Kapitel werden zunächst mögliche Einflussfaktoren, die für eine gesteigerte Bedeutung der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit sprechen, herausgearbeitet. Hierzu zählt insbesondere die Auseinandersetzung mit der immer lauter werdenden Kritik an der EZ, die sich nicht mehr nur auf die operationelle Ebene bezieht, sondern den Beitrag der EZ zur Verbesserung der Lebensbedingungen im Globalen Süden fundamental infrage stellt. Insgesamt werden drei Strömungen und deren wesentliche Grundaussagen und Thesen sowie Gemeinsamkeiten vorgestellt. Zunächst werden die Thesen von James Shikwati und Dambisa Moyo, welche zu den bekanntesten Vertreter*innen einer neoliberalen Kritik an entwicklungspolitischen Interventionen und Zahlungen ans Ausland zählen, angeführt. Anschließend wird einführend auf die Grundlagen der postkolonialen Theorie sowie einzelne Punkte und Forderungen des Post-Developments eingegangen. Die zunehmende Kritik führt nicht nur dazu, dass der Anpassungsdruck auf entwicklungspolitische Akteure immer weiter wächst, sondern sie ist auch Grundlage für ein strukturelles Verständnis von Entwicklung, welches im Rahmen der Inlandsarbeit vermittelt werden soll. Zudem liefern die Kritiken auch wertvolle Ansätze, die in der Praxis der Inlandsarbeit angewendet werden (können). Die Zusammenhänge der kritischen Auseinandersetzung mit der EZ und der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit werden bei der Beantwortung der Forschungsfrage stets mit einbezogen, weshalb sie im Rahmen der Arbeit ausführlich dargelegt werden.
Im vierten Kapitel wird die Forschungsfrage beantwortet und die im Unterkapitel 2.3 aufgestellten Hypothesen überprüft. Hierzu werden zunächst die Ausgaben des BMZ für den Bereich der Inlandsarbeit der letzten sechs Jahre verglichen. Da insbesondere nichtstaatliche Akteure in der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit von Beginn an eine wichtige Rolle gespielt haben, werden zur Überprüfung der Hypothesen vor allem die Ergebnisse der Online-Befragung von ausgewählten NRO vorgestellt und analysiert. Um das Maß der Bedeutung der Inlandsarbeit zu identifizieren, werden dabei allgemeine mittelfristige Trends in Bezug auf das Ausmaß der Inlandsaktivitäten herausgearbeitet. Anschließend werden mit Blick auf die zukünftige Relevanz des Themas aktuelle Chancen und Herausforderungen des Feldes unter Hinzunahme der Rückmeldungen der NRO identifiziert. Dabei wird deutlich, welche Gründe es für das insgesamt eher geringfügige Engagement in der Inlandsarbeit in Deutschland gibt. Aus den ermittelten Herausforderungen lassen sich aber auch mögliche Perspektiven für eine Weiterentwicklung des Engagements im Inland ableiten. Im abschließenden Fazit werden die gewonnenen Erkenntnisse zur Beantwortung der Fragestellung zusammengefasst und Anknüpfungspunkte für die zukünftige Forschung skizziert.
Die Forschungsfrage ist bewusst weit formuliert, da diese Arbeit auch das Ziel verfolgt, eine übergreifende Einführung in das Thema der Inlandsarbeit in Deutschland zu geben, welche in dieser Form bislang nicht existiert. Gleichzeitig geht dies auch mit einer verkürzten und zusammenfassenden Darstellung einzelner Aspekte einher. Das hat auch zur Folge, dass der gesamte Themenbereich der Wirksamkeit entwicklungspolitischer Inlandsarbeit ausgeklammert wird. Die Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich wäre entweder Gegenstand einer konkreten Betrachtung einzelner Aktivitäten der Inlandsarbeit oder einer übergreifenden Diskursanalyse zu entwicklungspolitischen Fragestellungen. Im Gegensatz zu Arbeiten, die bspw. von Akteuren der Zivilgesellschaft angefertigt werden und durch die Bearbeitung sehr konkreter Fragestellungen ausführliche Handlungsoptionen für die Praxis bereithalten, werden letztere in dieser Arbeit lediglich angedeutet, jedoch nicht ausführlich diskutiert. Dementsprechend erhebt die vorliegende Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Zum Einstieg in das Thema der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit wird in diesem Kapitel der Begriff der Inlandsarbeit definiert und auf deren übergeordnete Ziele eingegangen. In diesem Zusammenhang wird auch ein Überblick über die historische Entwicklung des Bereichs und relevante Akteure gegeben. Zur Einordnung des Forschungsgegenstandes werden zudem die Themen der Inlandsarbeit vorgestellt. Da zur Bearbeitung der Fragestellung neben Fachliteratur und Dokumenten auch die Ergebnisse einer im Rahmen der Arbeit erhobenen Umfrage herangezogen werden, wird das Kapitel durch die Vorstellung des Forschungsdesigns und der angewandten Methoden abgeschlossen.
Definition und Ziele
Die Entwicklungspolitische Inlandsarbeit umfasst einen eigenständigen Bereich der EZ, der Aktivitäten wie Informations- und Bildungsarbeit, Kulturarbeit, Kampagnenarbeit, Anwaltschaft, Lobbying und Fundraising beinhaltet (Hartmeyer, 2005, S.13 f.). Demnach kann sie als Gesamtheit aller Maßnahmen verstanden werden, die nicht im Bereich der EZ im Ausland anzusiedeln sind, sondern deren Zielgruppen im Inland liegen.
Der Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V. (VENRO), dem rund 140 Organisationen aus der privaten und kirchlichen EZ sowie der Humanitären Hilfe in Deutschland angehören (VENRO, o.D.), fasst die Aktivitäten der Inlandsarbeit unter dem Begriff der entwicklungsbezogenen Öffentlichkeitsarbeit (EBÖ) zusammen. Diese definiert VENRO wie folgt:
„Entwicklungsbezogene Öffentlichkeitsarbeit (EBÖ) von Nichtregierungsorganisationen (NRO) möchte Menschen ermutigen und befähigen, an der Gestaltung einer gerechten Entwicklung im regionalen, nationalen und internationalen Rahmen aktiv und verantwortungsvoll teilzuhaben. Sie bringt entwicklungspolitische Anliegen aktiv in die gesamtgesellschaftliche Diskussion ein. Hierbei informiert EBÖ über Belange der Entwicklungsländer und unseren [sic] Beziehungen zu ihnen. Sie informiert über die Arbeit der Organisationen und gestaltet den Dialog über entwicklungspolitische Anliegen in und mit der Bevölkerung, die sie als aktiv und verantwortlich Handelnde respektiert und zur ideellen und materiellen Unterstützung auffordert. Sie will Menschen für die entwicklungsbezogenen Auswirkungen ihrer Konsum-, Lebens- und Produktionsmuster sensibilisieren, um die Bereitschaft für notwendige strukturelle Anpassungsmaßnahmen im Norden zu verbessern. Sie möchte Menschen dabei unterstützen, Verantwortung für globalen Gemeinsinn zu entwickeln und als solidarisch Handelnde gewinnen. EBÖ beinhaltet die Gesamtheit ihrer werbenden, informierenden und überzeugenden Kommunikation, die durch Presse- und Medienarbeit, entwicklungsbezogene Bildung und Fundraising gestaltet wird “ (VENRO, 2016, S. 3).
Hiermit formuliert VENRO eine in der deutschen Literatur einzigartige, umfassende Definition des gesamten Bereiches der Inlandsarbeit.
Das BMZ hingegen liefert keine vollumfängliche Definition von entwicklungspolitischer Inlandsarbeit, es werden lediglich Teilbereiche beschrieben. So unterscheidet es in diesem Zusammenhang vor allem zwischen Öffentlichkeitsarbeit, Informations- und Bildungsarbeit. Dabei werden unter Öffentlichkeitsarbeit diejenigen Aktivitäten verstanden, die die politischen Ziele und Wirkungen der deutschen Entwicklungspolitik kommunizieren, wohingegen Informations- und Bildungsarbeit umfassende Hintergrundinformationen zu entwicklungspolitischen Fragestellungen liefern soll (BMZ, 2008, S. 3).
Das BMZ begreift Entwicklungspolitik als eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft, die das Ziel verfolgt, eine friedlichere und gerechtere Welt zu schaffen. Dies erfordere das Engagement möglichst vieler Bürger*innen, denn nur durch eine breite gesellschaftliche Unterstützung könne Deutschland seinen internationalen Verpflichtungen gerecht werden und seine entwicklungspolitischen Ziele erreichen. Um dieses gesellschaftliche Engagement in Deutschland zu fördern, konzentriert sich das BMZ im Bereich der Inlandsarbeit vor allem auf die entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit (BMZ, o.D.-a). Diese ist dem BMZ zufolge integraler Bestandteil der Entwicklungspolitik (BMZ, 2021, S. 4).
In Anlehnung an die Definitionen und Verständnisse von entwicklungspolitischer Inlandsarbeit und ihren Teilbereichen sind in dieser Arbeit unter dem Begriff der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit ausschließlich diejenigen Aktivitäten zusammengefasst, welche ein Umdenken und verändertes Handeln im Globalen Norden anstreben. Hierzu gehören vornehmlich die Bereiche der entwicklungspolitischen Bildungs-, Informations- und Lobbyarbeit. Aspekte der Inlandsarbeit, die primär der Legitimation oder Finanzierung der Auslandsarbeit dienen, wie bspw. das Fundraising oder die Öffentlichkeitsarbeit, werden außen vorgelassen.
Gemäß dem BMZ-Konzept Entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit, welches die Grundlage für die entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit des BMZ und der aus Mitteln des BMZ unterstützten Maßnahmen, Aktivitäten und Programme ist, sind die Ziele der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit u.a. dazu beizutragen, globale Herausforderungen und Zusammenhänge zu verdeutlichen, den Gedanken der globalen Partnerschaft zu verankern und das Bewusstsein für die Sustainable Development Goals (SDGs) sowie die eigene Verantwortung zur Erreichung dieser zu verdeutlichen (BMZ, 2021, S. 5). Zudem soll sie dafür sensibilisieren, welcher Veränderungen es für eine global nachhaltige „Entwicklung“ auf den unterschiedlichen Handlungs- und Entscheidungsebenen bedarf und schlussendlich zur aktiven Beteiligung an einer verantwortungsbewussten Gesellschaft in einer globalisierten Welt befähigen und motivieren (ebd.).
Laut VENRO ist die entwicklungspolitische Bildungsarbeit ein Mittel, um gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben sowie zu einer nachhaltigen ökologischen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zukunft beizutragen. Sie soll zur politischen Emanzipation kritischer Bürger*innen beitragen und ein Verständnis von „Entwicklung“ fördern, das globale Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Hierarchien berücksichtigt (VENRO, 2021, S. 7).
Die Konzepte und Begriffe, welche im Bereich der entwicklungspolitischen Informations- und Bildungsarbeit eingesetzt werden, sind vielfältig, doch ähneln sie sich in ihren Zielen und Inhalten stark (VENRO, 2021, S. 6). Aus diesem Grund wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit nicht zwischen Globalem Lernen, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Global Citizenship Education oder Transformativer Bildung unterschieden, sondern übergreifend von entwicklungspolitischer Bildungsarbeit gesprochen (ebd.).
Zielgruppe der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit ist laut BMZ zwar die breite Öffentlichkeit, besonderes Augenmerk liegt jedoch auf der Erreichung von Kindern und Jugendlichen (BMZ, 2021, S. 5). Die Bildungsmaßnahmen sollen gewährleisten, dass die freie Meinungsbildung gefördert wird, Themen kontrovers dargestellt werden und Handlungsoptionen im Umgang mit globalen Zusammenhängen aufgezeigt werden. Dies bezieht sich auf Gestaltungsspielräume von Gegenwart und Zukunft im Privat- und Berufsleben, sowie in Gruppen und Organisationen. Insgesamt soll die Fähigkeit zur kritischen Reflexion, das Hinterfragen eigener Denkmuster, sowie ein Perspektivwechsel zwischen Menschen, die auf unterschiedliche Art durch Globalisierung betroffen sind, gefördert werden (ebd., S. 6).
Die Übergänge zwischen der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit und der entwicklungspolitischen Lobbyarbeit sind fließend. Zusammenfassend wird Lobbying als Einflussnahme auf (politische) Entscheidungsträger*innen oder auch die öffentliche Meinung verstanden. Lobbyarbeit versucht, konkret handelnde Personen, meist auf informellen Wegen, für die eigene Sache zu gewinnen und wird in der Regel als eine zeitlich begrenzte, informelle Einflussnahme im Hinblick auf ein konkretes Vorhaben (Gesetz, Verordnung, öffentlicher Auftrag) durch gezieltes Informieren definiert (FES, 2021, S. 4). Im Gegensatz zu wirtschaftlicher Lobbyarbeit wird diplomatisch-verschwiegene Lobbyarbeit von NRO eher abgelehnt. Vielmehr ist es üblich, dass öffentlichkeitswirksame Kampagnen die entwicklungspolitische Lobbyarbeit begleiten (ebd.). Ein Bespiel für aktuelle entwicklungspolitische Lobby- und Kampagnenarbeit sind die Aktivitäten der Initiative Lieferkettengesetz, in welcher fast 130 Organisationen, wie bspw. Brot für die Welt e.V., Misereor e.V. oder Inkota e.V. den Gesetzfindungsprozess rund um das Lieferkettengesetz begleitet haben (Initiative Lieferkettengesetz, 2021).
Die Zielsetzungen der entwicklungspolitischen Lobbyarbeit überschneiden sich mit denen der Bildungsarbeit. Beide Bereiche zielen darauf ab, individuelle Verhaltensweisen und politische Entscheidungen zu beeinflussen, um somit einen gesellschaftlichen Wandel hin zu einer gerechteren Welt voranzutreiben. Somit ist die entwicklungspolitische Inlandsarbeit, wie auch die Arbeit im Ausland, normativ geprägt. Zentraler Ausgangspunkt ist meist die Kritik an einem ungerechten Weltwirtschaftssystem, das die „Entwicklung“ des Globalen Südens verhindert. Obwohl der Begriff der Gerechtigkeit Gegenstand nahezu aller Aktivitäten der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit ist, ist dieser nicht einheitlich definiert. Vielmehr ergibt sich das Verständnis von Gerechtigkeit aus den jeweiligen Arbeitskontexten einzelner Akteure.
Historische Entwicklung
Die Anfänge der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit liegen in den 1950er Jahren. Sie wurde zu dieser Zeit primär als Mittel zur Legitimierung der Arbeit im Ausland und zur Spendenakquise verstanden (Fischer & Richter, 2013, S. 228). Ende der 1960er Jahre entstand in der Bundesrepublik Deutschland als Folge der Studierenden- und Achtundsechziger-Bewegung die Dritte-Welt-Bewegung (Olejniczak, 2005, S. 35). Diese rückte die Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung des Globalen Südens in den Vordergrund. Sie erkannte die Herausforderungen in der damals so genannten „Dritten Welt“ nicht mehr als Ausnahmeerscheinungen an, die mittels kurzfristiger Hilfsleistungen zu beheben waren, sondern machte die strukturellen Zusammenhänge zwischen der „Entwicklung“ des Globalen Nordens und der des Globalen Südens deutlich. Es entstanden die ersten entwicklungspolitischen Aktionsgruppen, die die Informations- und Öffentlichkeitsarbeit vorantrieben (ebd.). Daraus lässt sich folgern, dass das neue Verständnis der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit damals aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der EZ entstand, was auf einen Zusammenhang dieser beiden Themen hindeutet, der im Laufe der Arbeit näher betrachtet werden soll.
Während es in den 1970er Jahren kaum Aktivitäten gab, die sich an Politik, Medien, Wirtschaft oder Schulen richteten (Bittner, 2005, S. 23), wurden seit den 1980er Jahren vermehrt pädagogische Konzepte zur entwicklungspolitischen Bildungsarbeit entwickelt, vor allem von außerschulischen und nichtstaatlichen Akteuren. Im schulischen Kontext spielt das Thema jedoch erst seit den 2000er Jahren eine größere Rolle. Ein wesentliches Moment war hier die Veröffentlichung des Orientierungsrahmens für den Lernbereich Globale Entwicklung der Kultusministerkonferenz (KMK) und des BMZ im Jahr 2007 (Fischer & Richter, 2013, S. 228 f.). Der Orientierungsrahmen sowie die Vielzahl der Maßnahmen im Bereich der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit orientieren sich am Konzept des Globalen Lernens, dessen übergeordnetes Bildungsziel es ist, „ grundlegende Kompetenzen für eine zukunftsfähige Gestaltung des privaten und beruflichen Lebens, für die Mitwirkung in der Gesellschaft und die Mitverantwortung im globalen Rahmen zu erwerben “ (EG, 2016, S. 18).
In der Gründungszeit der Bundesrepublik Deutschland galt Lobbying noch als Vertretung egoistischer Partikularinteressen und wurde insgesamt eher kritisch gesehen. Dementsprechend sahen sich auch Verbände, die versuchten, die Interessen ihrer Mitglieder in Politikprozesse einzubringen, mit Ablehnung konfrontiert. Dies änderte sich in den 1960er-Jahren und den Verbänden wurde zunehmend eine begleitende und unterstützende Rolle in der Politikgestaltung zugeschrieben (FES, 2021, S. 5). Seither hat das Lobbying für die Zivilgesellschaft trotz geringer Ressourcen kontinuierlich an Bedeutung gewonnen und weist einen hohen Grad an Professionalisierung auf (ebd., S. 6 f.). NRO nehmen vor allem durch die Veröffentlichung von Strategiepapieren und wissenschaftlichen Forschungsergebnissen Einfluss auf die Politik und nutzen insbesondere Social-Media-Kanäle, um auf ihre Themen aufmerksam zu machen (ebd., S. 7). Von einer Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen wird in diesem Zusammenhang häufig auch der Begriff Advocacy verwendet (ebd., S. 8).
Mit Blick auf die historische Entwicklung kann gefolgert werden, dass die entwicklungspolitische Lobbyarbeit aus der Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit entstanden ist. Seit Anfang der 1990er Jahre mehrten sich die Diskussionen über die Möglichkeiten des Lobbyings für entwicklungspolitische Themen (Olejniczak, 2005, S. 38). Grund dafür war, dass die Wirkung der Informations- und Bildungsarbeit nicht mehr als ausreichend empfunden wurde, um entwicklungsrelevante Veränderungen herbeizuführen. Durch die Lobbyarbeit sollten alle entwicklungspolitisch relevanten Gesetzgebungsverfahren im Sinne der NRO beeinflusst werden. Mit dem Ziel der Veränderung entwicklungspolitisch relevanter Rahmenbedingungen wurde Lobbying, neben der Bildungsarbeit, ein zweiter wichtiger Baustein der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit.
Akteure
Die Akteure der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit lassen sich zunächst in staatliche und nichtstaatliche Akteure unterteilen. Hauptakteur auf staatlicher Seite ist das BMZ, welches selbst oder über ihm angehörige Durchführungsorganisationen Dialog- und Kooperationsprozesse gestaltet und vielseitige Aktivitäten der Zivilgesellschaft finanziert (BMZ, o.D.-a). Ein weiterer Bestandteil des Engagements im Inland für entwicklungspolitische Ziele sind die Bemühungen des BMZ um eine kohärentere Politik durch Abstimmungen mit anderen Ministerien, da auch in anderen Ministerien, wie dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft oder dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Entscheidungen von enormer entwicklungspolitischer Tragweite getroffen werden (BMZ, o.D.-b). So hat das BMZ bspw. die Debatte um das Lieferkettengesetz in Deutschland wesentlich vorangetrieben, wurde dabei jedoch vor allem vom Wirtschaftsministerium ausgebremst (BMZ, o.D.-c).
Das BMZ unterstützt außerdem Kampagnen und öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen oder veröffentlicht Publikationen zum gesamten Themenspektrum der EZ. Ein wichtiger Akteur zur Umsetzung dieser Maßnahmen ist die dem BMZ unterstellte gemeinnützige Gesellschaft Engagement Global gGmbH (EG) (BMZ, o.D.-a). Zum einen führt EG selbst Programme der staatlichen entwicklungspolitischen Bildungsarbeit durch, zum anderen bietet EG eine Reihe von Förderprogrammen für individuelles, zivilgesellschaftliches und kommunales Engagement im Inland. Ein Beispiel für die eigene Arbeit im Inland ist die Kampagnenarbeit zur Bekanntmachung der SDGs in der breiten Öffentlichkeit durch Aktionen wie die 17 Ziele Comedy-Tour, die Durchführung des entwicklungspolitischen Schulwettbewerbs (siehe EG, o.D.-a/ EG, o.D.-b) oder die bereits angeführte Erarbeitung des Orientierungsrahmens für Globales Lernen in Zusammenarbeit mit der KMK. An den letzten beiden Beispielen zeigt sich, dass die Schule als staatliche Bildungsinstitution ebenfalls eine wichtige Rolle für den Bereich der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit spielt. Eines der wichtigsten Förderprogramme für zivilgesellschaftliches Engagement in Deutschland ist das Förderprogramm Entwicklungspolitische Bildung (FEB), welches ebenfalls bei EG angesiedelt ist (EG, o.D.-c). Allein über das FEB wurden im Jahr 2020 Fördergelder in Höhe von knapp 24 Mio. EUR für zivilgesellschaftliche Projekte bereitgestellt (BMJV, 2020, S.5).
Die zivilgesellschaftlichen Akteure sind dabei ebenso mannigfaltig, wie die Themen, die sie bearbeiten. Kleine Aktionsgruppen, die sich spezifischen Themen oder Zielgruppen widmen spielen ebenso eine Rolle, wie große Zusammenschlüsse von Organisationen, die sich gemeinschaftlich für ein Thema einsetzen. Es zeigt sich, dass vor allem größere NRO vermehrt auf staatliche und politische Akteure sowie die internationale Ebene eingehen, wohingegen kleine und ehrenamtliche Gruppen oder Initiativen versuchen, direkt in die Gesellschaft hineinzuwirken (Olejniczak, 2005, S. 41). Auch die Motivationen und Hintergründe für das Engagement in Deutschland sind vielfältig. So bearbeiten längst nicht nur in der klassischen Auslandsarbeit verwurzelte NRO entwicklungspolitische Themen im Inland. Auf der einen Seite spielen wirtschaftlich orientierte Akteure wie die Weltläden, TransFair (Faitradesiegel) oder Viva con Agua eine große Rolle, auf der anderen Seite aber auch wachstums- und globalisierungskritische Vereine, wie bspw. das ZOE-Institut für zukunftsfähige Ökonomien e.V. und das Konzeptwerk neue Ökonomie e.V. Weitere Beispiele für Aktive, die nicht aus der klassischen EZ kommen, sind Umweltvereine, die sich dem Thema Klimagerechtigkeit widmen, oder Vereine wie glokal e.V. oder germanwatch e.V., die sich mit den Themenspektren Postkolonialismus bzw. Globalisierungsfolgen befassen.
Zusammenfassend kann entwicklungspolitische Inlandsarbeit demnach als die Gesamtheit aller Aktivitäten beschrieben werden, die im Rahmen von entwicklungspolitischer Bildungs- und Lobbyarbeit ein Umdenken und verändertes Handeln im Globalen Norden anstreben. Es besteht eine Vielfalt an Akteuren, die sich unterschiedlichen Themen widmen, um durch Einflussnahme auf Politik und Öffentlichkeit einen strukturellen Wandel hin zu einer gerechteren Welt voranzutreiben. Einige Beispiele für konkrete Inhalte entwicklungspolitischer Inlandsarbeit werden im Folgenden dargestellt.
Als die entwicklungspolitische Inlandsarbeit in den 1950er Jahren ihre Anfänge nahm, sollte sie primär den Zweck erfüllen, über die eigene Projektarbeit zu informieren, sowie Spendengelder und Personal zu akquirieren. Im Laufe der Zeit haben sich die Inhalte stark gewandelt. Heute wird sie zunehmend als Instrument der Bewusstseinsbildung über globale Zusammenhänge und persönliche Handlungsoptionen begriffen (Bittner, 2005, S. 23).
Eine wichtige Grundlage für die entwicklungspolitische Inlandsarbeit bildet die Auseinandersetzung mit dem Konzept der imperialen Lebensweise, welches verdeutlicht, inwieweit die Lebensweise des Globalen Nordens Problemlagen im Globalen Süden systematisch hervorruft. Es beschreibt den Umstand, dass das ökonomische Entwicklungsmodell der „fortgeschrittenen“ Industrienationen darauf basiert, unliebsame Arbeit und umweltverschmutzende Produktion in die Randgebiete des kapitalistischen Weltsystems auszulagern, in welchen es nur geringen oder keinen Arbeits- und Sozialschutz gibt (Lessenich, 2018, S. 26). Zu diesem System gehört auch, dass die Praxis solcher Externalisierungsprozesse systematisch verschleiert und aus dem individuellen und kollektiven Bewusstsein verdrängt wird (ebd.). Das Konzept der imperialen Lebensweise erlaubt es, die Normen, welche hinter aktuellen Produktions-, Verteilungs- und Konsumbedingungen stehen, zu hinterfragen. Diese Normen sind eng mit der ökonomischen, politischen, und kulturellen Alltagsstruktur im Globalen Norden verknüpft (ebd., S. 48). Die sozialen und ökologischen Voraussetzungen für die vorherrschenden Produktions- und Konsumnormen und die damit einhergehenden Herrschaftsverhältnisse sollen durch den Begriff der imperialen Lebensweise sichtbar gemacht werden. Dabei wird vor allem darauf aufmerksam gemacht, wie das neokoloniale Herrschaftsverhältnis im Nord-Süd-Kontext im Alltag von Produktion und Konsum normalisiert und dadurch nicht mehr wahrgenommen wird (ebd., S. 49). Vor allem im Rahmen der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit wird für diese Zusammenhänge sensibilisiert und ein Umdenken der Gesellschaft forciert, wobei einzelne Beispiele globaler Zusammenhänge thematisiert werden.
Insbesondere der Themenkomplex Klimagerechtigkeit findet aktuell auch in der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit große Beachtung. Das im Zuge der Konsumgüterproduktion emittierte CO2 konzentriert sich vornehmlich in der Atmosphäre des Globalen Südens und sorgt hier für Umweltkatastrophen, die die Entwicklungschancen der betroffenen Länder massiv gefährden (Brand & Wissen, 2018, S. 46). Die Hochwasserkatastrophe in Deutschland im Sommer 2021 zeigt, welchen enormen (ökonomischen) Schaden die Folgen des Klimawandels haben. Hier rechnen Expert*innen mit Kosten in Höhe von 10 Milliarden EUR (Zajonz, 2021). Naturkatastrophen wie diese sind jedoch im Globalen Süden weitaus häufiger. So ist dieser Bittner (2021) zufolge von mehr als 70% der klimabedingten Katastrophen betroffen. Verursacht werden die CO2-Emissionen hingegen hauptsächlich durch den übermäßigen Ressourcenverbrauch im Globalen Norden. So verbrauchen die 16 „reichsten“ Länder der Welt ca. 80% aller natürlichen Ressourcen (Esteva et. al., 2013, S. 73).
Welche Auswirkungen der Lebensstil der sogenannten „entwickelten“ Länder auf die Natur und entsprechend auch auf den Menschen hat, lässt sich am ökologischen Fußabdruck verdeutlichen. Er zeigt an, wie hoch der Bedarf an natürlichen Ressourcen für eine bestimmte Lebensweise ist und stellt diesen den Kapazitäten der Erde gegenüber. Er berechnet dabei, wie viel biologisch produktive Wasser- und Landflächen Individuen oder Länder benötigen, um alle anfallenden Abfälle zu absorbieren und alle konsumierten Ressourcen zu produzieren (BPB, 2017). Die aktuelle Lebensweise der Weltbevölkerung verbraucht nach diesen Berechnungen im Schnitt 1,75 Planeten. Dabei würden ca. fünf Erden benötigt, wenn alle Menschen wie die Bevölkerung der USA leben würden und knapp drei Erden, wenn alle Menschen wie die deutsche Bevölkerung leben würden. Demgegenüber ist der ökologische Fußabdruck im Globalen Süden mit wenigen Ausnahmen sehr viel geringer. So würden bspw. nur ca. 0,75 Erden verbraucht, würden alle Menschen leben wie die Bevölkerung in Indien oder in Tansania. Den kleinsten ökologischen Fußabdruck hat Eritrea mit 0,32 Erden (Global Footprint Network, 2017).
Weitere Beispiele für solche externalisierte Kosten - also Kosten, die von Produzent*innen und Konsument*innen erzeugt werden, jedoch gesamtgesellschaftlich getragen werden müssen und im Rahmen von entwicklungspolitischer Inlandsarbeit thematisiert werden - sind der Abbau von metallischen Rohstoffen im Globalen Süden für die Digitalisierung im Globalen Norden oder die Verschiffung von Müll in Länder des Globalen Südens. Auch die gesundheitlichen Risiken, die bei der Wiederverwertung von Elektroschrott aus dem Globalen Norden oder durch die Arbeit auf pestizidbelasteten Plantagen für die Nahrungsmittelversorgung im Globalen Norden für die lokale Bevölkerung entstehen, sind Beispiele für externalisierte Kosten (Brand & Wissen, 2018, S. 46). Gerade im Hinblick auf das Thema Nahrung hat der übermäßige Konsum im Globalen Norden einen direkten Einfluss auf die Ernährungssicherheit in Ländern des Globalen Südens. So werden von „armen“ Ländern weiterhin Lebensmittel in „reiche“ Länder exportiert. Statt zur Ernährung der eigenen Bevölkerung werden vorhandene Agrarflächen für die Viehzucht oder die Produktion von Biokraftstoff genutzt und die Erzeugnisse in den Globalen Norden exportiert (Esteva et. al., 2013, S. 81). Viele Agrarprodukte, die für den Export angebaut werden, benötigen zudem übermäßig viel Wasser, was in den Ländern, die meist bereits unter Wasserknappheit leiden, eine ausreichende Wasserversorgung weiter gefährdet (ebd., S. 79). Dies sind nur wenige der unzähligen Beispiele, die deutlich machen, dass die Ursachen vielseitiger Problemlagen wie Hunger, Armut, Kinderarbeit oder Gefährdung der Gesundheit im Globalen Süden ihren Ursprung häufig in der Lebensweise und im Konsumverhalten der Menschen im Globalen Norden haben.
Neben der Thematisierung von Ursachen für Problemlagen im Globalen Süden werden im Rahmen der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit auch konkrete Handlungsalternativen bzw. lokale Lösungsansätze erarbeitet. Um die negativen Auswirkungen der Konsumgesellschaft - also einer Gesellschaft, die sich hauptsächlich über Konsumgüter definiert und deren Vorstellung von einem guten Leben viel mehr durch „well-having“ statt durch „well-being“ geprägt ist - zu reduzieren, bedarf es einer Abkehr vom Wachstumsdogma. Einen Ausweg zeigen De-Growth- bzw. Postwachstumsansätze auf. Sie basieren auf Lokalisierung, Entglobalisierung, Entkommerzialisierung, Regulation der Kapitalmärkte, Abschaffung globaler Finanzmärkte, Reduzierung des Ressourcenverbrauchs, dem „der Verschmutzer zahlt“ Prinzip, sowie der Internalisierung ökologischer Kosten (Esteva et. al., 2013, S. 87 ff.).
Auch wenn die Themen sehr vielfältig sind, zeigt sich, dass auch im Bereich der Inlandsarbeit wirtschaftliche Themen im Vordergrund stehen (Hartmeyer, 2005, S. 10). So wurde bspw. das Thema Fairer Handel in den letzten Jahren durch eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Kampagnen forciert. Ziel dieser Kampagnen ist es, das Bewusstsein für Produktionsbedingungen zu wecken und den Bekanntheitsgrad von fair gehandelten Produkten zu erhöhen (Olejniczak, 2005, S. 39). Im Bereich der Lobbyarbeit werden Reformen von Wirtschaftsabkommen oder Reformen von Wirtschaftsgremien wie der World Trade Organization (WTO) thematisiert (Hartmeyer, 2005, S.10).
Ebenfalls prominent ist die Auseinandersetzung mit entwicklungspolitischen Themen anhand von Vorgaben aus internationalen Konferenzen, wie der Agenda 2030 oder dem Pariser Klimaabkommen (ebd., S. 15). Ein weiterer Themenbereich der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit ist die kritische Begleitung von EZ-Maßnahmen (ebd., S.18). Hierzu zählen u.a. die Auseinandersetzung mit postkolonialen Strukturen in der EZ oder die kritische Auseinandersetzung mit wachstumsgerichteten Perspektiven auf „Entwicklung“.
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1 Die Verwendung der Begriffe Globaler Norden und Globaler Süden in dieser Arbeit soll im Gegensatz zu den Begriffen „Entwicklungs- und Schwellenländer“ eine weitgehend wertfreie Einordnung der beschriebenen Regionen ermöglichen. Die Zuschreibung ist dabei nicht geografisch zu verstehen, sondern soll vielmehr auf ungleiche globale Machtverhältnisse hinweisen. Dabei steht der Globale Norden für die Gesamtheit der Länder, welche hinsichtlich ihrer ökonomischen und politischen Position im globalen System eine vorteilige Position gegenüber den Ländern des Globalen Südens aufweisen.
2 Da der Begriff der „Entwicklung“ normativ geprägt ist (siehe Kapitel 3.2 und 3.3), wird er in dieser Arbeit in Anführungszeichen gesetzt.
3 Als Buen Vivir werden alternative Vorstellungen des guten Lebens verstanden, die den westlich geprägten Entwicklungsbegriff und damit einhergehende Konzepte von Wohlstand und Fortschritt hinterfragen. Zentrale Werte des aus der indigenen Bevölkerung Südamerikas stammenden Konzeptes sind vor allem soziale und kulturelle Anerkennung, Wissen, Ethik und Spiritualität. Das Ziel ist nicht die Ansammlung materieller Güter, sondern ein Gleichgewichtszustand im Guten Leben (BUNDjugend, o.D.).
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