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Bachelorarbeit, 2022
38 Seiten, Note: 1,3
1 Einleitung
2 Was ist Gewalt unter der Geburt?
2.1 Begriffsdefinitionen
2.2 Formen
2.3 Prävalenz
2.3.1 Häufigkeit verschiedener Interventionen
2.3.2 Gewalt gegenüber Gebärenden
2.3.3 Gewalt gegenüber Kreißsaalpersonal
3 Gründe für Gewalt unter der Geburt
3.1 Medikalisierung und Ökonomisierung von Geburt
3.2 Hebammenmangel und Kreißsaalschließungen
4 Auswirkungen und Folgen von Gewalt unter der Geburt
4.1 Folgenfür Gebärende
4.2 Folgenfür das Kind
4.3 Folgenfür Väter/Partner*innen
4.4 Folgenfür geburtshilfliches Personal
4.5 Roses Revolution Day
5 Prävention
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Gewalt unter der Geburt galt lange Zeit als Tabuthema. Nun wird dieses Thema immer mehr öffentlich diskutiert und auch die Forschung hat ein immer größer werdendes Interesse daran, der Wissenslücke auf diesem Gebiet zu begegnen. Denn Gewalt unter der Geburt findet täglich weltweit statt und Gebärenden wird so das Recht auf eine gewaltfreie, selbstbestimmte Geburt genommen. Ziel dieser Arbeit soll es sein, herauszufinden, was die Gründe für diese Gewaltform sind und welche Folgen und Auswirkungen sie für betroffene Personen hat. Durchgeführt wurde eine Literaturrecherche der Datenbanken PubMed sowie der Onlinebibliothek der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen und ihrer Partnerbibliotheken. Eingeschlossen wurden Studien in deutscher sowie englischer Sprache, die von 1975-2022 veröffentlicht worden sind. Eine Einschränkung hinsichtlich des untersuchten Landes gab es dabei nicht. Es zeigte sich, dass sich die Gründe für Gewalt unter der Geburt auf zwei große strukturelle Probleme zurückzuführen sind: zum einen auf die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und zum anderen auf den damit einhergehenden und momentan vorherrschende Hebammenmangel. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens führt zum vermehrten und früheren Einsatz von medizinischen Maßnahmen unter der Geburt, da finanzielle Anreize für mehr Interventionen gesetzt werden. Da jede Intervention das Potential hat, gewaltsam durchgeführt zu werden, ist die Ökonomisierung ein Hauptfaktor für Gewalt unter der Geburt. Außerdem geht die Zahl der Kliniken mit Kreißsälen stark zurück, da sich eine interventionsarme Geburtshilfe kaum noch lohnt. Die verbleibenden Krankenhäuser haben also eine deutlich höhere Arbeitsbelastung, da bei sinkender Klinikanzahl die Geburtenzahlen weiterhin steigen. Die hohe Arbeitsbelastung sowie der Hebammenmangel führen zu vermehrtem Stress und Druck beim Personal, der die Qualität der Geburtshilfe stark mindert und wodurch ebenfalls Gewalt entstehen kann. Von den Folgen von Gewalt unter der Geburt können Gebärende, Kinder, Väter/Partner*innen sowie das geburtshilfliche Personal betroffen sein. Sie reichen von physischen Folgen wie Verletzungen und Hämatomen bei Mutter und Kind bis hin zu psychischen Folgen wie der möglichen Entstehung einer Posttraumatischen Belastungsstörung bei Gebärenden, Vätem/Partner*innen sowie dem Personal. Bei Kindern kann eine gewaltsame Geburt auch zu einer psychosomatischen Entwicklungsstörung führen.
„Plötzlich tauchte von irgendwoher der Arzt auf. Er stand links von mir, warf sich auf meinen Bauch und drückte dagegen. Ich fühlte mich wie vergewaltigt und hatte das Gefühl, mein geliebtes Kind würde aus mir herausgeprügelt. Was ich wollte, zählte nicht mehr. Ich war nur noch eine Hülle. Noch heute könnte ich weinen, dass meine Tochter auf diese brutale Weise ihr erstes Zuhause, meinen schützenden Bauch, verlassen musste." (Mundlos 2015: 97f).
Dieses Zitat stammt aus dem Geburtsbericht einer jungen Frau und schildert eine sehr gewaltsame Geburtserfahrung. Das dort beschriebene Vorgehen ist sehr konträr zu dem gesellschaftlich weit verbreiteten Denken, dass die Geburt des eigenen Kindes der schönste Augenblick im Leben werdender Eltern ist. Handelt es sich bei dieser gewaltvollen Geburt also um einen Einzelfall?
Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (2015: 1) zeichne sich anhand einerwachsenden Zahl von Forschungsprojekten weltweit ein beunruhigendes Bild von missbräuchlicher und gewaltsamer Behandlung von Frauen unter der Geburt ab. Die eingangs beschriebene Geburtserfahrung scheint folglich kein Einzelfall zu sein. Die WHO (2015: 1) beschreibt weiter, dass eine geringschätzige Behandlung von Schwangeren zwar im gesamten Verlauf der Schwangerschaft bis hin zu der Zeit im Wochenbett stattfinden könne, jedoch seien Frauen besonders unter der Geburt am verletzlichsten. Gewalt unter der Geburt stellt sich demnach als global auftretendes Problem heraus. Die Gewalt, die Gebärende unter der Geburt erfahren, äußert sich auf drei verschiedenen Ebenen: der physischen, psychischen sowie der strukturellen Ebene (Mundlos 2015). Beispiele für geburtshilfliche Gewalt sind missbräuchliche Behandlungen, aufgezwungene oder ohne ausdrückliche Zustimmung vorgenommene medizinische Interventionen, verbale Beleidigungen, Missachtung der Schweigepflicht, Verweigerung der Schmerzbehandlung, Festschnallen der Beine oder die Vernachlässigung von Frauen unter der Geburt (WHO 2015) (Grieschat 2014). Ein solch gewaltsamer Umgang unter der Geburt kann bei den Gebärenden als auch bei den Kindern zu negativen Folgen führen und deren Gesundheit längerfristig beeinträchtigen (Ameli et al. 2020). Hierzu zählen neben körperlichen Verlet- zungen durch Dammschnitte oder den Kristeller-Handgriff auch psychische Folgen. Immer mehr Forschungsberichte stellen dar, dass sich bei Gebärenden, die unter der Geburt gewaltsam behandelt worden sind, sogar eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln kann (Ayers et al. 2006). Doch nicht nur Gebärende und deren Kinder können unter den Folgen von traumatischen Geburtserfahrungen leiden. Mittlerweile wurde festgestellt, dass auch Väter/Partner*innen und das geburtshilfliche Personal psychische Folgen von diesem Gewalterleben erleiden können (Weidner et al. 2018).
Trotz den bestehenden Nachweisen, dass Gewalt in der Geburtshilfe existiert, besteht aktuell international noch kein Konsens über die wissenschaftliche Definition oder die einheitliche Erfassung von missbräuchlicher Behandlung. Es gibt daher keine genauen Daten zur Prävalenz und das Thema weist bisher eine große Wissenslücke auf (WHO 2015). Infolgedessen besteht ein großes Forschungsinteresse an der Thematik für die Wissenschaft und Praxis von Public Health. Diese hat das Ziel die Entstehung von Krankheiten gesamtgesellschaftlich zu verhindern, die Lebensqualität zu steigern, Gesundheit zu fördern und das Gesundheitssystem auf seine Qualität zu prüfen und durch Maßnahmen zu verbessern. Public Health richtet sich, anders als die klinische Medizin, nicht auf einzelne Menschen, sondern auf die gesamte Bevölkerung und besondere Risikogruppen (Careis et al. 2005). Durch diese Zielsetzung begründet hat das Thema „Gewalt unter der Geburt“ eine hohe Public Health Relevanz. Denn besonders ein guter und gesunder Start ins Leben durch eine gewaltfreie Geburt, ist ein zentrales Element für eine gesunde Bevölkerung und betrifftjeden Menschen (WHO 2015).
Ziel dieser Arbeit ist es somit, auf Public Health Ebene herauszufinden, was die Gründe für die Entstehung von Gewalt unter der Geburt sind und welche Folgen und Auswirkungen sie haben kann. Hierfür wird zuerst eine umfassende Einführung in das Thema von Gewalt unter der Geburt gegeben. Es wird eine Begriffsdefmition von Gewalt generell, spezifischer aber von Gewalt unter der Geburt nach aktuellem Wissensstand dargelegt. Daraufhin folgt ein kurzer Überblick über die drei verschiedenen Formen, durch die sich Gewalt in der Geburtshilfe äußern kann. Es wird außerdem beleuchtet, wie hoch laut der aktuellen Datenlage die Prävalenz ist. Hierfür wird durch den bestehenden Forschungsbedarf auf die Interpretation der aktuellen Interventionsraten zurückgegriffen. Es werden jedoch auch die Prävalenz von geburtshilflicher Gewalt gegenüber Gebärenden sowie die Prävalenz von Gewalt gegenüber dem geburtshilflichen Personal einzeln beleuchtet. Nachdem dann ein erster Überblick über die Thematik geschaffen wurde, wird näher auf die Gründe für die Entstehung der Gewalt im Kreißsaal eingegangen. Zu nennen sind hier vor allem die Ökonomisierung im Gesundheitswesen sowie der aktuell bestehende Hebammenmangel. Im Anschluss daran wird die Folgen und Auswirkungen von geburtshilflicher Gewalt auf betroffene Personengruppen genannt, sowie die Entstehung einer Protestaktion gegen Gewalt in der Geburtshilfe. Als Lösungsansatz werden nachfolgend Maßnahmen zur Gewaltprävention dargestellt, wie beispielsweise das Ende der Ökonomisierung in der Geburtshilfe oder die flächendeckende und dauerhafte Eins-zu-eins-Betreuung unter der Geburt durch geburtshilfliches Personal. Im letzten Teil dieser Arbeit wird die Problematik kurz zusammengefasst und ein abschließendes Fazit gezogen.
Auch wenn in dieser Arbeit oft Begriffe wie „die Mutter“, „die Gebärende“ oder „der Vater“ benutzt werden und so ein binäres Bild von Geschlecht erzeugt werden kann, sollen in dieser Arbeit selbstverständlich alle gebährfähigen Menschen, alle Partnerinnen und Elternteile sowie auch alle unterschiedlichen Familienformen gemeint sein.
„Trotz der bestehenden Nachweise, welche nahelegen, dass die von Frauen erlebte Geringschätzung und Misshandlung unter der Geburt weit verbreitet ist, besteht aktuell kein Konsens zur wissenschaftlichen Definition und zur Erfassung von Geringschätzung und Misshandlung.“ (WHO 2015: 2). Dieses Zitat aus einem Beitrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit dem Titel „Vermeidung und Beseitigung von Geringschätzung und Misshandlung bei Geburten in geburtshilflichen Einrichtungen“ stellt dar, dass bisher keine allgemeingültige wissenschaftliche Definition für „Gewalt in der Geburtshilfe“ festgelegt wurde. Das liegt vor allem darin begründet, dass Gewalt sehr individuell wahrgenommen werden kann und es somit nicht möglich ist, klar definierbare Grenzen zu ziehen. Um den Gewaltbegriff dennoch so gut es geht zu beleuchten und festzulegen, was in dieser Arbeit unter den Begriff fällt, werden im Folgenden zuerst Gewalt im Allgemeinen und daraufhin Gewalt in der Geburtshilfe anhand einiger Definitionen aus der Fachliteratur erläutert.
Die WHO definiert Gewalt im Allgemeinen beispielsweise wie folgt:
„Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod,psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivationführt.“ (WHO 2002: 6).
Diese Definition von Gewalt beschreibt, dass Gewalt immer nur intentionell ausgeübt wird und auch stets nur auf körperlicher Ebene stattfmden kann. Der Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung hingegen zieht die Grenze, ab wann von Gewalt gesprochen werden kann, schon deutlich früher. Seiner Auffassung nach, kannjede Situation als gewaltsam beschrieben werden, in der eine Person so beeinflusst wird, dass ihre geistige und somatische Verwirklichung geringer ist, als sie potentiell sein könnte. Solche Situationen können, so Galtung (1975), auch unabsichtlich entstehen. Außerdem unterscheidet er Gewalt in drei konkrete Formen: personale Gewalt durch einen direkten Täter, gesellschaftliche oder strukturelle Gewalt und kulturelle Gewalt, die durch definierte kulturelle Eigenschaften entsteht (Galtung 1975: 9ff). Gewalt im generellen Sinne, kann also als großes Spektrum angesehen werden und reicht von Situationen, in denen Personen sich (unabsichtlich) unterdrückt fühlen, bis hin zu körperlichen Übergriffen, die Verletzungen hervorrufen oder sogar zum Tod führen.
Blickt man nun von der Gewalt im Allgemeinen auf das spezifischere Feld der Gewalt unter der Geburt oder in der Geburtshilfe, so gibt es auch hier verschiedene Definitionsansätze. Die WHO versteht unter Gewalt in der Geburtshilfe oder „obstetric violence“ im internationalen Terminus eine „missbräuchliche und vernachlässigende Handlung“ (WHO 2015: 1). Als Beispiele werden hierfür werden körperliche Misshandlung, tiefe Demütigung und verbale Beleidigung, aufgezwungene oder ohne ausdrückliche Einwilligung vorgenommene medizinische Eingriffe, Missachtung der Schweigepflicht, Nichteinhaltung der Einholung einer vollumfänglich informierten Einverständniserklärung, Verweigerung der Schmerzbehandlung oder grobe Verletzung der Intimsphäre genannt (WHO 2015: 1). Diese Definition beschreibtjedoch, dass dieseForm der Gewalt lediglich für die (werdenden) Mütter erfahrbar ist.
Auf der Website gerechte-geburt.de, die von Mascha Grieschat einer Geburtsbegleiterin und Begründerin der Initiative Gerechte Geburt e.V. ins Leben gerufen worden ist, ist folgende Definition zu lesen:
,, Gewalt in der Geburtshilfe sind Handlungen, Vorgänge und/oder systemische sowie soziale Zusammenhänge, die sich während der Schwangerschaft, unter der Geburt oder im Wochenbett negativ beeinflussend, verändernd oder schädigend auf Frauen, gebärfähige Menschen (Transsexuelle) und ihre (ungeborenen) Kinder auswirken. Indirekt können auch Väter. Partner/innen, geburtshilfliches Personal oder Familienangehörige betroffen sein." (Grieschat 2014).
Diese Definition des Terminus greift die Problematik weiter und schließt neben den Gebärenden auch die Kinder sowie Partnerinnen und das geburtshilfliche Personal mit ein. Hier wird deutlich, dass auch diese Personen von Gewalt unter der Geburt oder in der Geburtshilfe betroffen sein können. Hierbei umfassen die Gebärenden die hauptsächlich betroffene Gruppe. Doch es ist nicht außer Acht zu lassen, wie auch das Miterleben von gewaltsamen Handlungen traumatisierend sein kann weshalb auch alle anderen beteiligten Personen von solcher Gewalt betroffen sein können. Mit diesem erweiterten Begriffsverständnis soll im Folgenden gearbeitet werden.
Die Soziologin und Sachbuchautorin Christina Mundlos unterscheidet in ihrem in 2015 erschienenem Buch „Gewalt unter der Geburt: der alltägliche Skandal“ drei Formen der geburtshilflichen Gewalt: die physische Gewalt, die psychische Gewalt und die sexuelle Gewalt. Die physische Gewalt ist vermeintlich die Gewaltform, die am leichtesten zu definieren ist und meist von außen erkennbar istjedoch muss im Kontext von Geburt und Geburtshilfe klar zwischen Interventionen, die eventuelle Verletzungen mit sich bringen könnenjedoch medizinisch notwendig sind, und solchen, die die Gebärenden nur unnötig verletzen, unterschieden werden (Mundlos 2015). Des Weiteren beschreibt Franke (2007: 3), dass es nicht unbedingt an sich schmerzhafte Interventionen oder massive medizinische Eingriffe sein müssen, sondern dass auch scheinbar harmlose Situationen oder Handlungen, die an der Gebärenden vollzogen werden, von ihr als Akt der Gewalt erlebt werden könnten.
Psychische Gewalt hingegen ist deutlich schwieriger zu erkennen, denn sie hängt vom individuellen Empfinden des Empfängers ab. So kommt es, dass Missverständnisse in der Kommunikation zwischen Sender und Empfänger entstehen und Worte als Bedrohungen, Beleidigungen, Verleumdungen, Entwertungen oder Angstmachen aufgefasst werden können, auch wenn sie nicht so gemeint sind. Sexuelle Gewalt beschreibt aufgezwungene sexuelle Handlungen, bei denen der Austragungsort der Aggression und der damit verbundene Machtmissbrauch auf der sexuellen Ebene liegen (Mundlos 2015). Viele Frauen würden, laut Franke (2007: 7), die Gewalt, die sie unter der Geburt erlebten, auch als Vergewaltigung bezeichnen. Dadurch wird deutlich, dass Geburt nicht nur ein rein medizinischer, sondern vor allem auch ein sexueller Vorgang ist und somit auch auf der sexuellen Ebene verletzt. Neben diesen drei Ebenen, auf denen Gewalt ausgetragen werden kann, lässt sich außerdem noch die Ebene der strukturellen Gewalt ergänzen. Denn Gewalt muss nicht zwingend immer nur von Einzelpersonen ausgehen, sondern kann auch von einer Gemeinschaft beziehungsweise auch dem Staat ausgeübt und geduldet werden (Grieschat 2014; Mundlos 2015).
Im Folgenden sollen nun einige Beispiele nach Grieschat (2014) und Mundlos (2015) für die unterschiedlichen Gewaltformen genannt werden.
Unter physische Gewalt fallen beispielsweise Handlungen wie:
- Festhalten
- FestschnallenderBeine
- Vorschreiben der Gebärposition
- Medizinisch nicht indizierte Untersuchen (z.B. wiederholt nach dem Muttermund tasten, wenn dies nicht gewollt/notwendig ist)
- Ohne Einverständnis und ohne medizinische Notwendigkeit Maßnahmen durchzuführen wie: Kaiserschnitt, Dammschnitt, Katheter legen, Medikamentengabe
- Herausziehen/-reißen der Plazenta
- Zu enges oder festes Vernähen nach einem Dammschnitt („husband stitch“)
- Kristeller-Handgriff (ein Handgriff, bei dem das Kind von außen durch Hebamme, Arzt oder Ärztin mitgeschoben wird)
- Schläge, Ohrfeigen, Kneifen
Unter psychische Gewalt fallen Handlungen wie:
- Anschreien
- Ausübung von verbaler Gewalt (z.B. Sätze wie: „Wenn Siejetzt nicht mitarbeiten, dann stirbt Ihr Baby!“ oder „Seien Sie gefälligst still!“ und Beleidigungen)
- Hinwegsetzen über die Rechte und Wünsche der Gebärenden
- Ausübung von Druck
- Zwang
- Diskriminierung aufgrund von Alter, Gewicht, Herkunft o.Ä.
- Sexualisierte Gewalt in Form von Sprache, Witzen
- Verbot zu essen/trinken, sich zu bewegen
- Gebärende unter der Geburt alleine zu lassen (außer, wenn diese es ausdrücklich wünschen)
- Keine (echte) Wahlfreiheit bei medizinischen Interventionen lassen
- Willkür
- Respektloser Umgang mit Gebärenden wie z.B. auslachen, Intimsphäre verletzen
- Pietätloser Umgang mit Nabelschnur, Plazenta oder totgeborenen Kindern
Unter strukturelle Gewalt fallen Handlungen wie:
- fehlende Raumkapazitäten oder Personalmangel: geburtshilfliche Kliniken weisen Frauen selbst unter Wehen und mit Voranmeldung ab
- Hebammenunterversorgung
- Schwangere bleiben ohne Betreuung zur Vorsorge, zur Geburtsbegleitung (Bezugs-/ Beleghebamme) oder zur Nachsorge
- Qualität der Geburtshilfe sinkt: Gebärenden werden im Kreißsaal allein gelassen, da Hebammen und geburtshilfliches Personal sich um mehrere Schwangere gleichzeitig kümmern müssen oder es wird z.B. eine schmerzstillende PDA gelegt, um die Frau ruhigzustellen
- interne Standards wie Leitlinien werden z.T. außer Acht gelassen
- Haftpflichtproblematik, Hebammen geben ihre Arbeit auf und stehen nicht mehr für Geburtsbegleitung zur Verfügung
- Hierarchien im Kreißsaal, Angst vor Regressforderungen, systemisch bedingt wird Druck ausgeübt
(Grieschat 2014; Mundlos 2015)
Anhand dieser spezifischen Beispiele, inwiefern sich Gewalt unter der Geburt konkret äußert und welche Erscheinungsformen sie hat, wird noch einmal deutlich, wie subtil aber auch wie schwerwiegend solche Gewalthandlungen Gebärenden gegenüber tatsächlich sein können.
Bevor im folgenden Teil eine genauere Beleuchtung der Pravalenz zu Gewalt unter der Geburt gegenüber verschiedener Personengruppen erfolgt, wird vorerst der Blick auf die generelle Häufigkeit von Interventionen in der heutigen Geburtshilfe geworfen. Denn durch die dünne Datenlage zu konkreten Prävalenzen, verschafft der Blick auf die Interventionsraten einen guten ersten Eindruck von der momentanen Situation in der Geburtshilfe.
Bei geburtsmedizinischen Interventionen entstehe eine aktive und direkte Form von professionalisierter Interaktion an Grenzen, die mit einer hohen Verwundbarkeit einhergehe (Ameli et al. 2020: 144). Emotionen und der Körper seien dabei nicht voneinander zu trennen, sondern innig ineinander verknüpft, so Ameli et al. (2020: 144). Das bedeutet, dass mitjeder vorgenommenen Intervention, das Risiko einer körperlichen oder emotionalen Verletzung einhergeht und sie somit nur so häufig wie notwendig durchgeführt werden sollten. In der Realität sieht dies oftmals sehr anders aus. In Deutschland würde, laut Mundlos (2015: 39), der geringste Teil, nämlich lediglich sechs Prozent aller Geburten, komplett interventionsfrei ablaufen.
In einem Forschungsprojekt von Schwarz et al. (2004), welches sich mit der Technisierung von Geburt beschäftigte, wurden Daten von über einer Million Geburten ausgewertet. Hierbei wurde herausgefunden, dass beispielsweise schon während der Schwangerschaft 82% der Schwangeren mehr Kontrolltermine wahrgenommen haben, als die zehn hierfür vorgesehenen Termine. Des Weiteren wurde während dieser Kontrolltermine auch in 95,8% der Fälle eine Kardiotokographie (CTG) durchgeführt. Diese Form der Kontrolle ist eigentlich nur bei bestehender Indikation vorgesehen und nicht standardmäßig durchzuführen (Schwarz et al. 2004: 23). Auch während der Geburt hatten 98,8% der Gebärenden ein Dauer-CTG, obwohl es hierfür keinen wissenschaftlich nachgewiesenen Vorteil gibt. Außerdem wird auch immer seltener auf den natürlichen Beginn der Wehen gewartet und 23,4% der Geburten werden mittels Prostaglandins eingeleitet. Oftmals wird nicht nur der Geburtsbeginn, sondern auch der gesamte Verlauf der Geburt beschleunigt. So erhielten etwa 40% der Frauen, die nicht per Kaiserschnitt entbunden haben, einen Wehentropf, um die Wehentätigkeit anzuregen. Auch Interventionen wie die Peridualanästhesie (PDA), die eingesetzt wird, um starke Schmerzen während der Geburt zu lindern, sind in 19,2% der Fälle angewandt worden (Schwarz et al. 2004). Dammschnitte sind mit 23,8% bei klinischen Geburten ebenfalls eine relativ häufige Intervention. Außerklinisch liegt die Dammschnittratejedoch nur bei 4,6% (Mundlos 2015).
Auch der Kaiserschnitt stellt eine in Deutschland immer häufiger auftretende Intervention dar (Schwarz et al. 2004). Hierbei werden zwei Arten des Kaiserschnitts unterschieden. Zum einen gibt es den primären Kaiserschnitt, der bereits vor Entbindungstermin oder Einsetzen der Wehentätigkeit als Entbindungsform festgelegt wird. Dieser wird bei gegebener Indikation wie beispielsweise einer Beckenendlage oder einem „zu großen“ Kind festgelegt. Er kann aber auch aufWunsch der Schwangeren, aus Angst vor einer vaginalen Geburt oder anderen individuellen Gründen, durchgeführt werden (Haerty 2006). Diese Form des Kaiserschnitts stehe, laut Eichholz (2019: 17), momentan in der Kritik, da sie dem Kenntnisstand der Wissenschaft nicht gerecht würde und auch z.B. bei einer Beckenendlage ein Kaiserschnitt oft vermeidbar wäre, jedoch für die sicherste Geburtsform erachtet würde. Die zweite Variante des Kaiserschnitts ist die sekundäre Sectio, die vorher nicht geplant worden ist oder medizinisch indiziert war, sondern beispielsweise bei Geburtsstillstand oder im medizinischen Notfall durchgeführt wird (Haerty 2006). Diese Form macht momentan in Deutschland die Hälfte aller Kaiserschnitte aus (Eichholz 2019). Generell ist es so, dass in Deutschland aktuell 32% der Geburten via Kaiserschnitt erfolgen (Mundlos 2015). Laut der WHO (1985: 436) seijedoch fürwestliche Industrienationen eine Kaiserschnittrate von lediglich 15% medizinisch indiziert. Kaiserschnittraten, die darüber hinausgingen, hätten keinen medizinischen Nutzen für Mutter und Kind (Eichholz2019: 17).
Generell lässt sich sagen, dass jede stattgefundene Intervention das Risiko für weitere Maßnahmen deutlich erhöht und somit immer häufiger sogenannte Interventionskaskaden entstehen. Mit dem Begriff interventionskaskade wird ein Szenario unter der Geburt beschrieben, bei dem durch vorausgegangene Interventionen immer weitere Interventionen nötig werden. Beispielsweise wird oftmals nach dem Legen einer PDA ein Wehentropf nötig, da es durch die Betäubung zum Wehenstillstand kommen kann (Leinweber et al. 2021). Besonders deutlich werden diese Interventionskaskaden bei Geburten, die nicht natürlich beginnen, sondern beispielsweise mittels Prostaglandins eingeleitet werden (Mundlos 2015). Nach einer solchen Einleitung folgt, laut Schwarz et al. (2004: 24), 60% häufiger der Einsatz von Wehenmitteln, fast doppelt so häufig wird eine PDA gelegt und fast doppelt so häufig kommt es dann doch noch zur Entbindung per sekundärem Kaiserschnitt. Eichholz (2019: 6) beschreibt hinsichtlich den steigenden Interventionsraten, dass diese Interventionen, die eigentlich für den Notfall gedacht seien, mittlerweile zur Routine geworden wären und den natürlichen Geburtsverlauf störten. Besonders sei dies der Fall, wenn diese Interventionen ohne medizinische Indikation erfolgen würden. Weiterhin sieht sie in nicht indizierten medikamentösen sowie technischen Eingriffen eine körperliche und seelische Verletzung von Gebärenden und deren Kindern (Eichholz 2019: 6).
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