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Bachelorarbeit, 2022
45 Seiten, Note: 1,6
1. Einleitung
2. Die Theodizee
2.1 Begriffserklärung und Problemabriss
2.2 Leibniz' Theodizee
2.3 Theodizee-Verfahren
2.3.1 Die Bonisierung des Übels durch Leugnungsversuche
2.3.2 Die „Depotenzierung“ des Übels durch Verharmlosung
3. Kleists erkenntnistheoretische Krise
4. Das Erdbeben von Lissabon - eine ideengeschichtliche Referenz
5. Das Erdbeben in Chili
5.1 Eine zweite Heilsgeschichte? Ein Abriss der Bibelzitate im Erdbeben in Chili
5.2 Perspektivierung des Leidens in das Erdbeben in Chili
5.3 Die transzendente Fixierung der Deutungsinstanz
5.4 Die Deutungsinstanz des Zufalls
6. Fazit
Literaturverzeichnis
Die Frage nach dem Sinn des Leidens ist eines der konstitutiven Elemente der weltlichen Glaubensgeschichte. Wie man die Übel auf der Welt mit dem Glauben an einen gerechten Gott vereinbaren kann, lässt bereits Jesus Ausruf am Kreuz anklingen: „Mein Gott, Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“1. Es ist ebendieser Versuch, die Leiden der Menschen mit dem Bild eines allwissenden und allmächtigen Gottes zu verbinden, den Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) in seinen Essais de Théodicée (1710) als den heute gebräuchlichen Begriff der Theodizee instituiert. Leibniz' Ausführungen über die Rechtfertigung Gottes im Angesicht des Übels fanden mitunter große Zustimmung, da er, vor dem Hintergrund der damaligen Aufklärungsbewegung, Glaube und Vernunft in seiner Auslegung der Theodizee zu vereinen versucht.2 Die Praktiken der Theodizee werden jedoch in den nachfolgenden Jahrzehnten noch Gegenstand kritischer Prüfung werden. Die sich immer mehr zum Zeichen einer geistigen und sozialen Reform bewegenden Ziele der aufklärerischen Bewegung beginnen, einen Bruch mit den alteingesessenen Denkmustern der christlichen Weltanschauung zu erzeugen. Ikonen der Philosophie, wie Immanuel Kant, David Hume und Thomas Hobbes, begründen das Zeitalter des Empirismus und der Rationalität, das sich gegen das streng theologisch gedeutete Weltbild aufzulehnen versucht. Die Aufklärer beginnen, Menschen nach ihrem Bilde zu formen. Das geistige Beben, das sich innerhalb der gebildeten Stände der Bevölkerung manifestiert, folgt unmittelbar auf eines der einschneidendsten Ereignisse des 18. Jahrhunderts: Das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755. Das verheerende Erdbeben in der portugiesischen Hauptstadt trifft ein ohnehin schon bewegtes Europa, dessen alte Werte und Vorstellungen genau wie die Gebäude in der Küstenstadt, einzustürzen drohen. Das Erdbeben, das der Germanist Bernd Hamacher als „ein Fanal der Erschütterung der christlichen Weltordnung“3 deutet, sieht die Theodizee-Debatte erneut philosophischer und theologischer Kritik ausgesetzt. Die Frage, wie man das Leiden, das diese Erderschütterung hervorgerufen hat, in den Kontext eines gerechten Gottes rücken kann, lässt zusätzliche Risse in der bröckelnden Fassade einer christlichen Theologie erscheinen.
Es ist in diesem Kontext, indem Heinrich von Kleist (1777-1811) seine früheste Erzählung, Das Erdbeben in Chili, die zunächst noch den Titel Jeronimo und Josephe. Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647 trug, im Morgenblatt für gebildete Stände vom 10. bis zum 15. September 1807 publiziert.4 Die Erzählung relatiert die Liebesgeschichte eines verfemten Paares, das inmitten der katastrophalen Geschehnisse des historisch beglaubigten Erdbebens in Santiago de Chile im Jahr 1647 zunächst durch glückliche Umstände gerettet wird, nur um später erneut in eine Katastrophe zu geraten, indem sie dem Lynchmob der Gläubigen zum Opfer fallen. Obwohl Kleist auf ein historisches Ereignis verweist, das vor dem Erdbeben in Lissabon stattfand, literarisiert er die diesem Erdbeben entspringenden philosophischen und theologischen Kritikpunkte der Spätaufklärung.
Diese Arbeit soll - in Anlehnung an die Theodizee-Debatte in Kleists Novelle Das Erbeben von Chili - den Umgang des Autors mit der seine Erzählung maßgeblich prägenden Frage des Glaubens an einen gerechten Gott näher beleuchten. Dabei soll zunächst einmal der Begriff der Theodizee erklärt und die ganze Bandbreite der Auslegungen dieses facettenreichen Begriffes erläutert werden. Anschließend sollen dann - um die Textanalyse auch vor dem Hintergrund der von Kleist selbst ausgewählten historischen Gegebenheiten vornehmen zu können - sowohl die ideengeschichtliche Komponente des Erdbebens von Lissabon herausgearbeitet als auch der biografische Bezug des Textinhalts zum Lebensinhalt von Heinrich von Kleist hergestellt werden. Abschließend wird dann die Textanalyse selbst in Angriff genommen.
In den folgenden Abschnitten soll der Begriff der Theodizee näher untersucht werden. Hierbei wird zunächst eine allgemeine Einführung in die historische Komponente des Begriffs sowie ihrer Problemhaftigkeit gegeben, um später auf die Auslegung der Theodizee des deutschen Philosophen Leibniz einzugehen. Zum Schluss werden noch weitere Theodizee-Verfahren erläutert, die auch in Kleists Das Erdbeben in Chili Anwendung finden.
Der von dem deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz geprägte Begriff der Theodizee setzt sich aus den griechischen Wörtern theos (Gott) und dike (Gerechtigkeit) zusammen. Der Begriff der Theodizee bezeichnet den Versuch, den Glauben an Gott zu rechtfertigen5. Obwohl der Begriff erst durch Leibniz namentlich konkretisiert wird, reiht sich das mit diesem Terminus beschriebene Phänomen in eine lange Geschichte einer Grundproblematik ein, die sich vor allem für die monotheistischen Weltreligionen stellt: Wie kann ein allmächtiger, allgütiger und allwissender Gott sinnloses Leiden unter seinen Geschöpfen zulassen?6 Eine ähnliche Herangehensweise findet man bereits beim Kirchenvater Laktanz, (ca. 250-320) der ein Tetralemma zitiert, das er fälschlicherweise dem römischen Dichter Epikur zuschreibt:
Entweder will Gott die Übel beseitigen, kann es aber nicht:
Dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft.
Oder er kann es, will es aber nicht:
Dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist.
Oder er will es nicht und kann es nicht:
Dann ist er schwach und missgünstig zugleich, folglich nicht Gott.
Oder aber er will es und kann es, was allein sich für Gott ziemt:
Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?7
Es ist ein Widerspruch, dass ein per definitionem „gutes“ Wesen (Gott) zulässt, dass es etwas dem Guten Widerstrebendes auf der von ihm geschaffenen Welt gibt. Die Frage, warum ein „guter“ Gott es zulassen kann, dass beispielsweise unschuldige Kinder sterben oder dass Menschen in Naturkatastrophen umkommen, ist eine der konstitutiven Problematiken der Theologie und eines der schlagfertigsten Argumente von Glaubenskritikern. Geht man von einem Gotteswesen aus, dessen Handeln keine Grenzen (Allmacht) hat und das zugleich von allem Übel in der Welt weiß (allwissend), so ist es unmissverständlich widersprüchlich, dass ein solcher Gott jenes sinnlose Übel zulässt. Dieser Widerspruch und die offenkundige Existenz eben solcher Übel in der Welt ist das sogenannte Theodizee-Problem und eines der wichtigsten Argumente, das gegen die Existenz eines mit solchen Eigenschaften versehenen Gotteswesen spricht und den Glauben an eine diesbezüglich orientierte Theologie untergräbt.8
Die Theodizee-Frage ist, wie Stosch es ausdrückt, ein „typisch neuzeitliches Phänomen“9. Obwohl Menschen sich auch in der Antike und dem Mittelalter mit der Frage der KoExistenz des Übels und Gottes beschäftigt haben, hat die Theodizee-Problematik erst seit der Aufklärung an Fahrt aufgenommen. Spätestens durch die Kritik von David Hume und Immanuel Kant an den bis dahin festgehaltenen Gottesbeweisen geriet der Glaube an Gott ins Wanken. Vor der Neuzeit wurde die Existenz Gottes nicht intellektuell angefochten, da die Gottesbeweise sich allgemeiner gesellschaftlicher Akzeptanz erfreuten, daher wurden auch die Übel in der Welt akzeptiert. Seit der Aufklärung spitzt sich jedoch die Frage nach der Theodizee zu, indem die „Alternative zur Akzeptanz des Übels [.] nicht mehr die Empörung gegen Gott [.] sondern die Absage an den Gottesglauben“10 bedeuten kann.
Ein weiteres historisches Ereignis, das inmitten des Jahrhunderts der Aufklärung für europaweite Bestürzung sorgt, ist das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755. Die portugiesische Handelsstadt wurde am Allerheiligentag von insgesamt drei Erdstößen heimgesucht, zurück blieben nur Trümmer von „Gebäuden, Kirchen, Klöster, Palästen sowie Wohngebäuden“11. Die Zahl der Todesopfer wird auf 20.000 bis 60.000 Menschen geschätzt.12 Die genauen Umstände des Erdbebens und seine Auswirkungen auf das Weltbild werden noch zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Arbeit näher erläutert (siehe Punkt 3.1). Wichtig für die Theodizee-Debatte ist jedoch die beispiellose Erschütterung, die dieses Ereignis zu Zeiten des grundsätzlichen „Aufklärungsoptimismus“ mit sich trug. Ähnlich wie die „Feuerbrünste“, die das Beben in Lissabon auslöste, entflammte ebenso eine hitzige Debatte über den Ursprung des Erdbebens.
Die philosophischen Lehren Leibniz' und seiner Kernthesen sind nicht an einem Einzelwerk des Philosophen festzumachen. Vielmehr sollte, um ein umfangreiches Verständnis seiner Grundsätze auch neben der Theodizee zu ermöglichen, auch auf sein Grundverständnis der Auslegung der Welt eingegangen werden. Die leibnizsche Weltanschauung stellt er philosophisch in seiner Monadenlehre dar. Die „Monaden“, so nennt Leibniz die kleinste, unteilbare Einheit, konstruieren alles, was existiert. Unähnlich zu der heute verbreiteten Atomlehre finden die Monaden jedoch ihren Ursprung im Schöpfergott, der diese Einheiten mit Kraft und Perzeptionsfähigkeit versehen hat.13 Leibniz unterscheidet bei den Monaden zwischen zusammengesetzten Konstruktionen oder einfachen Substanzen, die er selbst „Seele“, „Geister“ oder „Lebendige“ nennt.14 Jede Monade unterliegt dem dynamischen Prinzip der Auslegung zur Zentralmonade (Gott). Es gibt unterschiedliche Bewusstseinsformen, die sich nach ihrer stufenweise angeordneten Perzeptionsfähigkeit richten. Der Mensch verfügt über Apperzeptionen, die ihm die Reflexion und die Herausbildung eines Bewusstseins ermöglichen und ist somit in seiner Vernunftbegabung der Zentralmonade ähnlich.15 Dennoch erreicht der Mensch nur eine abgeschwächte Form der göttlichen Vernunft, da nur Gott als zentrale Instanz der höchsten Vernunft gewertet wird. Die Monaden verwirklichen sich im göttlichen Schöpfungsplan, der diese unter dem von Leibniz eingeführten Begriff der „prästabiliserten Harmonie“ in ein zueinander festgelegtes Verhältnis erschafft. Leibniz evoziert hierbei das Uhrengleichnis: Möchte man zwei Uhren synchronisieren, muss es de facto eine Uhr geben, nach derer sich die Zweite richtet. Gott ist verantwortlich für alles Erschaffene neben ihm und ist somit die Uhr gewesen, nach der sich die Einrichtung der Welt richtete.16 Folglich entstand auch Leibniz' Theorie, dass Gott die „beste aller möglichen Welten“ erschaffen hat, eine These, die im Folgenden erläutert werden soll.
Leibniz' Werk Essais de Théodicée (1710) ist verantwortlich für die Namenstaufe des vorhin erläuterten Theodizee-Problems, das der Autor wie folgt umschreibt:
Es bleibt somit auch in der natürlichen Theologie die Frage bestehen, wie ein einziges, allgütiges, allweises und allmächtiges Prinzip das Übel habe zulassen können und vor allem, wie es die Sünde habe gestatten und sich habe dazu entschließen können, häufig die Bösen glücklich und die Guten unglücklich zu machen?17
In seinen Essais de Théodicée beschäftigt sich Leibniz jedoch nicht allein mit dem Widerspruch der dem Gotteswesen zugesprochenen Eigenschaften der Allmacht, Allgüte und Allwissenheit und der Existenz des Übels. Er verteidigt darin auch seine Weltanschauung der Monadenlehre und der daraus resultierenden gottgeschaffenen besten aller möglichen Welten. Um seine philosophische Kernthese aufrechtzuerhalten, muss Leibniz sich der Problematik der „[.] logische[n] Vereinbarkeit (Kompossibilität) oder Nichtvereinbarkeit (Inkompossibilität) zwischen der aus Gottes geglaubten Vollkommenheit resultierenden bestmöglichen Welt einerseits und den erfahrbaren Übeln der Welt andererseits“18 stellen. Leibniz' Versuch der Theodizee gründet auf der logisch herbeigeführten Annahme, dass die Güte Gottes die Motivation für die Erschaffung alles Gutem, die Weisheit Gottes der Grund für seine Entscheidung das Beste zu wählen und die Macht Gottes das Mittel zur Ausführung seines Plans gewesen ist.19 Leibniz erkennt Gottes Allmacht an, dennoch ist Gott durch seine Güte einerseits und seiner Weisheit andererseits dazu gezwungen notwendigerweise immer das Beste zu wollen.20 Hierzu auch Busche: „Etwas weniger Vollkommenes schaffen zu wollen als das größtmögliche Vollkommene, wäre für Gott zwar logisch wie physisch möglich gewesen, nicht aber gleichsam moralisch, da dies nicht mit seiner Güte vereinbar gewesen wäre.“21. Um diese Welt zu erschaffen, hat Gott eine unendliche Anzahl der möglichen Welten untereinander abgewogen, um zu „errechnen, in welcher unter allen möglichen Welten die Summe des Bösen im Vergleich zur Summe des Guten am geringsten sein würde, und das ist die Welt, in der wir leben.“22. Diese bestmögliche Welt nach Leibniz ist jedoch kein anthropozentrisches Konstrukt, das sich lediglich auf den Mikrokosmos der menschlichen Gesellschaftsstruktur reduziert. Vielmehr ist die „beste aller möglichen Welten“ ein holistisches Konzept, das in kosmologischer Sicht auf den Makrokosmos des gesamten Universums referiert.23
Der Kernproblematik der Theodizee widmet sich Leibniz, indem er einzeln auf die verschiedenen erfahrbaren Grundübel eingeht und deren Existenz als notwendige Bestandteile der bestmöglichen Welt darlegt. Anders als die vor ihm durch Augustinus geprägten Zweiteilung des Übels in malum physicum und malum morale, nimmt Leibniz eine Dreiteilung vor: er unterscheidet neben dem moralischen und dem natürlichen Übel auch noch das metaphysische Übel.24 Wichtig für Leibniz' Argumentation ist, dass er die Übel immer nur als Pendant zum jeweiligen Guten sieht. Für Leibniz entstehen die Übel durch den Mangel des Guten.25
Das metaphysische Übel bezieht sich auf die Unvollkommenheit des Menschen, einen Mangel an Vollkommenheit also, näher auf seine „ Endlichkeit “ und „ Begrenztheit “26. Diese Unvollkommenheit erweist sich jedoch lediglich im Hinblick auf Gott, der, da Leibniz das Verhältnis zwischen Erschaffer und Erschaffenem gleichsetzt mit Unendlich - Endlich, seinem Geschöpf „nicht alles schenken [konnte], ohne es selbst zu einem Gott zu machen“27. Es bedurfte also verschiedener Abstufungen der Vollkommenheit und Begrenzungen.28 Das metaphysische Übel ist somit notwendig als Grundvoraussetzung für die Erschaffung einer Welt durch Gott, da die Schöpfung nicht als Ebenbild Gottes fungieren kann.
Das natürliche Übel (malum physicum) wird bei Leibniz mit „d[en] Schmerzen, d[en] Leiden und d[em] Elend der Geschöpfe“29 umschrieben. Leibniz sieht das natürliche Übel jedoch nicht in den objektiven Ursachen ebensolcher Gefühle, sondern in der subjektiven (seelischen) Sphäre des Fühlenden. Hierzu Busche:
Das „malum physicum“ besteht für ihn gerade nicht, wie von der Terminologie her zu erwarten wäre, in jenen physischen Prozessen, die Schmerz und Leid hervorrufen, wie z.B. in Krankheiten, Erdbeben, Wirbelstürmen oder anderen für Lebewesen ungünstigen Faktoren. Vielmehr macht Leibniz das natürliche Übel am subjektiven Faktor fest, d.h. an den erlebten unangenehmen Gefühlen selbst, die gegebenfalls [sic!] durch jene objektiven Umstände hervorgerufen werden. Diese unangenehmen seelischen Zustände mögen schwach oder stark sein, körperbedingte Missempfindungen oder seelisch vermittelte Qualen. Leibniz reduziert also die natürlichen Übel (mala physica) auf seelische Übel.30
Die entscheidenden Unterschiede, die Leibniz anhand der Kategorisierung der seelischen Übel anstatt der natürlichen Übel herausarbeitet, sind einerseits die individuelle Färbung der für das Lebensglück notwendigen natürlichen Güter, sowie ihre Standpunktrelevanz andererseits. Es ist nicht bestreitbar, worin die seelischen Güter (Freude, Liebe, usw.) und Übel (Schmerzen, Kummer usw.) bestehen. Dennoch ist das Maß dieser Güter und Übel, um als Auslöser für angenehme oder unangenehme Gefühle zu fungieren, nicht konsensfähig, denn was „die Menschen als [.] Güter oder Übel auffassen, hängt zu einem sehr großen Teil von ihren individuellen Einstellungen und Vorlieben sowie von gesellschaftlich vermittelten Werten ab“.31 Ebenso kann im Hinblick auf das global zusammenwirkende Konzept der besten aller möglichen Welten die Empfindung eines Geschehens sowohl als Übel als auch als Gut angesehen werden. Die Relativität des Standpunktes ist wichtig für die jeweilige Bewertung als Gut oder Übel.32 Ein Beispiel hierfür findet sich auch in Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili, in der, nachdem die Stadt von dem ungeheuren Erdbeben heimgesucht worden war, sich die verbleibende Bevölkerung außerhalb der Stadtmauern zu einer ständelosen Familie zusammengerückt war, sodass der Erzähler bemerkt, dass sich der erlittene Schmerz mit so viel „süßer Lust“33 vermischte, „daß sich, [.] gar nicht angeben ließ, ob die Summe des allgemeinen Wohlseins nicht von der einen Seite so gewachsen war, als sie von der anderen abgenommen hätte.“34 Auch wenn die Güter, die ein solches Ereignis verursacht, nicht immer die Übel aufhebt, so gilt es dennoch der Argumentation Leibniz, „dass im ganzen Universum unvergleichlich mehr Gutes als Schlechtes vorhanden ist“35. Leibniz sieht ebenso eine Notwendigkeit in der Existenz von natürlichen Übeln, da diese Übel lediglich die Kehrseite eines lust- und freudeempfänglichen Wesens sind:
Entsprechend hätte es auch eine Welt ohne seelisches Leiden geben können; aber dies hätte zugleich wohl eine Welt ohne Menschen sein müssen, zumindest ohne Menschen der uns bekannten Art, die Lust und Freude an bestimmten Dingen, Mitmenschen und Ereignissen finden können, so dass deren Abwesenheit oder Verlust notwendig zu Trauer oder anderem seelischen Schmerz führt.36
Das moralische Übel bezieht sich auf „schuldhafte[.] Verfehlungen des Menschen“37 oder theologisch gesprochen auf die „Sünde“. Den moralischen Übeln stellt Leibniz das moralische Gut der Tugend gegenüber.38 Die moralische Schuld lässt sich jedoch anders als die natürlichen Übel leichter im Theodizee-Diskurs erklären, da die Schuld des Menschen aus dem Missbrauch seiner Vernunftbegabung entspringen. Dennoch gibt Leibniz hierin den Skeptikern Recht, als dass es mehr moralische Verfehlungen als tugendhaftes Benehmen im irdischen Leben gibt, dies bezeichnet der Philosoph jedoch als „Folge der Erbsünde“.39 Trotzdem ist selbst die Überlast des moralischen Übels kein Grund für Leibniz an seinem propagierten Schöpfungsbild zu zweifeln. Er argumentiert demnach, dass selbst eine Welt mit moralischen Übeln, die aus dem missbräuchlichen Gebrauch der Vernunft der Menschen entsteht, global gesehen besser wäre als eine Welt, in der es keine solche Verfehlungen gäbe, da dies beinhalte, dass es keine Menschen gäbe. So sieht sich Leibniz in der Entscheidung Gottes, den Menschen zu erschaffen, bestätigt und behauptet: „[s]oll es weniger Schönheit, weniger Vollkommenheit und weniger Vernunft im Universum geben, weil es Menschen gibt, die die Vernunft missbrauchen?“40 Leibniz sieht die moralischen Übel als Notwendigkeit für die Existenz der Menschen, die selbst Vernunftbegabt sind und sich ihrer Vernunft nach ihrem Ermessen bemächtigen können, um moralisch Gutes oder Böses zu verrichten. Trotz der durch die Menschen verübten moralischen Übel sieht Leibniz dennoch in der Existenz des Menschen die Bestätigung dafür, dass eine Welt mit Menschen der Maxime der bestmöglichen Welt entsprechen muss, sonst hätte Gott den Menschen nicht erschaffen.
Neben der leibnizschen Theodizee, die vor allem auch darauf abzielt, die Kernthesen seiner Philosophie der Monadenlehre und seiner propagierten Argumentation der „besten aller möglichen Welten“ als Stütze zu dienen, gibt es auch noch weitere Verfahren, mit derer man versucht, den Glauben an einen gerechten Gott zu legitimieren. Klaus von Stosch, Professor für systematische Theologie an der Universität Paderborn, zählt in seinem Werk Theodizee eine Vielzahl an Möglichkeiten auf, mit welchen Mitteln man dem Widerspruch zwischen einem gerechten Gott und der Leiden auf der Welt Einhalt zu bieten versucht. Da sich diese Vielzahl an Theodizee-Versuchen selbst bereits als eigenständiges Thema einer ausgedehnten wissenschaftlichen Arbeit eignen würden, sollen in den folgenden Abschnitten nur die Theodizee-Verfahren erläutert werden, die auch später in der textanalytischen Dimension dieser Arbeit eine Rolle spielen werden.
Alle „Leugnungsversuch[e]“41 des Übels sind für Stosch grundsätzlich „Bonisierungsstrategien“ (von lat. Bonum = gut), die versuchen, das Übel ins Gute zu kehren. Er unterscheidet hierbei zwischen 3 verschiedenen Vorgängen, die das Übel leugnen, um darin etwas Gutes zu konstatieren.
Als erste Strategie nennt Stosch die „Funktionalisierung“42 des Übels, bei der „dem Leiden eine bestimmte Funktion für einen höheren Wert“43 zugemessen wird. Das Übel wird somit lediglich als Mittel für einen guten Zweck angesehen. Ein Beispiel aus dem Bereich der Naturwissenschaften gibt Stosch, indem er die Leiden als notwendiges Mittel für die Evolution des Menschen hin zum homo sapiens zitiert. Der Autor zitiert hier Mohr, der den Tod als „ die Voraussetzung für die Höherentwicklung des Lebens“ anerkennt, da „[.] er Dysfunktionen eliminiert, die ökologischen Nischen öffnet [und M.B.] Lebensräume wieder freigibt“44. In einem philosophischen Kontext deutet Stosch auf Funktionalisierungsversuche des Übels hin, bei denen das Übel meist zur Ausbildung „personale[r] Reifungsprozesse“45 dienen soll. So sollen tugendhafte Eigenschaften wie Solidarität und Mitleid anhand der Konfrontation mit Leiden und Schmerzen herausgebildet werden können. Die Funktionalisierungsstrategie kann jedoch nur in sehr wenigen Fällen tatsächlich als ein Legitimierungsgrund für das Leiden fungieren. Vor allem kann die funktionale Interpretation des Leidens nur auf eigenes Leiden projiziert werden, da, wie Stosch es richtig ausdrückt, „nur die leidende Person selbst [...] ihrem Leiden einen Sinn geben [darf]“46, alles andere wäre moralisch verwerflich. Niemand dürfte sich anmaßen, das Leiden eines schwerkranken Kindes oder die Opfer einer Naturkatastrophe als Zeichen zur tugendhaften Besserung der eigenen Person zu nehmen, dies würde, so argumentiert Stosch wieder richtig, die „Dignität der Leidenden“ verletzen. Außerdem führt die Erfahrung natürlicher Übel nicht immer zur Besserung des Menschen, sondern es bilden sich oftmals weitere Übel aus der Erfahrung erster Übel, wie „Bosheit, Schadenfreude, Sadismus und Verzweiflung“47. Doch auch nicht jedem selbst ertragenen Leid kann funktional einen tieferen Sinn beigespielt werden. Ein zum Tode Gesteinigter kann nur wenig Sinn in das Leid hineininterpretieren, das er während seiner Steinigung ertragen muss. Rein zynisch würde die Behauptung klingen, dass diese Person jedweden Reifungsprozess durch sein erfahrenes Leid gewinnt.48
Die zweite „Bonisierungsstrategie“ ist die der Pädagogisierung des Leidens. Dies ist einer der am weitesten verbreiteten Topoi in der biblischen Theologie. Die Pädagogisierung des Leidens bezeichnet das Leiden sowohl als Strafe oder auch als dem Gläubigen auferlegte Prüfung.49 Ein als Sündenstrafe verstandenes Leid kann bei dem Betroffenen zur sittlichen Besserung führen, indem der Sündiger seine Fehler eingesteht und Reue vor Gott zeigt. So steht auch im Hebräerbrief: „Jede Züchtigung aber, wenn sie da ist, scheint uns nicht Freude, sondern Schmerz zu sein; danach aber bringt sie als Frucht denen, die dadurch geübt sind, Frieden und Gerechtigkeit“50. Das Leid als Prüfung Gottes zu verstehen kann auch sinnstiftend wirken und dessen „Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit“51 negieren, da die Betroffenen durch Buße und Reue ihr Verhältnis zu Gott wieder berichtigen können. So geschieht es auch in der Erzählung Kleists, dass das sündhafte Paar nach der Wiedervereinigung mit Gott in der Dominikanerkirche strebt. Dennoch bietet auch diese „Entübelungsstrategie“ des Übels nicht wenig Raum für Kritik. Zunächst gilt es zu verstehen, dass, wenn Leiden als Sündenstrafe verstanden werden kann, sie a priori immer mit einem schuldhaften Menschen verbunden sein müssen. Außerdem beinhaltet diese Annahme der Leiden als Sündenstrafe ebenfalls, dass die Last, die einem Sündiger auferlegt wird, auch tragbar ist und in der Lage ist, sinnstiftend zu wirken. Es gibt jedoch in der Welt zahlreiche Beispiele von Menschen, die unrechtmäßig Leiden müssen, deren Leid überhaupt nicht in Relation mit jedweder möglichen Sündhaftigkeit stehen kann. Der Gedanke eines pädagogischen Nutzens erblasst vor allem vor dem Hintergrund eines „noch nicht schuldfähigen Kind[es]“52 oder vor den Gräueltaten des NS-Regimes. So behauptet auch Stosch, dass „[d]as Leiden [...] viel zu oft viel zu verheerend [ist], um ihm noch irgendeinen pädagogischen Nutzen zusprechen zu können [...].53
[...]
1 Mk 15.34; Mt 27,46. Als Quellenmaterial zur Belegung der Bibelverweise wird in dieser Arbeit die online auffindbare und 2017 unter kirchenamtlicher Revision überprüfte Luther-Bibel der deutschen Bibelgesellschaft herangezogen. Online unter: die-bibel.de; zu Mk 15.34: https://www.die- bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/LU17/MRK.15/Markus-15 [Zugriff 20.3.2022].
2 Vgl. Appel, Kurt: Kants Theodizeekritik. Eine Auseinandersetzung mit den Theodizeekonzeptionen von Leibniz und Kant. Frankfurt am Main 2003, S. 21.
3 Hamacher, Bernd: Religion und Kirche. In: Breuer, Ingo: Kleist Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2013, S. 276-279, hier: S. 278.
4 Vgl. Liebrand, Claudia: Das Erdbeben in Chili. In: Breuer, Ingo: Kleist Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2013, S. 114-120, hier: S. 114.
5 Vgl. Stosch, Klaus von: Theodizee. 2., überarbeitete Auflage. Paderborn 2018, S. 7.
6 Vgl. Busche, Hubertus, Leibniz' Theodizee - ihre Ziele und Argumente (o.J.). In: fernuni-hagen.de. Online unter: https://www.fernuni-hagen.de/philosophie/lg1/docs/leibniz theodizee - ihre ziele und ihre argumente.pdf [Zugriff 23.3.2022].
7 Vgl. Glei, Reinhold F.: Et individus et inbecillus. Das angebliche Epikurfragment bei Laktanz. De ira dei 13, 20-21. In: Vigilius Christanae (1988) 47-58, zit. nach Stosch 2018, S. 10.
8 Vgl. Stosch 2018, S. 10.
9 Ebd., S. 9.
10 Stosch 2018, S. 11.
11 Wilke, Jürgen, Das Erdbeben von Lissabon (1755) (18.12.2014). In: ieg-ego.eu. Europäische Geschichte Online; online unter: http://ieg-ego.eu/de/threads/europaeische-medien/europaeische- medienereignisse/juergen-wilke-das-erdbeben-von-lissabon-1755 [Zugriff 23.3.2022], Abs. 1.
12 Vgl. Ebd.
13 Vgl. Specht, Rainer: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Bd. 5: Rationalismus. Stuttgart 1979, S. 237.
14 Vgl. Ebd, S. 236.
15 Vgl. Ebd, S. 243.
16 Vgl. “Prästabilisierte Harmonie”. Metzler Lexikon Philosophie. In: Spektrum.de; online unter: https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/praestabilierte-harmonie/1633 [Zugriff 24.3.2022].
17 „Il reste donc cette question de la Theologie Naturelle, comment un Principe unique, tout bon, tout sage et tout puissant a pu admettre le mal, et sur-tout comment il a pu permettre le peché, et comment il a pu se resoudre â render souvent les mechans hereux et les bons malheureux?” (Essais de Théodicée, Discours préliminaire, § 43, GP VI 75, zit. nach Busche o.J., S. 3).
18 Busche o.J., S. 4.
19 „[...] il est bon d'adjouter que sa BONTÈ l'a porté antecedemmentâ créer et â produire tout bien possible; mais que sa SAGESSE en a fait le triage, et a eté causequ'il a choisi le meilleur consequemment; et enfin que sa PUISSANCE luy a donné le moyen d'executer actuellement le grand dessein qu'il a formé.” (Essais de Théodicée, II, § 116, GP VI 167, zit. nach Busche o.J., S. 13).
20 „Il est vray que Dieu est infiniment puissant; mais sa puissance est indeterminée, la bonté et la sagesse jointes la determinent â produire le meilleur.“ (Essais de Théodicée, II, § 130, GP VI 183, zit. nach Busche o.J., S. 15).
21 Busche o.J., S. 16.
22 Kolakowski, Leszek: Falls es keinen Gott gibt. Aus dem Engl. München 1982, S. 16.
23 Busche o.J., S. 17.
24 Vgl. Busche o.J., S. 21.
25 “Le mal meme ne vient que de la privation“ (Essais de Théodicée , II, § 153, GP VI 201, zit. nach Busche o.j., S. 23).
26 Busche o.J., S. 22.
27 Ebd.
28 „Car Dieu ne pouvoit pas luy donner tout, sans en faire un Dieu; il falloit donc qu'il y eut des differens degrés dans la perfection des choses, et qu'il y eut aussi des limitations de toute sorte.” (Essais de Théodicée, I, § 31, GP VI 121, zit. nach Busche o.J., S. 22).
29 „[...] le mal physique,c'est â dire les douleurs, les souffrances, les miseres [...]“(Essais de Théodicée, III, § 241, GP VI 261, zit. nach Busche o.J., S. 26).
30 Busche o.J., S. 27.
31 Ebd.
32 Busche nennt hierzu das Beispiel eines Erdbebens, das einerseits für großen Schmerz und Leid bei den Betroffenen führt, andererseits jedoch für die “Baubranche” einen großen Vorteil bedeutet (vgl. S.28). Auch wenn diese Ansicht einen nicht überspielbaren Zynismus bei Leibniz vermuten lässt, so bleibt die Argumentation dennoch aufrecht, da sich die jeweiligen Bewertungen als individuell und standpunktrelativ manifestieren.
33 Kleist, Heinrich von: Das Erdbeben in Chili. In: Ders.: Das Erdbeben in Chili. Die Marquise von O... Die Verlobung in St. Domingo. Mit einem Kommentar von Helmut Nobis. 3. Auflage. Frankfurt am Main 2015. S. 9-26, hier: S. 16.
34 Ebd.
35 „Mais quand meme il seroit échu plus de mal que de bien au genre humain, il suffit par rapport â Dieu, qu'il y a incomparablement plus de bien que de mal dans l'univers.“ (Essais de Théodicée,III, § 262, GP VI 272, zit. nach Busche o.J., S. 32)
36 Busche o.J., S. 34.
37 Busche o.J., S. 37.
38 Vgl. Ebd., S. 38.
39 Ebd.
40 „[.] faudrat-il qu'il y ait moins de beauté, de perfection et de raison dans l'univers, parce qu'il y a des gens qui abusent de la raison?“ (Essais de Théodicée,II, § 119, GP VI 172, zit. nach Busche o.J., S. 32).
41 Stosch 2018, S. 18.
42 Ebd., S. 19.
43 Ebd.
44 Mohr, Hans: Leiden und Sterben als Faktoren der Evolution. In: Böhme, Wolfgang (Hg.): Evolution und Gottesglaube. Ein Lese- und Arbeitsbuch zum Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Göttingen 1988, S. 207-221, hier: S. 218.
45 Stosch 2018, S. 22.
46 Ebd.
47 Ebd., S. 21.
48 Das Argument eines postmortalen Reifeprozesses wird später noch Thema sein.
49 Vgl. Ebd., S. 23.
50 Hebr 12,11.
51 Stosch, S. 23.
52 Stosch 2018, S. 24.
53 Ebd.