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Bachelorarbeit, 2022
53 Seiten, Note: 1,8
Einleitung
Theorie und Forschungsstand
Forschungsentwicklung
Die formale Koalitionstheorie und Kritik an dieser
das Parteiensystem als entscheidende Determinante der Koalitionsbildung
Die AFD und ihre Etablierung im Parteiensystem
Die Wähler*innenschaft der AFD
Die Ausgangslage in Sachsen
Wählerinnen in Sachsen
Das Sächsische Parteiensystem
Die sächsischen Parteien
Die sächsischen Landtagswahlen 2019
Die Wahl und ihr Ergebnis
Koalitionsbildung
Schlussbetrachtung
Koalitionsspezifische Strukturmerkmale Sachsens
koalitionspotenzial des sächsischen Parteiensystems
Koalitionsfähigkeit der einzelnen Parteien
Ergebnisse
Fazit / Ausblick
Literaturverzeichnis
Tabellen- und Darstellungsverzeichnis
„Das freundliche Sachsen hat gewonnen“.1 Mit diesem Satz, trat der sichtlich erschöpfte Ministerpräsident Sachsens Michael Kretschmer (CDU) am Abend des 01. September 2019 nach den ersten Hochrechnungen zu den Ergebnissen der sächsischen Landtagswahl vor die Presse. Seine Partei hatte, trotz des schlechtesten Wahlergebnisses der CDU-Sachsen seit der Wende, laut den kurz zuvor veröffentlichen Prognosen mit 32,1% (- 7,3%) als stärkste Partei die AfD hinter sich lassen können. Die AfD wurde mit einem Wahlergebnis von 27,5% (+17,8) mit Abstand die zweitstärkste Kraft nach ihr folgten mit geraumer Differenz DIE LINKE (10,7% / -8,5%), Bündnis 90/Die Grünen (8,6% / +2,9%) und die SPD (7,7% / -4,6%), die FDP verpasste mit 4,5% (+0,7%) der Stimmen den Einzug in den Landtag.2 Die beiden Regierungsparteien CDU und SPD mussten jeweils herbe Verluste hinnehmen und verloren in Folge dessen ihre Mehrheit im Dresdner Landtag.3 Gewinnerin der sächsischen Landtagswahl 2019 war eindeutig die AfD. Sie war neben den Bündnisgrünen die einzige Partei im Landtag, die ihr Wahlergebnis verglichen mit der vorangegangenen Landtagswahl 2014 fast verdreifachen konnte. Dies lag nicht zuletzt auch daran, dass es ihr gelang 246.000 Nichtwähler*Innen an die Wahlurnen zu holen, was sich auch an der im Vergleich zur Landtagswahl 2014 deutliche gestiegenen Wahlbeteiligung von 66% zeigte (2014: 49,1%).4
Die Erleichterung Kretschmers und auch der anderen Spitzenkandidatinnen erklärt sich dadurch, dass lange Zeit nicht klar war, dass die AfD die Wahl nicht gewinnen würde. Diese konnte zum damaligen Zeitpunkt auf zwei Wahlerfolge zurückblicken, bei denen sie die CDU in der Stimmenanzahl übertraf. Dies waren die Bundestagswahl 2017 und die Europawahl 2019 bei denen die Landes AfD mehr Stimmen als die Landes CDU Sachsen erhielt.5 Bis zum Wahltag am ersten September 2019 konnten sich die etablierten Parteien demnach nicht sicher sein wie die Wahl ausgehen würde, klar war nur, dass es für eine erneute Mehrheit zwischen CDU und SPD wohl nicht mehr reichen würde und der Abstand zwischen AfD und CDU knapp sein würde.6
Die mit einem Wahlergebnis von 27,5% stark vertretene AfD im sächsischen Landtag stellte die übrigen Fraktionen vor eine politische Herausforderung bei der Regierungsbildung, da die etablierten Parteien die AfD trotz der hohen Wähler*innengunst unisono als Koalitionspartnerin ablehnten. Die CDU schloss zudem bereits vor der Wahl eine Koalition mit der Partei DIE LINKE aus.7 Somit war nach der Wahl lediglich ein Bündnis zwischen CDU, Bündnis 90/Die Grünen und der SPD denkbar, welches eine Mehrheit gehabt hätte.8 So begannen nach der Landtagswahl in Sachsen Sondierungsgespräche für eine mögliche „Kenia-Koalition“ zwischen CDU, Bündnisgrünen und SPD, welche Anfang Oktober in Koalitionsverhandlungen mündeten. Mit der Wahl Michael Kretschmers am 20. Dezember 2019 zum sächsischen Ministerpräsidenten trat die neue „Kenia-Koalition“ in die Regierungsverantwortung.
Eine solche „lagerübergreifende“ Koalition gab es zuvor lediglich im Nachbarland SachsenAnhalt.9 Die Regierungsarbeit der dortigen Koalition war bis zum Ende der Legislaturperiode von internen Konflikten geprägt und drohte mehrfach aufgrund koalitionsinterner Meinungsverschiedenheiten zu zerbrechen. Es wurde sich beispielsweise um die Besetzung von Personalposten, die Erhöhung des Rundfunkbeitrags um 86 Cent oder die Aufklärungsarbeiten zum Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh gestritten.10 Bereits vor den sachsen-anhaltinischen Landtagswahlen 2021 kündigten die Magdeburger Bündnisgrünen an, nicht erneut in einer „Kenia Koalition“ regieren zu wollen.
In Brandenburg wurde zeitglich mit Sachsen auch ein neuer Landtag gewählt. Aufgrund ähnlicher Mehrheitsverhältnisse bildete sich ebenfalls eine „Kenia-Koalition“ aus SPD, CDU und Grünen, in welcher jedoch die SPD den Ministerpräsidenten stellte.11
Das für die Regierungsbildung in Sachsen mehr Redebedarf zwischen den zukünftigen Koalitionspartnern bestand als in den vorangegangenen Legislaturperioden, in welchen die CDU von 1990 bis 1999 sogar die alleinige Mehrheit innehatte, macht die Dauer der Regierungsbildung nach der Landtagswahl 2019 deutlich. Dauerte die Regierungsbildung 2009 zwischen CDU und FDP lediglich 30 Tage und 2014 zwischen CDU und SPD 51 Tage, so benötigten die CDU, Grüne und SPD 2019 ganze 110 Tage zur Regierungsbildung.12 Die prolongierten Koalitionsverhandlungen können als Indikator dafür gelten, dass es viele Diskussionspunkte zwischen den drei Parteien gab, die sich aus den unterschiedlichen Werten der Parteien und deren traditioneller „Lagerzugehörigkeit“ ergeben. So kann vermutet werden, dass besonders zwischen der CDU und den Bündnisgrünen einige Themenkomplexe strittig waren.13 14 15 Auch der deutlich größere Umfang des Koalitionspapiers 2019 mit 133 Seiten, im Vergleich zu den vorangegangenen Koalitionsverträgen (2009: 57 Seiten; 2014: 59 Seiten) spricht dafür, dass zwischen den werdenden Koalitionspartnern größere Differenzen bestanden und wenig Vertrauen in den verlässlichen Kooperationswillen bestand. Diese Unsicherheit der Koalitionspartner wurde durch eine detailliertere und zeitaufwendigere Verschriftlichung der Zielsetzungen kompensiert.[1415]
Das sich ein Bündnis aus CDU, Grünen und SPD bilden würde war, zieht man klassische formale Koalitionstheorien zur Erklärung heran, nicht zu erwarten (Vgl. Riker 196216, Gamson 196117 ; De Swaan 197318 Axelrod 197019 etc.). Die formalen Theorien versuchten auf Grundlage von spieltheoretischen Annahmen (unterstellten den Parteien u.a. reines office-seeking oder reines policy-seeking) generelle Regeln zu finden, um die Bildung von Regierungskoalitionen vorherzusagen, dies gelang jedoch nur in einem äußerst limitierten Rahmen.20 Erst unter Berücksichtigung kontextspezifischer Faktoren des vorhandenen Parteiensystems, konnten die komplexen Dynamiken von Regierungsbildungen besser dargestellt werden. So begannen jüngere Ansätze genauer auf die Strukturen und Dynamiken von Parteiensysteme und deren kontextuelle Bedeutung für die Regierungsbildung zu schauen und orientierten sich mehr an fallorientierten Analysen als daran, möglichst generelle Aussagen zu treffen (Vgl. bspw. Nolte 1988, Jun 1994, Kropp; Sturm 1998 etc.).
Besonders die ostdeutschen Bundesländer haben in den vergangenen Jahren eine gravierende Veränderung ihrer jeweiligen Parteiensysteme erlebt. Insbesondere durch die vermehrten Wahlerfolge der rechtspopulistischen AfD, den Wähler*innenschwund bei den beiden Volksparteien CDU und SPD21, durch die Fragmentierung und Polarisierung des Parteiensystems, die Vergrößerung der Parlamente sowie den Vertrauensverlust der etablierten Parteien als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Politik, veränderte sich in den vergangenen Jahren der Parteienwettbewerb und somit auch die Koalitionslandschaft. Dadurch bilden sich Koalitionen, welche sich vor wenigen Jahre noch nicht gebildet hätten.22 Auf Landes- und zuletzt auch auf Bundesebene bilden sich, aufgrund sonst fehlender Mehrheiten Dreiparteienregierungen, welche die klassischen Lagerkonstellationen (wirtschaftsliberalkonservativ vs. Sozialstaatlich-liberal; Mitte-Rechts vs. Mittel-Links) überbrücken.23
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass sich die Parteiensysteme der Länder verändert haben und es teils, besonders in den neuen Bundesländern, zu einer deutlichen Rechtsverschiebung des Parteiensystems durch die Präsenz der AfD gekommen ist mit der Frage: Wie beeinflussen die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien die Koalitionsbildung auf Landesebene? Dabei werden die Hypothesen aufgestellt, dass:
- wenn (rechts-) populistische Antisystemparteien sich zu relevanten Akteuren entwickeln und sich im jeweiligen Parteiensystem etablieren, bilden die übrigen Parteien „lagerübergreifende“ Koalitionen, um eine mehrheitsfähige Regierung unter Ausschluss (rechts-) populistischer Parteien zu bilden.
- der Koalitionsbildungsprozess zwischen den Verhandlungspartnern, welche zwar grundsätzlich demokratische Werte teilen, jedoch darüber hinaus teils stark divergierende Werte und Positionen vertreten, prolongiert, detaillierter und umfangreicher ist.
- es durch (rechts-)populistische Parteien zu Verschiebungen von bisher theoretisch und inhaltlich erwartbaren Koalitionspräferenzen kommt.
- diese Parteiensysteme als polarisiert pluralistische im Sinne Satoris (1976) charakterisiert werden können.
Die Untersuchung wird sich, um einen angemessenen Rahmen zu wahren, auf die fallanalytische Beschreibung der Landtagswahl 2019 in Sachsen und die anschließenden Regierungsbildung beschränken. Diese dient als Fallbeispiel, da das sächsische Parteiensystem viele der oben bereits kurz angerissenen neuen Charakteristika von Parteiensystemen exemplarisch in sich vereint. Insbesondere ist mit der AfD eine starke rechtspopulistische Partei vorhanden, welche als relevante Akteurin identifiziert werden kann.24 Begrenzt können am Beispiel der Landtagswahlen in Sachsen ebenfalls Schlüsse auf Landtagswahlen und Regierungsbildungen für die anderen neuen Bundesländern gezogen werde, da sich die jeweiligen Parteiensystemen und die politische Kultur in vielen Punkten ähneln und vor allem die AfD in diesen Bundesländern eine vergleichbar dominante Rolle spielt.25 Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird genauer auf die Konstellation in Sachsen eingegangen.
Um die Fragestellung beantworten zu können, soll zunächst ein theoretisches Fundament auf Basis des Forschungsstandes zu Koalitionstheorien und Koalitionsbildung geschaffen werden. In diesem Rahmen sollen ebenfalls grundlegende Ideen der Koalitionstheorie und deren Entwicklung vorgestellt werden. Ausgehend davon sollen, unter Zuhilfenahme der theoretischen Annahmen, Kriterien entwickelt werden, mit denen mögliche Effekte der Anwesenheit (rechts-) populistischer Parteien im Parteiensystem auf die Koalitionsbildung und das Koalitionsverhalten untersucht werden können. Anschließend, soll exemplarisch für rechtspopulistische Parteien auf die AfD und deren Einfluss auf das sächsische Parteiensystem eingegangen werden. Im Zuge dessen wird u.a. kurz erläutert, wieso die AfD besonders in den ostdeutschen Bundesländern erfolgreich ist und welche Implikationen dies für den Umgang der anderen Parteien mit ihr hat. Im weiteren Verlauf wird auf die sächsische Landtagwahl 2019 eingegangen und die im Theorieteil entwickelten Kategorien an dieses herangetragen, um mögliche Effekte auf die Koalitionsbildung zu identifizieren. Im Rahmen der Betrachtung des Fallbeispiels wird genauer auf bestimmte Faktoren das Parteiensystems, wie die Wähler*innenschaft und die politische Stimmung in Sachsen, auf die Vorwahlphase (Wahlkampf, Wahlprogramme/Positionen der Parteien, etc.), auf die Wahl und ihre Ergebnisse und auf die Nachwahlphase (Wahlergebnis, Sondierungen, Koalitionsvertrag etc.) eingegangen. Im Schlussteil werden die anhand des Fallbeispiels gewonnen Erkenntnisse zusammengetragen, um die Fragestellung zu beantworten und die Hypothesen zu prüfen.
Auf den folgenden Seiten sollen grundlegende Forschungsentwicklungen der Koalitionstheorie und der Koalitionsforschung vorgestellt werden. Dabei wird zunächst auf die sogenannten „formalen" koalitionstheoretischen Ansätze eingegangen, um anschließende daran, kontrastierende die aktuelleren, weniger globalen, eher fallorientierteren Ansätze vorzustellen. Es sei gesagt, dass im Rahmen dieses Kapitels aufgrund der Forschungsfülle nur auf die grundlegenden Entwicklungen und Theorien eingegangen werden kann. Für eine detailliertere Darstellung aller größeren Ansätze reicht der Rahmen dieser Abschlussarbeit nicht aus. Eine prägnante Zusammenfassung und Kritik der „formalen Theorien" liefert Detlef Nolte in seinem Aufsatz „Ist die Koalitionstheorie am Ende? (...)" aus dem Jahr 1988 in der Politischen Vierteljahrsschrift (1988, Jg. 29, No. 2). Einen etwas weiteren, ebenfalls anschaulichen Überblick über das Feld der Koalitionsforschung liefern Sabine Kropp und Roland Sturm in ihrer 1998 erschienen Monographie „Koalitionen und Koalitionsvereinbarungen (...)". Demjenigen, welcher sich für aktuelle koalitionspolitische Forschung und „State of the Art" Methodik der Koalitionsforschung interessiert sei der Beitrag von Marc Debus zur Bundestagswahl 2021 in der Politische Vierteljahrsschrift (2022, Jg. 63, No.1) und der Beitrag von Sven T. Siefken zur Bundestagswahl 2017 in der ZParl (2018, Jg. 48, No. 2) empfohlen. Des Weiteren stehen zahlreiche Sammelbände, Monographien und Zeitschriftenbeiträge sowohl zu theoretischen Aspekten als auch zu aktuellen Entwicklungen in der Koalitionslandschaft zur Verfügung.
Begonnen werden soll dieses Kapitel zunächst mit einer Erläuterung der Natur und einer Definition des Koalitionsbegriffes. Da diese Abschlussarbeit sich ausführlich mit politischen Koalitionen und deren Zustandekommen und Hintergründen auseinandersetzt, muss zu Beginn der Begriff „Koalition" definiert werden, um auf diesem aufbauen zu können. Dabei orientiert sich der Autor an dem von Uwe Jun (1994) beschriebenen Koalitionsbegriff. Als Grundlage für eine politische Koalition macht Jun ein bestehendes politisches System aus, welches als Wirkungsfeld der politischen Akteure fungiert. Dieses politische System muss, damit es zu Koalitionsbildungen kommen kann, durch Konkurrenz und die Anerkennung des Mehrheitsprinzips als Mittel zur Lösung politischer Konflikte charakterisiert sein. Demnach bildet ein pluralistisches, auf Wettbewerb aufbauendes Demokratiekonzept die Basis von Koalitionen und deren Bildung. Um nun in einer durch diese Faktoren gekennzeichneten Demokratie legitimierte Mehrheitsentscheidungen treffen zu können, müssen die am Willensbildungsprozess beteiligten Akteure versuchen, Absprachen zu treffen, um gemeinsame politische Ziele durchzusetzen oder ihren Zielen entgegenstehende politische Vorhaben zu verhindern.26 Koalitionen können also sowohl gestaltend als auch verhindernd wirken. Besonders in repräsentativen Demokratien mit Mehr- oder Vielparteiensystemen sind Koalitionsbildungen meist unausweichlich, wollen die Akteure eine stabile Mehrheit erzeugen, da diese politischen Systeme selten eine Partei haben, welche die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen kann.27 Nach Jun ist eine politische Koalition:
„Eine organisierte Kooperation von mindestens zwei voneinander unabhängigen konkurrierenden Parteien in einem politischen Gemeinwesen, vorwiegend inner-, aber auch außerhalb des Parlaments, mit den primären Zielen der gemeinsamen Regierungsbildung und -unterstützung sowie der Durchsetzung von programmatischen und pragmatischen Politikinhalten, deren zentrale Festlegungen in einem gemeinsamen Regierungsprogramm vereinbart werden.“28
Ein gewisses Maß an Kooperations- und Kompromissbereitschaft der Parteien untereinander bildet in diesem Prozess die Grundlage, da dies die notwendige Voraussetzung ist, um eine Regierung zu bilden, welche dauerhaften Bestand hat.29
Mit der Entwicklung demokratisch pluralistischer Parteiensysteme wurden wie oben beschrieben Koalitionen notwendig, um mehrheitsfähige Regierungen zu bilden. Dieser Prozess der Regierungsbildung wurde folglich auch für die Politikwissenschaften interessant, welche sich zu fragen begann, nach welchen Systematiken sich Koalitionen bilden und aus welchen Parteien diese Koalitionen bestehen. Die frühe Koalitionsforschung der 60er und 70er Jahren orientierte sich besonders an der Frage „Who gets in?", also daran, welche Parteien in eine Koalition miteinander treten.30 Um für diese Frage eine Erklärung zu finden, griffen die Forscherinnen auf die ursprünglich von Morgenstern und Neumann (1944) entwickelte ökonomische Spieltheorie zurück. Diese auf der Spieltheorie basierenden Koalitionsforschungen hatten zum Ziel, möglichst alle Regierungsbildungen in demokratischen Parlamentsystemen zu erklären. So wurden spieltheoretisch modellhafte Situationen entwickelt, welche Verhaltenskonstanten für die Erklärung des Koalitionsverhalten von Parteien identifizieren sollten.31 Diese auf dem Modell der Spieltheorie beruhenden Koalitionstheorien werden allgemeinhin als „formale" Theorien bezeichnet.
Aus diesen theoretischen Überlegungen ging der „office-seeking" Ansatz hervor, welcher die Anzahl der Sitze im Parlament als wichtigste Variable sah, um spätere Koalitionsbildungen zu erklären. Als prominenteste Vertreter dieser koalitionstheoretischen Überlegungen sind William. H. Riker und William Gamson zu nennen, welche ihre Theorien in den frühen 60er Jahren vorstellten. In den folgenden Jahren wurden ihre Theorien weiterentwickelt und modifiziert. Diesen Ansätzen wurde ein Nullsummenlogik zugrunde gelegt, welche die Annahme begründete, dass Parteien einzig und allein nach politischen Ämtern und der Platzierung möglichst vieler ihrer Abgeordneten in diesen strebten. Demnach wurde davon ausgegangen, dass Parteien immer eine Regierungsbeteiligung anstreben, da eine Tätigkeit in der Opposition nach der Nullsummenlogik als absoluter Verlust verstanden wurde. Im Sinne der Maximierung der Anzahl der Sitze für jeden potenziellen Koalitionspartner gingen die spieltheoretischen Modelle davon aus, dass sich die Parteien zusammenschließen würden, welche am knappsten die Mehrheit im Parlament überschritten, um so für jeden Partner das Maximum an Regierungsämtern zu sichern. Diese Form der Koalition wird als „minimal winning" Koalition bezeichnet.32
Schnell wurde klar, dass es bei Regierungsbildungen nicht ausschließlich um die Sitzverteilung und eine Maximierung der politischen Ämter geht, sondern auch um die politischen Inhalte und vor allem die Standpunkte der verschiedenen Parteien. Den Theorien von Riker und Gamson lag die Annahme zugrunde, dass theoretisch alle Koalitionspartner mit der gleichen Wahrscheinlichkeit mit allen Parteien koalieren würden, solange nur eine Maximierung der Ämter die Folge war. Die neueren Theorien, welche Anfang der 70er Jahre entwickelt wurden, gingen nicht mehr von dieser Gleichwertigkeit aller potenziellen Koalitionspartner aus, sondern bezogen die politischen Positionen der jeweiligen Parteien mit in die Erklärung der Bildung von Koalitionen ein.33 Robert Axelrod und Abram De Swaan waren die ersten theoretischen Vertreter dieser Annahme. Beide sahen nicht alleine das Streben nach Ministerposten als ausschlaggebende Variable, sondern sprachen der ideologischen Verortung von Parteien eine wesentliche Bedeutung zu.34 Axelrod legte mit seiner „minimal-range" Hypothese, welche besagt, dass Parteien wahrscheinlicher eine Koalition miteinander eingehen, wenn sie auf einer eindimensionalen links-rechts Achse ideologisch möglichst dicht beieinanderliegen, die Grundlage für viele folgende Theorien und Weiterentwicklungen der Koalitionsforschung.35 Diese sind teils heute noch aktuell. De Swaan modifizierte wenig später diese Theorie weiter, wobei er die Annahme vertrat, dass Parteien nach der sogenannten „Mittelposition" streben. De Swaan behauptete, dass die „Mittelpartei" diejenige Partei sei, welche aufgrund ihrer ideologischen Position am einfachsten Anschluss und Kompromisse finden könnte und somit die Partei sei, welche am wahrscheinlichsten innerhalb einer Koalition ihre Policyvorstellungen mit einbringen könnte. Parteien seien demnach bestrebt, die Rolle dieser „Mittelpartei" einzunehmen. Ist eine Partei also aufgrund des Wahlergebnisses in der Lage eine Koalition zu initiieren, wird sie danach streben, den oder die Koalitionspartner so auszusuchen, dass sie ideologisch die mittlere Position einnimmt.36 Beide Ansätze, der „minimal winning-" und der „minimal range" Ansatz, wurden über die Jahre weiterentwickelt und miteinander kombiniert, um die Prognosekraft weiter zu verbessern, daraus resultierte u.a. die „minimal-connected-winning" Theorie. Diese sagt, dass eine Koalitionsbildung umso wahrscheinlicher wird, wenn die minimalen Gewinnkoalitionen aus Partnern bestehen, welche auf einer links-recht Achse benachbart sind.37
In den 70er und 80er Jahren wurden diese theoretischen Modelle erstmals auf einer breiten Datenbasis empirisch getestet, die Ergebnisse der tatsächlich vorhersagbaren Koalitionen waren für die Forschung ernüchternd. So konnte nur eine kleine Anzahl von Koalitionen korrekt vorhergesagt werden und es wurde festgestellt, dass die Ergebnisse zwischen den untersuchten Staaten nicht kohärent waren, wie dies zu erwarten gewesen wäre bei gleichen politischen Systemen. Daraus wurde geschlossen, dass es einen „Ländereffekt" gibt, welcher dafür sorgt, dass unter sonst gleichen Voraussetzungen in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Koalitionen zustande kommen, welche mit den spieltheoretischen Modellen und Theorien nicht vorhersagbar waren.38
Infolgedessen wurde in der politikwissenschaftlichen Forschung begonnen, nach weiteren Erklärungsfaktoren für Koalitionsbildungen zu suchen, welche eine genauere Prognosekraft besaßen. So kamen die vielen Untersuchungen und Fallstudien zusammengefasst zu den Ergebnissen, dass es noch weitere Faktoren gibt, welchen die Koalitionsbildung und die Koalitionszusammensetzung beeinflussen. Einer der wichtigsten Faktoren ist, wie schon Axelrod und De Swaan angenommen hatte, der politische Standpunkt einer Partei. Ideologische Nähen befördern die Koalitionsbildung. Parteiintern spielt es eine wichtige Rolle, ob angenommen wird, dass durch eine Regierungsbeteiligung die Wählerschaft nicht abnimmt, sondern im besten Fall zunimmt. Als weiterer prägender Faktor für die Koalitionsbildung wurde die Struktur des Parteiensystems identifiziert, welche bspw. durch bestimmte politische Lager vorstrukturiert ist. Letztlich wurden auch institutionelle Faktoren ausgemacht, welche ihrerseits die Koalitionsbildung und die jeweilige Zusammensetzung beeinflussen. Als institutioneller Faktor ist bspw. das Wahlsystem zu nennen.39 Grundsätzlich lässt sich in den späten 80er und frühen 90er Jahren ein Trend weg von eindimensionalen Erklärungs- und Prognosemustern hin zu multifaktoriellen Erklärungen der Koalitionsbildung feststellen. So werden auch exogene Erklärungsfaktoren wie bspw. wirtschaftliche Krisen (Robertson, 1986) oder Zustände, in denen die Demokratie gefährdet ist (Budge/Keman, 1990) mit in die Erklärungen zu Koalitionsbildung einbezogen.40 Neuere Ansätze wie von Uwe Jun (1994) und von Kropp und Sturm (1998) sehen insbesondere das jeweilige Parteiensystem als zentralen Faktor für die Koalitionsbildung, wobei trotz alledem bis heute besonders auf die politisch-ideologischen Nähen und Distanzen, als ausschlaggebender Indikator für potenzielle Koalitionsbildungen wert gelegt wird. Heutzutage wird hierbei jedoch nicht mehr nur eine eindimensionale rechts-links Achse zugrunde gelegt, sondern eine Mehrdimensionale, welche mindestens zwischen einer wirtschaftspolitischen Ebene (Marktfreiheit vs. Sozialstaatlich) und einer gesellschaftspolitischen Ebene (progressiv-libertär vs. konservativ-autoritär) unterscheidet.41 Häufig werden auch einige policy-Positionen aus den Wahlprogrammen der Parteien in solchen Vergleichen hinzugezogen.
Im folgenden Teil soll nun genauer auf die formale Koalitionstheorie eingegangen werden und die Hauptkritiken an dieser kurz umrissen werden. Anschließend daran sollen mithilfe der neueren Theorien Kategorien entwickelt werden, mit welchen die Landtagswahl 2019 in Sachsen und die anschließende Koalitionsbildung beschrieben werden kann.
Als Begründer der formalen Koalitionstheorie in der Politikwissenschaft gelten William Gamson42 und William H. Riker43, welche das Verhalten der jeweiligen Koalitionspartner in unterschiedlichen Situationen erklären und Vorhersagen wollten.44 Wie bereits oben kurz beschrieben, versuchten sowohl Riker als auch Gamson Koalitionen mithilfe der in den Wirtschaftswissenschaften entwickelten Spieltheorie zu beschreiben und den Prozess der Koalitionsbildung so zu systematisieren, dass diese auf jedes demokratische System anzuwenden sei. Dabei gingen sie von der Grundannahme aus, dass die politischen Akteure sich, wenn sie ein gemeinsames Ziel wie die Regierungsbeteiligung erreichen wollen, zusammenschließen müssen und dies in einer Form tun, in welcher jeder Akteur einen möglichst großen Anteil an der Macht erlangt.45 Mit dem Ziel der Regierungsbeteiligung als Grundmotiv der Parteien wurde von einer Nullsummenlogik ausgegangen, welche eine Dichotomie eröffnete, die die Regierungsbeteiligung als Gewinn und die Mitgliedschaft in der opposition als Niederlage charakterisierte. Nach dieser Logik würden die Regierungsparteien sich alle Macht teilen, während die Oppositionsparteien jede Chance auf Macht verloren hätten bzw. an dieser nicht beteiligt sind.46 Den jeweiligen politischen Akteuren wird im Prozess der Koalitionsbildung ein rationales Verhalten unterstellt, welches impliziert, dass die Akteure aus ihrem Einsatz den größtmöglichen Gewinn ziehen. Der Einsatz der Akteure sind im koalitionspolitischen Kontext Abgeordnetenmandate und der Gewinn von Ministerposten.47 Für die formale Koalitionstheorie ist eine Koalition erst dann „siegreich", wenn sie die Mehrheit besitzt, Minderheitsregierungen können demnach nicht mit ihr erklärt werden. Ebenfalls haben Koalitionen aus dem Verständnis der formalen Koalitionstheorien immer eine Minimalgröße. Sie müssen so klein gehalten werden, dass, wenn ein Partner ausfällt, sie nicht mehr die Mehrheit haben. Dies geht aus der Annahme hervor, dass umso weniger Akteure sich die Ministerposten teilen, der Gewinnanteil für jeden Partner am höchsten ist. Aus dieser Logik entspringt die zentrale Annahme der formalen Koalitionstheorie, dass sich immer minimale Gewinnkoalitionen bilden.48 Riker formuliert diesen Vorgang wie folgt: "In n-person, zero-sum games, where side payments are permitted, where players are rational, and where they have perfect information, only minimal winning coalitions will occur."49"Übergroße" Koalitionen, in welchen die Koalition deutlich größer ist als minimal möglich für den Erhalt der Mehrheit oder Koalitionen mit einem Partner, welcher rechnerisch nicht benötigt werden würde, lassen sich mit dieser Theorie nicht erklären. Wie von Riker selbst beschrieben, geht die formale Koalitionstheorie davon aus, dass alle Akteure über alles informiert sind, es gibt also keine Überraschungen. Ebenfalls wird implizit davon ausgegangen, dass Parteien als homogene Akteure auftreten, das heißt, dass in ihnen keine unterschiedlichen Meinungen vorliegen. Für die spieltheoretischen Koalitionstheorien sind Akteure, Ressourcen und Gewinne die entscheidenden Parameter, welche Koalitionsbildungen determinieren.50 Auch die oben beschriebenen, rein policy-orientierten Koalitionstheorien gehören zu den formalen Koalitionstheorien, da auch sie einen Rational-Choice Ansatz verfolgen und weitere Grundannahmen der Spieltheorie teilen.
Laut den theoretischen Annahmen der formalen Koalitionstheorie müssten sich in demokratischen Regierungssystemen nach Wahlen sogenannte „minimal-winning" Koalitionen bilden. Dies wurde jedoch bereits in den ersten empirischen Untersuchungen widerlegt, die den praktischen Prognosewert der formalen Koalitionstheorie überprüften. Lediglich 26% der von Lijphart 1984 untersuchten Regierungen entsprachen einer minimalen Gewinnkoalition. 62% der untersuchten Regierungen waren sog. „übergroße" Koalitionen oder Minderheitsregierungen und weitere 12% Einparteienregierungen.51 Minimale Gewinnkoalitionen machen demnach zwar einen beträchtlichen Anteil der Regierungen aus, jedoch versagt die formale Koalitionstheorie in der Vorhersage und Erklärung von „übergroßen" Koalitionen und Minderheitsregierungen.52 Weitere Untersuchungen kamen zu ähnlichen Ergebnissen.53 Auch die kombinierten Ansätze aus gewinnorientierten und ideologischen Standpunkten konnten empirisch nicht überzeugen.54 Ebenfalls konnte gezeigt werden, dass die Annahme der proportionalen Repräsentation der Koalitionspartner in Form von Ministerposten eher selten exakt ist. In den meisten Fällen „gewann" der kleine Koalitionspartner überproportional viele Ämter. Kleine Parteien haben insofern mehr Macht, als dies mit der formalen Koalitionstheorie erklärt werden kann. Insbesondere wenn der kleinere Partner zwingend für eine Mehrheit benötigt wird und sich zwischen verschiedenen potenziellen Koalitionspartnern entscheiden kann, steigt der Machteinfluss kleiner Parteien.55
Doch nicht nur die empirischen Ergebnisse der formalen Koalitionstheorie zogen Kritik und Skepsis an der Aussagefähigkeit der Theorie auf sich, sondern auch die oben beschriebenen theoretischen Vorannahmen. So wurde häufig die, der formalen Theorie zugrunde liegende Nullsummenlogik kritisiert. Diese geht fälschlicherweise davon aus, dass nur eine Regierungsbeteiligung ein Gewinn und nur die Oppositionsrolle als Verlust gelten. Empirisch zeigt sich jedoch, dass Parteien auch aus der Opposition heraus Einfluss auf die Regierungspolitik nehmen können und es vermögen, diese entscheidend mitzugestalten.56 Der Parteienwettbewerb stellt sich also in der Realität weniger schwarz-weiß dar, als es die formale Koalitionstheorie annimmt. Eine Regierungsbeteiligung mag zwar häufig das Ziel einer Partei sein, jedoch ist davon auszugehen, dass manche Parteien es vorziehen, aus strategischen Gründen für eine bestimmte Zeit aus der Opposition zu agieren. Beispielsweise kündigte die SPD nach der Bundestagswahl 2017 an, in die Opposition gehen zu wollen und die GroKo mit der Union nicht fortzusetzen.57 Der Einzug in eine Koalition wird demnach nicht alleine vom Willen zur Regierungsbeteiligung getrieben, sondern folgt u.a. auch wahltaktischen und wahlstrategischen Überlegungen. Koalitionsgewinne können demnach nicht einfach an der Regierungsbeteiligung und der Anzahl der besetzen Ministerposten bemessen werden, sondern sind differenzierter zu verstehen. Die formale Koalitionstheorie gewichtete den Faktor „Macht" zu stark und verlor dabei u.a. wahltaktische Überlegungen der Parteien und Kontextfaktoren aus dem Auge.58
Ein weiterer Kritikpunkt an der formalen Koalitionstheorie ist, dass Parteien als homogene Akteure betrachtet werden. Auch dies greift in der Realität zu kurz, da die meisten Parteien nicht als homogene Akteure auftreten, sondern es innerparteilich Lagerbildungen gibt und die Meinungen und Stimmungen der Mitglieder bei Entscheidungen der Parteiführung im Interesse der Wählerinnen- und Mitgliederbindung mitberücksichtigt werden müssen. Parteien treten also auch in Koalitionsverhandlungen nicht als einheitliche Akteure auf.59 Auch die Annahme der formalen Koalitionstheorie, dass alle Akteure über alle Informationen verfügen, wird in der Literatur scharf kritisiert. Die Annahme der Allwissenheit in der Theorie sorgt dafür, dass Unsicherheiten der Parteien über die Pläne der anderen Parteien ignoriert werden.60 Dies ist in der Realität nicht der Fall, da es sich bei Koalitionsverhandlungen um doppelt kontingente Aushandlungsprozesse im Sinne Luhmanns handelt. Dies berücksichtigt die formale Theorie nicht.
Unter anderem aufgrund der fehlenden Empirie und der teils realitätsfernen Grundannahmen der Spieltheorie und des Rational-Choice Ansatzes konnte sich die formale Theorie nicht auf Dauer in der Forschung etablieren.61 Aufgrund dessen wurde ab Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre versucht, mehr Faktoren und Variablen in die Erklärung der Entstehung von Koalitionen einzubinden. Dies bedeutete jedoch nicht, dass komplett von den spieltheoretischen Annahmen abgewichen wurde, sondern, dass diese um weitere Kontextfaktoren erweitert wurden. Als besonders bedeutende Faktoren für die Koalitionsbildung stellte sich das jeweilige Parteiensystem heraus und die Kontexte, welche dieses umgeben.
Die formale Koalitionstheorie und besonders ihre Fehler wurden bis hierher grob aufgezeigt, da es wichtig ist zu verstehen, dass idealtypische Modelle und Theorien in der Realität teils nicht, bzw. nur sehr begrenzt greifen. Daher erscheint es umso wichtiger, dass besonders in der Koalitionsforschung jeder Fall so individuell wie möglich betrachtet wird, da zwar auch verallgemeinerbare Faktoren wie Mandatsstärke und politisch/ideologische Positionen der Parteien eine Rolle spielen, jedoch auch, wenn nicht sogar viel mehr kontextspezifische Variablen des jeweiligen Parteiensystems. Diese Kontextfaktoren ermöglichen es, die Dynamiken, welche rund um die Koalitionsbildung stattfinden, genauer zu erfassen und sich einen präziseren Eindruck von den tatsächlich ausschlaggebenden Faktoren zu verschaffen. Diese Faktoren können je nach Kontext und Parteiensystem verschieden gewichtet sein. Wie bereits oben beschrieben, ist es demnach zu einfach sich auf einen konkreten Faktor als Determinante der Koalitionsbildung zu beschränken.
Methodisch gesehen ist eine breite Fächerung und jeweils spezifische Gewichtung der Variablen allerdings schwierig, da so eine Generalisierung auf alle demokratischen Systeme nicht seriös möglich ist. Nichtsdestotrotz soll in dieser Abschlussarbeit versucht werden, am Beispiel der Landtagswahl in Sachsen diejenigen Faktoren ausfindig zu machen, welche die dortige Koalitionsbildung beeinflusst haben und welchen Einfluss die mit 27,5% stark vertretene AfD dabei hatte. Damit verbunden ist die Erwartung, dass der Fall Sachsen aufgrund des später noch genauer zu beschreibenden Parteiensystems, zumindest für die neuen Bundesländer Deutschlands allgemeinere Gültigkeit entwickeln kann. Um dies leisten zu können, sollen im folgenden Abschnitt Kategorien entwickelt werden, anhand welcher die Koalitionsbildung in Sachsen und deren spezifische Dynamiken beschrieben werden können. Dabei wird sich auf verschiedene, vorrangig von Detlef Nolte (1988) und Uwe Jun (1994) zusammengetragenen Koalitionstheorien bezogen.
Wie im vorherigen Teil beschrieben, konnte die monokausale und auf Basis der Spieltheorie entwickelte formale Koalitionstheorie die Realität nur unzulänglich beschreiben, da diese sich zu wenig auf die Kontextfaktoren rund um die Koalitionsbildung konzentrierte. Der Versuch, eine Theorie zu entwickeln, welche Allgemeingültigkeit für alle demokratischen Parteiensysteme beansprucht, kann als gescheitert betrachtet werden. Diese Erkenntnis veranlasste viele Wissenschaftlerinnen dazu, nach weiteren Faktoren zu suchen, welche eine bessere Erklärungskraft für die Bildung von Koalitionen entfalten. Für die Koalitionsforschung war bald klar, dass zwischen der Struktur des Parteiensystems und der Koalitionsbildung ein unauflösbarer Zusammenhang besteht.62 Gleiches gilt für Kontextfaktoren rund um die Wahlen und das Politische- bzw. das Parteiensystem.
Bevor genauer auf die verschiedenen Strukturmerkmale von Parteiensystemen eingegangen wird, welche Koalitionsbildungen begünstigen, soll kurz die Begrifflichkeit und ihre Bedeutung expliziert werden. Dabei schlägt Uwe Jun (1994) drei Ebenen vor, welche bzgl. der Koalitionsbildung in einem Parteiensystem unterschieden werden können. 1) Die Koalitionsfähigkeit einzelner Parteien 2) Das Koalitionspotenzial eines gesamten Parteiensystems und 3) die besonderen Strukturmerkmale (Kontextfaktoren) für eine Koalitionsbildung.63 Ein Parteiensystem definiert Jun wie folgt:
„Als Parteiensystem sollen (...) die Interaktionen aller relevanten, im Wettbewerb befindlichen politischen Organisationen verstanden werden, die direkt eine parlamentarische Repräsentation anstreben bzw. schon im Parlament vertreten sind; die Interaktionen werden hauptsächlich determiniert durch die Anzahl, jeweilige Größenordnung (Mitglieder- und Wähleranteil, Fraktionsstärke), Binnenstruktur und ideologischprogrammatische Distanz der Parteien. Das einzelne Gesamtsystem orientiert sich an den jeweils spezifischen politischen Konfliktlinien. Das Parteiensystem insgesamt kann gegenüber dem politischen System eine Legitimationsfunktion erfüllen, indem es bei Wahlen dem politischen System ein stabiles Fundament generalisierten Vertrauens, breite Zustimmung und emotional verankerten Massenrückhalt sichert und in periodischen Abständen erneuert."64
Dieser Definition von Uwe Jun wird sich im Folgenden angeschlossen. Innerhalb eines Parteiensystems treten die Parteien um die zur Verfügung stehenden Wähler*innenstimmen an. Ziel der Parteien ist es, möglichst viele Stimmen auf sich vereinen zu können, um ein politischer Machtfaktor zu werden und ggf. Teil der Exekutive zu werden (Wichtig: Parteien können, wie oben ausgeführt, auch nicht regieren wollen).65 Um dies zu erreichen versuchen Parteien mit Programmen, Personen und Konzepten in das politische System hineinzuwirken, sodass sie diese mitsteuern bzw. beeinflussen können. Das Ziel von den meisten Parteien ist es, darauf hinzuwirken, dass das System so stabil wie möglich bleibt, da dieses die Grundlage für ihre Existenz und somit auch ihre Macht ist. Den größten Einfluss auf das politische System haben sogenannte „relevante Parteien", welche in der Lage sind, den politischen Konkurrenzkampf in eine Richtung zu beeinflussen. Eine Partei wird umso relevanter für den koalitionspolitischen Prozess, je größer ihre relative Mandatsbasis ist und umso mehr Einfluss sie auf die Taktiken und Strategien der anderen Parteien hat.66 Hervorzuheben ist, dass die Struktur des Parteiensystems für das Funktionieren einer parlamentarischen Demokratie von hoher Bedeutung ist. Idealerweise sollten Parteien demnach zwischen den Staatsorganen und der Öffentlichkeit vermitteln. Sie müssen also immer im Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Politik agieren.67 Folglich kann das Parteiensystem nicht isoliert betrachtet werden, da es immer auch im Austausch mit politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen steht. Dass das Parteiensystem und die es beeinflussenden Kontextfaktoren von Bedeutung für Koalitionsbildungen sind, stellten vor Jun bereits andere fest.
So versuchte Dodd (1976) zwar immer noch beruhend auf dem formalen Ansatz, erstmals begleitende Faktoren ausfindig zu machen, welche die Koalitionsbildung präziser vorhersagten. Mit folgenden drei Faktoren konnte er 41% der Varianz im Koalitionsformat erklären. 1) Grad der Polarisierung der Parteien auf verschiedenen Konfliktebenen 2) dem Fraktionalisierungsgrad des Parteiensystems und 3) der Stabilität des Parteiensystems, was die Zahl der Parteien und ihre relative Stärke betrifft.68 Auch Budge und Herman (1978) beschäftigten sich mit weiteren Erklärungsfaktoren für Koalitionsbildungen, rückten jedoch weiter von dem „Idealformat" der formalen Koalitionstheorie ab. Sie versuchten mittels der Einbeziehung neuer Motive von Parteien und deren Führung sowie Kontexten und Parteiensystemfaktoren flexiblere Variablen zu entwickeln, um Koalitionsbildungen vorhersagen zu können. Mit ihrem neuen Kriterienkatalog konnten Budge und Herman 78% der Zusammensetzungen von Regierungen erklären.69 Nolte fasst die umfassenden Erkenntnisse und Neuerunge der Untersuchung Budge und Herrmans in fünf knappen Punkten zusammen: 1) Der Wert, den die demokratischen Parteien dem politischen System an sich zuschreiben, führt in politischen Krisenzeiten zu Allparteienregierungen und zum Ausschluss antidemokratischer Parteien aus dem Koalitionsbildungsprozess. (Letzteres ist wie im Folgenden noch genauer zu beschrieben auch in Sachsen der Fall) 2) In Parteiensystemen, welche zu einer ideologischen Blockbildung (rechts-links) neigen, bilden sich Regierungen meist innerhalb dieser Blöcke (auch, wenn dabei „übergroße" Koalitionen entstehen.) 3) Das entscheidende Kriterium für die Regierungsfähigkeit einer Koalition ist die Fähigkeit, Misstrauensvoten zu überstehen und nicht zwangsweise die absolute Mehrheit der Mandate. 4) Regierungsbildungsprozessen haftet ein gewisser Trägheitseffekt an. Folglich haben Parteien, welche bereits häufig an Regierungen beteiligt waren einen Vorteil im Regierungsbildungsprozess. 5) Die relative Stärke einer Partei, gemessen an den Mandaten, beeinflusst ihre Chance, am Regierungsbildungsprozess beteiligt zu werden. Umso mehr Mandate, desto schwieriger wird es die jeweilige Partei aus dem Prozess auszuschließen (Auch diesem Faktor wird im Laufe der Untersuchung eine bedeutende Rolle zukommen).70 Von besonderem Interesse sind die von Luebbert (1984/1986) entwickelten Ansätze. Auch er versucht mittels Parteiensystemcharakteristika die Parteistrategien im Prozess der Regierungsbildung zu erklären. Dabei fokussiert es sich besonders auf die
Rolle von Antisystemparteien und welchen Einfluss diese auf das Parteiensystem haben. Laut Luebbert wirken diese zentrifugal auf das Parteiensystem, damit folgt er der von Satori (1976) entwickelten Idee des polarisierten Parteienpluralismus (im Verlaufe dieser Arbeit wird diese These ebenfalls tangiert).71
Nolte kommt nach seiner Zusammenstellung von Koalitionstheorien, welche sich u.a. mit dem Parteiensystem und den jeweiligen Kontexfaktoren zu dem Ergebnis, dass der Koalitionsbildungsprozess durch viele Faktoren derart geprägt wird, so dass es für die einzelnen Theorien kaum möglich ist, diesen gerecht zu werden. Er schlägt deshalb vor, von „historisch variablen Kaolitionsbildungsmustern" auszugehen. Damit meint er, dass zu einem bestimmten (historischen) Zeitpunkt von den relevanten politischen Akteuren nur eine beschränkte Anzahl an Koalitionen - von den rechnerisch möglichen - in Betracht gezogen wird. Diese Koalitionsmuster basieren auf Kontextfaktoren und dem politischen System des jeweiligen Landes bzw. Bundeslandes. Eine hervorgehobene Rolle spielen laut Nolte: 1) Die ideologische Nähe von Parteien in Grundsatzfragen. In diesem Faktor spiegeln sich u.a. die Interessen und die Kompatibilität der sozialen Trägerschichten einer Partei wieder, auf welche die Parteien, damit sie keine Verluste in der Wähler*innengunst generieren, Rücksicht nehmen müssen. Des Weiteren wird die Koalitionsbildung 2) durch die Struktur des Parteiensystems, womit u.a. relative Stärke der relevanten Parteien und deren Anzahl gemeint sind, beeinflusst. Ebenso entsteht ein Einfluss 3) durch vorherige gemeinsame Koalitionserfahrungen von Parteien sowie durch 4) zentrale politische Probleme vor der Wahl. Mit Blick auf diese groben Rahmenfaktoren, welche eine Koalitionsbildung beeinflussen können, schlussfolgert Nolte, dass sich Veränderungen in der Koalitionsbildung entweder durch Veränderungen in der sozialen Basis und / oder der politischen Parteien oder durch die Veränderung der Struktur des Parteiensystems ergeben können. Einflüsse hier könnten bspw. die Veränderung des relativen Gewichts von Parteien, neue Parteien oder die den Parteien von den anderen zugeschriebene Koalitionsfähigkeit sein. Auch ist es möglich, dass Veränderungen in den zentralen politischen Fragen in der Bevölkerung die Koalitionsbildung beeinflussen sowie negative Koalitionserfahrungen von Parteien miteinander.72
Nolte greift beim Zusammentragen der Faktoren für die Bildung von Koalitionen auf verschiedene Faktoren des Parteiensystems und des politischen Systems eines Landes zurück. Er macht deutlich, von welcher Wichtigkeit es ist, dass mehrere Faktoren bei der Regierungsbildung bzw. Koalitionsbildung berücksichtigt werden. Dabei ist wichtig zu betonen, dass es keine Reihenfolge oder Gewichtung der aufgezählten Faktoren gibt, die für jede Untersuchte Koalition gleich ist. Demnach muss von Fall zu Fall entschieden werden, welcher Faktor oder welche Faktoren den größten Einfluss auf die Koalitionsbildung hatte oder hatten. So wird in der folgenden Untersuchung vermutet, dass die Anwesenheit einer relevanten rechtspopulistischen Partei einenen Einfluss auf die Koalitionsbildung hatte. Ob und wenn ja, wie sich dies konkret auf die Koalitionsbildung auswirkt, bleibt abzuwarten und ist zunächst noch offen. In Addition zu den von Nolte zusammengetragenen Faktoren sollen einige von Uwe Jun gesammelte Kontexfaktoren, welche eine Koalitiosbildung ebenfalls beeinflussen, hinzugenommen werden.
Jun misst der Koalitionsaussage von Parteien einen hohen Stellenwert bei, da diese Wählerinteressen bindet, welchen man als Partei verpflichtet ist. Handelt eine Partei nach den Wahlen nicht nach der von ihr getätigten Koalitionsaussage, läuft sie Gefahr, das Vertrauen und somit die Stimmen der Wählerinnen zu verlieren. Ebenso grenzt eine Koalitionsaussage die politischen Spielräume von Parteien ein und wird somit nicht leichtfertig getroffen.73 Koalitionsaussagen können sich sowohl für eine bestimmte Koalition als auch gegen eine bestimmte Koalition aussprechen. Wie auch Nolte greift Jun ebenfalls die Koalitionsfähigkeit von Parteien als ausschlaggebenden Faktor auf, welcher Koalitionsbildungen beeinflusst. In Abgrenzung zu den formalen Theorien betont Jun, dass Koalitionsfähigkeit keinesfalls unter allen Parteien in pluralistischen Parteiensystemen gleichermaßen vorliegt. So würden nach Jun bspw. Anti-Systemparteien, aber auch Protestparteien die Koalitionsfähigkeit durch andere Parteien abgesprochen. Koalitionen, die rechnerisch möglich sind, sind dies teilweise politisch nicht.74 Zu betonen ist, dass Parteien ihre Koalitionsfähigkeit nur begrenzt selbst beeinflussen können, denn diese wird ihnen oder wird ihnen eben nicht durch die anderen Parteien zugeschrieben. Faktoren, die die Koalitionsfähigkeit einer Partei beeinflussen, sind u.a. ihr programmatisches und personelles Angebot sowie die Parteistruktur und ihre bisher verfolgte Politikkonzeption. Auch die Strategie im Parteienwettbewerb hat einen erheblichen Einfluss auf die einer Partei zugeschriebenen Koalitionsfähigkeit. Trotzdem muss festgehalten werden, dass auch numerische Verschiebungen in der relativen Stärke der Parteien die Koalitionsfähigkeit von Parteien beeinflussen können. Politische Faktoren sowie nummerische stehen dabei in einer Wechselbeziehung miteinander. Grundsätzlich ist das Kriterium Koalitionsfähigkeit wie alle anderen Kriterien auch immer dem zeitlichen Wandel und den allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Stimmungen unterworfen und kann sich demnach auch ändern.75 Auch Jun misst der ideologischen Nähe zwischen Parteien eine wichtige Bedeutung bei und spricht sich ebenfalls für Lagerbildungen auf der rechts-links Ebene aus, sofern diese nummerisch möglich sind. Des Weiteren identifiziert er die Konzentration des Parteiensystems (gemessen an der Anzahl der relevanten Parteien), die jeweilige Größe der Parteien (gemessen an Mitgliederzahlen, Mandaten und Wahler*innenstimmen) sowie die Polarisierung und der Fragmentierung und die die daraus resultierenden Interaktionsmöglichkeiten der Parteien (gemessen an den ideologischen Distanzen der Parteien) als entscheidende Faktoren der Koalitionsbildung.76
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1 YouTube 2019.
2 Tagesschau.de 2022.
3 Jesse 2020, 312.
4 Jesse 2020, 310.
5 Amm 2019, 87.
6 Jesse 2020, 305.
7 Jesse 2020, 305.
8 Tagesschau.de 2022.
9 Süddeutsche Zeitung 2016.
10 Lehmann 2021.
11 Marschall, Masch 2020, 47.
12 Vgl. Tab. 1. Dauer Koalitionsbildung
13 Jesse 2020, 321.
14 Switek 2017.
15 Vgl. Tab. 2 Umfang Koalitionsverträge
16 Vgl. William H. Riker 1962.
17 Vgl. Gamson 1961.
18 Vgl. De Swaan 1973.
19 Vgl. Axelrod 1970.
20 Nolte 1988, 231.
21 Ob CDU und SPD noch Volksparteien sind beschäftigt die Forschung Vgl. dazu bspw. Wiesendahl 2011; Walter 2009
22 Decker 2017, 61.
23 Switek 2017, 82.
24 Jun 1994, 67.
25 Decker et. al. 2022, 63.
26 Jun 1994, 21.
27 Müller et. al. 2008, 2-5.
28 Jun 1994, 23.
29 Jun 1994, 24.
30 Kropp, Sturm 1998, 16.
31 Jun 1994, 35.
32 Kropp, Sturm 1998, 14.
33 Mitchell, Nyblade 2008, 202-205.
34 Vgl. Axelrod (1970) und De Swaan (1973)
35 Jun 1994, 38-39.
36 Jun 1994, 39.
37 Kropp, Sturm 1998, 37.
38 Jun 1994, 40.
39 Jun 1994, 41.
40 Mitchell, Nyblade 2008, 202-205.
41 Vgl. bspw. Debus (2022); Jankowski et.al. (2022); Jakobs/Jun (2018)
42 Vgl. Gamson (1961)
43 Vgl. Riker (1962)
44 Jun 1994, 36.
45 Nolte 1988, 230.
46 Jun 1994, 36.
47 Kropp, Sturm 1998, 14.
48 Jun 1994, 37.
49 Riker 1962, 32.
50 Jun 1994, 38.
51 Lijphart 1984, 61.
52 Nolte 1988, 231.
53 Kropp Sturm 1998, 18.
54 Nolte 1988, 232.
55 Jun 1994, 44.
56 Jun 1994, 43.
57 Zeit-Online 2017.
58 Jun 1994, 46.
59 Kropp, Sturm 1998, 15.
60 Mitchell, Nyblade 2008, 212.
61 Jun 1994, 43.
62 Kropp, Sturm 1998, 65.
63 Jun 1994, 65.
64 Jun 1994, 68.
65 Jun 1994, 66.
66 Jun 1994, 67.
67 Jun 1994, 68.
68 Nolte 1988, 233.
69 Nolte 1988, 233-234.
70 Nolte 1988, 233-234.
71 Nolte 1988, 234.
72 Nolte 1988, 234 .
73 Jun 1994, 47.
74 Jun 1994, 48.
75 Jun 1994, 48.
76 Jun 1994, 69ff.