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Bachelorarbeit, 2018
42 Seiten, Note: 2,0
1. Einleitung
2. Fallvignette
3. Einführung
3.1. Begriffsbestimmung
3.2. Grundaussage des systemischen Theorieansatzes
3.2.1. Krankheit und das System
3.2.2. Familie und das System
3.3. Mögliche Auswirkungen einer psychischen Diagnose
4. Anorexia nervosa
4.1. Charakteristische Symptome
4.2. Erklärungsansätze
5. Auswirkungen auf die Familie
5.1. Emotionale Folgen
5.2. Partnerschaftliche Folgen
5.3. Bedeutung für den Jugendlichen
6. Unterstützungsmöglichkeiten
6.1. Ressourcen
6.1.1. Die Familie
6.1.2. Der Partner
6.1.3. Das betroffene Kind
6.2. Professionelle Unterstützung für Betroffene
6.3. Professionelle Unterstützung für Angehörige
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Die Krankheit Anorexia nervosa hat in den psychologischen und medizinischen Fachrichtungen immer mehr Bedeutung erhalten. Kinder, die an Anorexia nervosa erkrankt sind, befinden sich meist im Alter von 14 bis 18 Jahren, demnach mitten in der Pubertät (vgl. Jacobi, Jaite & Salbach-Andrae 2010, S. 20). Häufig sind es Mädchen, aber auch Jungen können daran erkranken (vgl. ebd.). Umgangssprachlich nennt man die Krankheit Magersucht. Die Jugendlichen hungern meist so stark, bis es lebensbedrohlich wird. Nach dem Statistischen Bundesamt sind 2015 mehr Personen an Anorexia nervosa gestorben als an anderen Essstörungen (Statistisches Bundesamt 2017, zit. nach Statista (2018)). Kinder mit einer Essstörung werden immer häufiger. Die Familie schaut meistens hilflos zu und sieht, wie ihr Kind immer dünner wird und kaum oder sogar überhaupt nichts isst. Selbst wenn das Kind in therapeutischer Behandlung ist, kann es mehrere Jahre dauern, bis man von geheilt reden kann (vgl. Jacobi, Paul, & Thiel 2004, S. 12). Dies ist nicht nur eine große Belastung für den Jugendlichen selbst, sondern auch für alle Familienmitglieder. Sie machen sich häufig große Sorgen und wissen nicht, wieso der Betroffene so etwas tut. Es kann zu Vorwürfen genauso wie zu Schuldgefühlen kommen. Ebenfalls wissen sie oft nicht, wie sie mit ihrem Kind umgehen sollen. Soll man es zum Essen zwingen oder es lassen? Ebenso wird die Krankheit von vielen Elternteilen oft nicht wirklich verstanden, dies kann dann zu Konflikten und Spannungen zwischen Familienmitgliedern und Betroffenen führen. Erst wenn die Konflikte und Spannungen zu stark geworden sind, suchen sich die Familien Hilfe. Mir ist es wichtig, mit dieser Arbeit vorzeitige Hilfe aufzuzeigen, damit Familien die Betroffenen auf dem langen Weg unterstützen können und es nicht zu einem Zerwürfnis zwischen Betroffenen und Familienangehörigen kommt. Meine Fragestellung lautet deshalb: „ Wie kann man Familienangehörige unterstützen, wenn das eigene Kind an Anorexia nervosa erkrankt ist? “
Am Anfang meiner Bachelorarbeit werde ich einen Fall vorstellen, den ich während meiner Praxisphase erlebt habe. Aus datenschutzrechtlichen Gründen werde ich die betroffene Person anonymisieren, damit keine Rückschlüsse auf die vorgestellte Familie gezogen werden können. Anschließend werde ich drei zentrale Begriffe, Familie, Partner und Jugendlicher, definieren, um eine einheitliche Betrachtungsweise zu garantieren. Die Grundaussage des systemischen Ansatzes nach N. Luhmann werde ich anschließend erläutern, denn durch diesen Ansatz bekommt man einen entsprechenden Blick auf die Probleme- und Unterstützungssysteme und darauf, wie man diese Methoden „maßgeschneidert“ an den entsprechenden Punkten des Unterstützungsprozesses verwendet. Anschließend werde ich erläutern, was N. Luhmann unter dem System Krankheit und Familie versteht.
Infolgedessen werde ich eine Einführung über die Problematik einer Diagnose geben und darlegen, welche Vorteile und Nachteile eine Diagnose mit sich bringt. Weil ich mich auf die Erkrankung Anorexia nervosa beziehe, werde ich im vierten Punkt erläutern, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, damit man eine solche Diagnose bekommt.
Wenn das eigene Kind davon betroffen ist, geht das meist nicht spurlos an der Familie und den Betroffenen vorbei. Ab hier nehme ich Bezug auf die Fallvignette. Ich werde aufzeigen, welche Folgen dies für die Familie sowie die Betroffenen haben kann. Anschließend werde ich die Ressourcen der einzelnen Familienmitglieder verdeutlichen. Diese Ressourcen sind wichtig, damit eine passende Unterstützung gewährleistet werden kann. Welche Unterstützungsmöglichkeiten es für die Familie und für den Betroffenen gibt, werde ich im letzten Punkt genauer darstellen.
Im Fazit möchte ich nochmals genauer erläutern, was wichtig für eine sozialarbeiterische Beratung ist und welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um eine gute Unterstützung für die Eltern zu ermöglichen.
Zur besseren Lesbarkeit werde ich die männliche Form benutzen, obwohl beide Geschlechter gemeint sind.
Anne ist 14 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Stadt. Sie geht auf das Gymnasium. Durch die Änderung der Schulreform ist Anne in den G8-Jahrgang gekommen. Anne hat eine beste Freundin. Mit ihren Mitschülern und auch anderen Personen versteht sie sich gut. Anne ist schüchtern und immer höflich. Wenn sie etwas stört, fällt es ihr sehr schwer, dies mitzuteilen. Ihre Eltern sind beide berufstätig. Die Mutter arbeitet als Teilzeitkraft in einer Bank und der Vater als Vollzeitkraft in der Industrie. Anne hat ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Mutter sagt, dass die beiden über alles miteinander redeten. Zu ihrem Vater hat Anne ebenfalls ein gutes Verhältnis, dieses ist jedoch nicht so eng wie das zu ihrer Mutter. Anne hat eine kleine Schwester, die 11 Jahre alt ist. Beide gehen auf dieselbe Schule. Ihr Verhältnis ist ebenfalls sehr eng, jedoch redet Anne nicht über jedes Problem, das sie bedrückt mit ihr.
Anne wurde im März 2018 aufgrund einer Einweisung ihres Hausarztes stationär ins Krankenhaus aufgenommen. Sie ist 1,76 Meter groß und wiegt nur noch 47 Kilogramm. Sie hat in kürzester Zeit 8 Kilogramm verloren. Das Abnehmen fing anfangs eher schleichend an. Im Winter 2017 beschloss Anne, sich gesünder zu ernähren und mehr Sport zu treiben, da sie sich nicht mehr wohlfühlte. Auch in den Medien und in der Umgebung bemerkte sie, dass sich dort immer mehr für gesunde Ernährung und für Sport interessieren. Durch das gesunde Essen und den Sport nahm Anne langsam ab. Ihre Freunde und ihre Familie fanden ihren Lebensstil toll und machten ihr deswegen mehrere Komplimente. In dieser Zeit machte ihr Freund mit ihr Schluss und auch die Schule überforderte sie immer mehr. Sie war mit mehreren Dingen unzufrieden, deswegen konzentrierte sie sich noch mehr auf das Essen und den Sport.
Anne reduzierte nach einiger Zeit ihr Essen und achtet auf jede Kalorie. Ihre Mutter machte sich langsam Sorgen, da sie immer weniger aß und immer mehr abnahm. Sie versuchte sie zu animieren etwas zu essen, indem sie speziell für sie kochte. Dies war aber leider vergebens. Ebenfalls versuchte sie, sie in manchen Dingen zu unterstützen. Die Mutter redete viel mit Anne und machte ihr einige Vorschläge, um ihr Essproblem in den Griff zu bekommen. Die Mutter dachte zu der Zeit, dass sie das gemeinsam schon hinbekämen. Anne nahm weiter ab und nahm die Vorschläge nicht an. Dass das Gewicht mittlerweile problematisch war, nahm Anne nicht wahr. Auch ihr Freundeskreis merkte, dass sie sich verändert und ihr Verhalten nicht mehr gesund war. Der Arzt empfahl, eine ambulante Therapie durchzuführen, da er sah, worauf es hinauslief. Er gab den Eltern Adressen von einigen Psychologinnen mit. Daraufhin ging Anne dann zu einer ambulanten Therapeutin. Mit ihr verstand sie sich aber gar nicht. Die Therapie brach sie nach einiger Zeit auch wieder ab. Im Februar 2018 wurden zusätzlich Annes Weisheitszähne entfernt. Dies hieß für sie, dass sie nur noch flüssige Nahrung zu sich nehmen durfte. Sie verlor immer mehr Gewicht, sodass mittlerweile ihre Periode ausfiel. Der Arzt verbot ihr am Sportunterricht teilzunehmen, da er nicht wollte, dass sie noch mehr abnahm. Die Lehrer wiederum waren sehr überrascht. Sie hatten die Gewichtsveränderung nicht wahrgenommen, obwohl diese laut der Mutter äußerlich bemerkbar war. Irgendwann wies der Arzt Anne ins Krankenhaus ein. Er hatte wahrgenommen, dass Anne zu Hause weiterhin abgenommen hatte und sich dies ohne professionelle Hilfe nicht verändern würde. Zudem war ihr Gewicht mittlerweile lebensbedrohlich. Derzeit nimmt Anne im Krankenhaus noch weiter ab. Hier hat sie die Diagnose Anorexia nervosa bekommen. Eine körperliche Ursache für den Gewichtsverlust wurde nach einer Untersuchung ausgeschlossen. Die Mutter sowie der Vater wissen nicht mehr, was sie machen können und fragen sich, ob es nicht besser gewesen wäre früher zu erkennen, dass es zu Hause mit dem Essen nicht mehr klappt und sie professionelle Hilfe brauchen. „Eventuell wäre das Gewicht jetzt nicht so kritisch.“, so die Eltern. Sie haben Angst, dass ihr Kind an der Krankheit stirbt. Aus dem Bekanntenkreis hat die Mutter eine Freundin. Deren Sohn ist an dieser Krankheit gestorben. Die Eltern haben Angst, dass dieses Schicksal auch Anne droht. Vorher sowie in der Klinik haben sich die Eltern über die Krankheit im Internet informiert. Eine fachliche Information haben sie nicht erhalten.
Familie, Partner und Kind sind drei zentrale Begriffe in meiner Arbeit. Diese Begriffe werden auch in der Gesellschaft oft verwendet. Aufgrund der Tatsache, dass jeder etwas anderes darunter versteht, werde ich diese im Folgenden genau definieren, um eine einheitliche Betrachtungsweise zu garantieren.
Wenn ich von Familie rede, ist damit ein Elternpaar, das mindestens ein Kind hat, gemeint. Es ist hierbei irrelevant, ob die Eltern verheiratet sind oder nicht. Sie müssen jedoch nach § 1626 BGB oder § 1626 a BGB die elterliche Sorge haben. Dies umfasst, dass sie das Recht haben und verpflichtet sind, für ein minderjähriges Kind zu sorgen. Unter dem Begriff Familie wird ebenfalls verstanden, dass die Eltern mit dem Kind in einem Haushalt leben.
Ein Partner ist ein Erwachsener, der mit dem Kind und einem sorgeberechtigten Elternteil zusammenlebt oder selbst sorgeberechtigt ist. Der nicht sorgeberechtigte Partner darf, nach § 9 Abs. 1 LPartG, mit Zustimmung des sorgeberichtigten Elternteils die Angelegenheiten des täglichen Lebens, die das Kind betreffen, mitentscheiden.
Das Kind ist eine Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§ 7 Abs. 2 SGB VIII). Das Kind wird nach § 7 Abs.1 Nr. 1 und 2 SGB VIII nochmals in Kind und Jugendlicher unterschieden. Der Einfachheit halber werde ich dies in meiner Arbeit nicht tun und die Begriffe wie in § 7 Abs. 2 SGB VIII unter dem Begriff Kind zusammenfassen. In der Regel leben diese Kinder im elterlichen Haushalt.
Der systemische Theorieansatz ist ein sehr bekannter Ansatz, der häufig in der Beratung oder in anderen Bereichen verwendet wird. Auch ich werde mich in dieser Arbeit auf diesen Ansatz beziehen. Um ein besseres Verständnis dafür zu haben, ist es wichtig zu wissen, was die Systemtheorie überhaupt ist.
Die Systemtheorie ist aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen entstanden (vgl. Krieger 2010, S. 37). Sie beschäftigt sich mit Systemen und deren Wechselwirkungen untereinander. In verschiedenen Wissenschaften wird der Begriff des Systems ebenfalls verwendet (vgl. Krieger 2010, S. 30). Ein System wird aus unterschiedlichen Elementen zu einem Ganzen zusammengesetzt (vgl. Beushausen 2004, S. 15). Diese Elemente sind miteinander verbunden wie ein Netzwerk (vgl. ebd.). Sie stehen in Wechselwirkung zueinander und können demnach gegenseitig beeinflusst werden (vgl. ebd.) In der Sozial- sowie Humanwissenschaft ist Niklas Luhmann die Person, die die Systemtheorie mit dem Buch „Soziale Systeme“ von 1984 revolutioniert hat (vgl. Dallmann 1994, S. 14, 22). Sein Buch lehnte er an Talcott Parsons an, der zuvor eine Systemtheorie entwickelt hatte (vgl. Luhmann 2015, S. 10). T. Parsons war vor N. Luhmann die Person, die die Soziologie mit seiner Systemtheorie prägte (vgl. Kottmann, Rosa & Strecker 2013, S 178). Beide gehen davon aus, dass die moderne Gesellschaft detailliert gegliedert und nicht nur arbeitsteilig organisiert sei (vgl. ebd. S. 180). N. Luhmann kritisierte ihn in seinem Buch hinsichtlich mancher Aspekte sehr. Er sagte, dass die moderne Gesellschaft von fiktionaler Differenzierung sozialer Systeme geprägt werde und nicht nach Berufsrollen (Strukturdifferenzierung) (vgl. Kottmann, Rosa & Strecker 2013, S 180). T. Parsons verstand nämlich unter Differenzierung die strukturelle Differenzierung von Akteuren (vgl. ebd.). Ebenso ging T. Parsons von der Leitfrage aus, wie die bestehende Ordnung der Gesellschaft erhalten werde (vgl. ebd.). N. Luhmann fragte sich, wie die Funktionen der Gesellschaft erfüllt werden könnten (vgl. ebd.). Er meint, dass gesellschaftliche Probleme auf verschiedenen Arten gelöst werden könnten (vgl. ebd.).
Die allgemeine Systemtheorie unterscheidet verschiedene Arten von Systemen. Luhmann hingegen differenziert zwischen 4 Systemen (vgl. Dallmann 1994, S. 22). Das erste System sind Maschinen (vgl. ebd.). Das zweite System ist der Organismus (vgl. ebd.). Hiermit ist zum Beispiel der Körper eines Menschen gemeint (vgl. Luhmann 2015, S. 16ff.). Das dritte System ist das psychische System (vgl. Dallmann 1994, S. 22). Bei diesem wird das Bewusstsein eines Menschen angesprochen (vgl. Luhmann 2015, S. 16ff.). Das letzte System, wonach N. Luhmann auch sein Buch benannte, ist das soziale System. Damit meint er die Kommunikation von Menschen (vgl. Luhmann 2015, S. 16ff.). In drei Arten wird das soziale System nochmals unterschieden (vgl. Dallmann 1994, S. 22). Im sozialen System gibt es das Interaktionssystem, das Organisationssystem und das Gesellschaftssystem (vgl. ebd.). Das Interaktionssystem grenzt sich davon ab, ob jemand anwesend oder abwesend ist (vgl. Luhmann 2015, S. 16ff.). Im Organisationssystem wird hingegen entschieden, wer dazu gehört und wer nicht (vgl. ebd.). Personen, die zum Beispiel aus einer Fußballmannschaft ausgeschlossen werden, weil sie keine Mitspieler sind, zählen demnach zur Umwelt. Die Umwelt besteht demnach nicht aus Bäumen oder Pflanzen, sondern aus Menschen, die sie umgeben bzw. mit denen sie im Kontakt stehen. Ebenfalls zählt alles zur Umwelt, was das Individuum beeinflusst und womit es im Kontakt steht. Das können Normen, Gesetze, Werte oder auch Institutionen sein. Das Gesellschaftssystem ist das größte und letzte System. Hier ist die Gesellschaft als Ganzes gemeint (vgl. Luhmann 2015, S. 16ff.).
Alle sozialen Systeme sowie psychischen Systeme sind autopoietisch (vgl. Kottmann, Rosa & Strecker 2013, S. 183). Das bedeutet, dass Systeme die Fähigkeit haben, ihre Struktur zu verändern, wenn sich die Umwelteinflüsse ändern (vgl. Beushausen 2004, S. 18). Es handelt sich um operativ geschlossene Systeme, die auf sich selbst Bezug nehmen und somit umweltoffen sind (vgl. Luhmann 2015, S. 43ff.). Das heißt aber nicht, dass sie von ihrer Umwelt unabhängig sind (vgl. ebd.). N. Luhmann erklärte mit dem Begriff „strukturelle Kopplung“ (Interpenetration), dass Teilsysteme miteinander verbunden und füreinander relevant sind (vgl. Beushausen 2004, S. 19). Zum Beispiel ist das gesellschaftliche Teilsystem Familie mit Krankheit verbunden oder das Recht mit Politik. Bei dem Teilsystem Familie und Krankheit ist beispielsweise die gesetzliche Familienversicherung eine Verbindung. Recht und Politik sind durch die Verfassung verbunden. Ganze Systeme sind ebenfalls strukturell miteinander gekoppelt. Das organische System ist mit dem psychischen System durch das Gehirn strukturell gekoppelt (vgl. ebd.). Das soziale System ist mit dem psychischen System durch die Sprache verbunden (vgl. ebd.).
Neben vielen anderen Systemen gibt es auch das Krankheitssystem, das ist ein autonomes System der Gesellschaft (vgl. Luhmann 2005, S. 177). Beim System Krankheit wird in der Medizin sowie in der Gesellschaft grundsätzlich nur zwischen krank und gesund unterschieden (vgl. ebd., S. 179). Wenn man krank ist, geht man zum Arzt. Der wiederum schaut sich den Patienten an und weiß durch seine Erfahrung und sein wissenschaftliches Studium, welches Krankheitsbild vorliegt. Anschließend stellt er fest, welche Eingriffe unternommen werden müssen, damit eine körperliche Heilung erfolgen kann.
Nach Luhmann (2005, S. 177ff.) darf aber Krankheit nicht nur der Medizin überlassen werden. Wie schon beschrieben, geht Luhmann in seiner Theorie davon aus, dass der Körper eng mit dem psychischen System verbunden ist (vgl. Luhmann 2015, S. 331). Ist man demnach körperlich erkrankt, kann es gleichzeitig die Psyche belasten. Zum Beispiel ein Patient der lange im Krankenbett, aufgrund einer körperlichen Krankheit liegen muss kann eine so psychische Belastung wiederfahren das dadurch eine Depression auftritt. Umgekehrt ist dies aber genauso. Ein psychisches Problem kann sich auf den Körper auswirken. Dies ist unter dem Begriff Psychosomatik bekannt (vgl. Davis, Enders & Lamers 2013, S. 2). Gesund ist ein Individuum, wenn es normal in seiner Funktionsrolle, zum Beispiel als Kind, Angestellter, Mutter usw., agiert (vgl. Bittlingmayer 2016, S. 102). Ein Individuum, das beispielsweise psychisch erkrankt ist, ist sozial und / oder körperlich eingeschränkt. Die Systemtheorie sieht deshalb die Krankheit als eine Art Störung an. Sie entsteht, wenn die gesellschaftlichen Erwartungen von Mitgliedern der Gesellschaft nicht erfüllt werden können (vgl. Bittlingmayer 2016, S. 102). Kranke haben demnach eine gesellschaftliche Sonderrolle.
Ein weiteres System, systemisch betrachtet, ist die Familie. Die Familie ist ein geschlossenes System. Sie besteht nicht aus Menschen oder einer Beziehung, sondern aus Kommunikation, sonst könnte sie nicht als ein autopoietisches System gesehen werden (vgl. Luhmann 2015, S. 478). Denn eine Strukturänderung ist im sozialen System, nach Luhmann, nur über Kommunikation möglich (vgl. ebd.). Dies liegt zum Beispiel vor, wenn sich Erwartungen ändern (vgl. ebd.). Eine Familie steht immer in Interaktion mit der Umwelt (vgl. ebd.). Da sie ein autopoietisches System ist, kann sie sich neuen Kontexten und Lebensphasen stellen. Wer zur Familie gehört, konstruiert jeder Mensch für sich selber (vgl. Beushausen 2004, S. 23). In meiner Arbeit zählen nur die Mutter sowie der Vater von Anne sowie ihre Schwester zum System Familie. Auf alle nahen Angehörigen kann nicht eingegangen werden, da der Umfang anderenfalls zu groß wäre. Sie gehören aber trotzdem theoretisch zum System.
Fraglich ist aber, was eigentlich eine Familie systemisch kennzeichnet? Beushausen (2004, S. 23) beschreibt, dass hier Gefühle sowie Informationen und Verhaltensweisen intensiv und wechselseitig ausgetauscht würden. Kindern wird in einer Familie ein Ort geboten, an dem die sozialen, physiologischen und psychischen Bedürfnisse zufrieden gestellt werden (vgl. ebd.). Eine Familie kennt sich in der Regel untereinander besser, als dies bei Außenstehenden der Fall ist (vgl. Luhmann 2005, S. 189). Dies kann aber auch den Effekt haben, dass bestimmte Themen ausgeschlossen oder nicht angesprochen werden (vgl. ebd., S. 196). Somit wird dann Kommunikation eingeschränkt, da man niemanden verletzten will (vgl. ebd.). Man passt sich mit der Kommunikation demnach an die einzelnen Familienmitglieder an. Dies kann zu Problemen führen. Hier erkennt man auch, wieso in der Systemtheorie das soziale System und das psychische System miteinander verbunden sind. Ein Problem, das man nicht ansprechen kann, kann seelisch belasten. Bei jedem Familienmitglied wirkt sich die seelische Belastung unterschiedlich aus. Bei einer hohen Sensibilität kann man davon krank werden, andere wiederum ziehen als Konsequenz aus oder lassen sich scheiden (vgl. Luhmann 2005, S. 197). Der Druck der Gesellschaft vereinfacht dieses Problem nicht gerade. Man geht gesellschaftlich davon aus, dass man, wenn man persönliche Probleme hat, von der Familie sozialen Zuspruch, Liebe und wechselseitiges Verständnis erhält (vgl. Luhmann 2005, S. 199). Dies führt dann oft zu Erwartungen, die man nicht immer erfüllen kann (vgl. ebd.). Enttäuschung kann entstehen (vgl. ebd.). Mann muss aber sagen, dass sich im Laufe der Jahre die gesellschaftlichen Erwartungen verändert haben. Man ging, nach Luhmann, früher davon aus, dass die Familie die Funktion hatte, Kinder in die Gesellschaft zu inkludieren (vgl. Luhmann 2005, S. 198). Heute weiß man, dass die Teilnahme an der Gesellschaft von unterschiedlichen Funktionssystemen beeinflusst wird (vgl. ebd.).
Die Theorie von N. Luhmann kann man als Kommunikationstheorie sehen. Wie man handelt, zeigt Luhmann in seiner Theorie nicht. Die soziale Ungleichheit wird zum Beispiel in der Theorie aufgezeigt, aber es wird nicht dargestellt, wie man sie bekämpft oder verhindert. Max Weber hingegen geht eher auf Handlungsformen ein, wie z. B. das soziale Handeln. Trotzdem zeigt Luhmanns Theorie eine andere Betrachtungsweise im Hinblick auf soziale Probleme.
In der heutigen Zeit sind Krankheitsdiagnosen nicht mehr wegzudenken. Hauptsächlich werden diese Diagnosen von den Krankenkassen benötigt, um die entsprechenden Kosten abrechnen zu können (vgl. Paulitsch 2009, S. 67). In der Medizin ist die Diagnose eine Art Sprache. Dadurch wird gekennzeichnet, wer krank und wer gesund ist (vgl. Paulitsch 2009, S. 16). Jeder Arzt weiß sofort, was eine bestimmte Diagnose, die ein Patient bekommen hat, bedeutet und welche Handlungsmöglichkeiten es gibt, um das Leid zu lindern. Jede Diagnose hat bestimmte Eigenschaften, die erfüllt werden müssen. Die Eigenschaften, die bei einer Anorexia nervosa erfüllt werden müssen, werden im nächsten Punkt erklärt. Auch Psychologen verwenden einheitliche Diagnosen. Dass Diagnosen alle einheitlich sind, ist auch für die Patienten profitabel. So können sie von verschiedenen Ärzten / Psychologen Meinungen zu einer bestimmten Diagnose einholen, ohne dass vorher zeitaufwändige und teure Untersuchungen durchgeführt werden müssen, um die Ursache und Behandlungsmöglichkeiten erneut festzustellen. Wenn man eine Diagnose hat, hat man sie so lange, bis man als geheilt gilt.
Gerade psychische Diagnosen sind häufig mit einem Stigma behaftet (vgl. Gaebel & Zäske 2011, S. 65). Psychisch erkrankte Personen müssen häufig im Gegensatz zu körperlich erkrankten Personen mit Vorurteilen der Bevölkerung kämpfen (vgl. Berger & Rüsch 2012, S. 951). Wenn sich zum Beispiel ein Kind ein Bein gebrochen hat, haben die Mitschüler viel Verständnis, wieso der Mitschüler nicht in die Schule kommen kann. Ist jemand aber psychisch erkrankt, wie bei einer Magersucht, wird oft vermutet, dass die Person selbst verantwortlich für diese Erkrankung ist. Mitschüler haben dann für den Ausfall der Schule weniger Verständnis. Auch Erwachsene, die ihre psychische Erkrankung bewältigt haben und wieder arbeitsfähig sind, merken die öffentliche Stigmatisierung. Denn hat der Arbeitgeber Kenntnis von der Vorgeschichte, wird die Person trotz eventuell guter Qualifikationen meist von dem Bewerberkreis ausgeschlossen (vgl. Berger & Rüsch 2012, S. 951). Eine Suche nach einer Arbeitsstelle ist demnach für Menschen, die eine solche Diagnose bekommen haben, schwerer zu finden als für andere (vgl. ebd.). Auch durch die Versicherungsbedingungen oder die Gesetzgebung können Individuen, die psychisch erkrankt sind, eine Benachteiligung (Diskriminierung) erfahren (vgl. ebd.). Aber Menschen mit einer psychischen Erkrankung stigmatisieren sich zuweilen auch selbst (vgl. ebd., S. 952). Sie akzeptieren dann die verbreiteten Vorurteile ihrer Erkrankung und glauben dies (vgl. ebd.). Ein Schamgefühl über ihre eigene Erkrankung taucht auf und ihr Selbstwertgefühl sinkt (vgl. Gaebel & Zäske 2011, S. 65). Dadurch ziehen sie sich zurück und öffnen sich nur noch Personen, die über ihre Krankheit Bescheid wissen oder selbst daran erkrankt sind (vgl. Berger & Rüsch, S. 953). Viele Betroffene, die an einer psychischen Erkrankung leiden, möchten meist keine Behandlung oder eine solche Diagnose bekommen, da sie Angst davor haben, stigmatisiert zu werden (vgl. ebd. S. 954). Auch die Familie kann unter dieser Diagnose leiden. Denn sie wird zuweilen gemieden, wenn ein Angehöriger daran erkrankt ist (vgl. Gaebel & Zäske 2011, S. 65). Eltern stigmatisieren sich aber auch selbst (vgl. Berger & Rüsch 2012, S. 954). Sie denken häufig, dass sie an dieser Erkrankung selbst Schuld trügen. Von Geschwistern oder Eheleuten wird häufig erwartet, dass der Verlauf der Krankheit, durch ihren Einfluss, besser verläuft (vgl. ebd.). Diese Erwartung kann aber nicht immer erfüllt werden.
Essen ist eines der wichtigsten Grundbedürfnisse des Menschen. Nicht nur der Körper ist darauf angewiesen, sondern auch im sozialen Kontext spielt das Essen eine wichtige Rolle (vgl. Fichter 2012, S. 639). Personen mit der Erkrankung „Anorexia nervosa“ (Magersucht) haben nicht weniger Appetit. Sie wehren sich eher Nahrung aufzunehmen und unterdrücken und ignorieren den Hunger bewusst. Dies kann unterschiedliche psychische Ursachen haben. Die Patienten kompensieren ihre Konflikte über ihre Nahrungsaufnahme bzw. Nahrungsablehnung (vgl. Davis, Enders & Lamers, S. 44).
Im 17. Jahrhundert beschreibt Richard Morton das Krankheitsbild der Magersucht zum ersten Mal (vgl. Foltinek 2006, S. 355). Erstmals im 19. Jahrhundert wird von dem französischen Nervenarzt Lasegue und dem englischen Internisten Gull detailliert über das Störungsbild berichtet (vgl. ebd.). Dabei wurden auch psychogene Faktoren dargestellt (vgl. ebd.). Beide verwendeten unterschiedliche Begriffe dafür. Lasegue benannte das Störungsbild „Anorexia hysterica“, das heute nicht mehr verbreitet ist, Gull hingegen verwendete den Begriff „Anorexia nervosa“ (vgl. Fichter 2012, S. 639). Es wurden immer wieder andere Begriffe für dieses Krankheitsbild verwendet, wie zum Beispiel Pubertätsmagersucht oder psychogene Anorexia (vgl. ebd.). Heute orientiert man sich an der psychiatrischen Klassifikation „Diagnostisches und statistisches Manual Psychischer Störung“ (DSM-V) und der „Internationalen Klassifikation der Krankheiten“ (ICD-10), die diese Störungsbilder als Anorexia nervosa bezeichnen (vgl. ebd.). Diese Krankheit hat einen langjährigen Verlauf (vgl. Fichter 2012, S. 641). Der Verlauf dieser Krankheit kann zwischen einem und zwanzig Jahren liegen (vgl. Jacobi, Pauls & Thiel 2004, S. 12). Mittelfristig kann man davon ausgehen, dass ca. die Hälfte der Patienten nach 5-6 Jahren die Kriterien der Anorexia nervosa nicht mehr erfüllen (vgl. ebd.).
Patienten, die an Anorexia nervosa erkrankt sind, versuchen durch Diäten oder Fasten, durch übertriebenen Sport, Erbrechen oder durch Tabletten ihr Gewicht zu reduzieren (vgl. Fichter 2012, S. 643). Sie beschäftigen sich permanent mit ihrem Gewicht und definieren ihr Selbstwertgefühl danach. Sie fühlen sich, trotz eines extremen Untergewichts, meist immer noch zu dick (vgl. ebd.). Ebenso sind die Patienten oft Personen, die eine auffällige soziale Angepasstheit haben und ihre Aggressionen verstecken (vgl. Beushausen 2004, S. 94). Bevor aber eine solche Diagnose gestellt werden kann, muss erst einmal abgeklärt werden, dass keine körperliche Ursache für den Gewichtsverlust verantwortlich ist. Sollte dies nicht der Fall sein, wird geschaut, ob die Diagnosekriterien von ICD-10 oder DSM-V zutreffen.
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