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Bachelorarbeit, 2022
60 Seiten, Note: 1,3
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Fragestellung und Methodik
3. Grundlagen der Schutzimpfungen
3.1 Historie der Impfung und des Impfdiskurses
3.2 Grundlegende Wirkweise
3.3 Bedeutungen und mögliche Risiken
4. Kinderschutzimpfungen in Deutschland
4.1 Aktuelle Impfempfehlungen und Impfquoten
4.2 Aktuelles Infektionsgeschehen
4.3 Impfbereitschaft der Eltern
5. Faktoren der Impfentscheidung
5.1 Vertrauen
5.2 Risikowahrnehmung
5.3 Informationssuche
5.4 Soziales Verantwortungsgefühl und Ausführungsbarrieren
5.5 Sonstige Einflussfaktoren
6. Beweggründe elterlicher Impfskepsis und Impfablehnung
6.1 Sicherheitsbedenken
6.2 Risikobereitschaft
6.3 Beratungspersonen
6.4 Medieneinfluss
6.5 Sonstige Gründe
7. Diskussion
8. Fazit
Literaturverzeichnis
Schutzimpfungen gegen vorbeugbare Infektionserkrankungen im Säuglings- und Kindesalter werden in Deutschland teilweise nur unzureichend oder verspätet durchgeführt. Ein Teil der Eltern entscheidet sich aus durchdachten Gründen selektiv oder grundlegend gegen empfohlene Impfungen ihrer Kinder. In dieser Arbeit werden anhand eines systematischen Literaturreviews elterliche Faktoren der Entscheidungsfindung bei Kinderschutzimpfungen und insbesondre Skepsis generierende Faktoren identifiziert. Die Ergebnisse zeigen, dass dem elterlichen Entscheidungsprozess die Hauptfaktoren Vertrauen, Risikowahrnehmung, Informationssuche, Ausführungsbarrieren und soziales Verantwortungsgefühl zugrunde liegen. Hauptursachen ablehnender Impfentscheidungen sind Vertrauensmangel und Sicherheitsbedenken, Angst vor Impfkomplikationen und eine risikoferne und harmlose Betrachtung der ausgewählten Erkrankungen. Beeinflusst werden ablehnende Eltern in ihrer Entscheidungsfindung in besonderer Weise von impfkritischen Medien, Gesundheitsdienstleistenden oder dem sozialen Umfeld. Auch können ethisch-religiöse Motive oder eine bereits hohe Impfquote eine negative Impfentscheidung herbeiführen. Um adäquates Impfverhalten bei Eltern zu fördern, wird empfohlen, Informationsdefizite über die Impfungen und die zu impfenden Erkrankungen aufzulösen und Vertrauen in Impfstoffe, Versorgungsstrukturen und das Gesundheitssystem zu stärken.
Hinweis zur geschlechtergerechten Sprache:
Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen Bereichen ist im Leitbild der Fachhochschule Münster verankert. Nach Möglichkeit verwendet der Autor geschlechtsneutrale Formulierungen. Wo sich dies nicht umsetzen lässt, wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum genutzt. Selbstverständlich sind dabei Frauen und nicht-heteronormative Geschlechter eingeschlossen.
Abbildung 1 : Elimination der Poliomyelitis in Deutschland (Quelle: Heininger, 2004, S. 1134)
Abbildung 2: Prinzip der Herdenimmunität (Quelle: Betsch et al., 2017, S. 2)
Abbildung 3: An das RKI übermittelte Impfquoten bei den Schuleingangsuntersuchungen 2008-2017 (Quelle: Robert-Koch-Institut, 2019, S. 148)
Abbildung 4: Generelle Einstellung der Eltern zu Impfungen im zeitlichen Vergleich (Quelle: Horstkötter et al., 2021, S. 133, eigene Darstellung)
Abbildung 5: 5C-Gründe des (Nicht-)Impfens aus der Infektionsschutzstudie der BZgA (Quelle: Betsch et al., 2019, S. 403)
Abbildung 6: Phasen der Wahrnehmung von Erkrankungs- und Impfkomplikationen (Quelle: eigene Darstellung nach Meyer & Reiter, 2004, S. 1186)
Tabelle 1: Beispiele aktiver Impfstoffe (Quelle: Köhler, 2013, S. 7, eigene Darstellung)
Tabelle 2: Historischer Vergleich von Morbidität und Mortalität bei kindlichen Infektionskrankheiten in den Vereinigten Staaten (Quelle: Roush et al., 2007, S. 2156–2158, eigene Darstellung)
Tabelle 3: Bekannte Impfkomplikationen Auslöser, Vorkommen und Ausgang (Ankermann et al., 2018, S. 38; Oberle et al., 2019, S. 456, eigene Darstellung)
Tabelle 4: Impfkalender für Säuglinge, Kinder und Jugendliche im Jahr 2022 (Quelle: Ständige Impfkommission, 2022, S. 6, eigene Darstellung)
Tabelle 5: Durchführung ausgewählter Impfungen in Abhängigkeit der Impfeinstellung, Angaben in Prozent (Quelle: Horstkötter et al., 2021, S. 147, eigene Darstellung)
Tabelle 6: Die fünf psychologischen Faktoren der Impfentscheidung (Quelle: Betsch et al., 2019, S. 401, eigene Darstellung)
Tabelle 7: Gründe für elterliche Impfskepsis und Impfablehnung (Quelle: Eigene Darstellung)
BRD Bundesrepublik Deutschland
DDR Deutsch Demokratische Republik
FSME Frühsommer-Meningoenzephalitis
G-BA Gemeinsamer Bundesausschuss
Hib Haemophilus influenzae Typ b
HPV Humanes Papillomvirus
IfSG Infektionsschutzgesetz
KiGGS Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in
Deutschland
MMRV Masern, Mumps, Röteln, Varizellen
PEI Paul-Ehrlich-Institut
RKI Robert-Koch-Institut
SAGE Strategic Advisory Group of Experts on Immunization
SSPE Subakute sklerosierende Panenzephalitis
WHO World Health Organization
„Das arme Würmchen mit so einem Gift zu infiltrieren, […] das ist doch verantwortungslos“, so äußerte sich die Mutter eines sechs Monate alten, bislang ungeimpften Säuglings in einem explorativen Interview vonKrüger & Krüger (2016, S. 105). Dabei gelten Impfungen als eine der erfolgreichsten und kosteneffektivsten Gesundheitsmaßnahmen, um Infektionskrankheiten einzudämmen oder gar zu eliminieren(Robert-Koch-Institut, 2021a, S. 3). Bewiesen haben sie sich erstmalig bei der Elimination der Menschenpocken in den 1970er Jahren und auch die Impfkampagne gegen die Poliomyelitis zeigt bedeutsame Fortschritte. Infektionserkrankungen wie Windpocken, Masern oder Röteln werden nicht aufgrund vermeintlich harmloser Krankheitsverläufe als Kinderkrankheiten bezeichnet, sondern weil sie so hochansteckend sind, dass die meisten Menschen bereits im Kindesalter daran erkranken. Sie sind keine harmlosen Krankheiten, sondern ernstzunehmende Infektionen mit teilweise schwerwiegenden Komplikationen und Folgen (Heininger, 2004, S. 1129).
Dank dem Erfolg von Impfstoffen sind einige besonders bedrohliche Infektionskrankheiten heutzutage selten geworden. Die meisten Eltern haben und werden die verheerenden Folgen vieler durch Impfung vermeidbarer Krankheiten wahrscheinlich nicht selbst erleben (Lehmann, 2022, S. 476). Im größten Teil der deutschen Bevölkerung sind Impfungen ein akzeptiertes Mittel zur Prävention. Dennoch entscheiden einige Eltern sich aus bewussten Gründen gegen eine kindliche Schutzimpfung – oftmals selektiv, einige lehnen sie gänzlich ab. In der wissenschaftlichen Literatur wird dieses Phänomen als Impfmüdigkeit (Vaccine Hesitancy) bezeichnet und definiert als „Verzögerung oder Ablehnung von Impfungen trotz Verfügbarkeit von Impfangeboten“(Betsch et al., 2019, S. 400). Die Impfmüdigkeit wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als eine der zehn gefährlichsten zukünftigen Risiken globaler Gesundheit eingeschätzt(World Health Organization, 2019). Im Fokus dieser Arbeit steht die Identifikation der Faktoren, die elterliche Entscheidungsfindungen beeinflussen und insbesondere impfskeptische oder impfablehnende Verhaltensweisen generieren. Außen vor gelassen werden Hindernisse wie das Fehlen von Impfinformationen oder mangelnder Impfstoffzugang, da diese Hindernisse das Treffen einer Entscheidung gar nicht erst ermöglichen. Die Ursachen ablehnender Einstellungen reichen dabei von elterlichen Sicherheitsbedenken über philosophisch-religiöse Gründen bis hin zur Verharmlosung von Kindererkrankungen(Pfaff, 2013, S. 1123).
In dieser Arbeit sind zwei zentrale Forschungsfragen zu beantworten:
1. Welche Faktoren beeinflussen die elterlichen Impfentscheidungen?
2. Durch welche Beweggründe entscheiden sich Eltern gegen eine Schutzimpfung?
In den ersten beiden Grundlagenkapiteln erfolgt die theoretische Aufarbeitung zur Wirkweise, Bedeutung und möglichen Gefahren von Schutzimpfungen und kindlichen Infektionserkrankungen, sowie die Darstellung aktueller Impfempfehlungen und Impfquoten in Deutschland. Zusätzlich werden aktuelle Daten zur elterlichen Impfbereitschaft in der Bundesrepublik abgebildet. Anschließend werden die Ergebnisse publizierter Studien zusammengefasst, die darstellen, welche impfmotivierenden, aber auch Skepsis generierenden Einflussfaktoren auf die Entscheidungsfindung bekannt sind. Darauf aufbauend wird erfasst, aufgrund welcher Beweggründe und Vorbehalte sich Eltern in Deutschland gegen eine Schutzimpfung entscheiden. In die Analyse aufgenommen werden alle Krankheiten, gegen die bereits im Kindesalter eine Impfempfehlung ausgesprochen wird. Schließlich wird diskutiert, welche Maßnahmen zur Entgegenwirkung elterlicher Impfskepsis aufgegriffen werden können. Die methodische Vorgehensweise dieser Arbeit ist ein systematischer Literaturreview. Zu einer Fragestellung werden sämtliche themenrelevante Studien und Forschungsergebnisse identifiziert und anschließend bewertet. Dadurch soll der aktuelle Wissensstand eines Themas dargestellt und wichtige Fragen aufgezeigt werden, die in der Forschung noch offen sind(Cooper, 1998, S. 3). Die wichtigsten Stichworte und Begriffe bei der Literaturrecherche sind die Folgenden: Impfen/Vaccination/Schutzimpfungen, Kindererkrankungen/Child Diseases, Einstellung Eltern, Impfungen; Faktoren/Factors, Entscheidung/Decision, Vaccination/Impfungen; Decision Vaccination Determinants, Barriers/Barrieren/Promotion Vaccination/Impfungen; Vaccine Hesitancy; Impfmüdigkeit/Impfskepsis/Impfunschlüssigkeit; Impfgegner; Parental Anti-Vaccination/Vaccine Refusal; Impfeinstellung; Psychological Factors Vaccination und Impfverhalten/Vaccination Behaviour.
Neben der Bibliothek der Fachhochschule Münster sind die Suchorte die Datenbanken SpringerLink, Livivo, Datenbank der WHO, PubMed Central, Science Direct, Datenbank des RKI und Google Scholar. Anschließend erfolgt ein Titel- und Abstract-Screening, in welchem die Relevanz zum Thema geprüft wird. Eingeschlossen werden deutsch- und englischsprachige Literatur.
Die ersten Impfungen – damals noch „Variolationen“ genannt – wurden als Versuche der Pockenbekämpfung vor mehr als drei Jahrhunderten in China und Indien durchgeführt. Auch wenn die Menschen sich in dieser Zeit noch nicht den Auslösern von Infektionserkrankungen sicher waren, konnten sie beobachten, dass eine durchgemachte Infektion vor einer erneuten Erkrankung schützt(Seiffert & Dscheng, 1937, S. 28). Zur Impfung wurde damals fein verriebener Schorf von Pockenerkrankten genutzt, den man entweder in die Nasenlöcher oder auf zugeführte Wunden gesunder Menschen gab(Herwald, 2021, S. 29). Zwar gab man sich Mühe, nur Impfmaterial milder Pockenfälle zu nehmen, die Krankheitserreger waren dennoch replikationsfähig und lösten lebensgefährliche und teils tödliche Infektionen aus(Helmstädter, 2008, S. 12). Eine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Schutz vor Pocken durch Impfungen wurde 1796 vom englischen Landarzt Edward Jenner durchgeführt(Bazin, 2000, S. 35). Dieser entwickelte sein Interesse durch Überlieferungen, dass Milchmädchen, die an den Kuhpocken erkrankt waren, vor menschlichen Pocken geschützt seien(Herwald, 2021, S. 29). Schlussfolgernd übertrug er den Inhalt einer Kuhpockenblase über einen Schnitt in den Oberarm eines Jungen. Diesen infizierte er einige Wochen später mit den Menschenpocken, wobei der Junge gesund blieb(Engelken et al., 2007, S. 34). Dieses aus heutiger Sicht höchst unethische Experiment galt damals als großer Durchbruch und stellt die Geburtsstunde moderner Schutzimpfungen dar. Trotz der Entdeckung des Impfverfahrens durch Jenner konnte die Welt jedoch erst im Jahr 1980 durch die von der WHO ins Leben gerufene weltweite Impfkampagne für von Pocken befreit erklärt werden(Hirte, 2015, S. 11).
Nun war es ein Glücksfall, dass eine natürliche Erkrankung existierte, die gegen die Pocken Immunität verlieh, selbst aber harmlos blieb. Im 20. Jahrhundert führten die Entdeckungen von Krankheitserregern durch Louis Pasteur und Robert Koch zur Entwicklung weiterer Impfstoffe. Nun konnten Krankheitserreger selbst in ihrer Virulenz so abgeschwächt werden, dass sie immunisierend wirken, aber keinen Schaden mehr anrichten(Helmstädter, 2008, S. 13). Die zunächst entwickelten Impfstoffe waren gegen stark verbreitete Krankheiten wie Pocken (1798), Pest (1897), Diphtherie (1925), Tetanus (1927) und Gelbfieber (1937) wirksam(Hirte, 2015, S. 12; Wever & van Bergen, 2012, S. 78). Es folgten Impfstoffentwicklungen gegen Viruserkrankungen wie Polio (1955 bzw. 1962), Masern (1964), Mumps (1967), Röteln (1970) und Hepatitis B (1981). Die 1955 gegen Polio eingeführte parenterale Impfung mit abgetöteten Erregern führte in Europa und den USA zu einem starken Rückgang der Erkrankungszahlen(Hirte, 2015, S. 12). Diese dreimalige, anfangs kostenpflichtige Impfung wurde von der bundesdeutschen Bevölkerung jedoch kaum angenommen. Im Jahr 1962 erhielt ein oral applizierter Lebendimpfstoff seine Zulassung und wurde in der Bundesrepublik mit dem Werbespruch „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist bitter“ erfolgreicher angenommen und flächendeckend verabreicht. Obwohl früh bekannt wurde, dass es infolge einer oralen Impfung mit Lebendviren tatsächlich zum Ausbruch der Erkrankung kommen konnte, wurden impfbedingte Poliofälle als unvermeidbare Kollateralschäden in Kauf genommen(Helmstädter, 2008, S. 18). Dennoch ist der Kampagne zu verdanken, dass den deutschen Gesundheitsbehörden 1990 zum letzten Mal eine Polioerkrankung gemeldet wurde. Gleiches gilt für Europa, das seit 2002 ebenfalls für poliofrei erklärt wird und auch weltweit gibt es entsprechende Erfolge zu vermelden(Herwald, 2021, S. 30–31).
Die Gefahr einer Vernachlässigung von Kinderimpfungen und ihre epidemiologischen Auswirkungen kann durch die Keuchhustenepidemie Mitte der 1970er-Jahre in Japan und Großbritannien verdeutlicht werden. Infolge aggressiver Antiimpfkampagnen (die Impfung hätte zu einer großen Zahl von Gehirnhautentzündungen geführt) kam es zu einem fast vollständigen Boykott der Keuchhustenimpfung. Die Folge: Der vorher nahezu bedeutungslos gewordene Keuchhusten trat wieder epidemisch auf(Dittmann, 2002, S. 320).
Impfungen waren lange Zeit Privatsache. In Deutschland änderte sich das in den 1870er Jahren, denn nach der Staatsgründung rückte die Pockenschutzimpfung in der politischen Agenda nach ganz oben. 1874 wurde mit dem Reichsimpfgesetz die Impfung aller Kinder im ersten und zwölften Lebensjahr verpflichtend gemacht – notfalls mit Polizeigewalt. Dieser Impfzwang stieß auf Widerstand und schuf die erste richtige Impfgegnerbewegung, deren Anhängende einerseits die Wirkung der Impfung bestritten, anderseits anhand medienwirksamer Auftritte offenbar aufgetretene Gesundheitsschäden als Folge der Impfung präsentierten. Die Argumente der Impfgegnerschaft von einst klingen dabei teils recht bekannt: Zwischen der Einführung der Impfung und den stark zurückgegangenen Pockenfällen leugneten diese einen Kausalzusammenhang und folgten der Auffassung, Erfolge seien ausschließlich aufgrund verbesserter Hygienemaßnahmen zustande gekommen(Helmstädter, 2008, S. 14). Auch kursierte die skurrile Furcht, dass sich der Kopf eines geimpften Menschen in einen Kuhkopf umwandle, da die Herstellung der Pockenlymphe auf der Haut eines Rindes erfolgte. Dies soll jedoch kein Beispiel dafür sein, dass impfskeptische Personen stets unsachlich diskutieren, auch wenn der Anteil unsachlicher Argumente speziell bei Impfgegnern überwiegt(Dittmann, 2002, S. 322).
Bei fast allen Infektionserkrankungen erfolgt nach der Ersterkrankung eine fast lebenslange Immunität. Eine Schutzimpfung simuliert diesen Prozess, indem ein Erreger, der durch die Impfung verabreicht wird, die Immunität gegenüber einer bestimmten Infektion herbeiführt(Kriwy, 2007, S. 20). Sie dient also dem Ziel, den Empfängerorganismus zur Ausbildung einer protektiven Immunität gegen einen oder mehrere Krankheitserreger anzuregen, um einen langanhaltenden Schutz aufzubauen(Suerbaum et al., 2020, S. 157). Im Infektionsschutzgesetz (IfSG) wird eine Schutzimpfung definiert als „die Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren Krankheit zu schützen“ (§2 Abs. 9 Satz 1 IfSG). Zwar hält eine natürliche Immunität in manchen Fällen länger an als eine durch Impfung erworbene Immunität, allerdings ist ihr Erwerb mit deutlich mit höheren Risiken verbunden (Lehmann, 2022, S. 478). Dabei werden grundlegend zwei Funktionstypen von Impfungen unterschieden: die aktive und passive Immunisierung.
Die aktive Immunisierung provoziert die gleiche Immunreaktion wie eine natürliche Infektion und beschreibt im Allgemeinen das, was als Schutzimpfung bekannt ist. Sie basiert auf Verabreichung von abgeschwächten Krankheitserregern oder deren Produkten, den sogenannten Antigenen. Gegen diese bildet das Immunsystem als spezifische Reaktion B-Zellen, die Antikörper (Immunglobuline) produzieren. Diese dienen dazu, eingedrungene Antigene abzufangen und zu blockieren, sodass sie ihre schädliche Wirkung nicht entfalten können. Einige dieser B-Zellen wandeln sich anschließend in Gedächtniszellen um. Erst diese sorgen für eine langanhaltende, teilweise dauerhafte und zuverlässige Immunität. Dies braucht jedoch Zeit, daher ist eine Immunität erst nach einigen Wochen zu erwarten. Beim Kontakt mit dem jeweiligen Krankheitserreger kommt die Erkrankung dadurch nicht mehr klinisch zum Ausbruch. Dieser Effekt wird durch das gebildete „immunologische Gedächtnis“ gewährleistet(Dülligen et al., 2013, S. 130; Illing & Ledig, 2006, S. 42–43).
Aktive Immunisierungen unterscheiden sich bzgl. ihrer immunologischen Mechanismen in Impfungen mit Lebend- und Totimpfstoffen (s. Tab. 1). Lebendimpfstoffe enthalten abgeschwächte, aber noch vermehrungsfähige Erreger. Der Impfschutz hält meist lange an, bei einigen Impfstoffen sogar lebenslänglich. Totimpfstoffe hingegen enthalten abgetötete Krankheitserreger oder deren Bestandteile, die nicht mehr replikationsfähig sind. Damit diese eine ausreichende Immunreaktion hervorrufen, enthalten manche Totimpfstoffe sogenannte Adjuvantien (Wirkverstärker) wie Aluminiumsalze oder öl-basierte Emulsionen(Köhler, 2013, S. 7–8). Um ein gutes immunologisches Gedächtnis zu bilden, sind meist mehrere Impfstoffgaben und nach einiger Zeit weitere Auffrischimpfungen nötig. Außerdem kommt es aufgrund der fehlenden Vermehrungsfähigkeit zu deutlich weniger Nebenwirkungen (Kriwy, 2007, S. 21).
Tabelle1: Beispiele aktiver Impfstoffe (Quelle: Köhler, 2013, S. 7, eigene Darstellung)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei einer Toxoidimpfung werden abgeschwächte Erregergifte appliziert, die zwar nicht vor einer Infektion schützen, aber die Giftwirkung aufheben, z.B. bei der Tetanus- oder Diphtherieimpfung(Illing & Ledig, 2006, S. 141–144). Beim zweiten Funktionstyp, der passiven Immunisierung, werden direkt Antikörper verabreicht, um Krankheitserreger bekämpfen oder neutralisieren zu können. Sie wird dann vorgenommen, wenn aktuell kein sicherer immunologischer Schutz vorhanden ist und keine Zeit bleibt, um einen solchen aufzubauen. Medizinisch verabreichte Passivimpfungen bieten den Vorteil eines sofortigen, unverzögerten Impfschutzes, der jedoch meist nur wenige Wochen anhält(Kriwy, 2007, S. 21). Ein häufiger Einsatz von passiven Immunisierungen ist die therapeutische Verabreichung von humanem Tetanus-Immunglobulinen bei Tetanusinfektionen mit unklarem Impfstatus oder fehlender fristgemäßer Auffrischimpfung(Illing, 2017, S. 216). Passive Immunisierungen werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit außen vor gelassen, da sie nicht Teil empfohlener Schutzimpfungen sind und eher akut-therapeutischen Nutzen haben.
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten Infektionserkrankungen den Hauptgrund für die hohe Kindersterblichkeit in Europa dar. Noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg starben in Deutschland mehr als 10.000 Kinder pro Jahr an zur heutigen Zeit impfpräventablen Infektionskrankheiten, ca. 1.500 davon an Masern(Schmitt, 2003, S. 92). Auch zur heutigen Zeit stellen beispielhaft die Masern weltweit mit jährlich 31 Mio. Erkrankungen und geschätzten 777.000 Todesfällen nach wie vor eine impfpräventable Hauptursache für Todesfälle in der Kindheit dar(World Health Organization, 2003, S. 1). Weltweit stehen Infektionskrankheiten mit etwa 25 Prozent an zweiter Stelle der Todesursachenstatistik. Auch in industriell entwickelten Ländern wie Deutschland verursachen Infektionskrankheiten immer noch fünf Prozent der Todesfälle sowie 60 Prozent der akuten Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, bei Erwachsenen sind es 30 Prozent. Vor allem jüngere Menschen wissen aus eigenem Erleben nicht mehr, wie schnell und flächendeckend sich Krankheiten wie Diphtherie und Keuchhusten unter ungeschützten Kindern verbreiten können und wie gefährlich sie sein können. Die meisten viralen Infektionskrankheiten können auch heute noch nicht mehr als symptomatisch behandelt werden. Es wird geschätzt, dass allein die umfassende Anwendung bereits verfügbarer Impfstoffe (Masern, Pertussis, Röteln, Tetanus und Hib) weltweit jährlich ein bis zwei Mio. Todesfälle bei Kindern verhindern könnte(Dittmann, 2002, S. 320).
Eine vollständige Durchimpfung der Bevölkerung kann viele Menschenleben retten und ist ein großes Ziel der Präventivmedizin. Neben Verbesserungen der allgemeinen Hygiene und Therapiemöglichkeiten haben Impfungen in wesentlichem Maße zum Rückgang in Morbidität und Mortalität zahlreicher Infektionskrankheiten beigetragen(Heininger, 2004, S. 1129). Roush et al. (2007, S. 2156-2158) verglichen die Erkrankungs- und Todesfälle impfpräventabler Kindererkrankungen innerhalb der Vereinigten Staaten in Zeiträumen des 20. Jahrhunderts (vor Durchsetzung nationalen Impfstrategien) mit den in den Jahren 2004 und 2006 gemeldeten Zahlen. Ein Teil der Ergebnisse wird in Tabelle 2 dargestellt. Die Zahlen vor Impfbeginn sind Durchschnittswerte der aufgeführten Jahreszeiträume. Die Daten zeigen starke Rückgänge: 92,2 bis 100 Prozent in der Morbidität und nahezu 100 Prozent in der Mortalität aller ausgewählten Erkrankungen. Diese Erfolge sind zum großen Teil auf das Erreichen und Aufrechterhalten hoher Durchimpfungsgraten zurückzuführen.
Tabelle2: Historischer Vergleich von Morbidität und Mortalität bei kindlichen Infektionskrankheiten in den Vereinigten Staaten (Quelle:Roush et al., 2007, S. 2156–2158, eigene Darstellung)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Würde die Masernimpfung in Deutschland gestoppt werden, so wären in wenigen Jahren alle Kinder bis zum vierzehnten Lebensjahr erkrankt. Bei einer Letalität von einem Maserntoten pro 1.000 erkrankten Kindern würden pro Jahr etwa 650 Kinder an den Masern sterben(Maurer, 2008, S. 70). Die vielleicht größte Errungenschaft im Zusammenhang mit Schutzimpfungen und Immunisierungsprogrammen ist die weltweite Ausrottung der Pocken. Dies ist die erste Erkrankung, die durch ein massives, absichtliches und gemeinschaftlich organisiertes Unterfangen weltweiter Regierungen und Nichtregierungsorganisationen eliminiert werden konnte(Schuchat, 2011, S. 122). Vor der Einführung von Impfstoffen waren einige übertragbare Krankheiten in den Industrienationen bereits durch Verbesserungen der sanitären Einrichtungen, Ernährung, Wohnverhältnissen und der allgemeinen Hygiene zurückgegangen. Durch Impfungen kann der Rückgang von Erkrankungen jedoch beschleunigt werden. Die WHO berichtet, dass weltweit seit 1988 die Anzahl von ca. 350.000 gemeldeten Polio-Erkrankungen auf 33 Fälle im Jahr 2018 gesunken ist. Das entspricht einem Rückgang von über 99 Prozent(Herwald, 2021, S. 31). Die enorme Bedeutung von Schutzimpfungen als infektionsmindernde Präventionsmaßnahme wird durch diese Zahlen eindrücklich belegt. In Abbildung 1 wird der Rückgang der Poliomyelitis in dem Zeitraum 1946-1999 in Deutschland mit anschließender Krankheitselimination dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 : Elimination der Poliomyelitis in Deutschland (Quelle: Heininger, 2004, S. 1134)
Zudem können Frauen inzwischen durch eine Impfung gegen das sexuell übertragbare humane Papillomvirus (HPV) gegen schwere Krebserkrankungen geschützt werden. Diese Impfung kann sowohl für Frauen als auch Männer vorteilhaft sein, denn ein Großteil der Anal-, Penis- und Oropharynxkarzinome werden durch impfpräventable HPV-Typen verursacht(Robert-Koch-Institut, 2022, S. 3).
Durch eine Impfung entsteht in erster Linie ein Individualschutz für den Impfling. Der unbedingte und kausale Nachweis dieses Individualschutzes steht auch bei der Impfstoffzulassung im Mittelpunkt der Impfstoffentwicklungen. Zudem können hohe Impfquoten bestimmter Impfstoffe durch Unterbrechung der Infektionswege einen Kollektivschutz bewirken, der nicht-geimpfte Personen ebenfalls schützt(Kriwy, 2007, S. 28). Dieses Phänomen wird auch Herdenimmunität oder Herdenschutz genannt. Im Pschyrembel (2020) wird die Herdenimmunität folgendermaßen definiert:
Unempfänglichkeit der Population für bestimmte Infektionskrankheiten, die auf einer hohen Durchseuchungs- plus Durchimpfungsrate beruht. Herdenimmunität schützt auch ungeimpfte Individuen, da die Krankheitserreger sich nicht mehr ausreichend ausbreiten können. Die notwendige Höhe der Durchimpfungsrate variiert je nach Infektiosität zwischen 75 und 95%.
Gemäß dieser Definition kann ein Kollektivschutz sowohl durch ungeschützte Verbreitung eines Erregers als auch durch gezielte Impfstrategien hervorgerufen werden. Impfstoffe können nicht jedes Individuum schützen, da einige Individuen aus unterschiedlichen Gründen nicht geimpft werden können. Sind jedoch genügend Personen innerhalb einer Population immunisiert, kann die Übertragung des Erregers unterbrochen werden und die vulnerable Kleingruppe ist mitgeschützt(Lehmann, 2022, S. 478). Mit steigender Durchimpfung einer Population sollen die Weitergabe einer Infektionserkrankung verringert und mögliche Übertragungswege unterbrochen werden, um zum Kollektivschutz nicht-geimpfter Individuen beizutragen (s. Abb. 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Prinzip der Herdenimmunität (Quelle: Betsch et al., 2017, S. 2)
Wie hoch die Durchimpfungsrate zum Eintreten einer Herdenimmunität sein muss, ist abhängig von der Infektiosität des Krankheitserregers. Ein masernkrankes Kind könnte aufgrund der hohen Infektiosität 15 nicht-immune Menschen infizieren. Bei solch hochgradig übertragbaren Erregern müssen etwa 95 Prozent der Bevölkerung geimpft werden, um die restlichen fünf Prozent zu schützen. Herdenimmunität kann jedoch nur vor Erkrankungen schützen, die von Mensch zu Mensch übertragen werden. Ausnahme ist beispielsweise Tetanus, der zwar infektiös, aber nicht ansteckend ist, da die Erreger aus der Umwelt aufgenommen werden. Auch die Diphtherieimpfung schützt nur das einzelne Individuum, da sich die Immunantwort ausschließlich gegen die Erregertoxine und nicht gegen den infektiösen Erreger richtet(Lehmann, 2022, S. 478; Metcalf et al., 2015, S. 753–754).
Keine Schutzimpfung ist vollständig frei von Nebenwirkungen oder Komplikationen. Obwohl unerwünschte Impfkomplikationen sehr selten sind, spielt ihr wahrgenommenes Risiko eine zentrale Rolle bei der Entstehung sinkender oder nicht-erfüllter Impfraten(Maity et al., 2022, S. 197). Geimpft werden sollten ausschließlich gesunde Individuen. Als Kontraindikationen werden bekannte Allergien gegen Bestandteile des Impfstoffs oder das Vorhandensein angeborener oder erworbener Immundefekte genannt. Irrtümlicherweise als Kontraindikationen angesehen Umstände („falsche Kontraindikationen“) sind Infekte mit subfebrilen Temperaturen, Antibiotikabehandlungen, Krampfneigungen, neurologische Erkrankungen oder Autoimmunerkrankungen sowie das Vorhandensein einer Frühgeburt. Chronische Erkrankungen stellen ebenfalls keine Kontraindikation dar, sondern vielmehr eine besondere Indikation für das Individuum, da dieses durch schwere Verläufe und Komplikationen sogar besonders gefährdet wäre(Köhler, 2013, S. 9–10).
Mögliche Impfreaktionen oder Nebenwirkungen sind meist harmlose Beschwerden, bedingt durch die normale Immunantwort auf die Impfantigene(Illing & Ledig, 2006, S. 171). Mit einer Häufigkeit von ein bis zehn Prozent treten überwiegend lokale Reaktionen, Fieber, Kopfschmerzen und Schmerz in der Extremität auf. Auch können Kinder auf eine Impfung mit unruhigem Verhalten reagieren(Knuf et al., 2017, S. 7; Mentzer et al., 2013, S. 1253). Bei manchen Impfungen können in seltenen Fällen auch Symptome einer Impfkrankheit, wie etwa eine leichte Parotisschwellung oder masernähnliches Exanthem ein bis drei Wochen nach einer Impfung gegen Masern, Mumps, Röteln und Varizellen, auftreten. Die Entstehung einer Impfkrankheit zeigt jedoch anschaulich, dass das geimpfte Individuum durch die natürliche Erkrankung besonders gefährdet gewesen wäre(Oberle et al., 2019, S. 450).
Impfkomplikationen oder Impfschäden hingegen sind vorübergehend oder dauerhaft therapiebedürftige Erkrankungen durch die Impfung. Gemäß des Infektionsschutzgesetzes sind Ärzte dazu verpflichtet, Impfkomplikationen an das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zu melden. Sofern ein Verdacht auf ein Risiko durch Impfung entsteht, veranlasst das PEI diesbezüglich Studien oder führt systematische Analysen durch(Grandt et al., 2019, S. 110). Durch modernen Herstellungsverfahren sind Impfstoffe heute sehr sicher und impfstofftypische Komplikationen mit bleibenden Schäden äußerst selten. Dennoch werden Impfstoffe entgegen wissenschaftlicher Evidenz in der Öffentlichkeit immer wieder als Ursache von schweren Erkrankungen genannt. So wird die Entstehung Multipler Sklerose fälschlicherweise in Verbindung mit der Hepatitis-B-Impfung gebracht oder die Entstehung von Autismus oder Morbus Crohn auf eine Masernimpfung zurückgeführt(Zepp et al., 2007, S. 84). Grund für diese Anschuldigungen sind meistens falsche Interpretationen eines zeitlichen Zusammenhangs nach Impfstoffgabe und Krankheitsentstehung, wobei die Kausalität zwischen den Ereignissen ungeklärt ist. Das PEI erhielt im Jahr 2017 insgesamt achtzehn Meldungen mit einem tödlichen Ausgang. In keinem einzigen Fall war ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung und der berichteten Todesursache festzustellen(Mentzer et al., 2019, S. 21–22). Spezifische Komplikationen wie Fieberkrämpfe, anaphylaktische Reaktionen oder hypoton-hyporesponsive Episoden sind bekannt und treten in ihrer Häufigkeit heute im Wesentlichen als Einzelfälle in Raten von einer Komplikation pro 1.000-1.000.000 verabreichter Impfungen auf(Dittmann, 2002, S. 321; Oberle et al., 2019, S. 456).
Ankermann et al. (2018, S. 38-45) untersuchten das Neuauftreten oder Verstärken bestehender Allergien infolge von Schutzimpfungen. Sie berichten beim Auftreten von Allergien eine Inzidenz von 0,8-3 auf eine Mio. Impfdosen, damit liegt keine Evidenz vor, dass Impfungen das Risiko für die Manifestation einer Allergie erhöhen. Ganz im Gegenteil: Das Risiko der Entwicklung einer atopischen Erkrankung ist bei Kindern mit Wildmasern sogar deutlich erhöht. Kindern in der BRD erkrankten deutlich häufiger an Allergien als Kinder in der ehemaligen DDR, in der eine Impfpflicht bestand(Mutz, 2015, S. 60). Davon abzugrenzen sind allergische Reaktionen nach Anwendung eines Impfstoffs. In die Gruppe allergischer Reaktionen fallen sowohl lokale Überempfindlichkeitsreaktionen als auch schwerwiegende anaphylaktische Reaktionen. Mögliche Auslöser sind Inhaltsstoffe wie Gelatine, Konservierungsmittel oder Quecksilber. Hier wird von einer Inzidenz von 4,8-83 Ereignissen auf 100.000 Impfdosen berichtet(Ankermann et al., 2018, S. 38-41). Einige bekannte und empirisch belegte Impfkomplikationen sind in Tabelle 3 aufgeführt.
Tabelle3: Bekannte Impfkomplikationen Auslöser, Vorkommen und Ausgang(Ankermann et al., 2018, S. 38; Oberle et al., 2019, S. 456, eigene Darstellung)
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Diesen Risiken gegenüberzustellen sind die Risiken der Infektionserkrankungen, wie Pneumonien (Häufigkeit 1:2), die subakute sklerosierende Panenzephalitis (Häufigkeit 1:3.000) oder Gehirnentzündungen (Häufigkeit 1:1.000) bei Maserninfektionen oder bakterielle Superinfektionen und Pneumonien bei Windpockeninfektionen (Häufigkeit 1:500-1.000), um nur einige zahlreicher Risiken aufzuzählen. Pertussis ist insbesondere für Säuglinge im ersten Lebenshalbjahr gefährlich, da es hier zu schweren Pneumonien (Häufigkeit 1:3) bis hin zu Atemstillständen (Häufigkeit 1:10) kommen kann. Ebenfalls nennenswert sind die Letalität bei Tetanusinfektionen von ca. 25 Prozent trotz intensivmedizinischer Behandlung, zehn Prozent bei respiratorischen Diphtherieinfektionen und ein bis zwei Prozent bei Infektionen mit Pertussis(Heininger, 2004, S. 1132–1133; Schulze, 2009, S. 96). Die Nebenwirkungen und Komplikationen von Schutzimpfungen sind stets denen einer natürlichen Infektion gegenüberzustellen. Das Risiko einer natürlichen Infektion liegt objektiv gesehen insgesamt deutlich höher als das Risiko einer Impfung(Lehmann, 2022, S. 478; Mutz, 2015, S. 62).
Eine Impfung kann nicht angeordnet, sondern ausschließlich empfohlen werden. Die Empfehlungen für Impfungen in Deutschland kommen von der Ständigen Impfkommission (STIKO) des Robert-Koch-Instituts in Berlin. Den rechtlichen Rahmen der Kommissionsarbeit bildet das Infektionsschutzgesetz. Die STIKO erarbeitet anhand medizinisch-epidemiologischer Nutzen-Risiko-Bewertungen Impfempfehlungen und publiziert diese einmal jährlich innerhalb ihres Epidemiologischen Bulletins. Diese Empfehlungen dienen gleichzeitig den Landesgesundheitsbehörden und dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als Grundlage für die Leistungsübernahme der gesetzlichen Krankenkassen(Ständige Impfkommission, 2022, S. 4). Die wachsende Zahl wirksamer und gut verträglicher Impfstoffe für das Säuglings- und Kindesalter ermöglicht es heute, Kinder und Säuglinge schon relativ früh gegen eine große Zahl von Infektionen zu schützen. Eine möglichst frühzeitige Durchführung einer Impfung ist wegen der besonderen Gefährdung in der frühen Kindheit empfohlen. Auch zeigt die Erfahrung, dass Impfungen, die später als empfohlen begonnen wurden, häufig nicht zeitgerecht fortgesetzt werden(Dülligen et al., 2013, S. 133). Die aktuellen Impfempfehlungen der STIKO für Kinder und Jugendliche (Stand Mai 2022) sind in Tabelle 4 aufgeführt. Folgt man dem Impfkalender der STIKO, erhalten Kinder bis zum Ende ihres 16. Lebensmonats insgesamt 27 Einzelimpfstoffe. Um die Zahl der Injektionen gering zu halten, werden vorzugsweise multivalente Kombinationsimpfstoffe eingesetzt. Diese enthalten bis zu sechs verschiedene Einzelimpfstoffe (Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Hib, Polio und Hepatitis B) und erlauben eine sichere und einfache Applikation mehrerer Impfungen in nur einer Injektion. Auch die Impfung gegen Masern, Mumps, Röteln, und Varizellen (MMRV) wird als Kombinationsimpfstoff empfohlen(Ständige Impfkommission, 2022, S. 4–14). Von einer Grundimmunisierung gegenüber einer Erkrankung wird gesprochen, wenn ein Kind alle empfohlenen Impfungen erhalten hat. Gemäß des STIKO-Impfkalenders ist die Vollendung der Grundimmunisierungen (abgesehen von der HPV-Impfung) bis zum Alter von 16 Monaten empfohlen (Ständige Impfkommission, 2022, S. 6).
Tabelle4: Impfkalender für Säuglinge, Kinder und Jugendliche im Jahr 2022 (Quelle: Ständige Impfkommission, 2022, S. 6, eigene Darstellung)
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In Deutschland existiert bislang kein zentrales Impfregister. Die regelmäßig auf Basis des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) gesammelten Daten im Rahmen der Schuleingangsuntersuchungen stellen die einzige gesetzlich festgelegte Quelle zur Erhebung bundesweiter Impfdaten dar(Robert-Koch-Institut, 2019, S. 147). In Deutschland lag nach Angaben des RKI der vollständige Impfschutz gegen Diphtherie1, Tetanus, Polio, Hib und Pertussis zum Zeitpunkt der Schuleingangsuntersuchungen 2018 zwischen 91-94 Prozent. Die Inanspruchnahme der Hepatitis-B -Impfung ist etwas geringer, hier sind nur 87,2 Prozent der Kinder bei Schuleingang vollständig geimpft. Im Zeitraum 2008-2017 ist eine leicht sinkende Tendenz der Impfquoten bei den obigen Erkrankungen zu beobachten (s. Abb. 3)(Rieck et al., 2020, S. 11–12). Die Autoren des RKI-Impfsurveillance betonen explizit: „Insbesondere bei den lange etablierten Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, Hib und Hepatitis B zeigen sich im sehr jungen Alter nur moderate Impfquoten“(Robert-Koch-Institut, 2020, S. 21). Die Impfquote für mindestens eine Auffrischimpfung bei 14- bis 17-Jährigen liegt bei Tetanus und Diphtherie bei 90 Prozent bei Pertussis nur bei 77,1 Prozent(Poethko-Müller et al., 2019a, S. 214).
Für die Impfung gegen Masern -, Mumps -, Röteln galt eine leicht positive Entwicklung der Impfquoten, die seit den letzten Jahren stagniert. Aufgrund der fast ausschließlichen Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen sind die Impfquoten dieser drei Erkrankungen beinahe ausnahmslos identisch. Die erste Masernimpfung erhielten bei der Schuleingangsuntersuchung 2018 97,2 Prozent der Kinder. Für den vollständigen Impfschutz gegen Masern lag die Impfquote deutschlandweit bei 93,1 Prozent. Das Ziel aus dem Masernaktionsplan – dass 95 Prozent der Kinder bis zum Schuleingang zweimal gegen Masern geimpft sein sollen – wird bundesweit noch gar nicht und in nur zwei Bundesländern erreicht. Auch wird eine zeitgerechte Inanspruchnahme der zweiten Impfung oftmals nicht erreicht(Robert-Koch-Institut, 2020, S. 14–16). Die Schutzimpfung gegen Windpocken (Varizellen) wurde erst 2004 in den Impfkalender aufgenommen. Auch hier werden zur Grundimmunisierung insgesamt zwei Impfdosen empfohlen. Diese haben nur 66 Prozent der Kinder empfehlungsgemäß bis zum zweiten Geburtstag erhalten. Der Anteil steigt jedoch auf 84,8 Prozent zur Einschulungsuntersuchung 2018 stark an und in retrospektiver Betrachtung ist auch hier eine positive Tendenz beobachtbar. Bei den Pneumokokken lag die Impfquote vollständiger Grundimmunisierung bei den Eingangsuntersuchungen 2018 um die 82,1 Prozent Diese stieg im Vergleich zu den Vorjahren stark an. Gleiches gilt auch für die Meningokokken-C -Impfquote, denn hier können 90 Prozent der Kinder einen vollständigen Impfschutz nachweisen. Für eine Bewertung der Inanspruchnahme der HPV -Impfung bei Jungen ist es noch zu früh. Bei fünfzehnjährigen Mädchen ist der Anteil vollständig Immunisierter in den letzten Jahren leicht und kontinuierlich auf 43 Prozent angestiegen(Robert-Koch-Institut, 2020, S. 9). Zu den Impfquoten der Rotaviren -Impfung liegen aufgrund der erst kürzlichen Aufnahme in die Impfempfehlungen aktuell noch nicht genügend Daten vor.
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Abbildung 3: An das RKI übermittelte Impfquoten bei den Schuleingangsuntersuchungen 2008-2017 (Quelle:Robert-Koch-Institut, 2019, S. 148)
Während vor zehn Jahren diesbezüglich noch stark unterschiedliche Impfquoten zwischen Ost- und Westdeutschland bestanden, zeigen nicht nur die Schuleingangsuntersuchungen, sondern auch die Ergebnisse der zweiten Welle der KiGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aktuell keine nennenswerten Unterschiede. Kinder im Osten weisen lediglich bei den Impfungen gegen Meningokokken, Pertussis und Varizellen höhere Impfquoten auf(Poethko-Müller et al., 2019a, S. 214-216). Der bundesweite Anteil vollständig ungeimpfter Kinder lag zum Zeitpunkt der Schuleingangsuntersuchungen 2017 bei 0,3 bis 7,3 Prozent und stieg innerhalb der letzten Untersuchungsjahre kontinuierlich an(Robert-Koch-Institut, 2019, S. 148–150). Bei den Eingangsuntersuchungen 2018 hatten unter den untersuchten Kindern drei Prozent keine Impfung gegen Masern, Mumps oder Röteln erhalten. In der absoluten Zahl wären das allein im Jahr 2018 rund 20.000 Kinder ohne jegliche Masernimpfung(Robert-Koch-Institut, 2020, S. 14–16).
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1 Hervorhebungen in fett dienen zur besseren Übersichtlichkeit der Erkrankungen im Fließtext