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Bachelorarbeit, 2020
59 Seiten, Note: 1,3
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Multiple Sklerose
1.1.1 Epidemiologie
1.1.2 Ätiologie und Pathogenese
1.1.3 Krankheitsverlauf und Symptome
1.1.4 Therapiemöglichkeiten
1.2 Cannabis
1.2.1 Endocannabinoidsystem
1.2.2 (Phyto-) Cannabinoide
1.3 Pharmazeutische Cannabis-Produkte
1.3.1 Nabiximols (Sativex®)
1.3.2 Andere cannabinoidhaltige Arzneien
1.4 Zielstellung der Arbeit
2 Studie zur Untersuchung der Wirksamkeit und Sicherheit einer Add-On-Therapie mit Nabiximols (Sativex®) bei MS-bedingter Spastik
2.1 Beschreibung der Studie
2.1.1 Studienablauf
2.1.2 Fallzahlkalkulation und Stichprobenauswahl
2.1.3 Studien- und Begleitmedikation
2.1.4 Endpunkte und statistische Methoden
2.2 Ergebnisse der Studie
2.2.1 Primäranalyse
2.2.2 Sekundäranalyse
2.2.3 Sicherheit und Verträglichkeit
2.3 Diskussion der Studie
2.3.1 Studiendesignund-ablauf
2.3.2 Studienpopulation
2.3.3 Wirksamkeit
2.3.4 Sicherheitund Verträglichkeit
3 Persönliches Statement und Ausblick
4 Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Abb. 1: Überblick über die an der Pathogenese der MS beteiligten Bestandteile des Immunsystems
Abb. 2: Schematische Darstellung der Verlaufsformen der MS
Abb. 3: Stufenschema zur Spastik-Therapie
Abb. 4: Vereinfachte Darstellung der Signalübertragung an eCB-Synapsen
Abb. 5: Effekte von THC
Abb. 6: Effekte von CBD
Abb. 7: Darstellung des zeitlichen Studienablaufs
Abb. 8: 0-10 Spastik-NRS-Werte im Verlauf der Studie
Tab. 1: Die häufigsten MS-Symptome im Überblick
Tab. 2: Orale Antispastika
Tab. 3: Ein- und Ausschlusskriterien
Tab. 4: Demographische und Baseline-Charakteristika der Patienten
Tab. 5: Überblick aller von der randomisierten Studienpopulation verwendeten Antispastika
Tab. 6: Ergebnisse der primären Wirksamkeitsanalyse
Tab. 7: Überblick über Ergebnisse der sekundären Wirksamkeitsanalysen
Tab. 8: Unerwünschte Ereignisse
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Multiple Sklerose (MS), in der medizinischen Fachsprache auch alsEncephalomyelitis Disseminatabekannt, ist eine chronisch-entzündlich verlaufende, demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) (Wiendl et al., 2010). MS ist ein deskriptiv gebildeter Begriff und äußert sich in Form von verstreut auftretenden („multiple“) entzündlichen Vernarbungen („Sklerose“) im Gehirn und im Rückenmark (Warnke et al., 2019). Ätiologisch lässt sich die MS am ehesten gemäß der autoimmunologischen Genese klassifizieren (Limmroth, 2006). Die Krankheit ist gekennzeichnet durch die graduell fortschreitende Zerstörung der fokalen Myelinscheiden, den axonalen Verlust sowie die zeitlich disseminierte Verteilung der Läsionen (Limmroth, 2006; Kip et al., 2016).
Die MS stellt eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen imjungen Erwachsenenalter dar (Baumhackl, 2012). Das durchschnittliche Manifestationsalter der Krankheit zeigt bei den meisten Patienten einen deutlichen Erkrankungsgipfel zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Ein Krankheitsbeginn im Kindes- und Jugendalter ist durchaus möglich, ist aber eher selten der Fall. Mit Blick auf die Krankheitshäufigkeit im höheren Alterjenseits des 45. Lebensjahres wird ein kontinuierliches Gefälle dokumentiert, wobei dennoch die Möglichkeit einer Erstmanifestation der MS bis in die 8. Lebensdekade hinein besteht (Flachenecker etal., 2018a).
Jede Altersgruppe lässt zusätzlich eine eindeutige Geschlechterverteilung feststellen. Demnach sind Frauen, ähnlich wie bei anderen Autoimmunerkrankungen, etwa doppelt bis dreifach häufiger betroffen als Männer (Stängel et al., 2018; Rauer et al., 2013). Ursächliche Annahmen bezüglich der geschlechtsspezifischen Suszeptibilität sind bisher umstritten. Es ist naheliegend, dass das unterschiedliche hormonelle Profil der Geschlechter Einfluss auf das Immunsystem hat, welche Frauen empfänglicher für die Erkrankung macht. Darüber hinaus wird vermutet, dass eine Korrelation zwischen dem derzeit ansteigenden Raucheranteil bei Frauen und dem erhöhten MS-Risiko besteht (Flachenecker et al., 2018a).
Die MS weist global eine ungleichmäßige Verteilung auf, d. h. abhängig vom Standort zeigen sich erhebliche Unterschiede in der Prävalenz und Inzidenz. Weltweit geht man von schätzungsweise 2,5 Millionen MS-Patienten aus (Flachenecker et al., 2018a). Mit einer Gesamtzahl von etwa 122.000 MS-Erkrankten zählt Deutschland zur Gruppe mit dem höchsten Erkrankungsrisiko (Hein et al., 2000). Mit zunehmender Nähe zum Äquator nimmt das Erkrankungsrisiko ab, wohingegen die Zahl der MS-Kranken in Richtung der Erdpole steigt. Stark vertreten zeigt sich die Erkrankung in westlichen Industrienationen. Folglich schwankt die Prävalenzrate in Europa zwischen 100 bis 120 Patienten pro 100.000 Einwohner (Egli, 2011). Die Anzahl an Neuerkrankungen liegt bei 2-5 Patienten pro 100.000 Einwohner (Flachenecker et al., 2018a).
Obwohl seit vielen Jahren weltweit intensive Forschungsarbeiten laufen, ist die Ursache der MS bisher noch unbekannt. Es gibt Hinweise auf eine multifaktorielle Genese, d. h. eine Kombination aus begünstigenden Erbanlagen sowie Umwelteinflüssen, die zur Fehlreaktion des körpereigenen Immunsystems führen.
Auch wenn eine genetische Prädisposition als ursächliche Option angesehen wird, ist die MS keine klassische Erbkrankheit, die von den Eltern an das Kind weitergegeben wird. Die genetische Komponente erscheint daher interessant, da familiäre Häufungen von MS- Erkrankungen beobachtbar sind. So können Verwandte 1. Grades von MS-Patienten mit einem 20-fach erhöhten Risiko ebenfalls an MS erkranken alsjene der Normalbevölkerung, wobei die Konkordanzrate bei monozygoten Zwillingen sogar bei 25-30% liegt (Stängel et al., 2018). Mit hoher Wahrscheinlichkeit scheint es zusätzlich eine Assoziation mit dem humanen Leukozyten-Antigen (HLA) DR2b zu geben, welches die Krankheitsentstehung beeinflusst (Wiendl et al., 2010). Den stärksten bekannten Risikofaktor stellt hierbei das major histocompatibility complex dar, welcher auf Chromosom 6 liegt und für das Kodieren der HLA verantwortlich ist (Oksenberg et al., 1993).
Neben genetischen Einflüssen stehen auch Umweltfaktoren als potentielle Auslöser zur Diskussion. Zur Liste verdächtiger Faktoren der umweltspezifischen Ursachen der MS zählen Studien zufolge unter anderem die Höhe des Vitamin-D-Spiegels, der abhängig vom Ausmaß an Sonnenexposition ist, oder ökologische Faktoren wie Klima, Erdboden und Ernährungsverhalten. Auch regelmäßiges Rauchen führt zu einer negativen Beeinflussung der MS-Prävalenz (Wiendl et al., 2010). Des Weiteren konnten Zusammenhänge zwischen MS und infektiösen Triggern festgestellt werden. Mehrere Studien geben Hinweise, dass die Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) bzw. eine Anamnese der infektiösen Mononukleose im Jugendalter das MS-Risiko erhöht. Somit konnten viele der Patienten mit MS eine positive EBV-Serologie aufweisen (Warnke et al., 2019).
Auch wenn bezüglich des initialen Auslösers der MS-Erkrankung keine Gewissheit besteht, existieren plausible Szenarien der Pathogenese der MS. Demnach deutet die inflammatorische Reaktion gegen Strukturproteine des Myelins durch autoreaktive T- und B-Lymphozyten sowie Plasmazellen im ZNS am ehesten auf autoimmunvermittelnde Mechanismen hin (Kip et al., 2016a; Wiendl et al., 2010). Entgegen bisheriger Auffassungen, dass die MS eine rein demyelinisierende Erkrankung darstellt, drängt das hohe Ausmaß an axonalem Verlust zur Revision. Heute ist bekannt, dass infolge axonaler Schädigung die Unterbrechung der saltatorischen Erregungsleitung, die durch die Demyelinisierung bedingt ist, dauerhaft bleibt. So zeigt der klinische Befund, dass die axonalen Destruktionen nicht nur terminale Endstrecken der Entzündungsreaktion sind, sondern bereits früh in der Erkrankungsphase auftreten und mit der klinisch-neurologischen Krankheitsausprägung korrelieren (Limmroth, 2006; Kornek et al., 2000). Demzufolge sind das pathologische Korrelat der MS diffus gestreute Entmarkungsherde (Plaques), die einerseits durch entzündlich-demyelinisierende Läsionen mit Verlust an Oligodendrozyten und andererseits durch neurodegenerative Veränderungen in Form von axonalem Verlust gekennzeichnet sind. Die Prädilektionsstellen der Plaques sind disseminiert verteilt und befinden sich bevorzugt periventrikulär, im Hirnstamm, im Kleinhirn, im Rückenmark sowie in den Sehnerven (Warnke et al., 2019).
Die Illustration in der folgenden Abbildung 1 zeigt, dass die Gehirnsubstanz durch eine dichte endotheliale Barriere, der sog. Blut-Hirn-Schranke (BHS), vom peripheren, systemischen Immunkompartiment abgegrenzt wird, wodurch ein unkontrollierter Stoffaustausch von Zellen des adaptiven Immunsystems, so auch von Lymphozyten, aus der Peripherie ins ZNS verhindert wird (Warnke et al., 2019).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Überblick über die an der Pathogenese der MS beteiligten Bestandteile des Immunsystems (verändert nach Kleinschnitz et al., 2007).
1: Aktivierung autoreaktiver T-Lymphozyten (T) in der Peripherie durch Präsentation antigenpräsentierender Zellen (APZ) entgegen regulatorischer T-Zellen(TReg).
2: B-Zell-Aktivierung (B) bedingt Autoantikörperbildung (Abs).
3: Transendotheliale Migration begleitet von Adhäsionsmolekülen durch BHS.
4: Makrophagen (MF)-Aktivierung infolge der Sekretion von Interferon y (INFy) und Tumornekrosefaktora(TNFu) durch reaktivierte T-Zellen und Produktion der Autoantikörper verursacht Demyelinisierung.
5: AxonaleDegeneration.
6: Apoptose der T-Zellen.
Eine Präexistenz von autoreaktiven myelinspezifischen T-Lymphozyten kann sowohl im Blut gesunder Menschen als auch bei MS-Patienten verzeichnet werden (Krumbholz et al., 2018). Anders als im gesunden Immunrepertoire kommt es bei der MS zur peripheren Aktivierung der T-Lymphozyten mittels einer Interaktion antigenpräsentierender Zellen (APZ) mit der Folge einer klonalen Expansion entgegen immunologischer Kontrollmechanismen. Der initiale Faktor, der die T-Zell-Aktivierung auslöst, ist bisher nicht identifiziert (Warnke et al., 2019; Stängel et al., 2018). Die Aktivierung der T-Zellen bewirkt über eine erhöhte Expression von Adhäsionsmolekülen (z. B. Integrine und Selektine) an der Oberfläche eine Interaktion mit den Endothelzellen der BHS, sodass chemokin- und zytokin-vermittelt der Eintritt in das Hirnparenchym gewährt wird. Infolge der Invasion aus der Peripherie werden die mononukleären Entzündungszellen erneut durch im Hirngewebe beständige APZ, vornehmlich miteingewanderte Mikroglia, dendritische Zellen und Makrophagen, reaktiviert (Wiendl et al., 2010; Stängel et al., 2018). Die reaktivierten T-Lymphozyten leiten weiter die vermehrte Sekretion von proinflammatorischen Mediatoren (INFy, TNF«) sowie die Stimulation von Endothel- und Gliazellen (z. B. Makrophagen und Astrozyten) ein. Dadurch wird eine immunologische Attacke gegen die Myelinscheide und Axonhülle eingeleitet. Ferner werden auch myelinreaktive B-Lymphozyten, eine (Auto-)Antikörper-bildende Zellpopulation, aktiviert, sodass die Antikörper ebenfalls das Axon direkt angreifen (Stängel et al., 2018). Das Zusammenwirken von T- und B-Zellen führt dazu, dass eine gegen die Myelinscheide gerichtete Entzündungsreaktion mit astrozytärer Phagozytose von Oligodendrozyten und konsekutiver Remyelinisierungsstörung induziert wird. In dem Zusammenhang kommt es zu neuralen Ausfällen und der klinischen Symptomatik (Deckert et al., 2004). Pathogenetischen Daten zufolge kann die parallele Aktivierung von antiinflammatorischen Zytokinen eine Apoptose der infiltrierten T-Zellen auslösen. Demnach kann vermutlich im Anfangsstadium der Erkrankung der Entzündungsprozess noch reguliert werden (Stängel et al.,2018).
Der MS ist keine einheitliche Verlaufsform zuzuordnen, die auf alle Patienten zutrifft. Grundsätzliches Merkmal sind das Vorkommen der Symptome in Schüben sowie eine chronische Progredienz (Stängel et al., 2018). So ist der Krankheitsbeginn von etwa 80% der Erkrankten mit Schüben gekennzeichnet, wobei die Schubrate mit der Krankheitsdauer zunimmt. Ein Erkrankungsschub wird definiert als das Auftreten neuer oder die Verschlechterung bereits bestehender neurologischer Dysfunktionen über eine Mindestdauer von 24 Stunden (Heckl, 1994). Dabei muss eine Änderung der Körpertemperatur im Rahmen einer Infektion als Ursache ausgeschlossen sein. Auch eine kurzzeitige Verschlechterung infolge einer Hitzeexposition (Uhthoff-Phänomen) ist nicht als Schub zu werten (Stängel et al., 2018). Auf einige schubbegleitete Tage bis Wochen folgen Phasen mit substanzieller oder gar kompletter Remission der Symptomatik (Wildemann et al., 2019). Bei Dysfunktionen, die eine Dauer von länger als 6 Monaten aufweisen, ist von einer Irreversibilität auszugehen (Yaldizli et al., 2011). Der zeitliche Abstand von zwei Schüben schwankt inter- und intraindividuell, wobei ein MS-Patient ohne Therapie durchschnittlich alle 1,5 bis 2 Jahre einen Schub entwickelt (Wiendl et al., 2010; Yaldizli et al., 2011). Ein Mindestabstand zwischen zwei Schubereignissen von 30 Tagen muss verzeichnet werden, da das Auftreten eines weiteren Defizits innerhalb eines Monats zum selben Schub zählt (Baumhackl, 2012). Die Intervalle zwischen zwei Schüben verlaufen meistens beschwerdefrei (Pusswald et al., 2011).
Je nach Dissemination in Zeit und Ort der Symptome werden klinisch vier Verlaufsformen, dargestellt in Abb. 2, unterschieden:
-Schubförmig remittierender Verlauf (RR-MS):Bei ca. 85% der Betroffenen ist der Beginn der Erkrankung klinisch durch einen schubförmigen Verlauf charakterisiert (Pusswald et al., 2011). Diese Form präsentiert sich durch klar abgrenzbare Erkrankungsschübe mit vollständiger Rückbildung der Symptomatik (Abb. 2a) oder verbleibenden Residuen, wobei zwischen zwei Schüben eine Krankheitsprogression auszuschließen ist (Abb. 2b) (Flachenecker et al., 2018b).
-Primär chronisch progredienter Verlauf (PP-MS):Nur 10-15% der Betroffenen, meistens Patienten im höheren Erkrankungsalter, leiden von der ersten Symptommanifestation an unter einer progredienten Verschlechterung der neurologischen Defizite ohne Remissionen (Abb. 2c). Die Möglichkeit kleinerer Fluktuationen wie Plateaus und geringfügiger Verbesserung kann bestehen (Abb. 2d) (Sommer, 2007; Yaldizli et al., 2011). Abgrenzbare Schübe entfallen bei dieser seltenen Verlaufsform (Yaldizli et al., 2011).
-Sekundär chronisch progredienter Verlauf (SP-MS):Bei etwa 50% der Betroffenen mit RR-MS erfolgt nach einer Krankheitsdauer von 10-15 Jahren eine Konversion in den sekundär chronisch progredienten Verlauf (Sommer, 2007). Patienten mit 20-jähriger Krankheitsdauer entwickeln sogar in bis zu 90% diese eher ungünstige Verlaufsform (Tremlett et al., 2009). Nach einigen Schüben folgt eine Phase persistierender Verschlechterungen der klinischen Symptomatik, ohne (Abb. 2e) oder mit gelegentlichen Schüben und geringfügig superponierten Remissionsphasen (Abb. 2f) (Flachenecker et al., 2018b).
- Progredient schubförmiger Verlauf (PR-MS):Diese Form zeichnet sich durch einen von der Erstmanifestation an sukzessiv progredienten Verlauf mit gleichzeitig aufgesetzten komplett (Abb. 2g)- oderteilremittierten (Abb. 2h) Schüben aus (Lublin et al., 1996).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Schematische Darstellung derVerlaufsformen der MS (Wildemann et al., 2019).
Der Behinderungs- und Schweregrad, die Schubrate und -dauer im Zeitraum von 5 Jahren sind prognostische Marker für die Beurteilung des weiteren Krankheitsverlaufs (Flachenecker et al., 2018b).
Die klinische Präsentation der Symptomatik gestaltet sich angesichts der verstreuten Lokalisation der MS-typischen Läsionen im ZNS phänotypisch als äußerst heterogen, sodass es kein Symptom gibt, das spezifisch für die MS wäre (Kip et al., 2016a). Vielmehr kann das Krankheitsbild fast jede neurologische Ausfallserscheinung beinhalten. Erst in Kombination gelten sie als charakteristisch für die MS. Die zeitlich-prozesshafte Entwicklung der Erkrankung ist geprägt durch einen Wandel der Symptomatik. Während Krankheitserscheinungen wie Optikusneuritis, Paresen und Sensibilitätsstörungen zu Erkrankungsbeginn dominieren, steigt im Krankheitsverlauf die Auftretenshäufigkeit der Symptome wie Spastik, zerebellärer Ataxie, partieller Optikusatrophie und Verlust der Bauchhautreflexe. Auch neurokognitive Defizite und psychische Beschwerden wie Fatigue und Depression zählen zu den initialen Krankheitszeichen (Köhler et al., 2018). Grundsätzlich treten diese Symptome anfänglich isoliert auf, wobei Kombinationen nicht auszuschließen sind (Heckl, 1994).
Die Angaben zur Häufigkeitsverteilung neurologischer Symptome sind in der Literatur uneinheitlich, dennoch lassen sich die mit einer MS assoziierten Symptome wie in der folgenden Tabelle 1 einteilen:
Tab. 1: Die häufigsten MS-Symptome im Überblick (verändert nach Hoffmann et al., 2018).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Spastik-Symptom:
Spastizität zählt mit etwa 80% betroffenen Patienten zu den häufigsten Krankheitszeichen im Rahmen der MS (Wiendl et al., 2010). Die Spastik wird definiert als eine motorische Störung, die durch eine Zunahme der tonischen Dehnungsreflexe mit gesteigerten Muskeleigenreflexen in Abhängigkeit von der passiven Bewegungsgeschwindigkeit entsteht. Diese Störung resultiert aus der zentralen Enthemmung des myotatischen Reflexbogens (Köhler et al., 2018; Kesselring, 1993). Infolge der Steigerung des muskulären Widerstands gegen Zug wird die Mobilität betroffener Patienten durch Schmerzen, Verlangsamung einzelner Bewegungen, erhöhte Muskelspannung mit dauerhafter Ausprägung oder plötzlichem Auftreten, Verlust der motorischen Geschicklichkeit, Verkrampfungen und Fehlstellungen bis zur vollständigen Hemmung der Bewegung stark eingeschränkt (Hoffmann, 2018). Grundsätzlich kann, je nach Lokalisation der entzündlichen Herde im ZNS, an jedem Muskel bzw. an jeder Muskelgruppe der verschiedenen Extremitäten die Spastik eintreten. Im Fall der MS sind die Beine wesentlich stärker von der motorischen Schwäche betroffen als die Arme. Der Gang bei spastischen Patienten ist durch eine Spitzfußstellung gekennzeichnet (Kesselring, 1993). Gesunde zeigen keine reflektorischen Dehnungswiderstände, sodass anhand der empfindlichen Reaktion der Muskelspindeln bei Armbeugung und Beinstreckung die Diagnose leicht aufzustellen ist (Buchmann et al., 2007).
Eine Veränderung der Ausprägung einer Spastik ist sowohl im Tagesverlauf als auch im längerfristigen Verlauf der MS möglich, wobei das Ausmaß in Abhängigkeit von der aktuellen körperlichen Belastung inbegriffen einer körperlichen Ruhe, dem Trainingszustand und dem seelischen Befinden zu beurteilen ist. Aufgrund der Tatsache, dass Spastik kein statisches, sondern oft ein höchst dynamisches Symptom darstellt, erbringt eine Messung der Spastik immer nur eine Momentaufnahme. Demzufolge sind zur Ermittlung des Ausmaßes mehrere Messungen in belastenden und ruhenden Situationen erforderlich. Die diesbezüglich zur Verfügung stehenden Messmethoden erweisen sich hinsichtlich einer Urteilsfällung, abgesehen von der einfachen Durchführung, als nicht befriedigend im Sinne von starker Subjektivität und Ungenauigkeit. Zusätzlich bedarf es der Klarstellung, dass die gleiche Spastik bei unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Einschränkungen als Folge haben kann (Henze, 2013).
Spastik entsteht durch ein gestörtes Gleichgewicht zwischen afferenten exzitatorischen und deszendierenden inhibitorischen Verbindungen, das nach Schädigung des Rückenmarks aufgrund disseminierter zerebraler und spinaler Herde im Bereich der Pyramidenbahnen bei gleichzeitiger Läsion der extrapyramidalen Bahnen auftritt (Voges, 2012; Buchmann et al., 2007; Köhler et al., 2018). Als Pyramidenbahn definiert man die Efferenz des Motorkortex zu den Muskeln im Körper. Das extrapyramidalmotorische System reguliert durch Hemmwirkung den Muskeltonus und die Muskeleigenreflexe. Durch die Schädigung in den Bahnen kommt es sowohl zum Ausfall der hemmenden Einflüsse des extrapyramidalen Bahnsystems als auch zur Steigerung des Einflusses von Muskelefferenzen, welche die Muskelkontraktion überaktivieren (Limmroth, 2006).
Die medikamentöse Therapie durch antispastische Substanzen versucht entweder durch eine Supression des exzitatorischen Systems oder eine Förderung der inhibitorischen Mechanismen die Imbalance derBahnsysteme auszugleichen (Schwarz, 2018).
Die MS-Erkrankung ist nach wie vor nicht heilbar. Es existieren jedoch wirksame Therapieansätze, die die Krankheitsaktivität abschwächen, den Krankheitsverlauf beeinflussen und die Symptome der Erkrankung behandeln können (Kip et al., 2016b). Wegen der Komplexität des Krankheitsbildes besteht die Notwendigkeit einer maßgeschneiderten Therapie für jeden einzelnen MS-Patienten, abhängig vom Krankheitsstadium, Behinderungsgrad, von der vorherrschenden Symptomatik und weiteren krankheitsimmanenten Faktoren (Hoffmann, 2018).
Die Therapie der MS lässt sich in drei Optionen mit individueller Anpassung und Kombination unterteilen. Man unterscheidet die Therapie des akuten Schubes, die verlaufsbeeinflussende Therapie und die Therapie einzelner Symptome. Die symptomatische Therapie der MS erlaubt Patienten neben einer Prophylaxe von inaktivitätsbedingten Komplikationen, unter den gegebenen Umständen den höchst- und bestmöglichsten Grad an Lebensqualität in Bezug auf Unabhängigkeit und Selbstständigkeit zu erreichen. Demnach erweist sich die Behandlung von Symptomen gegenüber der pathophysiologisch ansetzenden Therapiemöglichkeiten von überragender Bedeutung (Hoffmann, 2018).
Insbesondere die adäquate Behandlung der Spastik-Symptomatik wird als therapeutisch herausfordernd angesehen. Zur Therapie der Spastik zeigt das in Abb. 3 dargestellte Stufenschema eine Möglichkeit der bewussten Spastik-Kontrolle im Sinne Tonusnormalisierender Maßnahmen (Hoffmann, 2018; Gamper et al., 2011).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Stufenschema zur Spastik-Therapie (verändert nach Hoffmann, 2018).
Ordinate: zunehmende Spastik, Expanded Diability Status Skala (EDSS) und Immobilisierung. Physiotherapie als Basismaßnahme mit Indizierung bei allen Schweregraden der Spastik. Alle weiteren Therapiemöglichkeiten sind im Sinne einer Eskalationstherapie zu verstehen.
Von wesentlicher Relevanz ist die in allen Schweregraden der Spastik indizierte physiotherapeutische Basismaßnahme als Ergänzung zur medikamentösen Spastik- Behandlung im Sinne einer Eskalationstherapie. Bezüglich des Einsatzes von antispastischen Medikamenten bedarf es zunächst einer Abklärung, ob es sich im Einzelfall, um eine medikamentös therapiebedürftige Spastik handelt. So kann die derzeitige Arzneimitteltherapie häufig mit einer Schwächung der vorhandenen Muskelkraft verbunden sein. Bei schwachen Patienten dient die Spastik einer Stützfunktion für z. B. paresebedingt verlorene Geh- und Stehfähigkeit (Hoffmann, 2018; Wiendl et al., 2010). Demzufolge steht im Vordergrund der Therapie meist statt der objektiv messbaren Verbesserung, die subjektive Besserung der Beschwerden.
Bei leichter bis mittelschwerer Spastik werden in der Regel orale Antispastika eingesetzt, wie bspw. der y-Aminosäure (GABA)-Agonist Baclofen sowie der a2-RezePtoragonist Tizanidin (Wiendl et al., 2010). Wenn eine stark ausgeprägte Spastik nicht auf orale Antispatika anspricht, besteht die Möglichkeit der Gabe von parenteralen Antispastika, wie z. B. Botulinumtoxin bei lokalen Spastiken, intrathekalem Baclofen bei spastischer Paraparese sowie intrathekalem Triamcinolon bei Spastik bedingter Gangstörung. Die operative Therapie der Spastik kommt nur in äußerst seltenen Fällen bei Unzugänglichkeit der bestehenden Maßnahmen für z. B. Sehnenverlängerungen oder operative Gelenkmobilisation infrage (Hoffmann, 2018; Henze et al., 2013).
Tab. 2 gibt einen Überblick über die gebräuchlichsten Antispastika, ihre Wirkprinzipien und typische Nebenwirkungen. Die unterschiedlichen Wirkprinzipien haben gemeinsam, dass alle keinen Einfluss auf die Erregungsübertragung an der motorischen Endplatte haben (Hoffmann, 2018).
Tab. 2: Orale Antispastika (verändert nach Hoffmann, 2018).
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Bei fehlender Wirksamkeit und nach Ausschöpfung dieser oralen antispastischen Therapieoptionen für teilweise behandlungsresistente Patienten kann bei therapierefraktärer Spastizität bei MS, eine Add-on-Behandlung mit Cannabinoiden in Erwägung gezogen werden. Die Zusatztherapie mit Nabiximols (Beschreibung folgt in separatem Kapitel) eröffnet eine neue Ära bezüglich der oralen Antispastika bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik (Henze etal.,2013).
Die Hanfpflanze, mit lateinischem GattungsnamenCannabis sativa L.,kurz Cannabis genannt, gehört ebenso wie die Gattung Hopfen der Familie der Hanfgewächse (Cannabaceae) an. Hanf ist grundsätzlich eine diözische (zweigeschlechtliche) Pflanze, d. h. es gibt sowohl weibliche als auch männliche Pflanzen, die wiederumjeweils weibliche und männliche Blüten tragen (Grotenhermen et al., 2017). Die getrockneten Blüten und Blätter der weiblichen Hanfpflanze, bekannt als Marihuana, und das von den Drüsen abgegebene und getrocknete Harz, auch Haschisch genannt, zählen zu den häufigsten Formen des pflanzlichen Cannabis. Die Pflanze kann mit mehr als 420 verschiedenen Inhaltsstoffen aufwarten, wobei die Cannabinoide mit 60 chemisch identifizierten Vertretern, eine der wichtigsten Stoffgruppen bilden.
Die Potenz von Cannabis wird anhand des Gehalts eines der bedeutendsten Cannabinoide, dem A9-Tetrahydrocannabinol (THC), beurteilt (Schneider et al., 2019a). Die männlichen Pflanzen sind aufgrund ihrer THC-Wirkstoffarmut weniger von therapeutischer Bedeutung, als ihr weibliches Gegenstück, wobei wiederum die Blüten einen höheren THC-Gehalt als die Blätter aufweisen. Demzufolge werden Cannabisprodukte aus der weiblichen Hanfpflanze gewonnen, da sie wesentlich mehr wirksame Cannabinoide in relevanten Mengen enthält. Hinsichtlich der Auswahl einer Sorte für den pharmakologischen Gebrauch bildet der prozentuale Anteil an THC und Cannabidiol (CBD), ein Vorläufer des THC, eine solide Grundlage (Grotenhermen et al., 2017). Zur Wirkungsentfaltung binden die pflanzlich-extrahierten exogenen Cannabinoide an bestimmte Rezeptor-Typen eines körpereigenen Systems.
Das Endocannabinoidsytem (eCB-System) ist ein komplexes, physiologisches Regulationssystem mit weitreichender Verbreitung sowohl im ZNS als auch im gesamten Körper. Dieses System besteht aus Cannabinoid-Rezeptoren (CB-Rezeptoren) und Endocannabinoiden mit ihren synthetisierenden und abbauenden Enzymen (Steiner et al., 2006a). Die wichtigste modulatorische Funktion des eCB-Systems äußert sich in der Reduzierung einer Überaktivität sowohl hemmender (z. B. GABA) als auch erregender (z. B. Glutamat) Neurotransmittersysteme im Gehirn. So kommt es zur Aufrechterhaltung der Homöostase im Nervensystem (Schneider etal., 2019b).
Tierexperimentelle Arbeiten konnten nachweisen, dass eine Gewebsschädigung zur Aktivierung des eCB-Systems führt. Dabei werden die verursachten Störungen durch die Veränderung der Menge der normalerweise produzierten Endocannabinoide oder der Anzahl der CB-Rezeptoren ausgeglichen (Grotenhermen, 2006; Grotenhermen, 2004a). Folglich kann eine externe spezifische Beeinflussung des eCB-Systems bspw. durch Zufuhr pflanzlicher Cannabinoide, die die Konzentration von Endocannabinoiden beeinflussen, bei Erkrankungen wie der MS eine wichtige Rolle spielen (Grotenhermen et al., 2017).
Die Wirkung der pflanzlichen, synthetischen oder endogenen Cannabinoide im ZNS und im Körper läuft über spezifische Bindungsstellen an der Oberfläche vieler Zelltypen, die durch 7 Transmembrandomäne-Rezeptoren charakterisiert sind. Diese Bindungsstellen bezeichnet man als CB-Rezeptoren, welche der Gruppe der metabotropen G-Protein gekoppelten Rezeptoren angehören. Identifiziert wurden bisher zwei bezüglich ihrer Signalmechanismen verschiedene Rezeptoren, der CBi- und CB2-Rezeptor (Radbruch et al., 2005).
Der CBi-Rezeptor verzeichnet eine besonders hohe Dichte auf den Nervenzellen im Gehirn, vor allem in den Basalganglien, im Rückenmark und im peripheren Nervensystem, aber auch in peripheren Organen und Geweben. Eine Aktivierung der CBi-Rezeptoren, die vor allem in der präsynaptischen Membran von Neuronen exprimiert werden, schützt das Nervensystem vor einer Überaktivierung oder einer Inhibition durch Interaktion mit verschiedenen Neurotransmittern in Hinblick auf motorische Kontrolle, Gedächtnisprozesse, Emotion, Appetit und Schmerz- und Sinnesmodulation (Grothenhermen, 2006). Bezüglich der Motorik beruht die Modulation auf den deszendierend hemmenden Systemen des Rückenmarks, sodass antispastische Wirkungen induziert werden (Pryce etal., 2012).
Der CB2-Rezeptor ist hauptsächlich in Immunzellen (Makrophagen, T- und B-Lymphozyten usw.) und Mikrogliazellen vorzufinden (Grotenhermen et al., 2017). Werden CB2- Rezeptoren aktiviert, beinhaltet ihre Funktion die Hemmung der Zellproliferation und Zytokinfreisetzung von Immunzellen in Arealen mit akut ablaufenden Entzündungsprozessen sowie deren Migration. Somit wird über eine zusätzliche Induktion von regulatorischen T-Lymphozyten eine überschüssige Immunreaktion vermieden. Sie zählen bei chronisch entzündlichen und degenerativen Nervenerkrankungen so zu den interessanten Wirkstofftargets (Grotenhermen et al., 2017; Steiner et al., 2006b).
Mit der Identifikation der CB-Rezeptoren lag es nahe, dass körpereigene Liganden, sog. Endocannabinoide, existieren, die an diese Rezeptoren binden (Grotenhermen et al., 2017).
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