Examensarbeit, 2007
101 Seiten, Note: 1,0
1 Einleitung
1.1 Vorstellung des Themas und Begründung der Themenwahl
1.2 Aufbau der Arbeit
1.3 Hinweise zum Sprachgebrauch
2 Begriffsklärungen
2.1 Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung
2.2 Sexualität
2.3 Die psychosexuelle Entwicklung
2.4 Pubertät
3 Sexualität bei Mädchen mit einer geistigen Beeinträchtigung
3.1 Sexualität bei Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung
3.2 Mädchen und Frauen mit einer geistigen Beeinträchtigung
3.3 Die Pubertät bei Mädchen mit einer geistigen Beeinträchtigung
3.3.1 Ich-Findung und Identität
3.3.2 Körperliche Veränderungen
3.3.3 Psychosexuelle und sexuelle Entwicklung
3.3.4 Eltern und Familie
3.3.5 Peergroup
3.3.6 Zusammenfassende Betrachtung der Pubertät bei Mädchen mit einer geistigen Beeinträchtigung
3.4 Sexuelle Gewalt
3.5 Homosexualität
3.6 Schwangerschaftsverhütung
4 Sexualpädagogik bei Mädchen mit einer geistigen Beeinträchtigung
4.1 Sexualerziehung bei Jugendlichen mit einer geistigen Beeinträchtigung
4.1.1 Historie der Sexualerziehung
4.1.2 Aufgaben und Ziele der Sexualerziehung
4.1.3 Notwendigkeit der Sexualerziehung
4.2 Aspekte der sexualpädagogischen Arbeit bei Mädchen mit einer geistigen Beeinträchtigung
4.3 Didaktik und Methodik der Sexualerziehung
4.3.1 Didaktik und Methodik
4.3.2 Sexualpädagogisches Material
4.3.3 Übungen
4.3.4 Betreuer
4.4 Lebensbereiche
4.4.1 Schule
4.4.2 Freizeit
4.4.3 Familie
5 Fazit
Anhang
Literaturverzeichnis
Ein Lächeln vielleicht
Meine Beine können nicht laufen,
sie liegen ganz still.
Meine Hände nicht greifen,
auch wenn ich will.
Meinen Kopf kann ich nicht halten,
die Stütze hält ihn für mich,
doch meine Augen können sehen,
sie sehen auch dich.
Ich frage mich, was du im Augenblick denkst,
ob du wegschaust, oder ein Lächeln mir schenkst.
Bleibst du jetzt stumm, oder sprichst du mit mir?
Ich unterhalte mich gerne, auch mit dir.
Wenn ich dann spüre, dass du mich magst
Und nicht nach meiner Behinderung fragst,
bekommt auch mein Leben einen Sinn,
es fällt mir leichter, dass ich behindert bin.
Björn Stommel
(Lebenshilfe Rundbrief 1/07 S. 48. Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung, Ortsvereinigung Münster e.V.)
Liebe, Partnerschaft und Sexualität sind wesentliche Bestandteile im Leben eines jeden Menschen. Das Bedürfnis und der Wunsch nach Geborgenheit, Zärtlichkeit und körperlicher Nähe gilt für alle Menschen gleichermaßen - völlig unabhängig davon, ob sie in ihrer geistigen Entwicklung beeinträchtigt sind oder nicht.
In weiten Teilen der Gesellschaft herrschen allerdings viel Unsicherheit und großes Unwissen über die Sexualität von Menschen mit einer Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung. Das geht bis hin zu der Frage, ob diese Menschen überhaupt in der Lage seien, liebevolle Gefühle zu anderen aufzubauen. Derartige Fehleinschätzungen entstehen, wenn eine Gesellschaft unzureichend informiert und aufgeklärt ist. Tatsächlich ist die Emotionalität des hier betrachteten Personenkreises überhaupt nicht in Frage zu stellen. Für Menschen mit einer Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung ist somit auch die Sexualerziehung[1] außerordentlich wichtig, damit sie auch auf diesem Gebiet zu größtmöglicher Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit gelangen können.
Die vorliegende Arbeit widmet sich innerhalb dieses Personenkreises einer besonderen Gruppe, nämlich der der Mädchen mit einer geistigen Beeinträchtigung, und stellt Möglichkeiten unterstützender Maßnahmen zur Entwicklung und Entfaltung ihrer Sexualität während der Pubertät vor.
Der Anlass, mich mit diesem Thema im Rahmen meiner Hausarbeit auseinanderzusetzen, ist in meiner langjährigen Arbeit mit Mädchen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung im pubertären Alter begründet. Während meines XXXXXXXXXXXXXXXXXX betreute ich ein 18-jähriges autistisches Mädchen und lebte zusammen mit mehreren Jugendlichen mit Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung in einem Haus. An einer Förderschule für Erziehungshilfe in Münster habe ich eine Mädchengruppe initiiert und ein Jahr lang begleitet. Außerdem betreue ich im Rahmen des XXXXXXXXXXXXXXX seit vier Jahren ein inzwischen 14 Jahre altes Mädchen mit Down-Syndrom. Im Rahmen dieser Tätigkeiten bin ich mit unterschiedlichen Situationen konfrontiert worden, die mir immer wieder aufs Neue gezeigt haben, dass das Thema Sexualität auch für diese Jugendlichen präsent und relevant ist. Eine positive, akzeptierende Einstellung des Lebensumfeldes sowie der bewusste und selbstverständliche Umgang mit den Bedürfnissen und Formen der Sexualität dieser jungen Menschen ist in meinen Augen von großer Bedeutung für ihre Entwicklung.
Auf Grund dieser Erkenntnis habe ich schon früh begonnen, mich zu informieren und mich immer mehr mit den unterschiedlichen Aspekten der Sexualerziehung auseinander zu setzen. Vor allem während ich in England mit den Jugendlichen mit Beeinträchtigungen in einer Hausgemeinschaft lebte, ist mir deutlich geworden, dass sich Sexualerziehung keinesfalls nur auf die genitale Sexualität beschränken darf, sondern immer den ganzen Menschen mit all seinen Facetten einbeziehen muss.
In den letzten Jahrzehnten hat es bei der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung in vielen Bereichen deutliche Veränderungen gegeben. Obwohl bei weitem nicht alle Missstände beseitigt sind, kann man doch eindeutige Tendenzen zur Verbesserung der Lebensbedingungen dieser Menschen verzeichnen, z.B. bei dem Recht auf Schulbildung oder dem individueller gestalteten Wohnen. Auch das Bewusstsein dafür, dass Sexualität und Partnerschaft für Menschen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung wichtig sind, ist gewachsen. Sie erhielten auf diesem Gebiet größere Freiräume, jedoch wurde meistens versäumt, ihnen auch ein sexualpädagogisches Unterstützungsangebot auf dem Weg zu einem persönlich befriedigenden Sexualverhalten anzubieten.
Dieses Versäumnis zeigt sich in fehlendem Wissen, in nicht vorhandenen Erfahrungen und einer geringen Differenzierung eigener Wünsche und Bedürfnisse seitens der Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung. Inzwischen haben sich einige Autoren mit diesem Thema befasst und in Einzelfällen auch sexualpädagogisches Material entwickelt. Allerdings sprechen die meisten sexualpädagogischen Konzepte sowie fast die gesamte Fachliteratur zum Thema ausschließlich von „dem Behinderten“ allgemein und differenzieren nicht zwischen Frauen und Männern oder Mädchen und Jungen und ihren zwangsläufig unterschiedlichen Wünschen, Bedürfnissen und Erfahrungen. Hier ist ein deutliches Defizit festzustellen.
In meiner Arbeit werde ich daher, wie schon erwähnt, insbesondere die Möglichkeiten unterstützender Maßnahmen für Mädchen mit einer geistigen Beeinträchtigung hinsichtlich der Entwicklung und Entfaltung ihrer Sexualität während der Pubertät untersuchen, um die Notwendigkeit der noch immer viel zu wenig praktizierten sexualpädagogischen Arbeit für diese jungen Menschen zu unterstreichen und für die Wichtigkeit einer fundierten Sexualerziehung zu plädieren.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich wie folgt:
Nach einer einleitenden Betrachtung des Themas und der Begründung der Themenwahl, in der klar wird, dass mein Interesse an dem hier behandelten Thema schon lange besteht, folgen Hinweise zum Aufbau und zum Sprachgebrauch der Arbeit.
Im zweiten Kapitel wird eine Diskussion der in dieser Arbeit wichtigsten Begriffe vorgenommen, um eine begriffliche Grundlage zu schaffen. Nach Betrachtung der verschiedenen Facetten der Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung widme ich mich der Bestimmung der Sexualität, die in dieser Arbeit in einer weitreichenden Definition zu Grunde gelegt wird. Die psychosexuelle Entwicklung wird anhand des Phasenmodells von Sigmund Freud erklärt und als Voraussetzung eines weitgefassten Verständnisses von Sexualität zu Grunde gelegt. Abschließend werde ich die Pubertät als bedeutenden Lebensabschnitt im Leben aller Menschen beschreiben.
Der dritte Teil meiner Arbeit beschäftigt sich mit den verschiedenen Aspekten der Sexualität, die im Leben von Mädchen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung von Bedeutung sind. Nach einer allgemeinen Betrachtung der Sexualität bei Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung widme ich mich den Mädchen und Frauen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und ihrer Stellung in der Gesellschaft.
Die Pubertät als Phase im Leben der hier betrachteten Mädchen, in der die Ich-Findung und Identitätsentwicklung, die körperlichen Veränderungen und psychosexuelle sowie sexuelle Entwicklung bedeutende Rollen spielen, wird ausführlich betrachtet, die Familie und Peergroup als Orte, in denen die jungen Mädchen entscheidende Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse durchlaufen, herausgestellt. Die Konklusion dieser Betrachtung findet sich in den Überlegungen zur psychischen Reife.
Des Weiteren wird auf die Gefahr der sexuellen Gewalt bei Mädchen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung hingewiesen, und es werden Signale, Präventions- und Interventionsmöglichkeiten vorgestellt. Als ergänzende Aspekte der Sexualität bei Mädchen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung werden weibliche Homosexualität und Schwangerschaftsverhütung in dieser Arbeit Beachtung finden.
Im vierten Kapitel geht es zunächst darum zu klären, wie Sexualerziehung in der Vergangenheit aussah und was sie heutzutage ausmacht. Die Aufgaben und Ziele sowie die Notwendigkeit der Sexualerziehung bei Jugendlichen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung werden herausgearbeitet und bei den Aspekten sexualpädagogischer Mädchenarbeit bei Mädchen mit geistigen Beeinträchtigungen im Einzelnen vertieft.
Didaktik und Methodik der Sexualerziehung spielen in den folgenden Punkten die zentrale Rolle, Materialien, individuelle Übungen und Hilfen für die betreuenden Personen werden dargestellt.
Im letzten Teil meiner Arbeit wende ich die vorher erarbeiteten Punkte auf die drei Lebensbereiche an, in denen Mädchen während ihrer Pubertät erwartungsgemäß die meiste Zeit verbringen. Die Schule als Bildungsort mit eigenen curricularen Bestimmungen wird anhand der Rahmenrichtlinien der Abschlussstufe in Niedersachsen und den Bayerischen Rahmenrichtlinien für die Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung untersucht. Dabei wird besonders auf die Unterstützungsmöglichkeiten für Schülerinnen der Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung geachtet. In der Freizeit gibt es die Möglichkeit, sexualpädagogische Bildungsangebote wahrzunehmen, die in diesem Abschnitt näher dargestellt werden. Die Familie schließlich als bedeutender Ort der Sozialisation wird unter dem Aspekt der Einstellung der Eltern und der Möglichkeit, die Sexualerziehung in den familiären Alltag zu integrieren, betrachtet.
Im abschließenden Fazit werde ich die wesentlichen Überlegungen und Thesen, die ich im Verlauf meiner Arbeit entwickelt habe, zusammenfassen.
Zunächst noch einige Bemerkungen zu dem in dieser Arbeit angewendeten Sprachgebrauch.
Eine Differenzierung zwischen der pubertären Entwicklung sowie der Entwicklung und Entfaltung der Sexualität von Mädchen und Jungen mit geistigen Beeinträchtigung wird in der Literatur kaum vorgenommen. Daher wird in den folgenden Kapiteln häufig von Kindern, Jugendlichen, Heranwachsenden usw. gesprochen, womit sowohl Mädchen als auch Jungen gemeint sind. Da in dieser Untersuchung Mädchen im Mittelpunkt stehen wird in den Fällen, in denen ich nach dem intensiven Literaturstudium und nach meinen praktischen Erfahrungen eindeutig feststellen konnte, dass sich die beschriebenen Inhalte auf Mädchen beziehen lassen, in der Regel eine geschlechtsspezifische Bezeichnung gewählt. Bei Bezeichnungen für Erwachsene werde ich überwiegend die männliche Form verwenden, um den Lesefluss zu erleichtern. Außerdem werde ich vielfach von „Betreuern“, „Pädagogen“ oder „Mitarbeitern“ sprechen, damit sind sämtliche Personen gemeint (Eltern, Lehrer, Erzieher, Therapeuten, Zivildienstleistende etc.), die im Kontext einer umfassenden Sexualerziehung eine Rolle spielen.
Ich benenne den in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Personenkreis als „Menschen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung“. Dies bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die in vielen Lebenslagen Anleitung und/oder Unterstützung benötigen, um ein erfülltes Leben zu führen. Dabei sind die meisten abhängig von der Toleranz ihrer Umwelt. Der Gebrauch fester Begriffe ist nicht unproblematisch, weil er zu verallgemeinernden Aussagen über Menschen (mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung) führen kann. Da sich der Eindruck einer homogenen Gruppe in der Arbeit manifestieren kann, weise ich ausdrücklich auf die Individualität eines jeden Menschen hin. Die hier gemachten Aussagen müssen somit bei weitem nicht auf alle Menschen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung zutreffen.
Im folgenden Text werde ich der besseren Lesbarkeit halber für Menschen „mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung“ die Abkürzung m.B.d.g.E. benutzen. Die spezifische Personengruppe wird jeweils vorher genannt. Dennoch tauchen in dieser Arbeit andere Begriffe wie „Geistigbehinderte“, „Menschen mit geistiger Behinderung“ o.ä. auf. Diese Begrifflichkeiten kommen ausschließlich in Zitaten oder bei der Benennung von Literatur vor.
„Eine Verminderung der intellektuellen Fähigkeiten, der sprachlichen Entwicklung und der motorischen Fähigkeiten unterschiedlichen Grades mit der Einschränkung bzw. Unfähigkeit zur selbständigen, zweckmäßigen Lebensführung“ kennzeichnet laut BROCKHAUS Bd.10 (2006, 359) eine geistige Beeinträchtigung, die durch standardisierte Verfahren gemessen und in vier Schweregrade eingeteilt wird:
- Eine leichte intellektuelle Minderung (IQ 69-50), bei der das geistige Entwicklungsalter eines etwa 10-jährigen Kindes erreicht werden kann.
- Eine mittelgradige geistige Beeinträchtigung (IQ 49-35), bei der die Entwicklungsstufe eines 6-jährigen Kindes erreicht werden kann.
- Eine schwere geistige Beeinträchtigung (IQ 34-20) mit Erreichen eines Entwicklungsstandes eines 3-jährigen Kindes.
- Eine schwerste geistige Beeinträchtigung (IQ unter 20), in deren Rahmen die Entwicklungsstufe eines 1½-jährigen Kindes erreicht wird (vgl. BROCKHAUS Bd.10 2006, 358).
In der Praxis ist eine derart exakte Trennung nach Beeinträchtigungsgraden selten möglich. Dennoch ist es wichtig, dass der Personenkreis, mit dem ich mich in dieser Arbeit beschäftige, dargestellt wird. Dazu will ich keinen umfassenden Überblick über Definitionsansätze geben, die in der Fachliteratur in einer Vielzahl auftreten und keineswegs einheitlich sind, sondern kurz einige wichtige Erklärungsmodelle darstellen.
SPECK (2005, 233) unterscheidet drei Schweregrade:
- Personen m.B.d.g.E., die viele Dinge des alltäglichen Lebens relativ selbstständig bewältigen können, gelten als leicht beeinträchtigt.
- Menschen m.B.d.g.E., die einen gewissen Grad an Selbstständigkeit erreichen, aber geschützte Lern- und Arbeitsfelder benötigen, gelten als durchschnittlich beeinträchtigte Menschen.
- Menschen m.B.d.g.E., die im Wesentlichen basale Lernfähigkeiten, eine hohe Abhängigkeit von externen Hilfen und einen hohen pflegerischen Bedarf haben, gelten als intensiv/schwer beeinträchtigte Menschen.
Zum Verständnis von geistiger Beeinträchtigung nennt SPECK (2005, 53ff.) vier verschiedene Ansätze:
- Der medizinisch-genetische Ansatz führt geistige Beeinträchtigung primär auf organische Ursachen und Schädigungen (des Gehirns) zurück. Allerdings ist man sich heute weitgehend einig, dass geistige Beeinträchtigung keine bloße medizinische Kategorie ist und nicht mit Krankheit gleichzusetzen ist (vgl. HIRSCHBERG 2005, 15; SPECK 2005, 53ff.).
- Der psychologische Ansatz versteht geistige Beeinträchtigung aus Sicht der Psychologie als intellektuelle Retardierung. Der Grad der geminderten Intelligenz wird über Intelligenztests ermittelt. Hinzu kommen gravierende Abweichungen im adaptiven Verhalten und eine Beeinträchtigung, die bis ins Erwachsenenalter anhält (vgl. SPECK 2005, 56ff.).
- Der soziologische Ansatz sieht geistige Beeinträchtigung als Ausprägungsform der Sozialisation. Sie hängt maßgeblich ab von der sozialen Situation, sozialer Abhängigkeit, dem System und der Qualität sozialer Hilfen, der Einstellung der Umwelt, sozialen Einflüssen und der familiären Situation (vgl. HIRSCHBERG 2005, 18; SPECK 2005, 60ff.). Sie ist also auch von außen veränderbar (vgl. SPECK 2005, 48).
- Der pädagogische Ansatz versteht geistige Beeinträchtigung als Phänomen vorgefundener sowie komplex und differenziert zu erfassender Wirklichkeit. Hauptsächlich geht es um die Aufgabe, Lernmöglichkeiten festzustellen und durch Gestaltung einer Lernumwelt Lernen zu fördern (vgl. SPECK 2005, 67ff.).
Die Entstehung und Manifestierung einer geistigen Beeinträchtigung hängt von einem „Wechselspiel zwischen den potentiellen Fähigkeiten des betroffenen Menschen und den Anforderungen seitens der konkreten Umwelt ab.“ (NEUHÄUSER/STEINHAUSEN 2003, 10). Als Ursachen kommen prä-, peri-, postnatale oder erbliche Schädigungen in Frage, allerdings sind nur in etwa 40-50 Prozent aller Fälle organische Ursachen nachzuweisen, bei der anderen Hälfte der geistig Beeinträchtigten sind die Entstehungsbedingungen nicht bekannt (vgl. NEUHÄUSER/STEINHAU-SEN 2003, 17ff.).
Menschen m.B.d.g.E. sind also keinesfalls eine homogene Gruppe mit fest umschriebenen, gleichbleibenden Eigenschaften. Kognitive und motorische Leistungsfähigkeit sowie soziales und emotionales Verhalten unterscheiden sich. Der DEUTSCHE BILDUNGSRAT definierte 1974 (37): „Als geistig behindert gilt, wer ... in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so beeinträchtigt ist, dass er voraussichtlich lebenslanger, sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit den kognitiven Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und der motorischen Entwicklung einher.“ Hier wird geistige Beeinträchtigung als komplexes Phänomen deutlich, das unterschiedliche Bereiche berührt und „noch dazu in jedem Individuum in eigener Weise miteinander verflochten“ ist, was dazu führt, dass „jede individuelle Ausprägung einer geistigen Behinderung ... eine andere“ ist (SPECK 2005, 48).
Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung ist somit „als Ergebnis des Zusammenwirkens von vielfältigen sozialen Faktoren und medizinisch beschreibbaren Störungen anzusehen“, als „eine gesellschaftliche Positionszuschreibung auf Grund vermuteter oder erwiesener Funktionseinschränkungen angesichts der als wichtig betrachteten sozialen Funktion“ (NEUHÄUSER/STEINHAUSEN 2003, 10) und wird immer ein relativer Begriff sein, weil er sich auf Individuen bezieht, die sich im Laufe ihres Lebens verändern und sich von einander unterscheiden (vgl. SPECK 2005, 43ff.).
Der Begriff „geistige Behinderung“ wurde 1958 von der Elternvereinigung „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ in Anlehnung an das englische „mentally handicapped“ gewählt, um abwertende Formulierungen wie „Idiotie“ und „Schwachsinn“ abzulösen (MÜHL 2000, 45).
Sich wandelnde Vorstellungen von Menschen m.B.d.g.E. und den für sie adäquaten Institutionen kennzeichnen auch die Entwicklung der Pädagogik für sie. Heute spricht man von „Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung“ (SPECK 2005, 48) oder „Menschen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung“ in Anlehnung an die Klassifikation der ICF[2], wodurch das Menschsein der Betroffenen stärker in den Vordergrund gestellt und die Benennung der Beeinträchtigung sowie die Orientierung an Defiziten und Negativzuschreibungen vermieden werden soll, auch wenn dies - meiner Einschätzung nach - immer noch eine, wenn auch mildere, Defizitzuschreibung ist. Dies impliziert einen Paradigmenwechsel, den dieser Personenkreis in den letzten Jahren erfahren hat. Alle Menschen werden als autonome und zugleich in gesellschaftliche Bezüge eingebundene Subjekte anerkannt und nicht auf eine Beeinträchtigung reduziert oder durch Förderung verobjektiviert (vgl. KLAUß 2001, 111).
Sicher ist, dass bei einer Zuordnung eines Menschen zu einem Begriff stets die Gefahr besteht, diese Menschen auf bestimmte Eigenschaften zu reduzieren, eine Etikettierung der Betroffenen vorzunehmen und sie nur aus diesem einen Blickwinkel zu betrachten, so dass ihre Individualität nicht gesehen wird.
Wegen des Zuschreibungscharakters von Begriffen und der daraus möglichen Stigmatisierungen wird der Ausdruck „Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung“ von Wissenschaftlern erneut hinterfragt. Das Festschreiben von Defiziten und die Legitimation sozialer Ausgrenzungsprozesse soll durch Aussagen wie „Geistigbehinderte gibt es nicht!“ (FEUSER 1996, 18) vermieden und ihre vorurteilslose Anerkennung als gleichberechtigte und gleichwertige Menschen erreicht werden. FEUSER (1996, 18): „Vielmehr gilt es zu präzisieren: Es gibt Menschen, die wir auf Grund unserer Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem wir sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den wir als ‚geistigbehindert’ bezeichnen.“
Ein Mensch m.B.d.g.E. hat zwar spezielle Defizite, zum „Behinderten“ wird er jedoch erst durch die Gesellschaft gemacht. Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung gestaltet sich also als ein soziales Problem, welches von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen geprägt ist. Der Mensch wird durch seine Umwelt mit ihren Normen und Standards , durch Zuschreibungen von außen, an denen der Betroffene selten einen aktiven Anteil hat, beeinträchtigt und damit „Abbild und Opfer dieser Festlegungen und Objektivierungen“ (SPECK 2005, 46).
Um diesem entgegen zu wirken, hat die WHO 2001 mit ihrer ICF („International Classification of Function, Disability and Health“, deutsch: „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“, in Deutschland veröffentlicht 2005) versucht, einen international einheitlichen Beeinträchtigungsbegriff zu etablieren, indem neben der Betrachtung der Funktionsbeeinträchtigung (z.B. Schädigungen der Körperstrukturen oder Körperfunktionen) von Menschen vor allem die Auswirkungen der Erkrankung auf die Funktionsfähigkeit (Aktivitäten) und die Partizipation der Betroffenen im Alltag hervorgehoben werden. Der Diagnostik der Funktionsfähigkeit im Alltag kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da das Ausmaß an Einschränkungen in den Alltagsaktivitäten als ein entscheidender Indikator dafür gilt, inwieweit Betroffene mit neurologischen, aber auch anderen Schädigungen in der Lage sind, ein relativ selbstständiges Leben zu führen.
„Behinderung“ wird nach der ICF künftig nicht mehr als etwas aufgefasst werden, das eine Person insgesamt ist oder hat, sondern als etwas, das sich in konkreten Handlungssituationen als komplexer wechselseitiger Zusammenhang von Beeinträchtigung der Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäts- und Partizipationseinschränkungen äußert. Es lässt sich also feststellen: Eine Person m.B.d.g.E. wird bei der Bewältigung situativer Anforderungen und Erwartungen in allen Lebensbereichen, in denen intellektuelle Fähigkeiten eine wichtige Rolle spielen, eingeschränkt sein, es sei denn, dass ihr entsprechende persönliche oder technische Hilfen zur Verfügung stehen.
„Behinderung“ wird also nicht auf die Schädigung des gesamten Menschen, sondern auf die Beeinträchtigung von einzelnen Funktionsfähigkeiten bei Personen zurückgeführt.
Insbesondere wird nun der gesamte Lebenshintergrund der Betroffenen berücksichtigt. Das Ziel ist die uneingeschränkte Teilhabe, völlige Gleichstellung und das Recht auf Selbstbestimmung (vgl. HIRSCHBERG 2005, 11). Diese Forderungen basieren auf dem Konzept der Menschenwürde[3], wesentliche Aspekte sind im Sozialgesetzbuch IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - eingetragen.
Ich favorisiere die ICF Definition der WHO, da sie die Menschen nicht grob klassifiziert, sondern deren Beeinträchtigung und Fähigkeiten, orientiert an ihrem relevanten Alltag, berücksichtigt. Somit wird ein Einblick in die Lebenswirklichkeit der Betroffenen möglich, der ressourcen- statt defizitorientiert, sozial statt medizinisch und an Partizipation statt Ausgrenzung orientiert ist (vgl. HOLLENWEGER 2006, 34). Die ICF Klassifikation beschreibt die gesundheitsrelevanten Zustände in einem dynamischen Modell der biologischen, sozialen und individuellen Einflussfaktoren.
Beeinträchtigung ist letztlich nur relativ zu bestimmten Situationen und anderen Personen zu verstehen und nicht an der Person allein festzumachen. Die Heterogenität der Personengruppe wird beachtet und das Ziel der größtmöglichen Teilhabe in diesem Modell verfolgt.
Da ich in meiner Arbeit Mädchen während ihrer Pubertät betrachte, sei hier noch die schuladministrative Sicht genannt, die davon ausgeht, dass Schülerinnen und Schüler, die in der Förderschule für Lernhilfe nicht hinreichend gefördert werden können, der Schule mit dem Förderschwerpunkt Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung zugewiesen und damit den Menschen m.B.d.g.E. zugeordnet werden (vgl. KLAUß 2001, 110; MÜHL 2000, 49). Meiner Ansicht nach sollte der Besuch einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung nicht als hinreichendes Kriterium für eine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung angesehen werden, da auch falsche Platzierungen geschehen können. Es ist aber sehr schwierig, einer solchen Zuordnung wieder zu „entkommen“, denn „einmal als ‚geistigbehindert’ klassifiziert“ bedeutet es für die Betroffenen meistens eine lebenslange Zugehörigkeit, „die einer Einbahnstrasse gleicht und schließlich in einer Sackgasse mündet, aus der es kein Entrinnen aus eigener Kraft mehr gibt.“ (FEUSER 1996, 22).
Schülerinnen und Schüler m.B.d.g.E. sind durch einen außergewöhnlichen Erziehungsbedarf gekennzeichnet, da sie bei der Ausbildung ihrer kognitiven „Kompetenzen wie Lernen, Gedächtnis, Denken und Problemlösung und in der Folge auch bei der eigenständigen Lebensführung, Beschäftigung und Gestaltung, Interaktion und Kommunikation so beeinträchtigt sind, dass sie auf eine Anpassung der Lebens- und Lernbedingungen in Familie, Schule und Arbeitswelt angewiesen sind, um die in ihrem Möglichkeitsraum liegenden Kompetenzen ausbilden zu können.“ (KLAUß 2001, 110). Sie sind daher eine „besondere pädagogische Aufgabe“ für ihre Lehrer, Erzieher, Betreuer und Eltern (MÜHL 2000, 53). Einige können tägliche Abläufe fast selbstständig bewältigen und führen als Erwachsene ein weitgehend selbstständiges Leben, während andere lebenslang auf umfassende Hilfen in allen Lebensbereichen angewiesen bleiben. Durch die individuell sehr unterschiedlichen Ausprägungsformen sind auch didaktisch sehr unterschiedliche Herangehensweisen nötig.
Im eigentlichen Sinn gibt es den Menschen mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung nicht! Jeder Mensch ist anders!
Dennoch ist eine Begriffsbestimmung wichtig und sinnvoll, um Kategorien zu bilden, auf deren Grundlage individuelle Fördermöglichkeiten entwickelt werden, die in der konkreten Anwendung den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Betroffenen gerecht werden können (SPECK 2005, 51ff.).
Um über die Entwicklung der Sexualität und Sexualerziehung bei Mädchen m.B.d.g.E. sprechen zu können, bedarf es einer generellen Grundfrage: Was ist Sexualität überhaupt?
Semantisch geht Sexualität von dem lateinischen „secare“, (teilen) aus und bedeutet soviel wie die Einteilung in das männliche und das weibliche Geschlecht (vgl. KIECHLE/WIEDMAIER 1998, 16), während der Begriff wissenschaftlich vermutlich erstmalig 1820 in der Botanik für den Fortpflanzungsaspekt bei Pflanzen benutzt wurde (vgl. BROCKHAUS Bd. 25 2006, 112).
Aber Sexualität ist weit mehr als die Einteilung in zwei verschiedene Geschlechter oder die einseitige Einschätzung, dass Sexualität nur dem Fortpflanzungszweck dient, wobei es schwer ist, eine klare Definition zu finden, da sie jeweils von soziokulturellen Einflüssen, vor allem aber von der Person und ihrer individuellen Einstellung geprägt ist.
Nach SPORKEN/JACOBI/VAN DER ARND (1980, 19f.) umfasst Sexualität „sämtliche Aspekte der menschlichen Existenz, in denen die Tatsache des Mann- oder Frauseins von Bedeutung ist.“ Dies beinhaltet drei unterschiedliche Bereiche:
- den „äußeren Bereich“ der allgemeinmenschlichen Beziehungen und Verhaltensweisen,
- den „Mittelbereich“, wozu Gefühlsregungen, Zärtlichkeit, Sensualität und Erotik gezählt werden,
- den „engeren Bereich“ der Genitalsexualität (SPORKEN 1974, 159). Das bedeutet, „dass die Verwirklichung des Mann- und Frauseins einen wesentlichen Bestandteil des ganzen Menschwerdungsprozesses in Selbstentfaltung und in mitmenschlicher Beziehung bildet.“ (SPORKEN/ JACOBI/VAN DER ARND 1980, 19; vgl. HOYLER-HERRMANN 1996, 201).
Besondere Bedeutung messen SPORKEN/JACOBI/VAN DER ARND (1980, 19f.) dem Mittelbereich der Sexualität zu, dem Schenken menschlicher Wärme und Geborgenheit durch Zärtlichkeit, Liebkosungen und Streicheln als Ausdrucksform von Beziehungen.
Sexualität ist dabei auf kein bestimmtes Lebensalter beschränkt, wie man früher glaubte, sondern sie ist eine Lebensenergie, die von der Geburt bis zum Tod präsent ist und alle Aspekte von Frauen und Männern umfasst (vgl. KIECHLE/WIEDMAIER 1998, 17; PRO FAMILIA 2002, 11), also auch schon Teil der kindlichen Persönlichkeit ist.
FREUD[4] versuchte Anfang des 20. Jahrhunderts, die Bedeutung der Sexualität auch im Kindesalter herauszustellen und den Begriff der Sexualität zu erweitern. Seine Erkenntnisse sind inzwischen weiterentwickelt, modifiziert und kritisiert worden, haben aber noch heute großen Einfluss auf die Sexualwissenschaft. Freud nannte alles sexuell, was Lust bereitet und fasste das Lustprinzip als Regulationsprinzip der psychischen Prozesse auf. FREUD erkannte, „dass alles, was Lust bereitet, aus der Kindheit stammt und in einer langen und komplizierten Entwicklung das Sexualleben der Erwachsenen beeinflusst.“ (in: DITTLI/FURRER 1996, 13).
MOLINSKI (1996, 90) nennt weitere Aspekte der Sexualität wie Triebbefriedigung, Kommunikation, Körpererfahrung und Partnerschaft, umfasst also physische, psychische und soziale Komponenten. Außerdem hat Sexualität mit Identifikationsprozessen, Lebensentwürfen, Phantasien, Bedürfnissen, Begierden zu tun, ist also im ganzen Leben, zu jeder Zeit von Bedeutung.
Der Psychoanalytiker MORGENSTERN unterscheidet zwischen dem Sexuellen und der Sexualität. Das Sexuelle definiert er als ungerichteten, Lust gebärenden, aber noch nicht bewusst gewordenen Wunsch. Es steht am Anfang von Kreativität, Liebe, Befreiung, Einschränkung und Unterdrückung. Auf Abwehr treffend wird es zur Sexualität, zum Geformten. Sexualität, gesehen als Einschränkung des Sexuellen, kann dadurch gestört sein. Durch Einflüsse von Erziehung, Erfahrung und die kulturelle, gesellschaftliche Außenwelt ist sie so geworden wie sie ist (vgl. MORGEN-STERN in: DITTLI/FURRER 1996, 13). Sexualität in vollendeter Form ist folglich nicht angeboren, sondern entwickelt.
Werte und Normen der Gesellschaft sowie die persönliche Lebensgeschichte machen Sexualität zu einer sozialen Kategorie, die den Rahmen für die sexuelle Entwicklung und das sexuelle Erleben bildet (vgl. BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE[5] 2002, 10; PRO FAMILIA 2002, 11). „Sexuelles Verhalten wird zum größten Teil durch Erfahrungen bestimmt, die jeder in seiner Sozialisation macht“ (HOYLER-HERRMANN 1996, 197), beispielsweise die Einstellung der Gesellschaft, Gesetze, Tabus oder die Art, wie über Dinge geredet wird. Sie ist folglich nicht einseitig biologisch bestimmt (vgl. BVL 2002, 10) und kann durch Erziehungsmaßnahmen verstärkt, korrigiert und verändert werden (vgl. HOYLER-HERRMANN 1996, 197).
Sexualität ist Ausdruck des Urbedürfnisses nach Verbundenheit und in der zwischenmenschlichen Beziehung von großer Bedeutung (vgl. BVL 1991, 41). „Ihre Signale sind Zärtlichkeit, Erotik, Verliebtheit, Zuneigung, Lust, Intimität und Geschlechtsverkehr, wie auch Sehnsucht, Begierde, Enttäuschung oder Aggression.“ (PRO FAMILIA 2002, 11).
Weitgehend einig, ist man sich darüber, dass Sexualität eines der natürlichsten und normalsten Phänomene auf der Welt ist und zu jedem Menschen gehört. Sexualität ist mit ihm untrennbar verbunden und Teil seiner Lebenskraft. Mit dieser weiter gefassten Definition von Sexualität, die nicht primär die genitale Sexualität in den Mittelpunkt stellt, sondern sie als komplexe Bedeutung für die Gesamtpersönlichkeit sieht, (vgl. BERGEEST 1999, 258; SCHRÖDER 1996, 129) ist alles gemeint, „was zwei verliebte Menschen miteinander, mit ihren Körpern machen.“ (RÖMER 1995, 10).
Diesen Standpunkt werde auch ich meiner Arbeit zugrunde legen.
Im Gegensatz zur biosexuellen Entwicklung beginnt die psychosexuelle Entwicklung unmittelbar nach der Geburt. Diese Entwicklung wird maßgeblich durch Erfahrungen und Erlebnisse geprägt. Schon durch die erste gefühlsmäßige Freude oder Lust, die ein Kind durch den engen Körperkontakt zu seiner Mutter erfährt, reift die gefühlsmäßige Freude daran, geliebt zu werden und andere lieben zu können (vgl. BROCHER 1971, 23; OERTER/MONTADA 2002, 685).
Maßgeblich zu dieser Erkenntnis beigetragen hat Sigmund Freud, der bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts eine erste umfassende Theorie zur fortschreitenden Sexualentwicklung des Kindes vorlegte. Die Stufen der psychosexuellen Entwicklung umfassen aufeinander folgende Arten der Befriedigung instinktbedingter, biologischer Bedürfnisse durch die Stimulation unterschiedlicher Körperzonen: Mund, Anus und Genitalien.
Die psychosexuelle Entwicklung verläuft in Phasen wie folgt:
Die orale Phase (0 – 12 Monate):
Der Mund ist Hauptquelle der Lustempfindung. Der Säugling erschließt sich seine Umwelt durch die Nahrungsaufnahme, besonders beim Stillen durch den intensiven Körperkontakt zur Mutter, das Ablecken und Lutschen von Gegenständen, und entwickelt die Fähigkeit, passiv zu genießen. Gegen Ende der oralen Phase spielt das Kind mit allen seinen Gliedmaßen, auch den Genitalien. Darüber hinaus liegt in dieser Phase der erste Grundstein für die Entwicklung der Geschlechtsidentität, die u.a. aus dem unterschiedlichen Verhalten von Mutter und Vater entsteht (vgl. BROCHER 1971, 26ff.; OERTER/MONTADA 2002, 685ff.; ZIMBARDO/GERRIG 2004, 615 ).
Die anale Phase (12 – 36 Monate):
Hier sind die Ausscheidungsorgane Zentrum des körperlichen Lustempfindens. Im Rahmen der Sauberkeitserziehung lernt das Kind, die Schließmuskeln zu beherrschen und hat Freude an der Ausscheidung sowie auch an der Zurückhaltung der Exkremente. In diesem Alter kennt das Kind sein eigenes und den Unterschied zum anderen Geschlecht. Es entwickelt Freude daran, die körperliche Beschaffenheit, inklusive der Genitalien, seiner Eltern und gleichaltriger Kinder zu betrachten (vgl. BROCHER 1971, 28ff.; OERTER/MONTADA 2002, 685ff.; ZIMBARDO/GERRIG 2004, 615).
Die phallische Phase (3 – 5 Jahre):
Diese Phase wird auch ödipale Phase genannt. In dieser Zeit setzt sich das Kind mit dem eigenen Körper intensiv auseinander, besonders mit seiner Genitalität. Das Kind bildet eine konstante Geschlechtsstabilität, d.h. es weiß, dass sein Geschlecht nicht zu verändern ist. Durch Masturbation entwickelt das Kind in dieser Phase erste Lustempfindungen, und die ersten Fragen zur Aufklärung werden gestellt. Auffallend in dieser Phase ist, dass das Kind betont um die Zuneigung der andersgeschlechtlichen Bezugsperson wirbt und mit der gleichgeschlechtlichen Bezugsperson rivalisiert (vgl. BROCHER 1971, 36ff.; OERTER/MONTADA 2002, 685ff.; ZIMBARDO/GERRIG 2004, 615).
Die Latenzphase (6 – 10 Jahre):
In der Latenzzeit wird die Befriedigung des Kindes durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt und die Entwicklung von eigenen Fähigkeiten erlangt. Das Kind entwickelt ein Schamempfinden und erkennt sexuelle Tabus. Es stellt differenzierte Fragen zur Aufklärung und grenzt sich vom anderen Geschlecht ab, um die eigene Geschlechtsidentität zu festigen (vgl. BROCHER 1971, 40ff., 58ff.; OERTER/MONTADA 2002, 686f.; ZIMBARDO/GERRIG 2004, 615).
Die genitale Phase (11 – 16 Jahre):
Dies ist die Phase der Pubertät: der Körper gelangt zur Geschlechtsreife und bereitet sich so auf die Aufnahmen von sexuellen Kontakten mit anderen vor. Der Körper produziert eine hohe Dosis von Sexualhormonen. Heterosexuelle Freundschaften werden eingegangen mit dem Zweck der Selbsterfahrung und narzistischen Bestätigung. Die Erfahrungen werden in das Selbstbild aufgenommen (vgl. BROCHER 1971, 41ff., 68ff.; OERTER/MONTADA 2002, 686f.; ZIMBARDO/GERRIG 2004, 615).
Die Adoleszenz (17 – 21 Jahre):
Die Themen der Pubertät setzen sich im Jugendalter fort, Freundschaften und Beziehungen werden dauerhafter und die Liebesfähigkeit reift heran. Die körperliche Reife und Sexualität wird angenommen und soziale Rollen werden neu bestimmt. Die Loslösung von den Eltern schreitet mit Zunahme der Identitätsgewinnung fort (vgl. BROCHER 1971, 48ff., 75ff.; OERTER/MONTADA 2002, 686f.).
Erwachsenenalter (ab 21 Jahren):
Die Fähigkeiten zu Lust und Liebe entwickeln sich weiter und differenzieren sich je nach Lebensumständen (vgl. BROCHER 1971, 54ff.; OERTER/MONTADA 2002, 686f.).
Ich möchte den Begriff „Pubertät“ näher erläutern, da er in meiner Arbeit eine zentrale Rolle spielt.
Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bezieht sich auf die Zeit der eintretenden Geschlechtsreife. Er bezeichnet die Entwicklungsphase des Menschen zwischen Kindheit und Erwachsensein und umfasst die Reifung der primären sowie die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale als äußeres Kriterium, die Erfahrung der sexuellen Erregbarkeit und die Verarbeitung der daraus resultierenden physischen und psychischen Empfindungen als inneres Kriterium (vgl. RETT 1981, 134).
Allerdings ist „Pubertät“ in der Fachliteratur keine einheitlich gebrauchte Bezeichnung. Die durch gesteigerte Produktion von Sexualhormonen gesteuerten körperlichen Veränderungen vollziehen sich interindividuell unterschiedlich zwischen dem zehnten und achtzehnten Lebensjahr. Der Begriff „Pubertät“ kennzeichnet in erster Linie die biologisch-körperlichen Reifungsvorgänge, während die Jugendpsychologie den Begriff Adoleszenz (lat. Jugendalter) für die seelische Verarbeitung der körperlichen Reifeentwicklung verwendet (vgl. WALTER 1996b, 160f.). Ich werde diese Trennung nicht vornehmen.
Wissenschaftler teilen den Prozess des Erwachsenwerdens in drei Phasen. Nach unserem soziokulturellen Alltagsverständnis müssen Heranwachsende die sexuelle, psychische und soziale Reife erlangen, wobei die sexuelle Reife abhängig vom individuellen Gesundheitszustand, Ernährung, Kultur, sozialer Schichtzugehörigkeit, vererbbaren Konstitutionen und dem Klima ist (vgl. ACHILLES 2005, 40; WALTER 1996b 160f.).
Bei Mädchen macht sich die beginnende Pubertät durch folgende körperliche Veränderungen bemerkbar: Hüftrundung, Brustentwicklung, Scham- und Achselbehaarung, Menarche, Zunahme an Körpergröße und -gewicht. Das Wachstum kann zu vorübergehenden Disproportionen führen und bringt einschneidende körperliche Veränderungen mit sich, die psychisch verarbeitet werden müssen (vgl. WALTER1996b, 160).
In dieser sogenannten „Reifezeit“ (WALTER 1996b, 160) wird zumeist angenommen, dass die Jugendlichen mehr oder weniger parallel zur körperlichen Geschlechtsreife eine psychische Entwicklungskrise durchmachen, in der sie „als trotzig, unsicher, labil und aggressiv erregbar gelten.“ (WALTER 1996b, 160). Die psychischen Veränderungen können dabei allerdings zeitlich verschieden von den körperlichen Entwicklungsprozessen verlaufen, was zusätzliche Verunsicherung für die Heranwachsenden bedeutet.
Die psychische und soziale Entwicklung findet in vielen Bereichen statt. Besonders die Herausbildung eines stärkeren Ich-Bewusstseins und das Bedürfnis nach zunehmender Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Integration in Gruppen Gleichaltriger sei hier genannt. Ebenso entsteht der Wunsch nach persönlichen Bindungen und der Ausbildung einer Geschlechterrolle mit ersten Sexualkontakten (vgl. BROCKHAUS Bd. 22 2006, 253ff.). Es ist „die Zeit der ,Ich-Findung'“ (ACHILLES 2005, 40).
Diese Phase ist einerseits von Krisen geprägt, bietet aber andererseits auch die Chance der Neustrukturierung der Persönlichkeit. Typisch sind Stimmungsschwankungen, Wechsel zwischen aktivem Verhalten und lustloser Lethargie, Arroganz und Überheblichkeit und egozentrischer Widerstand gegen Autoritäten. Ebenso charakteristisch sind das Wichtignehmen des eigenen Aussehens und das pauschale Ablehnen oder überkritische Prüfen der Werte und Gedankensysteme der Erwachsenen. Insgesamt ist „auffälliges Verhalten“ in dieser Phase Alltag. Zugleich werden neue Strategien, gerade in Bezug auf die Sexualität, ausprobiert und erworben (vgl. DITTLI/FURRER 1996, 33; KIECHLE/WIEDMAIER 1998 34f.; WALTER 1996b, 162f.).
Im Folgenden werde ich zunächst die Sexualität der Menschen m.B.d.g.E. im Allgemeinen betrachten, bevor ich auf Aspekte der Sexualität bei Mädchen m.B.d.g.E. im Speziellen eingehe.
Wer von Sexualität und Beeinträchtigung spricht, läuft Gefahr, die Wörter zu einem neuen Begriff zu verschmelzen - „beeinträchtigte Sexualität“ - und damit Wertmaßstäbe zu setzen, die mit den verwendeten Wörtern einzeln nichts zu tun haben.
Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und Sexualität ist die Verbindung zweier Lebensbereiche, um deren Realisierung in der Vergangenheit ein großer Bogen gemacht wurde. Über Jahrzehnte hinweg wurde das Thema Sexualität in Verbindung mit Menschen m.B.d.g.E. totgeschwiegen und nicht zuletzt „bekämpft“. Es wurde geleugnet oder versucht, durch Maßnahmen wie die Trennung von Frauen und Männern, Zwangsjacken bei Masturbation, Medikamente oder Kastration die Sexualität aus den Einrichtungen und dem Leben dieser Personengruppe herauszuhalten (vgl. BEIJAERT 1974, 35f.).
Diese Einstellung hat sich glücklicherweise grundlegend geändert. Heute gibt es eine Menge positiver Ansätze und überwiegend eine bejahende Grundeinstellung zur Sexualität von Menschen m.B.d.g.E.
Juristisch gesehen kann das Recht auf Sexualität aus dem Grundgesetz (BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG 2001) hergeleitet werden. Aus Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (13), sowie Artikel 3, Absatz 3: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (13) und Artikel 2, Absatz 1: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ (13), lässt sich das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ableiten. WALTER (1996a, 37) bezieht sich außerdem auf Artikel 1 der UNO-Deklaration über die Rechte von Menschen m.B.d.g.E: „Der Geistigbehinderte hat die gleichen Grundrechte wie jeder andere Bürger seines Alters und seines Landes.“ Dies schließt für ihn das Recht auf Sexualität mit ein. Auch gemäß den Forderungen des Normalisierungsprinzips gehört zum Recht auf Leben und Entwicklung der Persönlichkeit das Recht auf die Teilhabe am sexuellen Leben.
Auch SCHRÖDER (1996, 129f.) stellt fest, dass „Behinderung“ nicht automatisch mit „behinderter Sexualität“ (SCHRÖDER 1996, 129) gleichzusetzen ist, sondern dass prinzipiell der sexuelle Aspekt der Persönlichkeit bei Menschen mit und ohne Beeinträchtigung „behindert“ sein kann, sei es, weil sie ihre Wünsche, Träume und Phantasien aus unterschiedlichen Gründen nicht leben können oder dürfen oder weil ihre Liebe nicht erwidert wird, wobei das Risiko dafür durch eine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung vergrößert wird.
Dabei spielt die gesamtgesellschaftliche Einstellung eine bedeutende Rolle. Unser Verhalten und Erleben ist zu einem bedeutenden Teil von Normen geprägt, die zwar kulturell und gesellschaftlich bedingt und damit auch prinzipiell hinterfragbar sind, die wir aber so internalisiert haben, dass sie uns nicht ohne weiteres bewusst sind (vgl. SCHMETZ 1998, 19ff.). Dies ist auch in Bezug auf die Sexualität so. Den Idealvorstellungen unserer Gesellschaft von allem, was mit Sexualität zu tun hat, werden Menschen m.B.d.g.E. meistens nicht gerecht. Sie entsprechen in den meisten Fällen weder den in der Öffentlichkeit propagierten Idealen von Schönheit, Jugend und Leistungsfähigkeit noch wird ihnen genug Möglichkeit geboten, ihr „auch andersartig erscheinende(n)[s] Sexualleben“ in das „ohnehin sexualfeindliche(n) Normensystem“ zu integrieren (SCHRÖDER 1996, 131).
In der Gesellschaft gibt es folglich zwei Hauptaspekte, auf Grund derer Sexualität und Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung tabuisiert wird.
Zum einen ist es die Sexualität im Allgemeinen, denn die Gesellschaft tut sich schwer mit diesem Thema. Selbst in den Familien wird häufig alles, was in den Bereich der Sexualität fällt, verdrängt, da Hemmungen und häufig auch Unsicherheiten ein offenes Gespräch verhindern. Sexualität wird aber nicht nur in den Familien tabuisiert, sondern auch und vor allem in der Öffentlichkeit.
PASTÖTTER (in: MARTIN 2006, 55) spricht von einer Gesellschaft die nur „scheinaufgeklärt“ ist. Wir werden zwar täglich in der Werbung und den Medien mit Sexualität konfrontiert, das tatsächliche Wissen über Sexualität dagegen ist extrem gering, die Illusion, etwas zu wissen, dagegen groß.
Der zweite Aspekt besteht in der Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung an sich. Eine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung ist eine Erscheinung, der viele Menschen in der Gesellschaft hilflos und mit Vorbehalten gegenüberstehen. Die Gesellschaft fühlt sich - auch heute noch - unsicher im Umgang mit Menschen m.B.d.g.E. SPORKEN (1974, 76) resümiert, dass Sexualität von Menschen m.B.d.g.E. ein doppeltes Tabu wachruft, sowohl gegenüber der Tatsache des Beeinträchtigtseins als auch gegenüber der Sexualität. Diese gesellschaftliche Ablehnung der Sexualität von Menschen m.B.d.g.E. führt dazu, dass man diese einfach ignoriert bzw. die Lebensumstände so repressiv gestaltet, dass die Sexualität nicht zum Ausdruck kommen kann (vgl. KIECHLE/WIEDMAIER 1998, 43ff.).
Dies zeigt sich unter anderem darin, dass Menschen m.B.d.g.E. weitaus seltener in Beratungsstellen kommen als andere Menschen. Sie erfahren durch ihre Beeinträchtigung und den Umgang anderer damit Einschränkungen und Beeinträchtigungen in ihrem Leben, insbesondere in ihrem Sexualleben, die oft als eine „selbstverständliche“ Folge der Beeinträchtigung betrachtet werden. Dabei handelt es sich aber meistens um Einschränkungen, die mit gesellschaftlichen Denkmustern und Strukturen zu tun haben und nicht originär durch die Beeinträchtigung vorgegeben sind. PRO FAMILIA (2002, 5) stellt dazu fest, dass „familiäre, institutionelle oder öffentliche Bedingungen und Umgangsformen wie fehlende Sexualerziehung, eingeschränkte Intimsphäre, Tabuisierung der sexuellen Bedürfnisse, Vorurteile und der Zwang zu reibungsloser Alltagsorganisation“ ein selbstbestimmtes Sexualleben verhindern.
Dabei ist die Sexualität im gesamten Leben eines Menschen von großer Bedeutung (s.a. Kapitel 2.3). Es kann zwar von denselben Grundbedürfnissen ausgegangen werden, dennoch ist das Sexualverhalten von Menschen m.B.d.g.E. nicht mit den Maßstäben nichtbeeinträchtigter Menschen zu messen. Das „Besondere“ liegt in der Ungleichzeitigkeit bzw. Differenz von körperlicher und psychisch-intellektueller Entwicklung. Zeigen sich in der körperlich-sexuellen Entwicklung bis auf wenige Ausnahmen keine Unterschiede, verläuft die intellektuell-kognitive Entwicklung hingegen langsamer und kann längere Zeit oder auch lebenslang auf einem Niveau stagnieren (s.a. Kapitel 3.3.3). So sind die sexuellen Bedürfnisse und Wünsche von Menschen mit Beeinträchtigung genauso unterschiedlich oder so gleichartig wie die von allen anderen Menschen auch. Sie wollen positive körperliche, soziale und emotionale Erfahrungen machen und als ganzer Mensch akzeptiert werden. Sie wünschen sich Freundschaften, Partnerschaft, haben Sehnsucht nach Liebe und Lust. Das muss nicht in erster Linie Geschlechtsverkehr bedeuten, sondern kann auch einfach heißen, Zärtlichkeit zu erfahren, gemocht zu werden, jemanden außer den Eltern zu haben, der/die sich auf einen freut.
SPECK (1996, 20) geht davon aus, dass es dieser Austausch von Zärtlichkeiten ist, den Frauen und Männer m.B.d.g.E. im Zusammensein vor allem suchen, durch den sie ganz unmittelbar erleben können, dass sie geliebt werden und lieben können. „Das Alleinsein mit der eigenen Behinderung, das eigentlich Schwere an ihr, wird dabei offensichtlich aufgehoben.“
Demnach spielt der volle Geschlechtsakt eine geringere Rolle. Studien belegen, dass nur ca. 10 Prozent der erwachsenen Menschen m.B.d.g.E. zum vollen Koitus in der Lage sind (vgl. ACHILLES 2005, 67; SPECK 1996, 21; WALTER 1994, 17) und sich genitaler Infantilismus unter anderem bei den meisten Männern und auch bei einigen Frauen mit Down-Syndrom zeigt. Zwar sind hier die Geschlechtsorgane und -merkmale im Allgemeinen voll entwickelt, es besteht allerdings keine Zeugungsfähigkeit. Trotzdem sollte dies in Bezug auf Verhütung mit Vorsicht betrachtet werden, denn einige Fälle von Mutterschaft und ein Fall von Vaterschaft bei Down-Syndrom waren nach RÖMER (1995, 15f.) und WALTER (1994, 17) Mitte der 90er Jahre bekannt. RÖMER (1995, 15) spricht außerdem davon, dass die Sexualentwicklung bei Frauen mit Down-Syndrom meistens etwas verzögert ist.
Nachweisbare Unterschiede bei der Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigungen und Nichtbeeinträchtigten gibt es nach HOYLER-HERRMANN (1994, 18) nur in drei Bereichen: durch häufigere Masturbation, geringeres Sexualwissen und weniger Koituserfahrungen. Trotz dieser Erkenntnis und weil wohl davon auszugehen ist, dass ein großer Teil der Bevölkerung kaum mit Menschen m.B.d.g.E. in Berührung kommt und keine differenzierten Vorstellungen von der Sexualität dieser Menschen hat, hielten und halten sich ihnen gegenüber zahlreiche Vorurteile.
WALTER (1996a, 32ff.) spricht von drei verschiedenen Typen in Bezug auf Vorurteile gegenüber der Sexualität von Menschen m.B.d.g.E:
Die Theorie des „Wüstlings“ überbetont und dramatisiert die Sexualität von beeinträchtigten Menschen. Nach ihr ist die Vorstellung, Menschen m.B.d.g.E. könnten eine Sexualität entwickeln, mit Angst und Schrecken in der Gesellschaft verbunden, denn es entsteht die Annahme, dass diese Sexualität eine rein animalische sei, die nur der Befriedigung des Triebes diene. So folgert SCHRÖDER (in: WALTER 1996a, 33) ironisch: „Man erwartet, dass Geistigbehinderte, wenn die in ihnen lauernde Energie einmal angeregt worden ist, als sexuelle King-Kongs maß- und hemmungslos herumwüten und unsere nichtbehinderten Kinder und Frauen bedrohen und gefährden.“ Auf Grund ihrer verminderten Intelligenz scheint die Gesellschaft auszuschließen, dass für Menschen m.B.d.g.E. eine kontrollierte und angemessene Sexualität möglich ist. Dies ist insofern gefährlich, da jede sexuelle Regung und Beteiligung (z.B. die Masturbation) unterdrückt und zum Teil mit harten Strafen geahndet wird.
Das Vorurteil des „klebrigen Distanzlosen“ wird durch fehlende verbale Kommunikation und/oder eine Fehldeutung der nonverbalen Kontaktaufnahme genährt. Da viele Menschen m.B.d.g.E. sich verbal nur sehr schwer verständigen können, kommt ihrer Körpersprache bzw. der nonverbalen Kommunikation zur Äußerung ihrer Gefühle und Bedürfnisse ein sehr hoher Stellenwert zu. „Geistig Behinderte können häufig ihre Zuneigung nicht in entsprechender Weise mit Worten ausdrücken und sind darauf angewiesen, Gestalt und Gesten ihres Körpers als Ausdrucksmittel zu verwenden.“ (HUBER 1996, 23). Diese körperliche Kontaktaufnahme und „Körpersprache“ werden leider häufig sexuell fehlgedeutet als „ungeordnete oder gar aggressive Sexualität.“(HUBER 1996, 23).
Menschen mit schwerer Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung müssen sich laut WALTER (1996a, 32) oft dem Vorurteil des „unschuldigen Kindes“ stellen. Ihnen wird dadurch eine Sexualität komplett versagt, sie werden als Kleinkind ohne sexuelle Bedürfnisse angesehen. Menschen m.B.d.g.E. sind aber keineswegs geschlechtslose Wesen, die körperliche und damit geschlechtliche Entwicklung verläuft in den meisten Fällen altersgemäß und unabhängig von intellektuellen Faktoren (s.a. Kapitel 3.3.3), auch wenn sie von der Gesellschaft häufig so angesehen und behandelt werden (vgl. auch ADAM 1990, 218). Dabei ist es außerordentlich wichtig, dass Menschen m.B.d.g.E. von der „ewigen Kinderrolle“, in die sie leicht hineingedrängt werden, für sich und andere sichtbar zum Erwachsenen werden.
All diese Vorurteile sind inzwischen widerlegt, sexuelle Fehlhandlungen und Perversion sowie rücksichtsloses und aggressives Sexualverhalten kommen sogar seltener als bei durchschnittlich begabten Jugendlichen vor. Bei Menschen m.B.d.g.E. waren äußerst selten ein krankhafter Sexualtrieb, sondern fast immer ein Milieuschaden oder Verwahrlosungserscheinungen die Ursachen für Sexualstraftaten. Oft war auch einfaches Neugierverhalten der Grund für sexuelle Fehlhandlungen, meistens erklärbar aus einer elterlichen „over-protection-Haltung“ und Abschirmung vor der „feindlichen Außenwelt“, oder es handelte sich schlichtweg um eine bewusste oder unbewusste Fehlinterpretation der Umwelt (vgl. HOYLER-HERRMANN 1994, 18).
Menschen m.B.d.g.E. sind also durch ihre Unwissenheit oder auch ihre unzureichende sexuelle Erziehung unsicher, unbeholfener und hilfloser als Nichtbeeinträchtigte. Sie sind aber durchaus fähig, ihre sexuellen Triebe und Wünsche zu kontrollieren und zu beherrschen. Manchmal brauchen sie etwas länger, bis sie nachempfinden und verstehen können, was ihnen sexuell möglich wäre und sind dadurch oft erst als Erwachsene fähig, ein ihnen entsprechendes Sexualleben zu gestalten (vgl. PRO FAMILIA 1998, 10).
Zusammengefasst kann man sagen, dass sich die Sexualität von Menschen m.B.d.g.E. prinzipiell nicht von der Sexualität Nichtbeeinträchtigter unterscheidet. Wenn Menschen m.B.d.g.E. Probleme mit ihrer Sexualität haben, liegt es an ihrer gesamten Lebenssituation, die beeinträchtigt ist, an einer Fehlsteuerung von Grundbedürfnissen durch das soziale Umfeld. Sie sind damit das „Spiegelbild“ allgemeiner gesellschaftlicher Reaktionen. „Geistigbehinderte Menschen [haben] ... keine sexuellen Probleme, außer denen, die die Gesellschaft und die Umwelt für sie macht oder hat.“ (OFFENHAUSEN 1995, 53; vgl. HAHN 1996, 111ff.).
Was für Nichtbeeinträchtigte zum Bereich Sexualität gehört, ist für Menschen m.B.d.g.E. nicht selbstverständlich (Partnerschaft, Rückzug, Freizeitaktivitäten). Auch hier ist die Ursache in einem Zusammenwirken mehrerer Faktoren zu suchen, nicht ausschließlich und monokausal in der Beeinträchtigung. „Es liegt nun an uns, ob die Sexualität Behinderter eine behinderte Sexualität ist - und wie lange sie’s noch bleiben wird.“ (WALTER 1996a, 37).
[...]
[1] Sexualerziehung wird im folgenden synonym mit Sexualpädagogik verwendet.
[2] Auf die ICF-Klassifikation der WHO werde ich später noch näher eingehen.
[3] Menschenwürde ist „der unverlierbare, geistig-sittliche Wert eines jeden Menschen um seiner selbst willen.“ (BROCKHAUS Bd.18 2005, 257). Sie ist nach Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unantastbar. Die Unantastbarkeit bedeutet die Unzulässigkeit jeglicher Missachtung der Menschenwürde, wie z.B. eine erniedrigende Behandlung oder eine Behandlung des Menschen als bloßes Objekt. Das Leben von Menschen m.B.d.g.E. galt nicht immer als lebenswert, sie wurden in der nationalsozialistischen Zeit im Zuge der Euthanasie umgebracht, in Anstalten verwahrt und erst in den sechziger Jahren kam es zu einer offiziellen Anerkennung ihres Lebensrechtes (vgl. SPECK 2005, 72ff.). Trotzdem ist die Diskussion nicht beendet, denn durch immer neue Kürzungen im Pflegebereich, die Möglichkeiten der genetischen Reproduktion und die Pränataldiagnostik ist die Frage nach dem Wert menschlichen Lebens neu entfacht.
[4] Sigmund Freud (1856-1939) gilt als Begründer der Psychoanalyse. Er legte eine erste umfassende Theorie einer fortschreitenden Sexualentwicklung des Kindes vor, mit der er auch die normale und anormale Persönlichkeitsentwicklung erklären wollte. Freud beschreibt den Verlauf der sexuellen Entwicklung des Kindes in Phasen. Störungen in einer dieser Phasen führen nach Freuds Auffassung zu spezifischen Persönlichkeits- und Sexualstörungen. Allerdings gelten zumindest einige der von Freud in seiner Theorie der Psychoanalyse aufgestellten Thesen mittlerweile als widerlegt. Kritisiert werden heute vor allem seine Theorie des Penisneids sowie seine Ausführungen zum sexuellen Erleben der Frau (vgl. ZIMBARDO/GERRIG 2004, 13f., 614f.).
[5] Im Folgenden: BVL.
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