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Bachelorarbeit, 2019
62 Seiten, Note: 2,3
I. Abkürzungsverzeichnis
II. Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung, Relevanz und Problemstellung
2 Stand der Forschung
3 Theoretischer Rahmen: Der Multiple-Streams-Ansatz
3.1 Das Garbage Can Model
3.2 Prämissen und Grundannahmen des Multiple-Streams-Ansatzes
3.3 Die Erweiterung des Ansatzes durch Nikolaos Zahariadis
4 Methodik und Hypothesen
5 Fallauswahl und Vergleichbarkeit
6 Operationalisierung und Konzeptualisierung
7 Analyse
7.1 Fall 1 – Der Prozess im Zeitraum von 2001 bis 2004
7.2 Fall 2 – Der Prozess im Zeitraum von 2004 bis 2006
7.3 Vergleich der Untersuchungszeitpunkte
8 Diskussion der Ergebnisse und Grenzen des Multiple-Streams-Ansatzes
8.1 Diskussion der Ergebnisse und Beantwortung der Forschungsfrage
8.2 Der Multiple-Streams-Ansatz: Grenzen und Kritik
9 Fazit
Literaturverzeichnis
FDP Freie Demokratische Partei
MDCD Most dissimilar cases design
MSA Multiple-Streams-Ansatz
MSCD Most similar cases design
PDS Partei des demokratischen Sozialismus
SED Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands
SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands
USA Die Vereinigten Staaten von Amerika
Abbildung 1: Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat mit Blick auf die Regierungspartei des Bundes
Abbildung 2: Zusammensetzung der Kommission im Jahr 2003
Abbildung 3: Sitzverteilung im 15. Deutschen Bundestag (2002)
Abbildung 4: Zustimmungswerte der Parteien von 2000 bis 2006
Abbildung 5: Ergebnisse der Bundestagswahl 2005, Zweitstimmen
Abbildung 6: Vergleich beider Fälle, ausführliche Darstellung
Abbildung 7: Vergleich beider Fälle, gekürzte Darstellung
Abbildung 8: Einzelne Komponenten der beiden Analyseprozesse
Die föderale Staatsordnung gilt gemeinhin als Grund dafür, dass politische Entscheidungen in der Bundesrepublik nur mühsam getroffen werden. Dennoch ist sie bereits seit Inkrafttreten des deutschen Grundgesetzes 1949 verfassungsrechtlich verankert (vgl. Parlamentarischer Rat der Bundesrepublik Deutschland 1949, zuletzt geändert 2019). Mindestens genauso lange wird der Föderalismus in politischen und gesellschaftlichen Debatten diskutiert.1 Sowohl innerhalb der aktiven Politik als auch im Zuge wissenschaftlicher Untersuchungen stellt er deshalb einen häufig betrachteten Gegenstand dar. Haben politische Amtsinhaber/innen beispielsweise mit Problemen wie der „Möglichkeit [von] parteipolitische[n] Blockaden (…) unter Bedingungen, in denen der Bundesregierung eine oppositionelle Mehrheit im Bundesrat gegenübersteht“ (Scharpf 1999, 1) zu kämpfen, weisen Wissenschaftler/innen vermehrt auf das Erschweren von Problemlösungsprozessen hin (vgl. ebd.).
Unter dem deutschen Föderalismus ist im Allgemeinen ein politisches Strukturprinzip zu verstehen, „nach dem sich ein Gemeinwesen aus mehreren, ihre Entscheidungen abstimmenden, aber ihre Eigenständigkeit bewahrenden Gemeinschaften zusammensetzen soll“ (Eggert o. J.a). Trotz der Festschreibung dieses Prinzips im Grundgesetz ist das Verhältnis zwischen Bund und Ländern keineswegs statisch. Es basiert auf einem ständigen Wandlungs- und Anpassungsprozess (vgl. Renzsch et al. 2010, 4). Dennoch sind die unterschiedlichen staatlichen Ebenen eng miteinander verknüpft. Das Grundgesetz legt fest, welche Bereiche von den verschiedenen Ebenen reguliert werden (Kompetenzverteilung) (vgl. Artikel 70–74 Parlamentarischer Rat der Bundesrepublik Deutschland 1949, zuletzt geändert 2019). Immer wieder kommt es dabei zu Problemen. So auch im Jahr 2000, in dem das Verhältnis von Bund und Ländern in das Blickfeld politischer Entscheidungsträger/innen geriet (vgl. Bruno 2005). In der Geschichte des Landes war es im Laufe der Zeit zu einer immer stärkeren Verflechtung zwischen den staatlichen Ebenen gekommen (vgl. Scharpf 2010, 5). Die daraus hervorgehende Menge an Vetospieler/innen und die Möglichkeit der gegenseitigen Blockade ebenjener machten das Regieren in der Bundesrepublik schwerfällig (vgl. Scharpf 1999, 3). Das Land befand sich in einer sogenannten „Politikverflechtungsfalle“ (vgl. Scharpf 1999, 1–3)2. Dieses Problem lösen sollte eine Verfassungsänderung (vgl. Der Bundesrat o. J.c). Dafür rief der Bundestag auf Antrag von SPD, CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP die sogenannte „Föderalismuskommission zur Modernisierung Bundestaatlicher Ordnung“3 ins Leben (vgl. ebd.). Die Aufgabe dieser lag darin, Vorschläge zur nötigen Entflechtung auszuarbeiten. Ihre Arbeit scheiterte jedoch bereits kurze Zeit später an inneren Differenzen und wurde ohne Endergebnis niedergelegt (vgl. ebd.). Eine Föderalismusreform konnte in Folge dessen zunächst nicht zustande kommen. Bereits einige Jahre später aber wurde die im Prozess von 2001 bis 2004 angestrebte Verfassungsänderung umgesetzt. Die Föderalismusreform trat am 1. September 2006 in Kraft (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung o. J.). Was hatte sich in der Zwischenzeit verändert, sodass das Bestreben letztlich gelingen konnte? Diese und andere Fragen sollen im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen. Zusammengefasst werden sie deshalb zu der Forschungsfrage: Wie konnte die Föderalismusreform 14 im Jahr 2006 trotz vorherigem Scheitern schließlich gelingen?
Zur Beantwortung wird der Multiple-Streams-Ansatz (MSA), ursprünglich von John W. Kingdon entwickelt (Kingdon 1984), herangezogen. Dieser ist deshalb besonders gut geeignet, weil das zentrale Erkenntnisinteresse dabei nicht auf der konkreten Ausgestaltung einer Policy liegt, sondern auf der Erklärung des Zeitpunkts eines Wandels (vgl. Herweg 2015, 325). Die methodische Grundlage stellt eine Prozessanalyse (process tracing) dar.5 Beide Anläufe zur Umsetzung einer Föderalismusreform (erstens der Prozess von 2001 bis 2004 und zweitens der Prozess von 2004 bis 2006) werden zunächst einzeln analysiert und die Ergebnisse dann im zweiten Schritt miteinander verglichen. Das Interesse dieser Arbeit liegt folglich vor allem in dem Verständnis des politischen Prozesses rund um die Föderalismusreform und in der Aufklärung der vorliegenden Kontextbedingungen und Kausalmechanismen. Weil der Föderalismus auch noch heute einen häufig kritisierten Gegenstand darstellt, (vgl. beispielsweise Bräutigam 2020) kann davon ausgegangen werden, dass weitere Überarbeitungen des Prinzips und damit Verfassungsänderungen nicht ausgeschlossen werden können.6 Aus diesem Grund könnte es über das Verständnis der vergangenen Prozesse hinaus von Relevanz sein, zu identifizieren, auf welchem Wege ein solches Vorhaben im Kontext der Bundesrepublik gelingen kann und unter welchen Voraussetzungen es wohlmöglich zum Scheitern verurteilt ist.7
Zunächst soll im folgenden Kapitel (Kapitel 2) ein Überblick über den aktuellen Stand der Forschung gegeben werden. Daraufhin werden die Prämissen und Grundannahmen des MSA erläutert, sowie Erweiterungen und Änderungen, die für diese Arbeit relevant sind, angeführt (Kapitel 3). Es folgt die Darstellung des methodischen Vorgehens, der Fallauswahl und der Vergleichbarkeit der Fälle (Kapitel 4 und 5) sowie eine Operationalisierung (Kapitel 6). Darauf aufbauend wird im nächsten Kapitel eine zweischrittige Analyse vorgenommen (Kapitel 7). Schließlich werden die daraus hervorgehenden Ergebnisse zusammengeführt, ausgewertet und die aufgestellten Hypothesen überprüft (Kapitel 8.1).8 Zudem werden die Grenzen des MSA, mögliche Fehlerquellen sowie grundlegende Gütekriterien des wissenschaftlichen Arbeitens aufgegriffen und erläutert (Kapitel 8.2). Ein kurzes Fazit beschließt die Arbeit (Kapitel 9).
Um die Thematik dieser Abschlussarbeit verorten zu können und mögliche Anknüpfungspunkte aufzuzeigen, sollen nun einige dafür relevante Forschungen angeführt werden.
In dem Feld der Verfassungsänderungen lassen sich Untersuchungen finden, die sich mit dem Zustandekommen ebenjener sowohl in föderalen als auch unitarischen Demokratien befassen und Unterschiede ausfindig machen wollen. So die im Sammelband „Föderalismusreform in Deutschland- Bilanz und Perspektiven im internationalen Vergleich“ im Jahr 2010 veröffentlichte Forschung der Politikwissenschaftlerin Astrid Lorenz mit dem Titel „Verfassungsänderungen in föderalen und unitarischen Demokratien im Vergleich. Befunde einer empirischen Analyse für den Zeitraum von 1945 bis 2004“. Die Autorin geht dabei davon aus, dass rationalistische Ansätze gut geeignet seien, um die Entstehung von Entscheidungsblockaden innerhalb eines politischen Systems zu erklären.9 Diese legen (ausgehend von den Grundideen der Theorien rationaler Entscheidungen) unter anderem die Annahme zugrunde, dass die hohe Zahl der in föderalen Systemen beteiligten Akteur/innen zu einem wachsenden Aufwand und höheren Kosten „für die Vorbereitung von Entscheidungen und die Konsensfindung“ (Lorenz 2010, 1) führt. Unter anderem wird deshalb impliziert, dass die Verfassung in föderalen Staaten seltener geändert werde als in unitarischen, da „mehr Interessen ‚unter einen Hut gebracht‘ gebracht werden müssen“ (Lorenz 2010, 13) und damit die Wahrscheinlichkeit von Einzelvetos stiege (vgl. ebd.). Untersucht wurde ein Sample von 37 Staaten, „alle etablierten Demokratien mit mehr als 1 Million Einwohnern, die eine schriftlich kodifizierte Verfassung besitzen und frei von bürgerkriegsähnlichen Zuständen waren bzw. sind“ (Lorenz 2010, 19) im Zeitraum zwischen 1945 und 2004 (vgl. ebd.). Die Ergebnisse verdeutlichen, dass entgegen der vorher angeführten Vermutung genau das Gegenteil der Fall zu seinen scheint. „Die genauere Analyse zeigt, dass entgegen der Annahme in Hypothese 1 in den föderalen Staaten die Verfassungen im Schnitt deutlich häufiger geändert wurden als in den unitarischen Staaten“ (Lorenz 2010, 21).
Die Relevanz dieser Untersuchung für die in dieser Arbeit stattfindende Analyse liegt darin, dass in ihr rationalistische Ansätze genutzt werden, um zu erklären, wie oft es zu Verfassungsänderungen in föderalen Systemen kommt. Die vorher formulierte Hypothese konnte im Zuge der Arbeit nicht verifiziert werden. Wenn rationalistische Ansätze die Häufigkeit des Zustandekommens von Verfassungsänderungen innerhalb föderaler Systeme nicht erklären können, ist davon auszugehen, dass zumindest grundlegende Teile der Annahmen rationaler Entscheidungen in diesem Forschungsfeld nichtzutreffend sein könnten. Gegebenenfalls kann der dieser Arbeit zugrundeliegende Analyseansatz, der entgegen dieser Rationalitätsannahmen arbeitet, das Phänomen von Verfassungsänderungen besser erklären, als es Theorien rationaler Entscheidungen tun.
Außerdem relevant für das Verständnis dieser Abschlussarbeit sind Untersuchungen zu der Föderalismusreform 1. In Bezug auf diese sind in der Literatur vor allem nachträgliche Analysen zu finden, die sich mit dem Inhalt und den Ergebnissen ebenjener befassen und sie bewerten.
Ein Beispiel dafür stellt die Arbeit des Politikwissenschaftlers Reimut Zohlnhöfer dar, welcher sich in seiner Veröffentlichung „ Der Politikverflechtungsfalle entwischt? Die Effekte der Föderalismusreform I auf die Gesetzgebung“ in der Zeitschrift für Politikwissenschaft aus dem Jahr 2009 (Jahrgang 19, Heft 1) mit den Auswirkungen der Föderalismusreform auf die (gesamte) Gesetzgebung innerhalb des Landes befasst. Eines der wichtigsten Ziele der Föderalismusreform stellte die Reduzierung zustimmungspflichtiger Gesetze dar, da diese zu großen Teilen zu den Verflechtungen zwischen Bund und Ländern beitrugen (vgl. Zohlnhöfer 2009, 54).10 Durch eine quantitative Analyse aller neuen Gesetze in der Zeit der ersten 28 Monate nach Inkrafttreten der Föderalismusreform und einer zusätzlichen kontrafaktischen Betrachtung der Schlüsselentscheidungen der rot-grünen Bundesregierung (vgl.
Zohlnhöfer 2009, 41) verdeutlichte die Analyse von Zohlnhöfer letztlich vor allem, dass sich die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen doch in nennenswertem Umfang verringert hat, allerdings bei erheblichen politikfeldspezifischen Unterschieden. Zudem zeigte sich bei den Gesetzen der Großen Koalition, bei denen die Zustimmungsbedürftigkeit entfallen ist, dass diese fast durchgängig kaum umstritten und häufig von marginaler Bedeutung waren. (Zohlnhöfer 2009, 65)
Auch Vergleiche der deutschen Föderalismusreform mit Verfassungsänderungen anderer Länder sind in bestehender Literatur aufzufinden. So befasst sich die Politologin Nathalie Behnke mit einem Vergleich von durchgeführten Reformen innerhalb Deutschlands, Österreichs und der Schweiz (Originaltitel der Arbeit: Föderalismusreform in Deutschland, der Schweiz und Österreich). In der ebenfalls in dem Sammelband „Föderalismusreform in Deutschland – Bilanz und Perspektiven im internationalen Vergleich“ veröffentlichten Arbeit geht es deshalb um den schweizerischen Einfluss auf die Reformpolitiken Deutschlands und Österreichs (vgl. Behnke 2010, 1). Im Blickfeld der Arbeit stehen nicht die Inhalte der Reform, sondern tatsächlich das Zustandekommen und die Faktoren rund um die verschiedenen Verfassungsänderungen in den Vergleichsländern (vgl. Behnke 2010). Dafür werden die Reformprozesse zunächst chronologisch dargelegt, um im nächsten Schritt genauer zu untersuchen, „wie die Prozesse organisiert waren, wie verhandelt und wie entschieden wurde“ (Behnke 2010, 38–39). Im letzten Schritt werden die Fälle miteinander verglichen. In Bezug auf die Bundesrepublik verdeutlicht die Untersuchung, dass das Hauptproblem des deutschen Föderalismus auch nach den Reformen ungelöst blieb (vgl. Behnke 2010, 41).11 Damit ist die Neuordnung des Finanzausgleichs gemeint, die „aus den Verhandlungen völlig herausgehalten worden war“ (ebd.) und für die im Jahr 2007 eine neue Kommission eingesetzt wurde, „die sich explizit mit der Neuordnung der fiskalischen Beziehungen zwischen Bund und Ländern beschäftigen sollte“ (ebd.). Diese Untersuchung bietet Anknüpfungspunkte für die Analyse des Prozesses rund um das Zustandekommen der Föderalismusreform.
Auch der dieser Arbeit zugrundeliegende Analyserahmen ist zu Teilen in bisherigen Forschungen wiederzufinden. Allerdings werden zumeist nur einzelne Teile des Ansatzes für jeweilige Forschungen genutzt (vgl. Rüb 2014, 373).
Das Buch des Begründers, John W. Kingdons „Agendas, Alternatives and Public Policies“ aus dem Jahr 1984 (Kingdon 1984), ist zwar eines der meistzitierten Bücher der Sozialwissenschaft, aber außer ein paar schlüssigen und eingängigen Begriffen, wie etwa „policy window“, „political entrepreneur“ u. Ä., wurden die Grundideen systematisch kaum rezipiert.12 (Rüb 2014, 373)
So ist beispielsweise das von Kingdon eingeführte „window of opportunity“ Teil einiger politikwissenschaftlicher Untersuchungen (vgl. beispielsweise Knecht et al. 1988; Aberbach und Christensen 2001) und auch das Konzept des „Policy Entrepreneurs“ wird in viele sowohl politikwissenschaftliche Untersuchungen (vgl. beispielsweise Schneider und Teske 1992) als auch in politisch-ökonomische Analysen mit eingebracht (und damit auch auf andere wissenschaftliche Disziplinen übertragen) (vgl. beispielsweise Abel 2003).13 Die vollständige Replizierung und Anwendung des MSA hingegen ist in vorherrschender Literatur nicht allzu häufig aufzufinden.14
Angeführte Werke verdeutlichen, dass die Föderalismusreform zwar Gegenstand einiger politikwissenschaftlicher Untersuchungen darstellt, allerdings zumeist die Auswirkungen und Inhalte ebenjener im Blickfeld der Analyse stehen.15 Auch Vergleiche mit Verfassungsänderungen anderer Staaten liegen vor. Einen direkten Vergleich der beiden Ausgangssituationen, d. h. (1) die Zeit des erstmaligen Scheiterns der Föderalismusreform 1 und (2) die Zeit ihres späteren Gelingens, um mögliche Unterschiede herauszukristallisieren, sucht man in vorliegender Literatur bisher allerdings vergeblich. Zudem werden zwar einzelne Teile des Analyserahmens MSA für wissenschaftliche Untersuchungen herangezogen, der Analyserahmen als Ganzes taucht in bestehenden Forschungen jedoch selten auf. Die Arbeit der Politologin Astrid Lorenz hat zudem gezeigt, dass die Annahmen der rationalen Theorien, die in der Politikwissenschaft häufig genutzt werden, um das Zustandekommen von Entscheidungen zu erklären, ihre Grenzen haben. Aus diesem Grund soll in dieser Arbeit ein anderer, in der Politikwissenschaft seltener gewürdigter Blickwinkel genutzt werden, um das Zustandekommen der Föderalismusreform 1 zu untersuchen. Inhalte und Auswirkungen der Verfassungsänderung sollen hingegen ungeachtet bleiben. Die bisherige Forschung scheint diesen Bereich auf vielfältige Weise abgedeckt zu haben.
Der sogenannte „Multiple-Streams-Ansatz“ findet im Jahr 1984 Eingang in die Politikwissenschaft (vgl. Originalfassung Kingdon 1984).16 Ausgehend von den Grundpfeilern des Garbage Can Model17 (vgl. Cohen et al. 1972) entwickelte Kingdon zunächst einen lediglich auf die Untersuchung von Agenda Setting18 anwendbaren Analyserahmen für präsidentielle Systeme19 (vgl. beispielsweise Kingdon und Thurber 2003, 23–26).
Der Politikwissenschaftler Nikolaos Zahariadis nahm sich schließlich der Aufgabe an, die Anwendung des Analyserahmens zu erweitern und ihn so auch auf parlamentarische Systeme anwendbar zu machen (vgl. Zahariadis 2003). Alle drei Analyserahmen und ihre Grundannahmen sollen zunächst präsentiert werden.
Das Garbage Can Model, zu Deutsch oft mit „das Mülleimer-Modell“ übersetzt, stellt den Ausgangspunkt der nachfolgenden Arbeiten von Zahariadis und Kingdon dar.
Es beschreibt, wie komplexe Entscheidungen innerhalb von Organisationen getroffen werden.20 In dem Originaltext aus dem Jahr 1972 bezeichnen die Autoren Organisationen als „organisierte Anarchien“. Dabei sind vor allem drei Annahmen von ausschlaggebender Bedeutung: (1) Präferenzen bilden sich erst während des Entscheidungsprozesses aus. Policy Making kann folglich nicht auf festgelegten Präferenzen und rationalen Problemlösungsprozessen basieren. Dazu heißt es im Originaltext:
The organization operates on the basis of a variety of inconsistent and ill-defined preferences. It can be described better as a loose collection of ideas than as a coherent structure; it discovers preferences through action more than it acts on the basis of preferences. (Cohen et al. 1972, 1)
Zudem muss von (2) unklaren Technologien innerhalb einer Organisation ausgegangen werden. Demnach wüssten die Mitglieder einer Organisation nicht, wie die internen Prozesse der Organisation strukturiert seien.21 Vielmehr werde nach einer „trial-and- error procedure“ gearbeitet, bei der Rückschläge hingenommen würden, um aus ihnen zu lernen (vgl. ebd.) (3) Weiter handelt es sich bei den Mitgliedern einer Organisation um eine sich in Bewegung und Austausch befindende Masse an partizipierenden Menschen. „Participants vary in the amount of time and effort they devote to different domains; involvement varies from one time to another” (ebd.). Deshalb sei die interne Struktur einer Organisation von stetiger Unsicherheit geprägt (vgl. ebd.).
Beim Treffen von Entscheidungen teilen zumeist längst nicht alle Mitglieder dieselben Ideen und Vorstellungen. Es herrscht eine sogenannte „Zielambiguität“ (ebd.) vor, die dazu führt, dass Entscheidungen oftmals ohne einen Konsens getroffen werden müssen. Zudem spielt auch die Zeit eine tragende Rolle. „Participants within an organization are constrained by the amount of time they can devote to the various things demanding attention” (Cohen et al. 1972, 2).
Im Garbage Can Model müssen vier „Ströme“22 zusammenfließen, bevor Entscheidungen getroffen werden können: der Optionsstrom, der Problemstrom, der Strom der Wahlmöglichkeiten und der Akteursstrom23 (vgl. Cohen et al. 1972, 3). Zudem sind Entscheidungssituationen geprägt von Kontingenz, d. h. dem Möglichen-sein, aber auch dem Anders-möglich-sein von Entscheidungen (vgl. Schmidt 1999, 328). Das bedeutet, dass „Entscheidungen nicht in einem direkten Zusammenhang mit einem konkreten Problem stehen müssen und immer auch anders denkbar sind“ (Goede 2014, 66).
Aus dem Modell ergibt sich deshalb, dass Entscheidungsprozesse in der Realität, entgegen der Annahme der rational choice theory, nicht immer rational sein können (Cohen et al. 1972, 2).
Auf dem Garbage Can Model aufbauend, setzt sich auch das Modell von Kingdon mit dem Entscheidungsprozess von Organisation auseinander.24 Im Zentrum dessen steht dabei zunächst das Agenda Setting in dem präsidentiellen Regierungssystem der USA (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 4–5).
Kingdon geht zunächst ebenfalls davon aus, dass politische Entscheidungen nicht aus rationalem Problemlösen resultieren (vgl. Herweg 2015, 326). Stattdessen stehen Kontingenz, Ambiguität und Zeitdruck im Zentrum der Betrachtung. Zahariadis, dessen Definition von Ambiguität sich als besonders verständlich und zugänglich bewährt hat und deshalb in diesem Fall genutzt werden soll, beschreibt diese in seiner Weiterentwicklung des Ansatzes treffend als eine Situation, in der verschiedene Interpretationen ein und desselben Umstandes bestehen können (vgl. Feldman 1989, 5). Kontingenz hingegen bedeutet, dass etwas weder notwendig noch unmöglich ist.25
„Unter Kontingenz wollen wir verstehen, daß die angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens auch anders ausfallen können, als erwartet wurde“ (Luhmann 1987, 31). Zudem werden politische Entscheidungsprozesse von Zeitdruck begleitet.
Time is a unique, scarce resource. Because the primary concern of decision makers [...] is to manage time effectively rather than to manage tasks, it is reasonable to use a lens that accords significance to time rather than rationality. (Zahariadis 2003, 5)
„Rationale und zielgerichtete Entscheidungen sind unter solchen Bedingungen oft nicht zu erwarten“ (Rüb 2014, 386).
Drei „Ströme“ sind bezüglich des Agenda Settings von besonderer Relevanz. Sie werden im MSA konzeptualisiert als: Problem-Strom, Policy-Strom und Politics-Strom. Sie fließen unabhängig voneinander (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 16–18).
Der Problem-Strom beinhaltet Sachverhalte, die als problematisch und veränderlich aufgefasst werden können: „One influence on agendas might be the inexorable march of problems pressing in on the system“ (Kingdon und Thurber 2003, 16). Kingdon definiert Probleme damit als einen Zustand, in dem die Menschen davon überzeugt sind, dass sich etwas verändern sollte: „For a condition to be a problem, people must become convinced that something should be done to change it“ (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 114). Nur auf diese Weise lässt sich eine Abweichung des Ist-Zustandes von dem Soll- Zustand aufdecken (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 111–112). Zumeist sind es Krisen, die Einführung bzw. Beobachtung von Indikatoren oder Monitoring-Studien, die auf ein Problem aufmerksam machen (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 16).26 Um ebenjene auf die politische Agenda zu bringen, wird allerdings mehr benötigt als die reine Wahrnehmung und Interpretation dieser.
Activists invest considerable time and energy in their efforts to bring problems to public and governmental attention. […] They highlight indicators, for instance, by press releases, hearing testimony, speeches, and other devices. (Kingdon und Thurber 2003, 115)
Diese Aktivist/innen werden von Kingdon als Entrepreneure 27 bezeichnet (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 179). Nicht die Position eines handelnden Menschen bestimmt, ob es sich um einen Entrepreneur handelt, sondern seine Aktivität (vgl. Herweg 2015, 328). Bestimmte Eigenschaften verbessern allerdings die Möglichkeiten der Einflussname des Entrepreneurs auf den Problemwahrnehmungsprozess. „First, the person has some claim to a hearing“ (Kingdon und Thurber 2003, 180). Dies wird meist positiv bedingt durch Expertise oder eine Stellung in der Politik oder Gesellschaft, die die Einflussnahme erleichtert (vgl. ebd.).28 „Second, the person is known for his political connection or negotiation skill“ (Kingdon und Thurber 2003, 181). Und „Third, and probably most important, successful entrepreneurs are persistant“ (ebd.). Die Investition von viel Zeit, Mühe und Hartnäckigkeit zahlt sich in diesem Fall also aus.
Darüber hinaus ist ein zweiter Strom wichtig, um Agenda-Wandel vollständig erklären zu können: der Policy-Strom. „Der Policy-Strom schließlich besteht aus in Policy Communities ausgearbeiteten Ideen, aus denen im Laufe eines sog. Softening Ups Policy-Alternativen resultieren“ (Herweg 2015, 331). Unter Policy Communities definiert Kingdon dabei „composed of specialists in a given policy area – health, housing, environmental protection, criminal justice, to name a few“ (Kingdon und Thurber 2003, 117). In diesen Policy Communities werden, unabhängig von bestehenden Problemen im Problem-Strom, politische Alternativen und Vorschläge entwickelt. Sie setzen sich beispielsweise zusammen aus innerhalb des im Kongress bestehenden Ausschüssen, Expert/innen eines Forschungsinstituts oder organisierten Interessengruppen. Wichtig ist dabei nur, dass die beteiligten Personen ein und dasselbe Themengebiet verbindet (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 117). Die in den Communities ausgearbeiteten Policies müssen einige Voraussetzungen erfüllen, um sich im Kampf um Möglichkeiten beweisen zu können:
28 Beispielsweise durch die Unterstützung einer großen Interessengruppe oder einer hochrangigen politischen Stellung.
Proposals that fail to meet these criteria – technical feasibility29, value acceptability30, and a reasonable chance for receptivity among elected decision makers31 – are not likely to consider as serious, viable proposals. (Kingdon und Thurber 2003, 131)
„Third, political processes affect the agenda“ (Kingdon und Thurber 2003, 17). Der sogenannte Politics-Strom 32 ist durch „drei Faktoren gekennzeichnet: die öffentliche Meinung, Interessengruppen sowie Kräfte aus dem politisch administrativen System, genauer dem Parlament, der Regierung und der Verwaltung“ (Herweg 2015, 330). Unter „political factors“ versteht Kingdon „electoral, partisan, or pressure group factors“ (Kingdon und Thurber 2003, 145).
Diese „political factors“ haben einen großen Einfluss auf das, was auf die politische Agenda gerät.33 Besonders relevant ist zudem der Wandel der sogenannten „national mood“, was so viel bedeutet wie „ a large number of people out in the country are thinking along certain common lines, that this national mood changes from one time to another in discernible ways“ (Kingdon und Thurber 2003, 164). In der Wahrnehmung ebenjener „national mood“ steht nicht die Sammlung gesicherten Wissens im Vordergrund, sondern die Interpretation der politischen Stimmung durch die gewählten Entscheidungsträger/innen (vgl. Herweg 2015, 330). Diese wird ihnen zugetragen durch Mails, Sprechstunden, Briefe oder ähnliche Kommunikationsformen mit den und durch die Bürger/innen des Landes (Kingdon und Thurber 2003, 162).
Um Agenda-Wandel hervorzurufen, müssen die Ströme zunächst „reif sein“.
Der Problem-Strom gilt als reif, wenn sich eine Problemdefinition durchgesetzt hat und das entsprechende Problem auch als ein solches wahrgenommen wird. Der Politics-Strom hingegen gilt als reif, wenn das politische Klima einen Agenda-Wandel trägt.34 (Herweg 2015,332)
Weil die Ströme unabhängig voneinander fließen, spielen die bereits beschriebene Policy Entrepreneure eine herausragende Rolle. Diese wollen nicht nur ihre Interessen und Ziele durchsetzen, sondern liegen zudem stetig auf der Lauer, dass sich ein window of opportunity (Gelegenheitsfenster) öffnet (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 181).35 „A policy window is an opportunity for advocates of proposals to push their pet solutions, or to push attention to their special problems“ (Kingdon und Thurber 2003, 165). Dabei gibt es zwei Formen: Zum einen das problem window , in dem die politischen Entscheidungsträger/innen davon überzeugt sind, dass ein bestimmtes Problem gelöst werden muss und im Policy-Strom nach Lösungen suchen (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 171). Zum anderen das political window (vgl. ebd.). Dieses öffnet sich durch Ereignisse innerhalb des Politics-Stroms, beispielsweise durch einen Regierungswechsel oder Veränderungen in der „national mood“ (vgl. Kingdon und Thurber, 2003, 174). Dann beschließen die politischen Entscheidungsträger/innen häufig neue politische Themen auf die Agenda zu setzen und suchen nach Ideen. Die Entrepreneure können dann anknüpfen, um ihre Ziele in das Spiel um politischen Einfluss einzuschleusen.36
Sobald sich ein Policy-Fenster geöffnet hat, gelangt ein Sachverhalt auf die Regierungsagenda (…) In dieser Situation hängt es von den Aktivitäten eines Policy-Entrepreneurs ab, ob ein Sachverhalt von der Regierungs- auch auf die Entscheidungsagenda aufsteigt. (Herweg 2015, 332)
Nur durch den Einfluss der Entrepreneure, die das vorliegende window of opportunites aktiv nutzen, um die drei sonst unabhängig voneinander fließenden Ströme miteinander zu verbinden (im MSA wird von coupling/Kopplung 37 gesprochen), gelangen Themen zunächst auf die Regierungs-, später gegebenenfalls auf die Entscheidungsagenda.38 Verschiedene Ressourcen, Taktiken und Strategien helfen den Entrepreneuren bei der Durchsetzung ihrer Ziele (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 180–183). Doch es geht dabei nicht nur um Durchsetzungsfähigkeit und Überzeugungskraft, sondern auch um ein Wettrennen mit der Zeit, denn „Once the windows opens, it does not stay open long“ (Kingdon und Thurber 2003, 169).39
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Modell von Kingdon jegliche Annahmen, dass Organisationen in einem linearen Prozess vorher klar definierte Probleme lösen, ablehnt:
The ability of human beings to process information is more limited than such a comprehensive approach would prescribe. We are unable to canvass many alternatives, keep them simultaneous in our heads, and compare them systematically. We also do not usually clarify our goals.40 (Kingdon und Thurber 2003, 78)
Zahariadis erarbeitete, aufbauend auf den Annahmen von Kingdon, einen auf parlamentarische Systeme anwendbaren Analyserahmen. Grundlegend werden deshalb zunächst drei Unterschiede zwischen dem präsidentiellen und dem parlamentarischen System ausgemacht:
(1) Parlamentarische Systeme sind nicht genauso anarchisch konzeptualisiert wie präsidentielle. Durch einen eingeschränkten Zugang von Interessengruppen und anderen politisch handelnden Personen zu Entscheidungszentren sowie deutlich klarer definierte Rollen innerhalb des politischen Systems werden die Anarchie und Dezentralisierung eingeschränkt (vgl. ebd.). (2) Die Anzahl der Partizipierenden, die an den politischen Entscheidungsprozessen beteiligt sind, ist deshalb deutlich geringer und weniger fluide. Aus dem Grund, dass die Parteien schon vor Machtübernahme politische Ziele festgelegt haben, liegt es ihnen auch an der Erreichung dieser. Zudem ist die „Executive power (…) fused with legislative majority, combined with strong partisan discipline, and both reduce the number of policymakers involved in making decision“ (Zahariadis 2003, 16). (3) Politische Entscheidungsträger/innen in parlamentarischen Systemen können außerdem häufig bereits eine langjährige Erfahrung vorweisen. Deshalb sind sie meist weniger empfänglich für Manipulationen als die Entscheidungsträger/innen in präsidentiellen Systemen (ebd.).
Um einen dem parlamentarischen System angemessenen Analyserahmen zu konzeptualisieren, waren für Zahariadis also zunächst einige Änderungen an dem von Kingdon ausgearbeiteten Ansatz vorzunehmen.
Zahariadis zufolge erfordert die Übertragung des MSA auf parlamentarische Regierungssysteme nur, dass der Politics-Strom dergestalt modifiziert wird, dass nicht mehr die öffentliche Meinung, Kampagnen von Interessengruppen oder personelle Veränderungen im politisch-administrativen System die Strom-Dynamik erfassen, sondern ausschließlich die Variable Parteienideologie. (Herweg 2015, 343)
Denn in parlamentarischen Systemen scheinen Parteien den deutlich größten Einfluss auf die Generierung politischer Alternativen zu haben (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 10). Sie scheinen vor allem deshalb die wichtigste Determinante im Politics-Strom zu sein, weil „failures of parties to successfully implement their programs may shape this mood; [die „national mood“] in this case, party politics is the main determinant of mood change“ (Sabatier 1999, 80). Aus diesem Grund ist die Variable Parteienideologie und ihr Wandel ausschlaggebend für die Erfassung der Dynamik, die sich innerhalb des Politics-Stroms vollzieht (vgl. Herweg 2015, 343). Und auch im Policy-Strom scheinen die Parteien eine herausragende Rolle zu spielen. „Parties may not only be important in the political stream in parliamentary systems but also have an independent role in the policy stream“ (Zohlnhöfer 2016, 88). Denn häufig werden parteiintern neue Policy- Optionen erarbeitet und dann der Öffentlichkeit präsentiert (vgl. ebd.). Parteien und ihre Mitglieder könnten demnach eigene Policy Communites darstellen oder Teil einer sein (vgl. ebd.). Erst diese Erweiterung des ursprünglichen Ansatzes macht den MSA für diese Analyse nutzbar.41
Ausgehend von den bisher dargelegten Grundsätzen des MSA und seinen für diese Arbeit relevanten Neuerungen, sollen folgende Annahmen aufgestellt und überprüft werden:
Annahme 1: Zur Zeit des ersten Versuches der Umsetzung einer Föderalismusreform innerhalb der Bundesrepublik Deutschland (2001–2004) hat sich das window of opportunity geschlossen, bevor es sich Policy Entrepreneure zu Nutzen machen konnten.
Annahme 2: Zur Zeit des ersten Versuches der Umsetzung einer Föderalismusreform innerhalb der Bundesrepublik Deutschland (2001–2004) lag keine Reife aller drei Ströme vor.
[...]
1 Wie alle politischen Gegebenheiten und Regelungen weist der deutsche Föderalismus sowohl Stärken als auch Schwächen auf. Vor- und Nachteile werden in der Literatur und in der aktiven Politik stets diskutiert und gegeneinander abgewogen. Auf diese Debatte wird in dieser Abschlussarbeit allerdings nicht eingegangen, da es sich dabei um eine überaus komplexe Diskussion handelt, der hier nicht ausreichend Raum gegeben werden kann.
2 Unter einer Politikverflechtungsfalle ist vor allem eine verminderte Effizienz der Aufgabenerfüllung durch Bund, Länder und Gemeinden zu verstehen, die durch die Verflechtungen von öffentlichen Aufgaben entsteht (vgl. Scharpf 1999, 1–4; Eggert o. J.b).
3 Im Laufe der Arbeit wird für diese auch der Name „Föderalismuskommission“ genutzt.
4 Den Namen „Föderalismusreform I“ trägt die bisher quantitativ umfangreichste Gesetzesänderung seit Bestehen des Grundgesetzes aus dem Grund, dass sie die erste Stufe der Reformierung der Bund-Länder- Beziehung darstellt (vgl. Winter o.J; vgl. Bundeszentrale für politische Bildung o. J.). Im Jahr 2009 trat die zweite Stufe der Reformierung in Kraft. Diese trägt dementsprechend den Namen „Föderalismusreform II“ (vgl. Der Bundesrat o. J.d).
5 Beide Begriffe sollen in dieser Arbeit synonym verwendet werden. Der Begriff „Prozessanalyse“ hat sich als übliche Übersetzung des ursprünglich englischsprachigen Begriffes „process tracing“ etabliert (vgl. Starke 2015, 453).
6 So fielen die Defizite der föderalen Struktur beispielsweise im Zuge der aktuellen Covid-19-Pandemie erneut vermehrt in das Blickfeld von politischen und gesellschaftlichen Akteur/innen.
7 Allerdings ist dabei stets zu beachten, dass die Ergebnisse dieser Untersuchung aufgrund der
Kontextgebundenheit der Bundesrepublik und der Beschränkung auf zwei Untersuchungsfälle stark eingeschränkt bleiben. Genaueres dazu findet sich in Kapitel 8.1.
8 In der qualitativen Politikwissenschaft werden typischerweise keine „klassischen“ Hypothesen in den bekannten „wenn, dann“ oder „je, desto“ Formen aufgestellt. Die grundlegenden Vorgaben des MSA eignen sich jedoch gut für das Aufstellen von Annahmen, denn der Analyserahmen gibt Notwendigkeiten vor, welche für einen Agenda-Wandel vorliegen müssen. Aufgrund dessen sollen in dieser Arbeit einige Annahmen formuliert werden, welche aus den Vorgaben des MSA abgeleitet und auf die vorliegenden Untersuchungsfälle übertragen werden.
9 Theorien rationaler Entscheidungen stammen aus der Ökonomie (vgl. Thiery 2016, 214) und gehen grundlegend davon aus, „dass der Mensch als rational denkender und handelnder homo oeconomicus zu begreifen ist, der ausschließlich auf der Basis individueller Kosten-Nutzen Kalkülen entscheidet“ (Thiery 2016, 215). Er handelt dann rational, wenn er unter allen zur Verfügung stehenden, die Handlungsalternative wählt, die zur Realisierung seiner/ihrer vorher festgelegten Ziele (zumeist im Zuge von Tausch- oder Marktprozessen) am geeignetsten scheint (vgl. ebd.). In Bezug auf die Analyse politischer Systeme werden diese Annahmen insoweit übertragen, dass davon auszugehen ist, dass sowohl Strukturen als auch Funktionsweisen ebenjener politischen Systeme als Tauschprozesse zu betrachten sind (vgl. ebd.). Deshalb würden auch die in diesen Systemen enthaltenden Akteur/innen (in Folge ihrer individuellen Kosten-Nutzen- Abwägung) danach entscheiden, „welche Alternative, […)] den höchsten Nutzen verspricht oder mit den geringsten Kosten verbunden ist“ (Thiery 2016, 15).
10 Zustimmungspflichtige Gesetze verlangen explizit nach der Zustimmung des Bundesrats (vgl. Der Bundesrat o. J.e). Sie können nur zustande kommen, wenn Bundesrat und Bundestag sich einig sind. „Bei einem endgültigen Nein des Bundesrates sind Zustimmungsgesetze gescheitert“ (ebd.).
11 Aufgrund dessen, dass in dieser Abschlussarbeit ausschließlich das Zustandekommen der Föderalismusreform 1 analysiert wird, bleiben die Ergebnisse in Bezug auf andere Länder, die in der Forschung von Nathalie Behnke gewonnen werden, an dieser Stelle unbeachtet.
12 Dies hängt vor allem auch damit zusammen, dass Kingdon selbst seine Positionen nach der Ersterscheinung seines Analyserahmens und einem kurzen Kommentar im Zuge der zweiten Auflage kaum weiterentwickelt hat (vgl. Rüb 2014, 373). Einer der wenigen, der seinen Ansatz in vollständiger Weise ausbaute, replizierte und seinen empirischen Untersuchungen zugrunde legte, war Nikolaos Zahariadis (vgl. ebd.).
13 Genaueres zu den theoretischen Annahmen und Konzepten des MSA findet sich in Kapitel 3.
14 Was nicht bedeuten soll, dass es keine Analysen gibt, die den vollständigen Analyseansatz des MSA und seine Grundannahmen replizieren und innerhalb der empirischen Forschung nutzen. Es soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass dieser Anteil in Bezug auf die Zahl der Zitationen, die sich auf Kingdons ursprüngliches Werk „Agendas, Alternatives and Public Policies“ aus dem Jahr 1984 beziehen, im Verhältnis recht klein ist. Deutlich häufiger werden einzelne Konzepte aus dem MSA herangezogen und für empirische Untersuchungen genutzt (vgl. Rüb 2014, 373).
15 An dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben darf der häufig zitierte Autor und viel publizierende Wissenschaftler im Untersuchungsbereich des Föderalismus Fritz Scharpf, welcher sowohl die Nachteile als auch die Vorteile eines föderalen Systems aufzeigt (vgl. beispielsweise Scharpf 1999) und auf die sogenannte „Politikverflechtungsfalle“ aufmerksam gemacht hat. Durch seine theoretische Annahme trug er in der Vergangenheit eine Menge zu dem Untersuchungsfeld des (deutschen) Föderalismus und seiner Entwicklung bei. Viele darauffolgende Autor/innen bauten ihre Forschungen und Publikationen auf seinen Konzepten und Annahmen auf.
16 Dieser Name entstand erst durch die Arbeit von Nikolaos Zahariadis. Kingdon selbst bezeichnet seinen Ansatz ursprünglich als „a revised version of the Cohen-March-Olsen garbage can model of organizational choice” (vgl. Kingdon 1984, 20).
17 Dieser wurde von den Wissenschaftler Michael Cohen, James G. March und Johan P. Olsen entwickelt (vgl. Cohen et al. 1972).
18 Unter „Agenda Setting“ versteht man in der Politikwissenschaft die „Thematisierung von etwas, etwas auf die Tagesordnung setzen“ (vgl. Esch o. J.).
19 Die Grundannahmen entwickelte Kingdon dabei hauptsächlich induktiv aus den Ergebnissen von 247 vorher durchgeführten Interviews in Bezug auf das Agenda Setting in verschiedenen Politikfeldern in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 4–5).
20 Das Modell wurde zunächst für die Analyse von Entscheidungsprozessen an Universitäten entwickelt. Die Autoren weisen jedoch darauf hin, dass einige Bestandteile des Garbage Can Models auch geeignet sind, um die Arbeitsprozesse weiterer Organisationen zu beschreiben (vgl. Cohen et al. 1972, 16).
21 Dies widerspricht zu großen Teilen der aus den Wirtschaftswissenschaften stammenden und in der Politikwissenschaft bis heute großen Zuspruch findenden Annahme der „rational choice theory“, die von einem Homo oeconomicus, also einem rationalen und allwissenden Nutzenmaximierer ausgeht (vgl. Gillenkirch o. J.). Für genaueres siehe Fußnote 9.
22 In der Adaption von Kingdon (1984) handelt es sich nur noch um drei Ströme.
23 Im Optionstrom (stream of choices) fließen bestehende Entscheidungsmöglichkeiten, die keineswegs an bestehende Probleme gekoppelt sein müssen, im Problemstrom (stream of problems) hingegen fließen bestehende Sachverhalte, die von der Organisation als problematisch eingestuft werden würden. Der Strom der Wahlmöglichkeiten (a rate of flow of solutions) enthält Situationen, in der die Organisation eine Entscheidung treffen muss. Der vierte Strom, der Akteursstrom (a stream of energy from participants) enthält hingegen Akteure, die an der Entscheidungssituation teilnehmen (vgl. Cohen et al. 1973, 3; Goede 2014, 65).
24 Organisationen werden in der Arbeit von Kingdon und auch in späteren Arbeiten von Zahariadis, aufbauend auf den Annahmen des Garbage Can Models, als „organisierte Anarchien“ verstanden.
25 Diese Definition baut auf der des deutschen Soziologen Niklas Luhmann auf (Rudolf Stichweh o. J.).
26 Hier spielen auch die (Massen-)Medien eine zentrale Rolle, die die Aufmerksamkeit der großen Masse auf ein bestimmtes Phänomen, Problem oder einschlägiges Ereignis lenken (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 57–61).
27 Werden synonym auch als „Advocates“ bezeichnet.
29 Technische Machbarkeit meint die Möglichkeit zur Implementation und Umsetzung einer Policy (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 129).
30 Die normative Akzeptanz meint die Akzeptanz gegenüber einer Policy innerhalb der Policy Community.
„Proposals that don't fit with specialists' values have less chance of survival than those that do” (Kingdon und Thurber 2003, 133).
31 Die politischen Entscheidungsträger/innen müssen davon überzeugt sein, dass sich die Kosten einer neuen Policy in einem tragbaren Rahmen halten, dass andere Amtsinhaber/innen sie akzeptieren würden und dass auch die Öffentlichkeit der geplanten Policy positiv gegenübersteht (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 138). „Anticipation of these constraints within a policy community forms a final set of criteria by which ideas and proposals are selected“(ebd.).
32 Kingdon selbst bezeichnet diesen noch als „politcal stream“. Eine einheitliche Bezeichnung hat sich bis heute nicht durchgesetzt. In dieser Arbeit wird der Begriff des „Politics-Stroms“ verwendet.
33 Dazu gehören unter anderem auch neue Mehrheiten im Kongress oder eine neue Verwaltung (Kingdon und Thurber 2003, 145).
34 Siehe auch Kingdon und Thurber 2003, 172 –173; Zahariadis 2003, 16 –17.
35 Beide Begriffe werden in dieser Arbeit synonym verwendet.
36 Darüber hinaus kommen auch Spillover Effekte infrage, um Agenda-Wandel hervorzurufen. „The appearance of a window for one subject often increases the probability that a window will open for another similar subject36” (Kingdon und Thurber 2003, 190).
37 In dieser Arbeit wird sowohl der deutsche als auch der englische Begriff genutzt.
38 Unter der Regierungsagenda ist nach Kingdon eine Liste von Themen und Problemen zu verstehen, welchen politische Entscheidungsträger/innen zu einer gewissen Zeit Aufmerksamkeit widmen. Unter der Entscheidungsagenda hingegen sind Sachverhalte zu verstehen, die sich tatsächlich in der Position befinden, dass Entscheidungen, sei es in Form einer neuen Gesetzgebung oder eines Erlasses, über sie getroffen werden (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 3).
39 Es gibt viele Gründe, weshalb sich ein Gelegenheitsfenster wieder schließt. Entscheidungsträger/innen können demnach beispielsweise feststellen, dass sie gewisse Probleme und Themen durch neue Gesetzgebungen bereits bearbeitet haben. Oder die relevanten Entscheidungsträger/innen sind nicht geneigt, weitere Kosten und Mühen in die Lösung des Problems zu investieren. Auch das Verschwinden des Ereignisses, welches das Gelegenheitsfenster zuvor geöffnet hatte, kann dazu führen, dass sich dieses auch wieder schließt (vgl. Kingdon und Thurber 2003, 169).
40 Es gibt viel Kritik an Kingdons Ansatz aufgrund der Annahme, dass den politischen Entscheidungsträger/innen die vermeintliche „Rationalität“ abgesprochen wird, während die Entrepreneure ihre Arbeit auf ebenjener Rationalität erbauen. Auf diesen und weitere Kritikpunkte wird in dem Schlussteil dieser Arbeit (Kapitel 8) eingegangen.
41 Eine weitere Modifikation wird von Zahariadis dahingehend vorgenommen, dass die bei Kingdon als getrennt voneinander ablaufende Prozesse des „Agenda Settings“ und „Decision makings“ als Teile eines großen Ganzen betrachtet werden: der „policy formation, define as the process which policymakers make an authoritative choice from a limited set of previously generated alternatives“ (vgl. Zahariadis 2003, 10). Dies ist deshalb möglich, weil das ursprünglich als Ausgangspunkt für Kingdons MSA dienende Garbage Can Model entwickelt wurde, um den gesamten Entscheidungsprozess zu analysieren und auch andere Theorien zur Analyse von Politikgestaltung ebenjener beiden Prozesse nicht separat, sondern als Teil eines großen Prozesses zu betrachten (vgl. ebd.).