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Bachelorarbeit, 2022
80 Seiten, Note: 1,0
Einleitung
1 Die Entwicklung des Umgangs mit Menschen mit Behinderung innerhalb der deutschen Gesellschaftsordnung
1.1 Der Nationalsozialismus und die Perspektive der Eugenik
1.2 Die Entwicklung der Interessenvertretungen nach dem Zweiten Weltkrieg
2 Die Disability Studies – Ein Perspektivenwechsel auf Behinderung innerhalb Deutschlands?
2.1 Die Wissenschaft der Disability Studies und die Behindertenbewegungen
2.2 Die Etablierung der Disability Studies innerhalb Deutschlands
2.3 Die Macht der Normen und die Disability Studies – mit Ansätzen Foucaults
2.4 Das individuelle Modell von Behinderung und die Kritik der Disability Studies an diesem traditionellen Denkmuster
2.5 Das soziale Modell von Behinderung und dessen veränderte Denkweise
2.6 Die kritische Reflexion des sozialen Modells von Behinderung
2.7 Das kulturelle Modell von Behinderung und dessen vertieftes Verständnis
2.8 Die Disability Studies, das kulturelle Modell von Behinderung und deren kritische Reflexion der traditionellen Wissenschaftsansätze
2.9 Der Prozess der Kategorisierung und Differenzierung
2.10 Die Disability Studies und deren multidimensionale Perspektive
3 Das Potenzial der Disability Studies für die Transformation der deutschen Gesellschaftsordnung im Sinne des Paradigmas der Inklusion
3.1 Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK)
3.2 Die Bundesrepublik Deutschland und deren Verpflichtungen als Teil der ratifizierenden Vertragsstaaten der UN-BRK
3.3 Die UN-BRK und das Paradigma der Inklusion innerhalb Deutschlands
3.4 Das Paradigma eines inklusiven Deutschlands und die Disability Studies
3.4.1 Die Disability Studies und deren Verständnis von Behinderung
3.4.2 Die Disability Studies und deren Forschungsparadigma
4 Abschluss der Arbeit
4.1 Zusammenfassung der Ergebnisse und Beantwortung der Fragestellung
4.2 Das sozialarbeiterische Handlungsfeld der deutschen Behindertenhilfe
4.3 Ausblick – Das Paradigma einer inklusiven Gesellschaft
4.3.1 Das Stigma der Behinderung
4.3.2 Die Utopie einer guten Gesellschaft
4.3.3 Abschlusszitat
Abstract
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Sonstige Quellen
Anhang
1 Der Weltbericht Behinderung und die Prävalenz des Behinderungsphänomens
1.1 Die weltweite Prävalenz von Behinderung
1.2 Die Weltgesundheitserhebung der WHO
1.3 Die Global Burden of Disease-Studie der WHO
1.4 Das Ergebnis des Weltberichts über Behinderung
1.5 Die Wachstumsprognose des Phänomens Behinderung durch den Weltbericht
2 Die Prävalenz des Phänomens Behinderung im europäischen Raum
Während des zeitlichen Rahmens der Erstellung dieser Bachelorarbeit ist der Verfasser im Praxiskontext der deutschen Behindertenhilfe beruflich aktiv und diesbezüglich weitergehend in einer Einrichtung des ambulant betreuten Wohnens für Menschen mit einer Beeinträchtigung, welche vordergründig aus einer sogenannten Lernschwierigkeit resultiert. In einer anderen Wortwahl ausgedrückt könnte diese Form einer Beeinträchtigung mit dem Begriff geistige Behinderung bezeichnet werden, aber um die Forderung der Interessenvertretung „Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V.“ (Göthling, Schirbort 2011, S. 59) zu achten wurde an dieser Stelle die abgewandelte Formulierung Menschen mit Lernschwierigkeiten gewählt. Der Hintergrund hierfür ist, dass diese Organisation die Intention beinhaltet „den diskriminierenden Begriff ‚geistige Behinderung‘ abzuschaffen“ (ebd., S. 61). Weitergehend möchte der Verfasser dieser Arbeit diesbezüglich darauf hinweisen, dass jegliche zukünftige Wortwahl zur Bezeichnung eines Menschen mit Beeinträchtigung/Behinderung keine abwertende Haltung gegenüber diesen Personen zum Ausdruck bringen soll oder anders formuliert soll das darin enthaltene Differenzierungsmuster, aufgrund des an dieser Stelle vordergründig dargelegten Merkmals, kein Stigma darstellen:
„Stigma (griech. στίγμα) – urspr.: Stich, Brandmal – ist ein Gattungsbegriff für zumeist negative, emotionsgeladene und sozial diskreditierende Bewertungen von Merkmalen einer Person(engruppe), die von Mitgliedern der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft gezielt, meist gedankenlos, oft mit Erfolg und folgenreich als abweichend, störend, unerwünscht oder nicht zugehörig etikettiert werden“ (Von Kardorff 2016, S. 407).
Hinsichtlich der beruflichen Erfahrungswerte des Verfassers dieser Arbeit können weitere Tätigkeiten in anderen Teilbereichen des Systems der deutschen Behindertenhilfe aufgezeigt werden, welche in dessen Praxisphasen in seiner vorherigen absolvierten Studienzeit, sowie im Rahmen der zuvor absolvierten Ausbildung im sozialen Bereich generiert werden konnten. In dieser Hinsicht kann die dargelegte berufliche Orientierung als ein wesentlicher Faktor für die Wahl des Themenschwerpunktes dieser Prüfungsleistung betitelt werden.
Für den weiteren Verlauf dieser Bachelorarbeit sei hinsichtlich einer gendergerechten Schreibweise angemerkt, dass in der Regel eine geschlechtsneutrale Wortwahl verwendet wird. Sollte ein derartiger Satzbau aber nicht möglich sein, werden beide Formen benannt.
Im weiteren Verlauf soll nun, bezüglich der Themenhinführung, ein kurzer Einblick in die aus dem Behinderungsphänomen entstehende gesellschaftliche Strukturkategorie Menschen mit Behinderung ermöglicht werden. Diese Kategorie enthält allgemein formuliert „eine Vielzahl heterogener (auch unsichtbarerer) Erscheinungsformen von gesundheitsrelevanter Differenz“ (Bösl, Klein, Waldschmidt 2010, S. 7) und der darin enthaltene Prozess der Kategorisierung basiert auf dem Erkennen einer Abweichung von einem als normal angesehen menschlichen Zustand der Gesundheit oder anders formuliert der Nichterfüllung gesellschaftlicher normativer Erwartungen in Bezug auf die damit verbundenen Normalitätsansprüche (vgl. ebd., S. 7 f.). Aufbauend auf diesem Differenzierungsmuster kann der Begriff Behinderung und dessen daraus resultierende Kategorie als „historische, d. h. kontingente Annahmen über individuelle, medizinisch diagnostizierte ›Andersheit‹“ enthaltend betitelt werden und Menschen werden „aufgrund tatsächlicher oder angenommener körperlicher, psychischer oder mentaler Unterschiede in komplexen Benennungsprozessen der soziokulturellen Kategorie ›behindert‹ zugeordnet“ (ebd., S. 7). Jedoch kann an dieser Stelle angemerkt werden, dass die Differenzierung zwischen einem als behindert etikettierten Menschen und einem als nicht behindert angesehenen Menschen nicht immer eindeutig sein muss, indem diese Differenzkategorie, kontrastierend zu anderen in der Gesellschaft verankerten Kategorisierungen menschlichen Daseins wie zum Beispiel „Geschlecht und ethnische Herkunft“, eine „auffällig große Kontingenz, Vielgestaltigkeit und Unschärfe“ (Waldschmidt 2007c, S. 68) aufweisen kann.
An dieser Stelle sei auf den Weltbericht Behinderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2011) und dessen Ermittlung der Prävalenz des Behinderungsphänomens verwiesen, welcher im Anhang dieser Bachelorarbeit detaillierter dargelegt wird.1
Weitergehend kann aufgezeigt werden, dass Anfang des 20. Jahrhunderts noch keine explizite Begrifflichkeit für die zusammenfassende Beschreibung der verschiedenen Behinderungsphänomene etabliert war, sondern die verschiedenen Benennungen der differenzierten Beeinträchtigungen in der Kommunikation vorherrschten (vgl. Mürner, Sierck 2012, S. 12). Zudem unterliegen auch diese Vorläuferbegriffe einem zeitlichen Wandel und exemplarisch können hier die Bezeichnungen „Krüppel“, „Idioten“, „Taubstumme“, „Blinde“, sowie „Epileptische“ (Musenberg 2013, S. 11) dargelegt werden. Des Weiteren sind ebenfalls die in der heutigen Zeit etablierten Begrifflichkeiten zur Beschreibung dieser Menschen vielfältig und werden in der Alltagskommunikation oftmals mit einer gewissen „Unwissenheit, Unklarheit und/oder Unsicherheit“ (Bretländer 2015, S. 87) angewandt. Um diesbezüglich einen Einblick zu ermöglichen, können die Begriffe „der/die Körper-, Geistig-, Mehrfachbehinderte; der behinderte Mensch; Menschen mit Behinderung(en); Menschen mit Einschränkungen, mit Beeinträchtigungen, mit Handicap, mit Assistenzbedarf“ (ebd.) dargelegt werden. An dieser Stelle sei aber angemerkt, dass die in dieser Kategorie enthaltenen Phänomene menschlichen Daseins als ein Begleiter der menschlichen Historie bezeichnet werden können und somit als ein Bestandteil der menschlichen Vielfalt und Differenz (vgl. Ahrbeck 2017, S. 15). Diesbezüglich kann aufgrund fehlender detaillierter „Analysen prähistorischer Funde und antiker Überlieferungen (…) ein erstes Mal etwas fundierter auf die besondere Berücksichtigung und Erwähnung von Menschen mit Beeinträchtigungen im ausgehenden Mittelalter hingewiesen werden“ (Röh 2018, S. 16).
Die nun folgende Bachelorarbeit wird sich mit dem Thema Behinderung innerhalb der deutschen Gesellschaftsordnung befassen, wobei in diesem Zusammenhang die Historie des Nationalsozialismus und die darin enthaltenen, durch die wissenschaftliche Perspektive der Eugenik begründeten, menschenverachtenden Maßnahmen ein Schwerpunkt sein werden. An dieser Stelle sei exemplarisch aufgezeigt, dass zu dieser Zeit sogenannte rassenhygienische Maßnahmen erfolgten und diesbezüglich eine Zwangssterilisation von Menschen mit Beeinträchtigung, die durch juristische Rahmenbedingungen innerhalb Deutschlands in ihrer Legitimation gestützt wurde. Der Hintergrund für dieses Vorgehen ist der Gedanke, dass sich durch derartige Maßnahmen eine Verbreitung von Erbkrankheiten verhindern lassen würde und es kann aufgezeigt werden, dass sich dieses Vorgehen zu einem staatlich strukturierten Mordprogramm weiterentwickelt, mit der Zielsetzung Menschen mit den verschiedensten Formen an Beeinträchtigungen gezielt zu töten (vgl. Abschnitt 1.1).
Kontrastierend dazu konnte schon vor der Phase des Nationalsozialismus eine Etablierung erster Interessenvertretungen dieses Personenkreises verortet werden, die sich für eine Veränderung der Lebensverhältnisse dieser Menschen aussprachen. Diesbezüglich kann dargelegt werden, dass sich diese ersten Entwicklungen deutscher Behindertenbewegungen aufgrund des Nationalsozialismus nicht weiter in der deutschen Gesellschaftsordnung festigten können (vgl. Kapitel 1), aber sich nach dieser Phase erneut Formen dieser interessenvertretenden Strömungen konstituieren, die oftmals auf durch Eltern von Kindern mit Beeinträchtigung hervorgebrachten Initiativen beruhen. Außerdem kann in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein Aufbau exkludierender Versorgungsstrukturen für Menschen mit Beeinträchtigung verortet werden, der in seiner Legitimation von den zu diesem Zeitpunkt etablierten Interessenvertretungen vorwiegend unterstützt wurde.
Der weitere Entwicklungsprozess dieser sogenannten Behindertenbewegungen lässt ab den 1970er Jahren eine Etablierung neuer Formen an interessenvertretenden Organisationen verorten, die sich nun gegen die exkludierenden und fremdbestimmten Lebensverhältnisse dieser Menschen aussprechen (vgl. Abschnitt 1.2). In Verbindung mit diesen Interessenvertretungen kann eine sich in den 1980er Jahren etablierende Wissenschaft verortet werden, die den historisch gewachsenen und in Bezug auf das Behinderungsphänomen dominierenden wissenschaftlichen Ansätzen gegenüber kritisch gesinnt ist. Diese sogenannten Disability Studies, und an dieser Stelle im deutschen Wortlaut exemplarisch wiedergegebenen „Studien über Behinderung“, stehen in einem gewissen kooperativen Ansatz zu den internationalen Behindertenbewegungen, indem deren Ursprünge in diesen zu finden sind (vgl. Abschnitt 2.1). In Bezug auf die deutsche Gesellschaftsordnung kann deren einsetzende Etablierung aber erst seit Anfang des 21. Jahrhunderts verortet werden, indem zu diesem Zeitpunkt ein gewisser Diskussionsprozess über die Disability Studies und deren Verankerung in den deutschen wissenschaftlichen Strukturen beginnt und ein dadurch initiierter sich schrittweise entwickelnder Prozess (vgl. Abschnitt 2.2.).
Darauf aufbauend kann nun die wissenschaftliche Frage aufgriffen werden, inwiefern diese Wissenschaft zu dem Themenkomplex Behinderung, in Form der internationalen Disability Studies, in ihrem stattfindenden Prozess der Etablierung innerhalb der deutschen Gesellschaftsordnung eine Legitimation zugeschrieben werden kann oder anders formuliert, ob eine Potenzierung deren Prävalenz, innerhalb der deutschen Wissenschaftsstrukturen, als gerechtfertigt angesehen werden sollte. Weitergehend und in detaillierter Betrachtung kann aufgezeigt werden, dass in dieser Arbeit erörtert wird, ob den Disability Studies ein positives Potenzial für die Transformation der deutschen Gesellschaft, hin zu einer inklusiv ausgerichteten Gesellschaftsordnung für Menschen mit Beeinträchtigung, nachgewiesen werden kann. Zudem seien diesbezüglich die Fragen in den Raum gestellt, inwiefern sich diese von schon länger etablierten Wissenschaftsansätzen grundlegend unterscheiden und ob diese neue Formen des Erkenntnisgewinns, im Sinne einer gleichberechtigten Partizipation dieser Menschen, ermöglichen.
In Folge dieser Darlegungen kann die sich dadurch ergebende für diese Bachelorarbeit relevante Fragestellung wie folgt formuliert werden:
Kann den Disability Studies das Potenzial für eine Transformation der deutschen Gesellschaft, im Sinne eines für Menschen mit Behinderung inklusiv ausgerichteten sozialen Ordnungssystems, zugeschrieben werden und können diese neue Formen des Erkenntnisgewinns ermöglichen, um kontrastierend zum Nationalsozialismus eine gleichberechtigte Partizipation dieser Menschen zu gewährleisten?
Um dieser wissenschaftlichen Fragestellung nachzugehen, wird die Struktur und Gestaltung dieser Bachelorarbeit wie folgt aufgebaut:
Zu Beginn erfolgt, wie schon angedeutet, ein Einblick in die Historie des deutschen Nationalsozialismus und die sich vor dieser und auch nach dieser Phase neu konstituierenden Interessenvertretungen der Menschen aus der gesellschaftlichen Strukturkategorie Behinderung. Nach dieser Darlegung der historischen Umgangsweisen mit diesen Menschen, soll nun der Bezug zu den sich ab den 1970er Jahren etablierenden neuen Formen der Behindertenbewegungen hergestellt werden, sowie weitergehend deren Kritik an den bestehenden exkludierenden und fremdbestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnissen für diese Menschen innerhalb Deutschlands (vgl. Kapitel 1). Im weiteren Verlauf wird die Etablierung der Wissenschaft mit dem Titel „Disability Studies“ aufgezeigt, sowie der darin enthaltene kooperative Faktor der internationalen Behindertenbewegungen (vgl. Abschnitt 2.1). Diese sich seit den 1980ern etablierende Wissenschaft findet jedoch, wie schon dargelegt, erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts Zugang zu den deutschen wissenschaftlichen Strukturen und dieser Prozess wird im nächsten Teil der Bachelorarbeit exemplarisch dargestellt (vgl. Abschnitt 2.2).
Um nun die Fragestellung dieser Bachelorarbeit zu beantworten, werden durch Ansätze Michel Foucaults die Historie und das Machtpotenzial der in einer Gesellschaft vorherrschenden Normen, in Bezug auf das Behinderungsphänomen, kurz aufgegriffen, um im weiteren Verlauf daran anknüpfend das Verständnis und die Perspektive der Disability Studies detaillierter darzulegen (vgl. Abschnitt 2.3). Diesbezüglich wird das in gewisser Weise innovative Verständnis dieser Wissenschaftsform, in Form exemplarischer modellhafter Betrachtungsweisen und daraus resultierenden neuartigen Möglichkeiten des perspektivischen Erkenntnisgewinnes, aufgegriffen, sowie daraus folgend deren multidimensionale und den historisch gewachsenen Wissenschaftsperspektiven gegenüberstehende Perspektive dargelegt. Hierbei wird der Nationalsozialismus und das damit in Verbindung stehende historisch dominierende Wissenschaftsverständnis als gewisser Kontrastpunkt genutzt (vgl. Abschnitt 2.4 - 2.10). Nach diesem Einblick in die Auffassungen des Phänomens Behinderung, seitens der Disability Studies, soll das darin enthaltene transformatorische Potenzial für die deutsche Gesellschaftsordnung dargelegt werden und um dies exemplarisch zu ermöglichen wird das Inklusionsverständnis der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) aufgegriffen, sowie weitergehend die darin enthaltenen Anforderungen an Deutschland, als Teil der ratifizierenden Vertragsstaaten (vgl. Kapitel 3). Im Abschluss dieser Bachelorarbeit wird aufbauend auf den vorherigen Darlegungen und der darin enthaltenen wissenschaftlichen Frage ein Resümee generiert, sowie die Relevanz der Disability Studies in Deutschland für das sozialarbeiterische Handlungsfeld der Behindertenhilfe, im Sinne des Paradigmas der Inklusion, kurz aufgegriffen. Weitergehend beinhaltet der darauffolgende Ausblick das Paradigma der „Utopie einer guten Gesellschaft“ und das darin enthaltenen Leitbild der Inklusion, welches in philosophischer Ausprägung beispielhaft aufgegriffen wird. Kontrastierend dazu wird zudem das Stigma der Behinderung kurz dargelegt (vgl. Kapitel 4).
Im Verlauf der Historie Deutschlands kann aufgrund der hohen Zahl an „verwundeten Soldaten“ durch den Ersten Weltkrieg eine vermehrte Ausrichtung auf die „Körperbehindertenrehabilitation“ (Röh 2018, S. 22) aufgezeigt werden. Weitergehend erfolgt durch diese maßgebenden gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnisse eine Veränderung der juristischen Rahmenbedingungen (vgl. ebd.), indem aufgrund „der vielen Kriegsversehrten in den 1920er Jahren (…) das Weimarer Fürsorgerecht die hauptsächliche Ausrichtung auf Verwahrung“ (Aner, Hammerschmidt 2018, S. 69) gesetzlich verankert. Darauffolgend kann ein Anstieg der stationären Einrichtungen innerhalb Deutschlands verortet werden, indem sich die Anzahl von im Jahr „1906 (…) 27 Anstalten“ auf im Jahr „1927 bereits 78 Anstalten“ (Röh 2018, S. 22) erhöht.
Innerhalb dieser gesellschaftlichen Bedingungen Deutschlands können zudem die „Wurzeln der Selbsthilfe-Bewegungen von Personen mit Behinderungen“ (Schönwiese 2016, S. 44) identifiziert werden, indem an dieser Stelle exemplarisch dargelegt werden kann, dass diese z. B. eine Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensbereich Arbeit forderten und kontrastierend dazu eine Bemitleidung ihres Personenkreises in Frage stellten. Um in dieser Hinsicht einen Einblick zu ermöglichen, kann an als erste Organisation zur Vertretung der Interessen „von seit ihrer Kindheit an behinderter Männer und Frauen“ der sogenannte „Selbsthilfebund der Körperbehinderten (SBK)“ aufgezeigt werden, welcher sich im Jahr 1919 in der deutschen Gesellschaft etablierte und im Jahr „1929 (…) schon ca. 50 Ortsgruppen und 6000 Mitglieder“ (ebd.) zählen konnte. Dieser Verbund forderte z. B. die Etablierung von diversen „Versorgungs- und Fürsorgemaßnahmen“ (ebd.) für deren zu vertretenden Personenkreis oder anders ausgedrückt diverse sozialpolitische Interventionen.
Im Sinne einer historischen Reflexion können diese exemplarisch aufgezeigten Entwicklungen, „mit dem Ziel von Gleichstellung und Emanzipation“ von Menschen mit einer Beeinträchtigung, als erster Impuls der sogenannten deutschen Behindertenbewegungen betitelt werden und somit „historisch der erste Versuch der Selbstbehauptung behinderter Menschen und der Versuch, Subjekt der eigenen Entwicklung zu sein“ (ebd., S. 45).
Dieser Prozess der Erlangung von Selbstbestimmung und Autonomie über die eigenen Lebensverhältnisse kann aber aufgrund der Entwicklungstendenzen der deutschen Gesellschaftsordnung, hin zum Nationalsozialismus, als für bis auf Weiteres beendet erklärt werden.
„Das dunkelste Kapitel in der Geschichte der Betreuung von Menschen mit Behinderung, gerade was die Rolle von Medizinern anbetrifft, ist das Dritte Reich und der Massenmord ab Anfang der 1940er Jahre“ (Biewer 2009, S. 22).
Während der Phase des Nationalsozialismus ist der Begriff der Eugenik ein prägender Faktor der gesellschaftlichen Bedingungen, indem darunter „die Pflege des Erbgutes und die Vermeidung der Weitergabe von Schädigungen“ (ebd.) zu verstehen ist. Diesbezüglich können die Darlegungen des biologischen Wissenschaftlers Charles Darwin, sowie auch des dem genetischen Forschungsfeld anhängenden Wissenschaftlers Gregor Mendel als interpretative Grundlegung für die „nationalsozialistische Politik der Ausgrenzung Behinderter, Kranker“ (Fornefeld 2013, S. 37) angesehen werden. In detaillierter Betrachtung kann aber aufgezeigt werden, dass die Theorien Darwins in seinem im Jahr 1859 herausgebrachten Schriftstück nicht auf menschliche Lebewesen bezogen waren, sondern vielmehr darlegten, „dass durch natürliche Auslese und durch Selektion bei verschiedenen Pflanzenarten gute Entwicklungen erreicht werden konnten“ und somit „bestimmte Arten (…) für die Züchtung als geeigneter als andere“ (ebd.) angesehen. Jedoch zeigt der weitere historische Verlauf, dass die hier dargelegten Auffassungen Darwins auf menschliche Lebewesen bezogen werden, indem „Mitte des 19. Jahrhunderts durch die sog. Sozialdarwinisten, wie z. B. A. Tille, E. Haeckel, A. Plötz und W. Schallmayer, vor allem durch die Übernahme und Übertragung des Selektionsgedankens auf den Menschen“ (ebd., S. 38) derartige Auffassungen gegenüber menschlichen Lebewesen, in Form einer durch die Eugenik begründeten Perspektive, im wissenschaftlichen Diskurs etabliert werden (vgl. Wunder 2009a, S. 284 f.). Zusammenfassend beinhaltet diese eine Selektion menschlicher Lebewesen und weitergehend eine Weitergabe des Erbgutes durch lediglich die sogenannten „Besten einer Art“ und die darin (angeblich) enthaltene „Bedingung für Fortschritt“ (Fornefeld 2013, S. 38). In diesem Sinne können die Theorien Darwins, sowie des genetischen Wissenschaftlers Mendel und dessen Studium der Vererbungslehre zwar als eine gewisse Grundlage liefernd bezeichnet werden, aber nicht als Begründung der eugenischen Perspektive. Vielmehr kann hier eine gewisse Übertragung und Interpretation wahrgenommen werden, welche in Form des sozialdarwinistischen Denkmusters im wissenschaftlichen Diskurs etabliert wird.
Diese ersten Anzeichen für die im Nationalsozialismus durchgeführten Verbrechen, in Form des „sozialdarwinistischen Denkens“ (Fornefeld 2013, S. 38) potenzieren sich zum Ende des 19. Jahrhunderts hin und lassen während der Weimarer Republik auch unter deutschen innerhalb der Wissenschaften tätigen Personen entstehende Tendenzen einer positiven Wahrnehmung sogenannter eugenisch begründeter Maßnahmen verorten (vgl. George 2013, S. 254). Im Jahr 1920 erschien ein schriftliches Dokument mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre Form“ und kann als Beispiel für den Diskurs über „die ideologisch motivierte Vernichtung menschlichen Lebens“ (ebd.) angesehen werden (vgl. Mürner, Sierck 2012, S. 41 f.). Diese von zwei deutschen Universitätsprofessoren der Rechtswissenschaften und psychiatrischen Wissenschaften verfasste Schrift bzw. „die Arbeit des Strafrechtlers Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche“ (Röh 2018, S. 22) kann rückwirkend „vor allem ideologisch als Grundlage und Rechtfertigung der systematischen Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung von über hunderttausend Menschen“ (George 2013, S. 254) gewertet werden.
Nachdem die machtpolitischen Strukturen innerhalb der deutschen Gesellschaftsordnung durch die Funktionäre des Nationalsozialismus besetzt worden sind, wurden erste juristische Grundlagen geschaffen, die „Zwangssterilisationen bei sogenannten Erbkrankheiten“ (Biewer 2009, S. 22) gesetzlich rechtfertigten und somit an Menschen, die als unproduktiv und nicht lebenswert galten (vgl. Röh 2018, S. 22/vgl. Fornefeld 2013, S. 38). Der Hintergrund für dieses Vorgehen kann, resultierend aus den vorherigen Darlegungen, in Verbindung mit einer machtvollen und wertenden Perspektive gebracht werden, die beinhaltet, dass verschiedene Formen menschlicher Beeinträchtigungen genetisch bedingt weitergegeben werden würden und durch Maßnahmen dieser Art eine Verbreitung von als lebensunwert angesehen Lebens vermieden (vgl. George 2013, S. 254).
„1934 trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Auf dieser gesetzlichen Grundlage sterilisierten Ärzte bis 1945 ca. 400.000 Menschen“ (ebd.).
Von diesen juristischen Rahmenbedingungen waren „Menschen mit so bezeichneten Erbkrankheiten“ betroffen und dieses sich damalig etablierende Differenzierungsmuster beinhaltete Personen, die z. B. mit einer Begrifflichkeit wie „geistige Behinderung“ (Wunder 2009a, S. 285) oder auch diversen Bezeichnungen psychischer Formen an Beeinträchtigungen in Verbindung gebracht wurden. Ebenfalls waren Personen mit „Epilepsie, Huntington, Fehlbildungen“ oder gar „Alkoholismus“ (ebd.) ein Teil dieser Maßnahmen.
Bereits zu dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses juristischen Dokumentes etablierten sich derartige Ansichten im Bildungssystem Deutschlands und daraus folgend war nun bald nicht mehr lediglich die Förderung der diesen Einrichtungen anvertrauten Menschen eine vordergründige Aufgabe, sondern ebenfalls die Vertretung der eugenischen Perspektive (vgl. Biewer 2009, S. 23) oder anders formuliert die „Reinerhaltung der arischen Rasse, indem sie die Schüler meldeten, die dem völkischen Kriterium der Brauchbarkeit, der Nützlichkeit für die Volksgemeinschaft nicht entsprachen“ (Fornefeld 2013, S. 38 f.). Somit wurden die sonderpädagogischen Einrichtungen bzw. „Hilfsschule(n) in das Selektionsprogramm der Nazis miteinbezogen“ (Biewer 2009, S. 25) bzw. umfunktioniert, um als staatliche Institutionen in Form von „Zuträgerdienste(n)“ zu fungieren, sowie weitergehend „die Zwangssterilisierungsmaßnahmen des NS-Staates, die von 1933 bis 1945 Hunderttausende von Menschen betrafen“ (ebd.) in ihrer Umsetzung zu ermöglichen. Dieses Vorgehen wurde durch die Etablierung einer amtlichen bzw. staatlichen Einrichtung im Jahr 1937 in seinem Bestehen legitimiert (vgl. ebd., S. 23), sowie weitergehend „mit dem Reichsschulpflichtgesetz von 1938“ (Fornefeld 2013, S. 39) auch juristisch in den Gesellschaftsstrukturen verankert.
Das staatliche Programm „Aktion T4“
Nach Beginn des Krieges entwickeln sich diese exemplarisch dargelegten durch die Eugenik begründeten Maßnahmen „zur Euthanasie als groß angelegtem staatlichen Mordprogramm“ (Biewer 2009, S. 23). Diese sich im Jahre 1939 in den gesellschaftlichen Strukturen Deutschlands verankernde Vorgehensweise wurde nicht durch juristische Rahmenbedingungen in seiner Legitimation gestützt, sondern erfolgte in Form eines direkten Aufbaus „eine(r) staatliche Maschinerie (…), die nach festgelegten Regeln arbeitete“ (ebd.). Weitergehend beinhaltete diese eine für die Planung und organisierende Verwaltung vorgesehene Einrichtung in Berlin (vgl. Mürner, Sierck 2012, S. 55) und aufgrund des genauen Lagepunktes dieser Institution in der Tiergartenstraße 4 wurde dieses strukturierte Vorgehen mit der Bezeichnung „Aktion T4“ (Biewer 2009, S. 24) betitelt. Die Zielsetzung dieses staatlichen Programmes war die Tötung der in den stationären Einrichtungen (Anstalten) untergebrachten Menschen mit einer Beeinträchtigung. Um dies zu erreichen, wurde zudem versucht, Menschen aus der familiären Versorgungsstruktur zu entbinden und in die bestehenden stationären Formen der Unterbringung einzuquartieren (vgl. ebd., S. 23). Weitergehend erfolgte die gezielte Umfunktionierung ehemaliger Heil- und Pflegeanstalten (vgl. George 2013, S. 254 f./vgl. Biewer 2009, S. 22 f.), indem sechs der bestehenden stationären Einrichtungsformen ausgewählt und „gezielt für die Tötung umgerüstet wurden“ (Biewer 2009, S. 23 f.). Diese enthielten in der Regel „einen Tötungsraum in der Art einer Sammeldusche, aus dessen Duschköpfen Gas statt Wasser trat“, sowie weitergehend „ein Krematorium (…) und auch ein Standesamt, das die Totenscheine ausstellte“ (ebd., S. 24). In diese umfunktionierten stationären Einrichtungen, wie zum Beispiel der „auf dem Mönchberg in Hadamar in Hessen“ (Biewer 2009, S. 24) wurden die in den Anstalten lebenden Menschen mit einer Beeinträchtigung daraufhin deportiert.
„Von Januar 1940 bis August 1941 ermordeten Ärzte, Pflegepersonal und Verwaltungsangestellte mehr als 70.000 Menschen in sechs Tötungsanstalten (Bernburg, Brandenburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim, Pirna-Sonnenstein)“ (George 2013, S. 255).
Diese sogenannte Aktion T4 fand ihren Beginn durch „eine Ermächtigung Hitlers, die auf den 1.9.1939, also den Tag des Kriegsbeginns, datiert wurde“ und beinhaltete, „dass die Befugnisse einer Gruppe von Ärzten soweit erweitert werden konnten, dass sie in ihren Gutachten über das Weiterleben der Begutachteten entscheiden durften“ (Biewer 2009, S. 23). Diesbezüglich besaßen diese Personen das Machtinstrument, mit dem sie anhand Informationen bzw. gesundheitsrelevanter Daten „manchmal innerhalb weniger Tage über Hunderte von Menschen“ (ebd.) und deren weiteres Lebensrecht entscheiden konnten.
In detaillierter Betrachtung ließ dieses menschenverachtende Vorgehen die Angehörigen der Opfer „soweit als möglich im Unklaren über den Aufenthaltsort ihrer Familienmitglieder“ und es fand eine Bereicherung an den weiter gezahlten Pflegegeldern und wenigen Habseligkeiten der Getöteten statt, indem diese Einrichtungen vor der Bevölkerung geheim gehalten werden sollten und „der nach hinten verschobene Todeszeitpunkt (…) die Pflegegelder für diesen Zeitraum, i. d. R. zwei Wochen“ (George 2013, S. 255) weiterhin in ihrer stattfindenden Zahlung ermöglichte. Ebenfalls wurden schriftliche Dokumente an die Familien, weiteren Verwandten und Angehörige übermittelt, welche Begründungen und somit angebliche anderweitige Ursachen für den Tod dieser Menschen enthielten (vgl. ebd.). Dieses Vorgehen blieb jedoch auf Dauer nicht unbemerkt bzw. wurde misstrauisch betrachtet und es entwickelte sich ein gewisser Widerspruch in der Bevölkerung, was zur Folge hatte, dass sich das Vorgehen dieses staatlichen Mordprogramms ab dem Jahr 1941 änderte (vgl. Biewer 2009, S. 23 f.). Zudem kann dargelegt werden, dass zeitlich gesehen die verschiedenen „Euthanasiemaßnahmen“ nach der Konzentration auf die in den Anstalten lebenden Menschen und somit „der Ermordung der bisherigen Heimbewohner/innen“ (ebd., S. 24) von einer Veränderung des Differenzierungsmusters betroffen waren, indem eine Ausweitung der Selektion der von diesem Vorgehen betroffenen Menschen erfolgte. Ab dem Jahr 1942 waren von diesem Mordprogramm nicht mehr nur lediglich „psychisch schwer kranke Patient/innen und Menschen mit schweren geistigen und körperlichen Behinderungen“ (ebd.) betroffen, sondern es wurden immer mehr Menschen mit Beeinträchtigung Opfer dieser durch die eugenische Perspektive begründeten Maßnahmen. Im weiteren Verlauf waren nun Faktoren, wie zum Beispiel „das Vorhandensein einer beschränkten Arbeitsfähigkeit oder Kriegsverletzungen als Ursachen von Behinderungen“ kein Differenzierungsmerkmal mehr, dass diese Menschen von der Euthanasie ausschloss und weitergehend wurden nun auch Menschen, „die aufgrund ihres Verhaltens in den Anstalten Schwierigkeiten machten, (…) Menschen mit Traumatisierungen als Folge von Bombenangriffen und schwer kriegsversehrte“ (Biewer 2009, S. 24) Personen in dieses Vorgehen miteinbezogen. Zudem muss davon berichtet werden, dass selbst teilweise „Menschen mit schlechten medizinischen Herz- und Lungenbefunden“ (ebd.) im Jahr 1945 in den Fokus dieser Maßnahmen rückten.
Ebenfalls erfolgte in den Jahren 1941 bis 1943 eine Ermordung von Menschen mit Beeinträchtigung innerhalb der Konzentrationslager (vgl. Fornefeld 2013, S. 23 f.) und die verschiedenen stationären Einrichtungen zu Unterbringung erhielten im Jahr 1942 die Aufforderung zu einer Veränderung der Versorgung der dort untergebrachten Menschen, indem diese so angepasst wurde, „dass viele Bewohner/innen mit schweren Behinderungen an Entkräftung starben oder schlichtweg verhungerten“ (Biewer 2009, S. 24). Exemplarisch kann zudem dargelegt werden, dass die Einrichtungen, in denen menschliche Neugeborene das Licht der Welt erblickten, sowie weitergehend an der Entbindung beteiligte Berufsgruppen, durch eine im Jahr 1939 herausgegebene Verordnung dazu verpflichtet wurden, die Gesundheitsbehörden über neu geborenen Kinder mit einer Beeinträchtigung zu informieren. Nach einem Prozess der Überprüfung dieser gemeldeten Neugeborenen erfolgte die Freigabe zur Tötung und im weiteren Verlauf wurden auch Kinder in diesen Prozess miteinbezogen, die schon ein älteres Entwicklungsstadium aufwiesen, mit der Folge der Tötung von etwa 5000 menschlichen Lebewesen (vgl. Fornefeld 2013, S. 39/Wunder 2009b, S. 289).
„Die Geschichte der Euthanasie in Deutschland von 1920 bis 1945 zeigt, wie Gedanken von Wissenschaftlern in Kombination mit politischen Programmen einen institutionellen Apparat schufen, der seine Aufgaben immer weiter ausweitete. Es war eine Mordmaschinerie für die keinerlei ethische Maßstäbe mehr galten“ (Biewer 2009, S. 24 f.).
Der Nationalsozialismus und das Resultat der eugenischen Perspektive
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass diesen, durch die Eugenik und deren darin enthaltene Perspektive begründeten, Maßnahmen annäherungsweise 250 000 Menschen zum Opfer fielen (vgl. Mürner, Sierck 2012, S. 55). Ebenfalls kann aufgezeigt werden, dass viele der beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht durch juristische Prozesse für deren Vorgehen bestraft wurden (vgl. Wunder 2009b, S. 290) und verordnete Todesstrafen teilweise nicht umgesetzt, sowie weitergehend „in Haftstrafen umgewandelt“ (Biewer 2009, S. 25) wurden, welche oftmals nicht in vollen Umfang abgeleistet werden mussten.
„1945 waren die Anstalten leer, das Hilfsschulwesen existierte nicht mehr“ (Fornefeld 2013, S. 39).
Anhand dieser in der deutschen Gesellschaftsordnung ehemalig vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Bedingungen kann deutlich werden, dass eine im wissenschaftlichen Diskurs zu dem Themenkomplex Behinderung historisch gewachsene und daraufhin deutlich dominierende Perspektive gravierende Folgen für die Menschen mit einer Beeinträchtigung haben kann. Die zu diesem Zeitpunkt etablierte Deutungshoheit beinhaltet zudem ein personelles Machtinstrument, in Form einer Gruppe medizinischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, welche durch deren perspektivische Machtausübung über das Lebensrecht menschlichen Daseins entscheiden konnten.
In Bezug auf die in der damaligen deutschen Gesellschaftsordnung bzw. während der Phase des Nationalsozialismus vorherrschenden Differenzierungsmuster und darin enthaltenen Normen und Werte kann angemerkt werden, dass die innerhalb eines sozialen Ordnungssystems etablierten Ausschließungs- und Einschließungsmechanismen und deren Prozess der Entwicklung „mit dem Wandel gesellschaftlicher Differenzierungen und mit Modifikationen gesellschaftlicher Leitsemantiken sowie Ordnungsmuster zusammenhängt“ (Patrut, Uerlings 2013, S. 12). Dieses in der Historie Deutschlands verankerte Gesellschaftskonstrukt zeigt somit deutlich das im Prozess der Kategorisierung und Differenzierung enthaltene Potenzial „für Hierarchisierung, gesellschaftlichen Ausschluss und soziale Ungleichheitsverhältnisse“ (Schwarzer 2015, S. 40) in Bezug auf das Behinderungsphänomen und das darin enthaltene menschliche Dasein (vgl. Bösl, Klein, Waldschmidt 2010, S. 7 f.).
Nachdem nun die in der Phase des Nationalsozialismus vorherrschende Dominanz der eugenischen Perspektive, sowie weitergehend die darin enthaltenen menschenverachtenden Umgangsweisen dargelegt wurden, soll wieder der Bezug zu den sich vor dieser historischen Phase Deutschlands konstituierenden Interessenvertretungen von Menschen mit Beeinträchtigung hergestellt werden. Diesbezüglich kann dargelegt werden, dass erneut eine Etablierung interessenvertretender Strömungen innerhalb des deutschen sozialen Ordnungssystems verortet werden kann und diese „Selbsthilfeorganisationen (…) nach den Vernichtungsprogrammen der Nationalsozialisten grundsätzlich wieder an Zielen der Selbsthilfeorganisationen aus den 1920er- und 1930er-Jahren“ (Schönwiese 2016, S. 45) anknüpfen. Aber es kann aufgezeigt werden, dass zu dieser Zeit keine grundlegenden Impulse für eine kritische Historisierung des Umgangs, mit den zu vertretenden Personen, während des Nationalsozialismus generiert werden (vgl. Mürner, Sierck 2012, S. 68). Ebenfalls orientieren sich die zu diesem Zeitpunkt wieder auftretenden Interessenvertretungen an einer Differenzierung ihrer strukturellen Gegebenheiten, nach „Kriegsopfern und Behinderungsarten“ und beinhalten während „der wirtschaftlichen und politischen Rekonstruktionsphase Deutschlands“ die mit dem Wort „Wohlfahrt“ (Schönwiese 2016, S. 45) zu betitelnde vordergründige Zielsetzung oder anders formuliert das Interesse die Versorgung dieser Menschen sicherzustellen. Dies kann mit dem Hintergrund verknüpft werden, dass für die Personen, die das Euthanasie-Programm im Nationalsozialismus überlebt hatten, keine ausreichenden Versorgungsstrukturen vorhanden waren und der Zweite Weltkrieg dafür gesorgt hatte, dass es eine Vielzahl an Menschen mit einer Beeinträchtigung innerhalb der deutschen Gesellschaft gab. Daraus folgend waren die Interessenvertretungen der durch den Krieg mit einer Beeinträchtigung versehenen Menschen zu diesem Zeitpunkt vorherrschend und die Personen, deren Beeinträchtigung damit nicht in Verbindung stand, erfuhren eher weniger bis keine Aufmerksamkeit (vgl. Köbsell 2012a, S. 7 f./Köbsell 2009, S. 217).
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1 An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass die aufgezeigten Prävalenzen von Behinderung und deren Ermittlung mit den benutzten bzw. für dieses Vorgehen als maßgebend angesehenen „festgelegten Grenzwerten“ (WHO 2011, S. 30) in Verbindung stehen, sowie weitergehend daraus resultierend von der Bestimmung des Phänomens Behinderung abhängig sind. In diesem Zusammenhang besitzen die in einer Gesellschaftsordnung vorherrschenden Normierungen bzw. normativen (Fähigkeits-)Erwartungen und daraus resultierenden Differenzierungsmuster eine prägende Rolle bei der Ermittlung der Prävalenz des Phänomens Behinderung. Diesbezüglich sei auf die eingeschränkte Vergleichbarkeit der generierten Daten verwiesen bzw. die Varianz der verschiedenen methodischen Ansätze der Datenerhebungen hinsichtlich der einzelnen geographischen Gebiete (vgl. Anhang – Kapitel 1).