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Bachelorarbeit, 2022
54 Seiten, Note: 1,0
1 Einleitung
2 Begriffserklärung
2.1 Familie
2.2 Gewalt
2.3 Häusliche Gewalt
3 Familiale Gewalt gegen Kinder
3.1 Formen von familialer Gewalt gegen Kinder
3.1.1 Physische Gewalt
3.1.2 Psychische und emotionale Gewalt
3.1.3 Sexuelle Gewalt
3.1.4 Vernachlässigung
3.2 Auswirkungen von Gewalterfahrungen in der Kindheit
3.2.1 Gefühle der Kinder
3.2.2 Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung
3.2.3 Generationale Weitergabe der Gewalt
3.2.4 Parentifizierung
3.2.5 Häusliche Gewalt als Trauma für Kinder
3.3 Ursachen und Risikofaktoren zur Entstehung häuslicher Gewalt
3.4 Prävalenz der familialen Gewalt gegen Kinder
3.5 Gesetzliche Grundlage
4 Bewältigungsstrategien
4.1 Resilienz
4.1.1 Begriffsbestimmung
4.1.2 Ressourcen und Schutzfaktoren
5 Häusliche Gewalt im Kontext der Corona-Pandemie
5.1 Corona-Pandemie
5.2 Kindeswohlgefährdung und familiale Gewalt an Kindern im Lockdown
6 Hilfe und Unterstützung - Prävention & Interventionen
6.1 Prävention
6.2 Interventionen und Hilfsangebote für betroffene Kinder und Familien
6.2.1 Ressourcenaktivierung
6.2.1.1 Aktivierung personaler Ressourcen
6.2.1.2 Aktivierung sozialer Ressourcen
6.2.1.3 Förderung und Entwicklung familiärer Ressourcen
6.2.2 Handlungsmöglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe
6.2.2.1 Diverse Hilfsangebote für betroffene Kinder und Familien
7 Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im Leben eines jeden Menschen spielt die Familie eine sehr wichtige Rolle. Familie sollte für jedes Kind ein sicherer Hafen sein; ein Ort, an dem Kinder Liebe, Fürsorge, Schutz und Geborgenheit erhalten. Doch dies entspricht leider nicht der Realität aller Kinder und viele Kinder erleben Familie als ein soziales Gebilde, das von Gewalt, Vernachlässigung und Lieblosigkeit geprägt ist. Die Tatsache ist, dass unzählige Kinder Gewalt in der Familie miterleben und zum Opfer häuslicher Gewalt werden. Plötzlich wird die Institution Familie zu einem Ort der Angst, an dem kein Schutz für das Kind mehr zu finden ist, was gravierende Auswirkungen hat.
Viele Menschen denken zuerst an die Gewalt in Partnerschaften erwachsener Personen, insbesondere die Gewalt gegen Frauen durch ihre männlichen Partner, wenn sie an häusliche Gewalt denken. Jedoch findet innerfamiliale Gewalt auch in anderen Beziehungskonstellationen statt. Häusliche Gewalt umfasst hauptsächlich zwei Arten von Gewalt: die Gewalt zwischen Beziehungspartnern und die generationsübergreifende Gewalt, zu der es im Allgemeinen zwischen Eltern und Kindern kommt. Insbesondere Kinder werden Opfer von familialer Gewalt und dennoch oft als Opfer vergessen. Die vorliegende Arbeit beleuchtet vor allem die häusliche Gewalt gegen Kinder durch ihre Eltern. Ist im Kontext dieser Arbeit von der Gewalt zwischen den Eltern und dem Miterleben von den Kindern der Gewalt in der Familie die Rede, richtet sich der Fokus insbesondere auf die Kinder, die unter der Gewalt gegen die Mutter durch den Vater leiden. Grund dafür ist, dass es in Partnerschaften überwiegend zu der Gewalt gegen Frauen, ausgeübt durch den männlichen Partner, kommt und viele Kinder dadurch mitansehen müssen, wie ihre Mutter misshandelt wird.
Zum einen kann sich die Gewalt in Familien direkt gegen Kinder richten. Zum anderen können Kinder Mitbetroffene häuslicher Gewalt in ihren Familien sein, indem sie die Gewalt zwischen ihren Bezugspersonen zu Hause miterleben. Familiale Gewalt gegen Kinder äußert sich in vielen Formen. Sie reicht von psychischer Gewalt, Vernachlässigung, dem bloßen Miterleben der Gewalt zwischen den Familienmitgliedern bis zu physischer Gewalt und sexueller Gewalt. Kinder, die von Gewalterfahrungen betroffen sind, befinden sich in einer belastenden Lebenssituation, die gravierende, schädliche Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung hat. Neben den körperlichen Verletzungen und psychischen Folgen, die durch die häusliche Gewalt entstehen können, sind die Kinder einem erhöhten Risiko ausgesetzt, selbst auch im späteren Verlauf ihres Lebens Gewalt auszuüben. Neben den Belastungen, Herausforderungen und Auswirkungen, die für Kinder im Kontext häuslicher Gewalt entstehen, konnte die Resilien- zforschung verschiedene Faktoren aufzeigen, die Kinder und deren Eltern in der Bewältigung dieser Lebensumstände unterstützen. Die vorliegende Arbeit soll einen genaueren Einblick in diese Thematik ermöglichen und potenzielle Hilfemaßnahmen aufzeigen.
Die Bachelorarbeit beschäftigt sich mit dem Thema Kinder als Opfer von häuslicher Gewalt und der damit verbundenen Frage, inwiefern sich häusliche Gewalt auf den Entwicklungsprozess des Kindes auswirkt und wie man betroffene Kinder stärken kann.
Dazu werden zu Beginn der Arbeit die Begriffe „Familie“, „Gewalt“ und „häusliche Gewalt“ erklärt, was für die Bearbeitung der Fragestellung essenziell ist. Darauf aufbauend soll die familiale Gewalt gegen Kinder betrachtet werden. Darin wird auf die Formen von Gewalt in der Familie, insbesondere der physischen, psychischen, sexuellen Gewalt und der Vernachlässigung eingegangen. Außerdem werden die Auswirkungen von Gewalterfahrungen in der Kindheit verdeutlicht. Solche familiären Lebensumstände wirken sich auf die Gefühlslage der Kinder aus, haben Folgen für die kindliche Entwicklung und können ein Trauma für Kinder darstellen. Zudem wird auf die Weitergabe der Gewalt über Generationen und auf die Parentifizierung eingegangen. Ferner werden die Risikofaktoren zur Entstehung der häuslichen Gewalt, die Prävalenz der familialen Gewalt gegen Kinder und die gesetzliche Grundlage erläutert. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird die mögliche Bewältigungsstrategie der Resilienz, die genutzt werden kann, vorgestellt. Hierbei folgt zunächst eine Begriffsbestimmung und anschließend eine Darstellung von Ressourcen und Schutzfaktoren, die das Kind stärken und schützen. Das darauffolgende Kapitel behandelt die häusliche Gewalt an Kindern unter den Umständen der Corona-Pandemie, die im Jahr 2020 begann. Bereits zu Beginn der Pandemie wuchs die Sorge, dass es zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt gegen Kinder kommen könnte. Somit wirft dieses Kapitel einen Blick auf die Zahlen der Betroffenen und die Belastungen sowie dessen Auswirkungen auf die Kinder in dieser Zeit. Zuletzt werden präventive Angebote, Interventionen und verschiedene Hilfsangebote für die betroffenen Kinder und Eltern aufgeführt. Das Fazit bildet den Abschluss der Arbeit, in dem die wichtigsten Aspekte der Thematik zusammengefasst werden.
Es gibt viele Definitionsversuche, um den Begriff Familie zu erklären, doch eine einheitliche und allgemeingültige Definition gibt es nicht. Jeder Mensch bringt eigene Erfahrungen von Familie mit und viele denken bei dem Begriff zuerst an die Herkunftsfamilie, die Familie, bei der er aufgewachsen ist (vgl. Jungbauer 2014, 13). Es gibt viele unterschiedliche Betrachtungsweisen und Antworten auf die Frage, was Familie ist. Nave-Herz heißt ebendies für gut: nämlich, dass es keine konkrete Definition gibt. In Anbetracht der heutigen vielfältigen familialen Lebensformen würde laut der Autorin eine feststehende Definition neu entstehende Familienformen ausgrenzen (vgl. Nave-Herz 2002, 15).
„Eine einheitliche Auffassung darüber, was man als Familie und Verwandtschaft bezeichnet, gibt es weder im Alltag noch in der Wissenschaft. So werden häufig die Worte Familie und Verwandtschaft synonym gebraucht oder auch die kinderlose Ehe als Familie bezeichnet. [...] So wird z.B. unter gesamtgesellschaftlicher Sicht die Familie als eine soziale Institution bezeichnet, die bestimmte gesellschaftliche Leistungen erbringt bzw. zu erbringen hat. Mikroperspektivisch gilt die Familie als gesellschaftliches Teilsystem oder als eine Gruppe besonderer Art, die gekennzeichnet ist durch eine genau festgelegte Rollenstruktur und durch spezifische Interaktionsbeziehungen zwischen ihren Mitgliedern.“ (Nave-Herz 2001, 207)
Die Soziologie erläutert den Begriff aus unterschiedlichen Perspektiven und Zusammensetzungen innerhalb einer familialen Lebensform. Sie bestimmt, dass eine famili- ale Lebensform mindestens zwei Generationen umfasst. Offensichtliche Merkmale, wie ein gemeinsamer Haushalt oder die gemeinsame Verwandtschaft, werden als soziokulturelle Kennzeichen verordnet, die keine Voraussetzungen für eine familiale Lebensform bilden (vgl. Fuchs-Heinritz 1995, 197). Die Familie wird in der Soziologie aber auch in vielen weiteren Wissenschaften als soziale Institution verstanden, in die man von Geburt an eingebunden ist und die als selbstverständlich wahrgenommen wird (vgl. Nave-Herz 2004, 10).
Bei der Definition von Familie muss zum einen ein Blick auf die Weiterentwicklung und Veränderung von Familie geworfen werden sowie auf die Aufgabe von Familie.
Veränderung des Familienbegriffs
„Unter Familie verstehen die meisten Menschen [...] zunächst eine als Einheit gedachte Vater-Mutter-Kind-Konstellation.“ (Marx 2011, 19) Die vergangenen Jahrzehnte haben eine deutliche Veränderung jener Familienform gezeigt. Viele neue Lebensformen haben an Bedeutung gewonnen, z.B. Alleinerziehende, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern, gleichgeschlechtliche Paare mit oder ohne Kinder, Paare ohne Kinder, die nicht zusammenwohnen, jedoch füreinander sorgen (vgl. Seiffge-Krenke & Schneider 2012, 15 ff.). Die Bedeutung des Begriffs „Familie“ hat sich über die Jahre hinweg stark verändert. Heute gibt es viele Unterschiede von rechtlichen, gesellschaftlich-funktionalen, sozialen und subjektiv wahrgenommenen Familienvorstellungen (vgl. Marx 2011, 24). Das Bild und die Vorstellung von Familie ist heute individuell und kann völlig unterschiedlich interpretiert werden. Somit kann man sagen, dass Familie einer gesellschaftlichen Prägung unterliegt und individuell gestaltet wird. Des Weiteren variiert der Familienbegriff kulturell, historisch und theoretisch (vgl. Marx 2011, 19).
Sozialisation als Aufgabe
Wie bereits erwähnt, ist Familie eine soziale Institution. Als solche hat sie zunächst eine Sozialisationsaufgabe. Sozialisation bezeichnet einen Prozess, „[...] in dem der Mensch in die ihn umgebende Gesellschaft und Kultur hineinwächst und zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt wird.“ (Schäfers 2001, 321). Zu dem Zeitpunkt unserer Geburt sind wir auf unsere soziale Gruppe um uns herum angewiesen, anders als andere Lebewesen. Jene Hilfsbedürftigkeit bezieht sich nicht nur auf materielle, sondern auch auf emotionale Zuwendung. Ein Entzug an liebevoller, emotionaler Zuwendung würde dem Säugling die Lebensgrundlage entziehen und die Existenz gefährden. In der Soziologie wird diese Lebensphase auch als die „zweite, soziokulturelle Geburt“ bezeichnet, die im primären Sozialisationsprozess zu leisten ist (vgl. Schäfers 2001, 321).
Um den Begriff „Häusliche Gewalt“ zu definieren, bedarf es zunächst einer Klärung des Gewaltbegriffs.
„Gewalt“ ist kein eindeutig definierbarer Begriff und nicht einfach zu formulieren. Die Formen von Gewalt sind vielschichtig. Überdies unterlag der Gewaltbegriff historisch vielfältigen Wandlungen. Gewalt erscheint im alltäglichen Gebrauch einfach, ist jedoch ein komplexes Phänomen, das in seiner Definition von verschiedenen Einflüssen und Wertungen abhängig ist. Gewisse Gewalthandlungen waren beispielsweise früher Bestandteil des Alltags, wohingegen einige zum heutigen Zeitpunkt strafbar sind, wie z.B. die körperliche Züchtigung von Kindern. Diese wurden lange Zeit als alltäglich angesehen, doch sie sind heutzutage in Deutschland strafbar. Je nach theoretischem Hintergrund wird der Begriff unterschiedlich verstanden und ist von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig (vgl. Dlugosch 2010, 17 ff.). „Was als Gewalt oder als Gewalthandlung angesehen wird, hängt von der Kultur und den sozialen Umständen, in denen die handelnden Personen leben, ab.“ (Günter, Wörgötter 2012, 49) Gewalt ist eine von außen gerichtete Handlung, die sich immer gegen andere Menschen und deren Willen richtet und eine direkte physische sowie psychische Einwirkung auf den anderen hat (vgl. ebd.).
Auch wenn keine einheitliche Definition von Gewalt möglich ist, gibt es viele Möglichkeiten, Gewalt zu definieren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert diesen Begriff wie folgt: „Gewalt ist der tatsächliche oder angedrohte absichtliche Gebrauch von physischer oder psychologischer Kraft oder Macht, die gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft gerichtet ist und die tatsächlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“ (WHO 2002, URL).
Dem Gewaltforscher Jan Philipp Reemtsma zufolge ist Gewalt „[...] zunächst physische Gewalt, der Übergriff auf den Körper eines anderen ohne dessen Zustimmung. »Zunächst« heißt, dass sich auch unsere Vorstellung von nichtphysischer Gewalt an physischer orientiert, sogar im Dementi: Oft sei die Drohung »schlimmer als« die Ausführung, sagt jemand und unterstreicht damit, wie schlimm sie ist.“ (Reemtsma 2009, 104). Ebenso beschreibt der Autor, dass für die psychische Gewalt auch die physische der Maßstab ist, an der sich die Vergleichsmaßstäbe orientieren. Dies bekräftigt er mit dem Beispiel des Vergleichs eines Abschiedes und einer gewaltsamen Trennung. Beides „schmerzt“ und „tut weh“. „Wenn wir unsere Seele über ihr Leid sprechen lassen wollen, geben wir ihr einen Körper, über dessen Malträtiertsein sie klagen kann.“ (ebd.).
Der Autor erklärt, dass Gewalt immer etwas mit dem Übergriff auf den Körper eines anderen, ohne dessen Erlaubnis, zu tun hat und dass jegliche Form von Gewalt stehts physische Gewalt ist. Das heißt psychische Gewalt ist immer zugleich physische Gewalt.
"Mit dem Begriff häusliche Gewalt werden verschiedene Formen der Gewaltanwendung zwischen Familienmitgliedern bezeichnet, die in der Regel im gleichen Haushalt zusammenleben. Häusliche Gewalt umfasst körperliche und seelische Verletzungen in unterschiedlichen Abstufungen. Meist ist sie Ausdruck eines Machtgefälles zwischen Täter und Opfer." (Jungbauer 2014, 145)
Nach Schneider (1990, 508) meint familiäre oder häuslicher Gewalt „[...] physische, sexuelle, psychische, verbale und auch gegen Sachen gerichtete Aggressionen [...], die nach gesellschaftlichen Vorstellungen jener auf [gegenseitige] Sorge und Unterstützung ausgerichteten Erwartungshaltung zuwiderlaufen“.
Der Begriff „Häusliche Gewalt“ zählt eindeutig in den Bereich individueller Gewalt und ist charakterisiert durch die Ausübung von Gewalt durch einzelne Täter im sozialen Nahraum (vgl. Dlugosch 2010, 22). Häusliche Gewalt kann verschiedene Formen annehmen. Es kann sich dabei um Gewalt in Paarbeziehungen, Gewalt gegen Kinder, Gewalt zwischen Geschwistern, Gewalt der Kinder gegenüber den Eltern oder Gewalt gegen ältere Menschen in der Familie handeln. In der Regel existieren eine nahe emotionale Bindung und Abhängigkeit zwischen Täterin und Opfer (vgl. Dlugosch 2012, 144 f). Familiale Gewalt wird durch eine Bezugsperson (meist der Vater oder Stiefvater) ausgeübt und bedroht eine enge Bezugsperson (meist die Mutter) (vgl. Dlugosch 2012, 61). Da die Gewalt in Partnerschaften ein Tabuthema ist, ist die Dunkelziffer sehr hoch. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass ca. jedes vierte bis fünfte Paar davon betroffen ist (vgl. Bodenmann 2016, 243). „Ende der 1960er Jahre wurde das individuelle Problem häuslicher Gewalt weltweit mehr und mehr zum sozialen Problem umdefiniert.“ (Bals 2008, 99)
„Gewalt in der Familie hat es zu allen Zeiten gegeben, was sich verändert hat, ist die Einstellung zur Gewalt.“ (Nave-Herz 2002, 82) Bis vor etwa 30 Jahren blieb das Thema Gewalt sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft nahezu unbeachtet. Die Tabuisierung dieses gesellschaftlichen Problems könnte darauf zurückzuführen sein, dass noch bis vor einigen Jahrzehnten die Gewaltanwendungen im Familienbereich als legitim und als Erziehungsmittel galten. Damals galt sogar das elterliche Recht der körperlichen Züchtigung gegenüber Kindern. Zudem war das Idealbild der Familie eine gewaltfreie und liebevolle innerfamiliale Beziehung, wodurch eine andere Vorstellung gar nicht zugelassen und tabuisiert wurde (vgl. Nave-Herz 2002, 82 ff.).
Wenn in der Gesellschaft die Rede von häuslicher Gewalt ist, geht es fast immer automatisch um Gewalt von Männern gegen Frauen. Dies ist einerseits dem Männerbild unserer Gesellschaft verschuldet und liegt andererseits in der Geschichte der Thematisierung häuslicher Gewalt begründet, die einen Fokus auf Gewalt gegen Frauen hat. Zwar tritt die Gewalt gegen Frauen öfter auf und ist somit präsenter, jedoch ist es unstrittig, dass innerfamiliäre Gewalt auch als Gewalt gegen Männer durch ihre Partnerin oder ihren Partner auftritt (vgl. Dlugosch 2012, 25 ff.).
Die Aufmerksamkeit richtet sich bei „Häuslicher Gewalt“ fast ausschließlich auf Gewalt in Partnerschaften zwischen erwachsenen Personen und es kommt in vielen Definitionen häuslicher Gewalt selten die Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen explizit zum Ausdruck. Es bleibt oft unbeachtet, dass Kinder und Jugendliche indirekt betroffen sein können und sie als Zeugen der Gewalt zwischen ihren Eltern oder Bezugspersonen mitbetroffen sind oder direkte Gewalt durch die Eltern gegen deren Kinder angewendet wird (vgl. Gloor & Meier 2010, 19 f.).
Wenn es in einer Partnerschaft oder zwischen anderen Familienmitgliedern zu Gewalt kommt, bekommen die mit im Haushalt lebenden Kindern diese Gewalt sehr oft mit. Außerdem werden die Kinder, die Gewalt zwischen ihren familialen Bezugspersonen miterleben, häufig ebenfalls misshandelt. Gewalt kann direkt oder indirekt praktiziert werden. Die direkte Gewalt richtet sich ausschließlich gegen das Kind oder den Jugendlichen selbst. Die indirekte Gewalt richtet sich nicht gegen die Kinder und Jugendlichen selbst. Es handelt sich um das Wahrnehmen von Gewalt zwischen im gemeinsamen Haushalt lebenden Bezugspersonen. Auch wenn Kinder indirekte Gewalterlebnisse in der Kindheit machen und passiv beteiligt sind, sehen und erleben Kinder Gewalt direkt (vgl. Büttner 2020, 4 f.). Oft werden Kinder außer Acht gelassen, wenn sie nicht direkt von Gewalt betroffen sind, wobei das bloße Miterleben ebenso eine Gewaltform ist, die sich nachhaltig auf Kinder und Jugendliche auswirkt. Kinder können auch in solchen Fällen zu Opfern von der familialen Gewalt werden und benötigen genauso intensive Hilfe und Unterstützung wie direkte Opfer von Gewalt (vgl. Kaufmann 2013, 176).
„Das Miterleben von Gewalt liegt im Schnittpunkt zwischen Kindesmisshandlung und -Vernachlässigung und häuslicher Gewalt.“ (Gelles 2002, 1058) Kinder, die in einem Haushalt leben, der von Gewalt geprägt ist, können in unterschiedlicher Weise von der Gewalt im familiären Kontext betroffen sein. Obgleich die Kinder die Gewalterfahrungen ,nur‘ indirekt miterleben, betrifft die häusliche Gewalt die Kinder immer. Folglich werden Kinder, die Zeugen von Gewalt gegen ein Elternteil durch den anderen werden, selbst Opfer der Gewalt. Demzufolge stellt häusliche Gewalt gegen Frauen eine Form psychischer Gewalt gegen Kinder dar (vgl. Kaufmann 2013, 152). Oftmals nehmen die Eltern an, die Kinder würden nichts von der Gewalt mitbekommen, da sie nie dabei sind, weil sie geschlafen haben oder nicht im Raum anwesend waren zum Zeitpunkt der Gewalt. Jedoch schaffen familiale Gewaltanwendungen eine Atmosphäre in der Familie, die vor Kindern nicht versteckt werden kann. Darüber hinaus verursachen schon das Sehen und Hören von Gewalt für jedes Kind großes Leid. Dementsprechend sind sich Kinder der Gewalt bewusst, auch wenn sie nicht direkt an der Situation beteiligt sind (vgl. Dlugosch 2010, 38). Häufig werden Kinder und Jugendliche auch direkt in die Gewalthandlung involviert. Es kann passieren, dass Kinder mehr oder weniger zufällig Gewalttaten und Misshandlungen abbekommen, die eigentlich gegen die Mutter gerichtet waren, denn nicht selten versuchen Kinder die Mutter zu schützen und greifen dann ein (vgl. Dlugosch 2010, 39). Zusätzlich kann es auch dazu kommen, dass Kinder und Jugendliche mit ansehen müssen, wie Gewalt an den Geschwistern ausgeübt wird.
Oftmals wird die gegen die Kinder gerichtete Gewalt von den Müttern nicht erwähnt. Es wird davon ausgegangen, dass 30 - 60 % von Kindesmisshandlungen in einem Kontext von häuslicher Gewalt geschehen. Durch Resultate von Studien wurde sichtbar, dass auch sexuelle Gewalt gegen Kinder in 40 - 69 % der Fälle in diesem Kontext stattfinden (vgl. Sauermost 2010, 88). Für einige Kinder beginnt die Gewalt mit einer Zeugung durch die Vergewaltigung der Mutter durch den Kindsvater oder mit Misshandlungen gegen die Mutter während der Schwangerschaft, wie das Treten oder Schlagen auf den Bauch (vgl. Kaufmann 2013, 156). Außerdem erleiden jüngere Kinder häufiger Bestrafungen als ältere Kinder und Jungen häufiger als Mädchen (vgl. Bodenmann 2016, 259).
„[Doch unabhängig] davon, inwieweit Kinder involviert werden - in Gewaltverhältnissen aufzuwachsen bedeutet, in einem Milieu ständiger Angst, Unsicherheit, Ohnmacht und Überforderung zu sein.“ (De Andrade & Gahleitner 2020, 94)
Wenn es um häusliche Gewalt geht, haben viele Menschen körperliche Übergriffe, also physische Gewalt im Kopf. Doch auch die psychische Gewalt ist weit verbreitet. Zudem gibt es einige weitere Formen von Gewalt.
Familiale Gewalt gegen Kinder lässt sich in den Ausprägungsformen der psychischen oder emotionalen Gewalt, physischen bzw. körperlichen Gewalt, sexuellen Gewalt oder Vernachlässigung beschreiben. Diese unterschiedlichen Gewaltformen können gemeinsam oder einzeln auftreten; treten jedoch meist kombiniert auf (vgl. Bodenmann 2016, 241 f). Sie beginnen oftmals mit Drohungen oder verbaler Demütigung, eher niederschwellig, und steigern sich in der Häufigkeit und der Intensität. Es entsteht eine Gewaltspirale (vgl. Kaufmann 2013, 152).
„ Körperliche Misshandlungen sind Schläge oder andere gewaltsame Handlungen [...], die beim Kind zu Verletzungen führen können.“ (Hardt & Engfer 2012, 680)
Zu den physischen oder körperlichen Misshandlungen zählen z.B. Ohrfeigen, Schlagen mit Händen, Stiche, Peitschen, Stöße, Schleudern gegen die Wand, Schütteln eines Kleinkindes, Verbrennungen, Einklemmen in Türen oder Autofensterscheiben, Stiche, ins kalte Badewasser setzen und untertauchen, eigenen Kot essen und Urin trinken lassen, Würgen und Vergiftungen. Die Spannbreite ist weit (vgl. Deegener 2005, 37). Physische Gewalt äußert sich in einem körperlichen Angriff und führt je nach Schweregrad zu körperlichen Verletzungen (vgl. Bodenmann 2016, 241).
Körperliche Bestrafungen sind eine unselige Tradition zum Zweck einer gewünschten Verhaltensänderung. Bereits von der Antike bis zur Neuzeit wurden Kinder geprügelt, damit sie besser lernten oder besser arbeiteten. In Deutschland kam es im Jahr 2000 zu einer Änderung des § 1631 Abs. 2 BGB, durch die ein explizites Verbot körperlichen Züchtigung in Kraft trat. Nun heißt es darin, dass entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, unzulässig sind (vgl. Hardt & Engfer 2012, 681). Mittlerweile hat die körperliche Gewalt als Erziehungsmittel in den vergangenen Jahren abgenommen. Allerdings stieg dafür die Häufigkeit von Verbot und Entzug von Liebe als Bestrafung an (vgl. Bodenmann 2016, 259).
Folgen:
Die physische Gewalt führt, je nach Schweregrad, zu körperlichen Verletzungen (vgl. Jungbauer 2014, 145). Am häufigsten zu erkennen sind blaue Flecke (Hämatome), Striemen, Verbrennungen und Narben. Ein Hinweis auf die Misshandlung ist vor allem, wenn diese Verletzungen bei Säuglingen im Gesicht, am Mund, an den Augen, im Brustbereich oder auf dem Bauch auftreten. Ebenso kann es zu Schütteltraumen, inneren Verletzungen, Schädelbrüchen, Verbrühungen und Fesselungsspuren bei misshandelten Kindern kommen (vgl. Harnach 2021, 219).
„Jede Form des gewaltsamen Umgangs eines Menschen hinterlässt auch Spuren in seiner Seele.“ (ebd.) Gewalt von Menschen erdulden zu müssen, auf deren Schutz das Kind angewiesen ist, führt zu tiefen psychischen Verletzungen. Betroffene Kinder sind verängstigt und es folgen starke emotionale Probleme wie Angst, Depressionen, ein vermindertes Selbstwertgefühl und Gefühle des Abgelehntwerdens. Langfristig können auch gravierende Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentwicklung beobachtet werden (vgl. Harnach 2021, 220 f). Eine weitere langfristige Folge von physischer Misshandlung kann eine erhöhte Aggressionsbereitschaft bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sein sowie eine erhöhte Suizidneigung. Vor allem bei misshandelten Männern können Alkohol- und Drogenmissbrauch auftreten. Diese Auswirkungen sind nicht bloß den körperlichen Angriffen zuzuschreiben, denn sie sind vielmehr Folgen einer Familiensituation, in der Kinder auf Dauer zu wenig Liebe, Wärme und Förderung erfahren und ihnen stattdessen mit Bestrafung, Kritik und Überforderung begegnet wird. Daher ist dies zusätzlich als eine Form der emotionalen Misshandlung anzusehen (vgl. Hardt & Engfer 2012, 682 f.).
Psychische oder emotionale Gewalt meint seelische Misshandlungen und umfasst die Verletzung der psychischen Integrität und des Selbstwerts, z.B. durch Demütigungen, Erniedrigen, Drohen, Angstmachen (vgl. Bodenmann 2016, 241).
„Manche Formen der Gewalt sind extrem verletzend, doch äußere Spuren gibt es nicht.“ (Bartens 2020, 24) So ist dies der Fall bei der Anwendung von emotionaler Gewalt wie Kränkung, Erniedrigung, Missachtung. Diese Form der Machtausübung ist nicht nur schmerzhaft, sondern kann zu körperlichen Krankheiten führen. Diese Verletzungen der kindlichen Seele hinterlassen unsichtbare Narben. Somit darf auch diese Form der Gewalt keineswegs unterschätzt werden bezüglich der gesundheitlichen Folgen, da die Auswirkungen auf Psyche und Körper immens sind. In der Regel besteht ein asymmetrisches Verhältnis bei emotionalen Übergriffen zwischen Täter und Opfer. Will sich die betroffene Person gegenüber Bezugspersonen öffnen, diese wiederum ihre Missachtung zeigen, ist das besonders verletzend, da man plötzlich von denen verletzt wird, die man liebt und gerade deren Trost braucht (vgl. ebd.).
Anders als bei der physischen Gewalt, durch die sichtbare körperliche Verletzungen auftreten können, sind seelische Verletzungen, die durch das Ausüben von psychischer Gewalt entstehen, weniger gut sichtbar. Die Spuren psychischer Gewalt sind unsichtbar und für Außenstehende kaum wahrzunehmen (vgl. Jungbauer 2014, 145). Häufig gehen psychische Gewalt und körperliche Gewalt miteinander einher und werden somit gemeinsam ausgeübt. Oftmals fängt es mit psychischer Gewalt an, worauf die physische Gewalt folgt (vgl. Bodenmann 2016, 241 f). Doch auch das Wahrnehmen der Gewalt zwischen Eltern oder anderen Bezugspersonen wird als psychische Gewalt gegen Kinder interpretiert (vgl. Lamnek et al. 2012, 133).
Folgen:
Zunächst einmal kann psychische Gewalt nicht nur erhebliche seelische Folgen aufweisen, sondern schwere körperliche Auswirkungen haben (vgl. Hardt & Engfer 2012, 682) Psychische und emotionale Gewalt bedeutet Stress für den Körper. Man ist dauerhaftem Stress ausgesetzt, wenn psychische Misshandlung erlebt wird. Der Körper sendet ständig Alarmsignale und schüttet Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin aus. Dies schwächt Organe, lässt Arterien schneller verkalken und verhärten und beeinträchtigt die Immunabwehr (vgl. Bartens 2020, 29).
Zudem sind mögliche Folgen von psychischer Gewalt z.B. Scham- und Schuldgefühle, Ängste, Depressionen oder Suizidgedanken und sie kann die kindliche Entwicklung stören. Psychosomatische Folgen, die entstehen können, sind körperliche Beschwerden wie Migräne, Magenschmerzen oder Schlafstörungen. Die Auswirkungen psychischer Gewalt können für das Opfer ein Leben lang belastend sein (vgl. Jungbauer 2014, 145).
Des Weiteren kann es im häuslichen Umfeld auch zu sexuellen Übergriffen kommen. „Unter sexuellem Missbrauch wird jede Einbeziehung eines Kindes in eine sexuelle Handlung verstanden, für die es entwicklungsmäßig noch nicht reif ist, die es daher nicht überschauen kann und zu der es keine freiwillige Zustimmung geben kann und/oder die die sozialen und legalen Tabus der Gesellschaft verletzt.“ (Hardt & Eng- fer 2012, 683)
Sexualisierte Gewalt beginnt oftmals bereits im frühen Kindesalter und selbst Säuglinge werden nicht verschont. Ein Viertel der Kinder sind bei der ersten Belästigung unter sechs Jahre alt. Gerade bei innerfamiliärem Missbrauch bleibt es meist nicht nur bei dem einmaligen Missbrauch, sondern stellt häufiger eine Wiederholungstat dar. Harnach nimmt Bezug auf Finkelhor et al. (2009), der feststellt, dass bei Kindern, die in gewalttätigen Familien aufwachsen, ein sechsfach höheres Risiko für sexuelle Misshandlungen innerhalb und außerhalb der Familie besteht. Dabei ist der Missbrauch von den für die kindliche Entwicklung notwendigen Zärtlichkeitsausdruck wie Kuscheln, Schmusen, Umarmen und Streicheln abzugrenzen. Der Ausdruck von Zuneigung und (elterlicher) Liebe durch den Körperkontakt ist für das Kind notwendig und bedeutend. Wenn dies jedoch den sexuellen Lustgewinn beim Erwachsenen bezweckt, ist es ein Vergehen am Kind. Kinder sind sehr sensibel in der Unterscheidung dessen und bereits kleine Kinder erkennen, um welche Art von Zuneigung es sich handelt (vgl. Harnach 2021, 235, 237).
„Kinder, die sexuellen Missbrauch erleben, sind zusätzlich oft noch anderen Misshandlungen ausgesetzt.“ (Büttner 2020, 12) Bei sexuellem Missbrauch kommt es zugleich zur Anwendung von psychischer und/oder physischer Gewalt. Dabei nutzt der Täter seine Macht- und Autoritätsposition aus, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. Günter, Wörgötter 2012, 52). Hardt und Engfer (2012, 685) stellen fest, dass Mädchen etwa dreimal häufiger zu Opfern des sexuellen Missbrauchs werden als Jungen.
Folgen:
Wird ein Kind durch den Vater oder die Mutter missbraucht, bedeutet das für die betroffene Person einen extremen Vertrauensbruch, der es einem Menschen fast unmöglich macht, sich jemals wieder ganz auf eine andere Person einzulassen. Durch diese Misshandlung erleidet das betroffene Kind eine tiefe Verletzung seiner körperlichen und psychischen Integrität (vgl. Harnach 2021, 239).
Die Folgen von sexualisierter Gewalt stehen in Abhängigkeit zu Alter und Entwicklungsaufgabe des Kindes. „Die Verhaltenssymptome sind altersabhängig: Missbrauchte Vorschulkinder (0 bis 6 Jahre) zeigen vor allem Ängste, Alpträume, Regressionen, internalisierendes und sexualisiertes Verhalten. Kinder im Schulalter (7 bis 12 Jahre) leiden unter Ängsten, Alpträumen, Schulproblemen und zeigen unreifes, hyperaktives und/oder aggressives Verhalten. Besonders problematisch sind die Belastungen im Jugendalter (13 bis 18 Jahre) mit Problemen wie Depressionen, sozialem Rückzug, Suizidneigung, Somatisierung, Weglaufen, Promiskuität und Alkohol- und Drogenmissbrauch.“ (Hardt & Engfer 2012, 687)
"Von Vernachlässigung von Kindern spricht man, wenn sie von ihren Eltern oder Betreuungspersonen unzureichend ernährt, gepflegt, gefördert, gesundheitlich versorgt, beaufsichtigt und/oder vor Gefahren geschützt werden." (Hardt & Engfer 2012, 678)
Vernachlässigung tritt in verschiedenen Formen auf. So kann es die Form von körperlicher, emotionaler, kognitiver, erzieherischer Vernachlässigung und unzureichender Beaufsichtigung annehmen (vgl. Galm, Hees, Kindler 2016, 25).
Die körperliche Vernachlässigung umfasst hygienische Unterversorgung, mangelnde Gesundheitspflege, unzureichende Ernährung sowie Flüssigkeit, inadäquate Kleidung, Alleinlassen des Säuglings bzw. Kleinkindes im Auto oder zu Hause und ausbleibende Gesundheitskontrollen beim Arzt (vgl. Bodenmann 2016, 258). Neben körperlicher und materieller Vernachlässigung gibt es auch die emotionale Vernachlässigung. "Bei emotionaler Vernachlässigung werden die kindlichen Grundbedürfnisse nach Wärme und Geborgenheit so wenig erfüllt, dass die normale Entwicklung des Kindes gefährdet ist." (Hardt & Engfer 2012, 678) Die kognitive und erzieherische Vernachlässigung liegt vor, wenn Eltern sich kaum mit ihrem Kind beschäftigen, sie keinen erzieherischen Einfluss nehmen, fehlende Kommunikation besteht und es dulden, dass ihr Kind die Schule nicht regelmäßig besucht. Von unzureichender Beaufsichtigung ist die Rede, wenn das Kind über einen unangemessenen Zeitraum allein gelassen wird und auf unangekündigte Abwesenheiten des Kindes keine Reaktion folgt. Vernachlässigte Kinder können gleichzeitig von mehreren Formen der Vernachlässigung betroffen sein (vgl. Galm, Hees, Kindler 2016, 25).
Überdies sind Familien, in denen es zu einer Vernachlässigung der Kinder kommt, häufig durch verschiedene Problemlagen belastet wie psychische Krisen, wirtschaftliche Notlagen, beengte Wohnverhältnisse oder eigene negative Erfahrungen der Eltern (vgl. Schader 2013, 30). Häufig spielt auch die Familiengröße eine Rolle, denn umso mehr Kinder zu versorgen sind, desto schwieriger wird es für die Eltern, allen gerecht zu werden. Vernachlässigende Familien haben im Durchschnitt eine größere Anzahl von Kindern (ca. 3-4 Kinder) (vgl. Harnach 2011, 212). Signale, die möglicherweise auf Vernachlässigung hinweisen, sind Schulschwänzen, unangemessene Kleidung, schmutzige Wohnung, häusliche Gewalt, verletzende Sprache, exzessive Strafen einschließlich körperlicher Bestrafung (vgl. Hardt & Engfer 2012, 678).
Laut Jungbauer (2014, 145) ist die Vernachlässigung von Kindern durch ihre Eltern als Form seelischer Misshandlung zu betrachten.
„Die Sozialwissenschaften, aber auch Familiengerichte und Jugendämter, betrachten Kindesvernachlässigung als Kindeswohlgefährdung.“ Allerdings ist Vernachlässigung nicht die einzige Form der Kindeswohlgefährdung: Auch [die vorherigen genannten Gewaltformen] körperliche Kindesmisshandlung, psychische Misshandlung oder der sexuelle Missbrauch von Kindern zählen dazu.“ (Galm, Hees, Kindler 2016, 19)
Folgen:
Vernachlässigung hat langfristige Auswirkungen auf die Betroffenen und führt häufig zu schwerwiegenden negativen Folgen, an denen die meisten Kinder ein Leben lang leiden (vgl. Galm, Hees, Kindler 2016, 62). Kinder, die vernachlässigt werden, ziehen sich eher zurück oder zeigen aggressive Durchbrüche, wenn sie unglücklich sind. Vernachlässigung kann zu gravierenden körperlichen und psychischen Schäden bei Kindern führen (vgl. Harnach 2011, 211). Außerdem kann es durch die Verwahrlosung von Kindern zu verzögertem Wachstum kommen (vgl. Hardt & Engfer 2012, 678). Ein familiäres Umfeld, das von Vernachlässigung, Kälte und Gleichgültigkeit geprägt ist, beeinträchtigt die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (Harnach 2011, 79). Eine weitere Auswirkung von Vernachlässigung und Verwahrlosung sind Schulprobleme. Betroffene Kinder weisen nicht selten Schwierigkeiten in der Schule sowie Schulschwänzen auf. Zudem kommt es zu Eltern-Kind-Konflikten (vgl. Harnach 2011, 214).
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