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Bachelorarbeit, 2019
59 Seiten, Note: 1,9
B. Bearbeitung der Themenstellung
I. Einleitung
II. Entstehung, Begriff und Mechanismus
1. Entstehung
2. Begriff und Mechanismus
III. Zweck und Systematik des § 257c StPO
IV. Prozessuale Bedeutung aus Sicht der Prozessbeteiligten und der Wissenschaft
1. Strafverfolgungsorgane
2. Verteidigung
3. Verletzter
4. Strafprozessrechtswissenschaft
V. Probleme der Verständigung
1. Verfassungsrechtliche Grundsätze des Strafverfahrens
2. Verfahrensgrundsätze der Strafprozessordnung
VI. Reaktion und Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
1. Anfänge
a) Detlef Deal aus Mauschelhausen
b) BGH - Entscheidung v. 28. August 1997
c) Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen v. 03.März 2005
2. Das Verständigungsgesetz v. 29. Juli 2009
3. Das Grundsatzurteil des BVerfG v. 19.März 2013 zum VerstG
VII. Voraussetzungen und Zustandekommen einer zulässigen Verständigung
1. Beteiligte
2. Gegenstand der Verständigung
a) Zulässiger Gegenstand
aa) Rechtsfolgen
bb) Prozessverhalten der Beteiligten
cc) Sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen
b) Grenzen der Zulässigkeit
aa) Geeignetheit des Falles S. 32 bb) Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung
cc) Rechtsmittelverzicht
3. Geständnis als Teil der Verständigung
4. Gang des Verständigungsverfahrens
5. Belehrungspflicht
6. Bindungswirkung der Verständigung
VIII. Urteilsabfassung
IX. Rechtsmittelbefugnis
X. Fehlerfolgen gescheiterter oder missbräuchlicher Absprachen
1. Beweisverwertungsverbot
2. Strafmildernde Berücksichtigung des Geständnisses
3. Ausübung unzulässigen Drucks
4. Informelle Absprachen
XI. Strafbarkeitsrisiken für die Verfahrensbeteiligten
XII. Schlussbetrachtung
C. Literaturverzeichnis
Gespräche zwischen den Prozessbeteiligten gelten seit jeher als unverzichtbares Element im Strafverfahren1.
So bestand für das Gericht stets die Möglichkeit, Kontakt zum Verteidiger aufzunehmen, um sich mit diesem über bestimmte prozessuale Fragen zu verständigen2. Insbesondere in umfangreicheren Strafsachen waren sogar auf einvernehmliche Verfahrenserledigungen abzielende Gespräche verbreitete Praxis und blieben weitgehend unbeanstandet3.
Dem geschriebenen deutschen Strafprozessrecht waren konsensuale Urteilsabsprachen dagegen seit Inkrafttreten der Strafprozessordnung (StPO) im Jahre 1879 über 132 Jahre fremd4 5 6. Erst mit Gesetz vom 29.07.2009 und maßgeblich mit der Schaffung des § 257c StPO[56] gab der Gesetzgeber dem Drängen des BGH nach einer gesetzlichen Kodifikation der Verständigungspraxis im Strafverfahren nach7.
Damit ging eine Jahrzehnte währende Ära, deren Absprachepraxis ausschließlich durch höchstrichterliche Rechtsprechung geprägt war, zu En- de8. Kein Ende nehmen will hingegen die Kritik am Instrument des strafprozessualen Vergleichs9.
Die neue Vorschrift entfachte teils äußerst hitzige literarische Debatten in der Prozessrechtswissenschaft10. Gilt die Normierung der Verständigung doch als eine der gravierendsten Umgestaltungen der Strafprozessordnung seit ihrer Verkündung11. Mit ihr erreicht eine nunmehr seit über einem Vierteljahrhundert andauernde juristischer Fehde um Absprachen im Strafprozess ihren Höhepunkt12.
Die nachfolgenden Ausführungen richten ihr Hauptaugenmerk auf die Entwicklung der Rechtsprechung und setzen sich kritisch mit der zentralen Vorschrift des § 257c, insbesondere deren Voraussetzungen und dem Zustandekommen einer zulässigen Verständigung auseinander, wobei sich auf Verständigungsgespräche im Hauptverfahren konzentriert werden soll. Beiseite bleiben damit die vielfältigen Absprachearten in anderen Bereichen des Strafverfahrens, wie die staatsanwaltschaftliche Einstellungspraxis im Ermittlungsverfahren oder der vorab ausgehandelte Strafbefehl. Um die rechtlichen Vorgaben der höchstrichterlichen Judikatur und die Kritik daran zu verstehen, sind zunächst die Bedürfnisse der Praxis aufzuzeigen und die rechtsstaatlichen, insbesondere strafprozessualen Bedenken der Wissenschaft anzusprechen.
Des Weiteren befasst sich diese Arbeit mit der Problematik gescheiterter Absprachen und den daraus resultierenden Folgen. Nach einer Betrachtung der Strafbarkeitsrisiken, mit denen sich die Verfahrensbeteiligten im Einzelfall konfrontiert sehen können, schließt sie mit einem kritischen Blick in die Zukunft.
Seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat sich in den deutschen Strafgerichten eine Praxis verfahrensbeendender Absprachen zwischen Gerichten und Angeklagten bzw. deren Verteidigern etabliert13 14.
Dieser „Handel mit der Gerechtigkeit[74]“ beruht jedoch nicht auf richterlichem Gutdünken, sondern ist das Resultat sich wandelnder Gegebenheiten in der Strafrechtspflege15:
Von den späten 1970ern an, kam das Strafrecht vermehrt in den Bereichen organisierter Kriminalität, Wirtschafts- und Betäubungsmittelkriminalität und Umweltverschmutzung zum Einsatz16. Während die Schulden von Bund und Ländern stiegen, nahmen die Möglichkeiten zum Ausbau der Strafjustiz ab17. Folglich standen Gerichte und Staatsanwaltschaften einer wachsenden Zahl komplexer Fälle gegenüber, die es mit unverändertem oder sogar vermindertem Personalbestand zu bewältigen galt18. Der Druck, dieses Pensum innerhalb eines angemessenen Zeitraums erledigen zu müssen, nahm zu19. Dies hatte zur Folge, dass gerade Prozesse der Betäubungsmittel-, Banden- und Wirtschaftskriminalität nach einvernehmlichen Gesprächen zwischen den Verfahrensbeteiligten, eingestellt wurden20. Gegen ein Geständnis des Angeklagten konnten die Gerichte von einer zeitintensiven Beweisaufnahme absehen und diese Arbeitsersparnis mit der Anordnung einer verhältnismäßig niedrigen Strafe würdi- gen21.
Seither haben sich die Rahmenbedingungen der Strafrechtspflege nicht zum Besseren gewendet. Durch die Revisionsrechtsprechung wurden Anforderungen an Qualität und Umfang der schriftlichen Urteilsbegründung sogar noch verschärft22. Auch vom Bundesverfassungsgericht wurden zuletzt die Erfordernisse an die Feststellung des Schadensumfangs gerade bei Wirtschaftsstrafverfahren deutlich erhöht23. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Verteidiger vermehrt die Schwachstellen der Justiz zu Nutze machen, um die Verfahrenskosten in die Höhe zu treiben24.
Auch der zunehmende Gebrauch von unbestimmten Rechtsbegriffen bei der Gestaltung von Normen durch den Gesetzgeber und die Vorverlagerung des Rechtsgüterschutzes in den Gefährdungsbereich hat zu erheblichen Beweisschwierigkeiten im Hauptverfahren geführt25. Der daraus resultierenden Komplexität der rechtlichen Problematiken in o.g. Kriminalitätsfeldern kann häufig nur mittels einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen begegnet werden, um jahrelange Prozesse zu verhindern26.
Es verwundert daher nicht, dass nach einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zwei Drittel der befragten Richter und sogar vier von fünf Staatsanwälten nach eigenem Empfinden nicht genügend Zeit für die Bearbeitung ihrer Fälle haben27. In Fällen der Wirtschaftskriminalität sehen sich 73% der Staatsanwälte nicht auf Augenhöhe mit den oft hochspezialisierten Verteidigern angeklagter Manager oder Unternehmen28. Grund hierfür ist die nach Meinung von 85% der Befragten schlechte bis sehr schlechte Personalsituation29.
Dies bestätigen auch dem Spiegel vorliegende Daten. Danach erfüllte im Jahr 2013 lediglich Sachsen-Anhalt die Richtwerte für eine Personalausstattung in der Justiz30. Alle anderen Bundesländer lagen unter dem Soll31. Besonders in den westlichen Bundesländern war die Justiz drastisch unterbesetzt32.
Die Strafrechtspflege befindet sich infolgedessen in einem Zielkonflikt33: Steigende Anforderungen an Qualität und Quantität ihrer Tätigkeit stehen unveränderten bzw. sinkenden Personalressourcen gegenüber34.
Den Begriff der Verständigung hat der Gesetzgeber nicht legal definiert. Mit dem Wortlaut des § 257c Abs. 1 S. 1 („mit den Verfahrensbeteiligten“) stellt er lediglich klar, dass es sich um ein mitwirkungsbedürftiges Konsensverfahren handelt, das sowohl Fortgang als auch Ergebnis zum Gegenstand haben darf35 36. Danach ist eine Verständigung „[...] eine zweiseitige (synallagmatische) bindende Absprache über einen der in § 257c Abs. 2 S. 7 aufgeführten Gegenstände zwischen dem Gericht und dem Angeklagten unter Zustimmung durch die Staatsanwaltschaft[56].“
Dabei soll das Verhalten der einen Partei von dem der anderen abhän- gen37. So entsteht eine vertragsähnliche Vereinbarung, die zwar keinen der Beteiligten rechtlich zum verabredeten Verhalten verpflichtet38, aber aufgrund der in der Regel mit Selbstbindungswillen abgegebenen Vereinbarung dennoch eine gewisse Bindungswirkung entfaltet39.
Unter der Bedingung, dass der Angeklagte ein Geständnis ablegt, dessen Umfang im Vorfeld festgelegt wird, und nach Urteilsverkündung auf die Einlegung etwaiger Rechtsmittel verzichtet, sagt das Gericht dem Angeklagten eine Strafe zu, die im Vergleich zu dem Ergebnis, das bei einer streitigen Verhandlung zu erwarten wäre, deutlich niedriger ausfällt40.
Da eine solche Verständigung ein kompromissbereites Aufeinanderzugehen aller Verfahrensbeteiligten erfordert, wird dieses Instrument oft auch als strafprozessualer „Deal“ bezeichnet41. In Literatur und Rechtsprechung ist zudem von „Absprache“ oder „Vorgespräch“, seltener von „Vergleich“ die Rede42.
§ 257c bildet die zentrale Vorschrift über die Verständigung im Strafver- fahren43. Durch das Verständigungsgesetz (VerstG) vom 29.07.200944 fand die Regelung am 04.08.2009 Eingang in das deutsche Strafprozess- recht45, das bis dahin nur einige wenige konsensuale Elemente enthielt (z.B. §§ 153ff., 265a, 391, 405, 470 S. 2)46. Eine gesetzliche Grundlage für den Deal fehlte hingegen47.
§ 257c bildet nun den Kern einer erstmaligen gesetzlichen Anerkennung und Normierung strafprozessualer Verständigungen in der Bundesrepublik Deutschland48.
Mit der Einführung dieser Norm fand eine der fundamentalsten Umgestaltungen der Strafprozessordnung seit ihrem Inkrafttreten am 01.10.1879 statt49. Im Mittelpunkt der seit dem 19. Jahrhundert währenden Strafrechtstradition standen bis dahin umfassende Sachverhaltsermittlungen sowie detaillierte Beweisaufnahmen im Rahmen der Haupt- verhandlung50.
§ 257c weitet dieses Verfahren um die Möglichkeit eines konsensualen Strafverfahrens aus und rückt dabei das Einverständnis des Angeklagten in den Vordergrund51.
Obwohl § 257c vom Gesetzgeber - anders als in verschiedenen Vorentwürfen gedacht52 - nicht als besondere Verfahrensart des Sechsten Buches der StPO ausgestaltet wurde, stellt die Verständigung im Ergebnis dennoch ein „Verfahren eigener Art 53 “ dar54. Seine gesetzessystematische Einordnung in die Vorschriften über das Verfahren des ersten Rechtszuges (§§ 151- 295)55 - insbesondere am Ende der Regelungen über die Beweisaufnahme und direkt vor den Schlussplädoyers (§ 258)56 - wird größtenteils für verfehlt erachtet57. So werde der Eindruck erweckt, eine Verständigung finde erst nach Abschluss der Beweisaufnahme statt und nicht - wie in der Praxis üblich - an deren Anfang58.
Jedenfalls lässt sich der letztlich gewählten gesetzessystematischen Ver- ortung durch den Gesetzgeber entnehmen, dass sich dieser über die Bedeutung der Verständigung für die Intensität der Beweisaufnahme durchaus im Klaren gewesen sein muss59. Dies untermauert auch der Wortlaut der Folgevorschrift § 258 Abs. 1: „Nach dem Schluss der Beweisaufnahme [,..]“60.
Gleichwohl wird die Verständigung durch ihre unmittelbare demokratische Legitimation neben dem streitigen Verfahren als gleichwertiges und gleichberechtigtes Instrument zur vereinfachten Abhandlung gesellschaftlicher Konflikte im Strafverfahren angesehen61.
Da das VerstG zahlreiche Regelungen zum Schutz des Angeklagten ent- hält62, wurde mit § 257c insbesondere das Ziel verfolgt, geheime Urteils- absprachen63 „[...] aus dem Dunkel der Hinterzimmer in das Licht der öffentlichen Hauptverhandlung zu ziehen 64 “ und damit einem „ transpa- renten65 “ und „ öffentlichen66 “ Verfahren zugänglich zu machen67.
Die Transparenzvorschriften des VerstG sollen einen Missbrauch des Abspracheinstruments zum Nachteil des Angeklagten verhindern und diesen vor geheimen und unkontrollierbaren Deals zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidiger schützen68.
Abhängig von ihrer jeweiligen Rolle im Verfahren, haben die Prozessbeteiligten unterschiedliche Beweggründe, sich auf einen Vergleich einzulassen.
Seitens der staatlichen Justiz stehen Ressourcenschonung und zügige Verfahrensabschlüsse im Vordergrund[69]. Letztere werden besonders in zeitintensiven Großverfahren diverser Kriminalitätsfelder angestrebt, die durch ihre hohe Komplexität, verworrenen Auslandsbezüge, aufwendi- gen Schadensberechnungen69 und unklaren Beweislagen70 noch zugespitzt werden71.
Im Rahmen einer Verständigung kann die Dauer des Verfahrens verkürzt werden, indem die Staatsanwaltschaft teilweise von einer Verfolgung absieht (§ 154 Abs. 1)72. Denn nicht selten versuchen Verteidiger den Prozess durch eine Häufung von Beweis- und Befangenheitsanträgen zu ver- zögern73. Einigt man sich auf ein Geständnis, kann auch der Umfang der Beweisaufnahme deutlich reduziert werden74. Wird am Ende noch auf die Einlegung von Rechtsmitteln verzichtet, fällt auch der Aufwand für die Urteilsbegründung geringer aus (vgl. § 267 Abs. 4)75.
Die heutige Verfahrensflut trifft Gerichte und Staatsanwaltschaften gleichermaßen76. Daher sind sie zur Bewältigung ihrer Fallzahlen auf Erledigungen mittels Verständigungen angewiesen77. Nur so könne nach Ansicht des Großen Strafsenats des BGH die Funktionsweise der Strafrechtspflege überhaupt aufrechterhalten werden78.
Hauptanreiz für den Verteidiger und seinen Mandanten sich auf eine Absprache einzulassen, dürfte wohl die im Vergleich zum streitigen Verfahren wesentlich mildere Strafzumessung sein79.
Hinzu kommt eine deutlich verkürzte Hauptverhandlung, wodurch dem Angeklagten erhebliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Nachteile erspart bleiben80. Dadurch reduziert sich auch die immense psychische Belastung, die eine Hauptverhandlung für die meisten Angeklagten mit sich bringt81.
Letztlich soll auch die Akzeptanz und Nachvollziehbarkeit von Urteilen, die im Zuge einer Verständigung ergangen sind, wegen der größeren Verständlichkeit des Verfahrens für den Angeklagten, höher liegen, als bei Urteilen im streitigen Verfahren82.
Auch hier zeigt sich, dass die Absprachepraxis eine „ demokratietheore- tisch 83 “ noch nicht vollständig ergründete Neuordnung der Beziehung zwischen Staat und Bürger darstellt84.
Diese wird - anstelle vom früheren Über- und Unterordnungsverhältnis - immer mehr von Aushandlungsprozessen und Absprachen geprägt85.
Damit geht eine Legitimationskrise des Strafprozessrechts einher, deren Folgen für das Entscheidungssystem Strafverfahren derzeit noch nicht absehbar sind86. Dass dies Gerichten und Staatsanwaltschaften in der Praxis die Möglichkeit bietet, auch Fällen mit prekärer Beweislage noch ein Urteil oder zumindest Teilurteil abzugewinnen, stellt die Schattenseite der Verständigungspraxis dar87.
Für den Verletzten kann eine zügige Verfahrensabsprache eine Verringerung seiner psychischen Belastung durch die Ungewissheit über den Ausgang der Verhandlung bedeuten88. Zudem bleibt ihm unter Umständen eine Zeugenaussage erspart89.
Ein Vetorecht steht dem Opfer e contrario § 257c Abs. 3 S. 4 aber nicht zu90. Sein Widerspruch gegen den Inhalt der Absprache wäre daher ohne Bedeutung91.
Bemerkenswert ist, dass gerade der Opferschutz auch von Seiten der Strafverfolgungsorgane als maßgebendes Motiv für Verfahrensabspra- chen angeführt wird.92 Dabei ist aber nicht außer Acht zu lassen, dass sich Verständigungen unter dem Vorwand „Schonung des Opferzeu- gen93 “ leichter begründen lassen dürften als mit „Reduzierung eigener Arbeitsbelastung94 “ 95 .
Diese im Grunde eher positive Einstellung der Praxis zu Verfahrensabsprachen, stößt in der Wissenschaft auf wenig Verständnis96.
Der Präsident des BVerfG bemerkte in der mündlichen Verhandlung über die Verfassungsmäßigkeit des VerstG am 07. November 2012 zutref- fend97, dass die kontroversen Standpunkte im juristischen Schrifttum auch nach Jahrzehnte währender Diskussion noch Züge eines unversöhnlichen „Glaubenskrieges 98 “ trügen99.
Gegenwärtige wissenschaftliche Literaturstimmen begegnen dem VerstG und insbesondere § 257c mehrheitlich mit harscher Kritik100. Dabei erstreckt sich die Meinungsdiversität von grundlegender Zurückweisung, häufig mit dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit, über den Einwand des Verstoßes gegen geltendes Prozessrecht bis zur Einstufung der richterlichen Rechtsfortbildung als contra oder wenigstens praeter legem101 102.
Dem gegenüber steht eine Minderheit von Befürwortern [705], „[...] die das Gesetz für einen großen Schritt in die richtige Richtung hält103 “.
Einige dieser Hauptkritikpunkte seien im Folgenden unter den Aspekten Rechtsstaats- und Verfahrensprinzipien erläutert.
Wird der Angeklagte vom Gericht mit der Aussicht auf eine Straferleichterung in Richtung Absprache gedrängt, ist der Grundsatz des fairen Verfahrens, der durch das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art 2 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gewährleistet wird, ver- letzt104. Dies birgt die Gefahr einer Degradierung des Angeklagten zum Spielball von Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung105.
Häufig führt die Verständigungspraxis zu willkürlichen Ergebnissen und ist deshalb nicht mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verein- bar106. Im Strafprozess bedeutet dies, dass sich die Bestrafung nach einer Verständigung der Beteiligten vor demselben Gericht und bei gleicher Sachverhaltsgestaltung nicht wesentlich von der Strafe in einer streitigen Verhandlung unterscheiden darf107. In vielen Fällen beinhalten Absprachen jedoch eine wesentlich niedrigere Strafzumessung, was nicht selten eine Ungleichbehandlung verschiedener Angeklagter vor demselben Gericht mit sich bringt108. Dazu tragen unter anderem der soziale Stand des Angeklagten, die Art der Verteidigung, die Art des Deliktes sowie die Arbeitsbelastung der Gerichte bei109. So können insbesondere Angeklagte in komplexeren Wirtschaftsstrafprozessen von der Verständigungspraxis profitieren, wohingegen sich mittellose Kleinkriminelle der „Härte des Gesetzes 110 “ stellen müssen111.
Eng miteinander verknüpft sind die Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK , das in-dubio-pro-reo- Prinzip und der nemo-tenetur- Grundsatz112 .
Für ein Urteil muss die Schuld des Angeklagten zur Überzeugung des Gerichts feststehen113. Moniert werden insoweit solche Abspracheurteile, die auf einer „ Schuldvermutung “ beruhen und eine Art „ Verdachtsstrafe “ zur Folge haben114.
Unvereinbar mit dem Prinzip in- dubio- pro- reo, das sich aus Art.103 Absatz 2 GG, Art.6 Absatz 2 EMRK und § 261 ableitet, sind Verständigungen, bei denen Zweifel an der Schuld des Angeklagten zugunsten einer schnelleren Verfahrenserledigung außer Acht gelassen werden und damit eine Vermutung für seine Schuld zu einer Verurteilung führt115. Ferner wird die Verwertbarkeit eines Geständnisses angezweifelt116, das dem Angeklagten durch verbotene Vernehmungsmethoden gem. § 136a Abs. 1 S. 3, der als Ausprägung des Art. 1 Abs. 1 GG den nemo- tenetur- Grundsatz schützt117, abgerungen wurde118.
Das Legalitätsprinzip, das der Durchsetzung des materiellen Rechts dient, lässt sich unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ableiten119. In seiner Ausprägung in § 152 Abs. 2 bedeutet es, dass grundsätzlich gegen jeden Verdächtigen ein Verfolgungszwang besteht, soweit zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen120. Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht uneingeschränkt, sondern wird durch das Opportunitätsprinzip, das in den §§ 153 ff. verankert ist, begrenzt121.
Werden die Grenzen der Opportunität überschritten, ist der Legalitätsgrundsatz verletzt122. Dies kann unter anderem dann der Fall sein, wenn für schwere Straftaten Rechtsfolgen zugesagt werden, die zum Tatvorwurf in grobem Missverhältnis stehen123. Hierin kann auch ein Widerspruch gegen das Erfordernis schuldangemessenen Strafens liegen (§ 46)124.
Der Untersuchungsgrundsatz aus § 244 Abs. 2 verpflichtet das Gericht, die materielle Wahrheit von Amts wegen zu ermitteln125. Im Zuge einer Absprache besteht die Gefahr, dass sich das Gericht zu eigen macht, was der Angeklagte durch ein (Teil-) Geständnis als Tatsache anbietet, ohne eventuell verbliebene Zweifel an Täterschaft und Schuld des Angeklagten durch eigene Ermittlungsarbeit auszuräumen126.
Die Tatsache, dass Absprachen überwiegend im Geheimen oder zumindest nicht innerhalb der Hauptverhandlung vereinbart werden, weckt Bedenken im Hinblick auf die Grundsätze der Öffentlichkeit (§ 169 GVG ), Mündlichkeit (§§ 250, 261, 264) und Unmittelbarkeit 127 128 129.
Bindet sich das Gericht zu früh an die Vereinbarung, kann überdies das Prinzip der freien richterlichen Beweiswürdigung gem. § 261 gefährdet sein Werden nicht alle Betroffenen an der Vereinbarung beteiligt, besteht zudem die Gefahr einer Verletzung von Anwesenheits- und Mitwirkungsrechten der Prozessbeteiligten130.
Schließlich droht eine Befangenheit des Richters gem. § 24 Abs. 2, da dieser aufgrund der Vereinbarung möglicherweise zur Voreingenommenheit neigt und somit an Objektivität verliert131. Diese Gefahr besteht insbesondere bei gescheiterten Verständigungen oder Absprachen mit Kronzeugen132.
Verfahrensbeendende und -verkürzende Absprachen sind heute - fast 140 Jahre nach Inkrafttreten der StPO - Alltag an den Strafgerichten133. Das gilt neben den immer wieder zitierten skandalträchtigen Prozessen auch für weniger Aufsehen erregende Verfahren vor den Amts- und Landgerichten, nicht nur im Wirtschaftsstrafrecht134.
In den Fokus der Wissenschaft rückte das Phänomen der Absprachen mit dem im Jahr 1982 von Weider 135 , damals unter dem Pseudonym „Detlev Deal aus Mauschelhausen“, veröffentlichten Aufsatz136. Mit diesem Beitrag wurden einem breiteren Publikum erstmals Vorgänge offengelegt, die eines der antagonistischsten Zerwürfnisse zwischen Theorie und Praxis zur Folge hatten137.
Urteilsabsprachen waren in den deutschen Gerichtssälen jedoch spätestens seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts anzutreffen; anfangs überwiegend in großstädtisch geprägten Räumen138 139. § 153a, der eine Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen mit Zustimmung des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft ermöglicht, dürfte hier bereits bei seiner Ein-sein führung im Jahr 1974 eine gewisse Vorreiterfunktion zugekommen
Zu dieser Zeit fand sich für solche Absprachepraktiken noch keine gesetzliche, in ihren Einzelheiten explizite, Regelung140. So wurde jene Praxis lediglich richterrechtlich geduldet141 und mit einer eher großzügigen Verfahrensordnung ausstaffiert142.
1987 hatte sich erstmals das BVerfG mit den Eigenarten von Verständigungen auseinanderzusetzen143. In seinem verhältnismäßig knappen144 Beschluss vom 27.01.1987 erklärte es strafprozessuale Absprachen insoweit für verfassungskonform als dadurch die Grundsätze der deutschen Strafprozessordnung eingehalten würden sowie das Recht des Angeklag- ten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren sichergestellt werde145. Insbesondere dürfe der Deal die richterliche Wahrheitsfindung, den Grundsatz der Schuldangemessenheit der Strafe wie auch die Willensfreiheit des Beschuldigten nicht gefährden146.
[...]
1 Haller/Conzen, Rz. 642.
2 Ebd.
3 Ebd., vgl . auch BGH, Urt. v. 19.02.2004 - 4StR 371/03, NJW 2004, 1396 (1396 ff.).
4 Haller/Conzen, Rz. 642.
5 Alle §§ ohne Bezeichnung sind solche der StPO.
6 Haller/Conzen, Rz. 642.
7 Hertel, ZJS 2010, 198 (198).
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Ebd.
11 Jahn/Müller, NJW 2009, 2625 (2625).
12 Ebd.
13 Kubiciel, HRRS 2014, 204 (204).
14 BVerfG, Beschl. v. 27.01.1987 - 2BvR 1133/86, NJW 1987, 2662 (2663).
15 Kubiciel, HRRS 2014, 204 (204).
16 Ebd.
17 Ebd.
18 Ebd.
19 Ebd.
20 Ebd.
21 Ebd.
22 Ebd.
23 Ebd, vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 23.06.2010 - 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209 (3212).
24 Kubiciel, HRRS 2014, 204 (204).
25 Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (355).
26 Ebd.
27 ROLAND Rechtsreport 2074, 1 (12).
28 Ebd.
29 Ebd, 1 (13).
30 Amann/Salden/Traufetter, Der Spiegel 2013, 47 (47).
31 Ebd.
32 Ebd.
33 Kubiciel, HRRS 2014, 204 (205).
34 Ebd.
35 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 60.
36 Ebd.
37 Niemöller, StV 1190, 34 (35).
38 Ebd.
39 Niemöller, StV 1190, 34 (35).
40 Roxin/ Schünemann, § 17 Rz. 8.
41 Kindhäuser, §19 Rz. 1.
42 Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (352).
43 Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt , §257c Rz. 1.
44 Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, BGBl. I 2353.
45 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 1.
46 Kindhäuser, § 19 Rz. 3.
47 Ebd.
48 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 1.
49 Ebd.
50 Ebd.
51 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 1.
52 z.B. Gesetzesentwurf des BRats BT- Drucks 16/4197, Entwurf der BRAK ZRP 05, 235 (Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt , §257c Rz. 1).
53 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 1.
54 Ebd.
55 Ebd.
56 Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt , §257c Rz. 1.
57 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 59; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt , §257c Rz. 1.
58 Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt , §257c Rz. 1.
59 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 59.
60 Ebd.
61 Ebd., Rz. 1.
62 Ebd., Rz. 2.
63 Scheinfeld, ZJS 2013, 296 (296).
64 Ebd.
65 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 2, siehe auch BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 - 2 BVR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/10, NJW 2013, 1058 (1064 f.).
66 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 2, siehe auch BVerfG, Urt. v. 15.01.2015- 2 BVR 2088/14, NJW 2015, 1235 (1235).
67 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 2.
68 Ebd.
69 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 5.
70 Küpper, HFR 2007, 138 (139).
71 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 5.
72 Küpper, HFR 2007, 138 (139).
73 Ebd.
74 Ebd.
75 Ebd.
76 Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (355).
77 Ebd.
78 BGH, Beschl. v. 03.03.2005- GSSt 1/04, JR 2005, 430 (433).
79 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 7.
80 Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (355).
81 Ebd.
82 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 7.
83 Ebd.
84 Ebd.
85 Ebd.
86 Ebd.
87 Ebd.
88 Ebd., Rz. 8.
89 Ebd.
90 Ebd.
91 Ebd.
92 Ebd., vgl. Altenhain/Dietmeier/May, S. 47, 49.
93 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 8.
94 Ebd.
95 Ebd.
96 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 9.
97 Ebd.
98 Voßkuhle, zit. n. Ignor BRAK Magazin, 2012, 3 (3).
99 Ignor BRAK Magazin, 2012, 3 (3).
100 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 9.
101 Jahn/ Kudlich, JA 2006, 681 (681).
102 Jahn/ Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 9.
103 Ebd.
104 Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (357).
105 König, NJW 2012, 1915 (1918).
106 Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (357).
107 Ebd.
108 Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (357), vgl. auch Baumann, NStZ 1987, 157 (159).
109 Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (357).
110 Ebd.
111 Ebd.
112 Beulke/Swoboda, Rz. 394a.
113 Küpper, HFR 2007, 138 (140).
114 Ebd.
115 Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (358).
116 Beulke/Swoboda, Rz. 394a.
117 Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (359).
118 Beulke/Swoboda, Rz. 394a.
119 Küpper/Bode, Jura 1999, 351 (359).
120 Ebd.
121 Ebd.
122 Beulke/Swoboda, Rz. 394a.
123 Ebd.
124 Ebd.
125 Ebd.
126 Ebd.
127 Ebd.
128 Ebd.
129 Ebd.
130 Ebd.
131 Ebd.
132 Ebd.
133 Jahn/Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 10.
134 Jahn/ Müller, NJW 2009, 2625 (2625).
135 „Deal“ (= Hans- Joachim Weider), StV 1982, 545 - 552.
136 Jahn/ Müller, NJW 2009, 2625 (2625).
137 Jahn/Müller, JA 2006, 681 (681).
138 Jahn/Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 11.
139 Ebd.
140 Jahn/ Müller, NJW 2009, 2625 (2625).
141 Ebd.
142 Jahn/Kudlich, MüKo, § 257c Rz. 11.
143 Hertel, ZJS 2010, 198 (202).
144 Herrmann, JuS 1999, 1162 (1163).
145X45BVerfG, Beschl. v. 27.01.1987 - 2 BvR 1133/89, NJW 1987, 2662 (2662).
146 Herrmann, JuS 1999, 1162 (1163).