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Bachelorarbeit, 2021
71 Seiten, Note: 1,0
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hilfen zur Erziehung
2.1. Vom RJWG zum SGB VIII - der Paradigmenwechsel
2.2. Definition und Voraussetzungen der Hilfearten nach § 27 SGB VIII
2.3. Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII, Nachbetreuung nach § 41a SGB VIII
2.4. Kosten vs. Fachlichkeit
2.5. Lebenslagen der Adressaten
2.6. Geschlossene Unterbringung
3. Kontrollmechanismen
3.1. Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte im SGB VIII
3.1.1. Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe nach § 1 SGB VIII
3.1.2. Selbstorganisierte Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung nach § 4 a SGB VIII
3.1.3. Wunsch und Wahlrecht nach § 5 SGB VIII
3.1.4. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen nach § 8 SGB VIII und § 8b Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII
3.1.5. Beratung nach § 10a SGB VIII
3.1.6. Mitwirkung, Hilfeplan nach § 36 SGB VIII
3.1.7. Partizipation und Beschwerde im Rahmen der Betriebserlaubnis/Heimaufsicht nach §§ 45- 48 a SGB VIII
3.1.8. Jugendhilfeausschuss nach § 71 SGB VIII
3.2. Verwaltungskontrolle und Rechtsschutz
3.2.1. Verwaltungskontrolle
3.2.2. Rechtsschutz
4. Ombudschaften
4.1. Entstehung und Entwicklung der Ombudschaften
4.2. Selbstverständnis und Arbeitsweise
4.2.1. Definition und Legitimation ombudschaftlichen Handelns
4.2.2. Tätigkeitsfelder, Beratung und Haltung
4.2.3. Unabhängigkeit und Einbindung ehrenamtlicher Mitarbeiter
4.2.4. Evaluation und fachpolitische Öffentlichkeitsarbeit
4.3. Möglichkeiten von Ombudschaften
4.3.1. Ausgleich der Machtasymmetrie
4.3.2. Partizipation, Selbstwirksamkeit und Nachhaltigkeit
4.3.3. Unabhängige Beschwerdeinstanzen als Unterstützung und Kontrolle
4.3.4. Fachdiskurs, Öffentlichkeitsarbeit und Lobbyarbeit
4.4. Grenzen von Ombudschaften
4.4.1. Fachkräfte - „Woher nehmen, wenn nicht stehlen?“
4.4.2. Herausforderungen im realen Umfeld
4.4.3. Der Sozialstaat in der Pflicht - Ressourcenmangel als externe Limitierung
5. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildung 1: Dienstleistungsviereck in den Hilfen zur Erziehung (Trapper 2002, S. 270)
Abbildung 2: Aufgaben und Rechte des JHA nach § 71 Abs. 2 und 3 SGB VIII (LVR-Landesjugendamt Rheinland 2020, S. 26)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
„Erzieherische Hilfen erreichen mit 1,02 Millionen Fällen im Jahr 2019 neuen Höchststand“, lautet die Pressemitteilung Nr. 456 des Statistischen Bundesamtes vom 16. November 2020 (Statista 2020a). Die Profession ist gefordert und steht im Spannungsdreieck staatlicher Gesetzgebung und den damit verbundenen behördlichen Verwaltungsakten, den Bedürfnissen, Anforderungen und Wünschen der Klienten und den eigenen berufsethischen Ansprüchen. Mit mehr oder weniger gegebenen Ressourcen soll die bestmögliche Lösung für Klient und Gesellschaft erzielt werden. In der Fachliteratur, aber auch in der medialen Berichterstattung, wurden und werden vielfältige und zahlreiche Missstände aufgezeigt, die belegen, dass Soziale Arbeit diesen Anforderungen nicht immer gerecht wird. Anstoß für das Thema der vorliegenden Arbeit waren die Vorkommnisse um die „Haasenburg - Heime“ in Brandenburg. Dort waren Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Bundesländern zum Teil geschlossen untergebracht. Sie wurden in einem repressiven und autoritären System (vgl. Martinez 2018, S. 30 ff.) vom pädagogischen Personal äußerst brutal behandelt und es kam zu mehreren Todesfällen (vgl. Popp 2018, S.1 f.). Auch für die Arbeitnehmer war das Setting gefährlich. So attackierte ein von Gewaltfantasien und Kannibalismus getriebener Jugendlicher die Betreuer mehrfach mit Nagelschere und Messer, bevor er nach einem Gerichtsverfahren in die Psychiatrie überstellt wurde (vgl. Dassler 2008, S.1). Die damalige Bildungsministerin von Brandenburg Martina Münch (SPD) schloss die Heime 2013. Der Landtag von Potsdam hat nach dem Skandal um die Vorgänge in den „Haasenburg - Heimen“ Nachbesserungen beim Kinder- und Jugendschutz beschlossen. Unter anderem wurde eine von den Jugendhilfeeinrichtungen und der Heimaufsicht unabhängige Ombudsstelle geschaffen (vgl. Popp 2018, S. 1). Die Kinder- und Jugendhilfe unterliegt als Teil der öffentlichen Verwaltung, wie in Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) festgeschrieben, rechtsstaatlicher Kontrolle. Vorkommnisse dieser Art lassen Zweifel an der Einhaltung rechtlich geforderter Vorgaben und deren adäquater Umsetzung aufkommen. Während im Strafvollzug die Beschwerde und die Gefangenenmitverantwortung, also die Partizipation der Häftlinge an der Mitgestaltung ihrer Lebenswelt, explizit gesetzlich geregelt sind (vgl. Art. 115 und 116 Bayrisches Strafvollzugsgesetz), in der Bundeswehr der entsprechend Art. 45b GG berufene Wehrbeauftragte über die Wahrung der Grundrechte der Soldatinnen und Soldaten und über die Einhaltung der Grundsätze der Inneren Führung wacht (vgl. Bundeswehr 2021, Die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages), ist die Umsetzung von Beschwerde- und Partizipationsrechten in der Sozialen Arbeit eine aktuelle, in der Diskussion stehende Thematik. Das im Achten Buch des Sozialgesetzgesetzbuches (SGB) verankerte 6
zentrale Leitbild sieht junge Menschen und deren Eltern keineswegs als Objekte fürsorglicher Maßnahmen oder intervenierender Eingriffe, sondern hat zum Ziel sie als Expertinnen und Experten in eigener Sache auf Augenhöhe aktiv in die Gestaltung des Hilfe- und Schutzprozesses mit einzubeziehen. Deshalb sind in allen Aufgabenfeldern der Kinder- und Jugendhilfe die Betroffenen umfassend in der Wahrnehmung ihrer Subjektstellung zu stärken (vgl. Deutscher Bundestag - 19. Wahlperiode/Drucksache 19/26107 2021, S. 1). Mit dem am 22. April 2021 im Bundestag verabschiedeten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sind die gesetzlichen Grundlagen geschaffen worden, um diesem Ziel noch näher zu kommen. Am 7. Mai 2021 erfolgte die Zustimmung durch den Bundesrat. Nach Gegenzeichnung durch die zuständige Ministerin und die Bundeskanzlerin und der Ausfertigung durch den Bundespräsidenten, ist das KJSG im Bundesgesetzblatt (BGBl. 2021 I, 1444) veröffentlicht worden und am 10. Juni 2021 in Kraft getreten. Das KJSG verankert im SGB VIII mit dem neu eingefügten § 9a SGB VIII die in der Praxis bereits bestehenden Strukturen von Ombudschaften als externe und unabhängige Anlaufstellen, die Betroffenen in Konfliktsituationen zur Seite stehen und verlangt, dass die Länder die Schaffung einer bedarfsgerechten Struktur von Ombudsstellen in ganz Deutschland sicherstellen. So sollen Kinder, Jugendliche und ihre Familien gehört und in der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützt werden und organisierte Formen der Selbstvertretung gestärkt werden. Sieht man Beschwerde- und Partizipationsmöglichkeiten als Motor für positive Weichenstellungen, eröffnet dies ein enormes Verbesserungspotential für zukünftige Entscheidungen und Arbeitsprozesse. Diese Arbeit setzt sich auf Grundlage einer systematischen Literaturrecherche mit der Frage nach den „Möglichkeiten und Grenzen von Ombudschaften bei den Hilfen zur Erziehung“ auseinander. Die Einbindung von Ombudschaften bei strittigen Entscheidungsfindungen im sozialrechtlichen Drei-bzw. Viereck hat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Stärkung der Betroffenenrechte, die Beförderung der Einzelfallgerechtigkeit, für Transparenz und Akzeptanz getroffener Entscheidungen und nicht zuletzt für dieoffensive Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in der Jugendhilfe.
Zunächst wird der Paradigmenwechsel vom Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) zum SGB VIII beschrieben. Dann wird ein Überblick über die Hilfen zur Erziehung gegeben und über die Leistungen für junge Volljährige. Weiter werden die Mechanismen der kommunalen Bedarfsgewährung erläutert und die Lebenslagender Adressaten geschildert. Im Anschluss wird die geschlossene Unterbringung beschrieben. Weiterhin werden die wichtigsten bereits vorhandenen und neu implementierten Partizipations- und Kontrollmechanismen erläutert. Im Hauptteil der Arbeit wird zunächst die Entstehung und Entwicklung ombudschaftlicher Tätigkeit beschrieben, dann das Selbstverständnis und die Arbeitsweise der Ombudschaften dargestellt. Im Anschluss daran werden die Möglichkeiten und Grenzen von Ombudschaften aufgezeigt. Im Fazit wird der Beitrag der Ombudschaften innerhalb der bereits vorhandenen Kontrollmechanismen bewertet und ein Ausblick auf zu erwartende, wünschenswerte Entwicklungen gegeben.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit die Sprachform des generischen Maskulinums angewendet. Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form geschlechtsunabhängig und geschlechtsneutral verstanden werden soll.
Mit der Verabschiedung des RJWG im Jahr 1922 wurde erstmalig eine einheitliche Rechtsgrundlage für Jugendfürsorge und Jugendpflege geschaffen (vgl. Hering/Münchmeier 2005, S. 132 f.), die die einzelnen Polizei- und Ordnungsrechte, Gesetze zum sogenannten Pflege- und Haltekinderwesen, Regelungen zum Vormundschaftswesen und einzelne Gesetze zum Kinderschutz bündelte (vgl. Rätz u.a. 2020, Kap.2). In § 1 RJWG war jedem deutschen Kinddas Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit festgeschrieben. Die Jugendhilfe wurde erstmalig als eine eigenständige Erziehungs- und Sozialisationsinstanz außerhalb von Familie und Schule definiert. So sollte die Kinder- und Jugendhilfe nicht nur Probleme und Krisen junger Menschen durch Interventionen entschärfen, sondern setzte durch die allgemeine Förderung des Aufwachsens durch Freizeit-, Lern-und Bildungsangebote einen Schwerpunkt auf die Prävention (vgl. ebd., Kap. 2). Trotz dieses sozialpädagogisch formulierten Grundtenors, der „den wesentliche[n] Beginn der Fürsorgeerziehung in öffentlicher, also staatlich organisierter Verantwortung“ (Rätz 2018, S. 67) markiert, war das RJWG „im Kern noch kein pädagogisches Leistungsgesetz, sondern ein Organisationsgesetz“ (Meysen u. a. 2019, in FK-SGB VIII, Einleitung Rn. 31). Entsprechend § 8 RJWG waren alle kreisfreien Städte undLandkreise verpflichtet ein Jugendamt als zentrale zuständige Behörde einzurichten (vgl. Trapper 2002, S. 21). So wurden durch die „flächendeckende Schaffung von Jugendämtern als kollegiale Fachbehörden und die Regelung der Zusammenarbeit von freier und öffentlicher Jugendhilfe“ (Rätz 2018, S. 68) zum einen die Aufgaben der örtlichen öffentlichen Jugendhilfe im Jugendamt konzentriert und zum anderen die Subsidiarität der öffentlichen gegenüber der freien Jugendhilfe festgeschrieben (vgl. Meysen u. a. 2019, in FK-SGB VIII, Einleitung Rn. 31). Diese juristische Rahmung bestimmte bis zur Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) im Jahr 1990/91 die organisatorische Struktur (vgl. Hansbauer u. a. 2020, S. 37). Das RJWG trat 1924 in der Weimarer Republik aufgrund desolater wirtschaftlicher Verhältnisse und den damit verbundenen Finanzierungsproblemen nur in stark reduzierter Form in Kraft. Vor allem die in § 4 RJWG gesetzlich geforderte Umsetzung zur Schaffung präventiver und jugendpflegerischer Einrichtungen wurde ausgesetzt (vgl. ebd., S. 36). Auch der in § 1 RJWG postulierte Anspruch scheiterte, und zwar nicht nur an den schwierigen finanziellen Möglichkeiten, sondern auch an fehlender öffentlicher Unterstützung. Ab 1920 gab es quer durch die Parteien und mit Unterstützung namhafter Sozialpädagogen, wie zum Beispiel Wilhelm Polligkeit, Vorsitzender des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Bestrebungen, ein „Verwahrungsgesetz“ durchzusetzen. In § 73 RJWG wurde dann die Entlassung „unerziehbarer“ Fürsorgezöglinge in die anderweitig zu regelnde „Bewahrung“ gesetzlich verankert. Zunächst „nur“ bei minderjährigen Straftätern, später auch bei volljährigen (vgl. Trapper 2002, S. 21 f.). Am 30. Januar 1933 übernahm die NSDAP am Ende einer krisenhaften, durch das Regieren mittels Notverordnungen gemäß Art. 48 Weimarer Reichsverfassung geprägten, Entwicklung die Macht. Mit der am 28. Februar von Reichspräsident Hindenburg erlassenen „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ (Reichstagsbrandverordnung), wurden wesentliche Grundrechte außer Kraft gesetzt und gesetzliche Strafen verschärft. Entsprechend dieser Verordnung konnte die NSDAP-Regierung Befugnisse der obersten Landesbehörde vorübergehend wahrnehmen und trieb somit die Gleichschaltungs- und Zentralisierungsstrategie des NS-Regimes bis 1934 voran. (vgl. bpb 2018, Reichstagsbrand). Das am 23. März 1933 verabschiedete „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das sogenannte Ermächtigungsgesetz, ermöglichte es der Regierung dann Gesetze ohne Kontrolle von Reichstag und Verfassung zu beschließen. Damit war die Demokratie faktisch außer Kraft gesetzt und der Weg in die Diktatur geebnet. Nachdem 1934 ein vom „Reichszusammenschluss der freien Wohlfahrtspflege“ vorgelegter Entwurf für ein neues Reichsjugendgesetz scheiterte, blieb das RJWG während der Zeit des Nationalsozialismus formal in Kraft Die Auslegung und Anwendung aller Rechtsnormen, also auch die des RJWG und aller untergesetzlicher Regelungen standen unter dem Vorbehalt des vermuteten, alles beherrschenden „Führerwillens“. Inhaltlich wurde die Jugendhilfe von rassenhygienischem Gedankengut und erbgesundheitlicher Thematik geprägt, und hatte eine Erziehung im nationalsozialistischen Sinne zum Ziel (vgl. Jordan u. a. 2015, S. 62 f.). Im Jahr 1939 wurde die Organisation des Jugendamtes formell gesetzlich geändert. Die kollegiale Leitung in den Jugendämtern wurde dem „Führerprinzip“ entsprechend durch die Geschäftsführung der örtlichen Bürgermeister oder der zuständigen Landräte ersetzt. (vgl. ebd., S. 62). Die einschneidenden Veränderungen, die unter der Prämisse der Abkehr von individueller Hilfe und Unterstützung hin zur Orientierung am „Wohl der Volksgemeinschaft“ standen und die Soziale Arbeit in der Praxis steuerten, fanden überwiegend unterhalb der Gesetzesebene statt (vgl. Hansbauer u. a. 2020, S. 37). So wurden ab der Machtergreifung 1933 durch Erlasse, Verordnungen, Parteianweisungen und den Auf- bzw. Ausbau eigener Organisationen Strukturen geschaffen, um die neuen „Erziehungsziele“ in der Praxis durchzusetzen (vgl. Jordan u. a. 2015, S. 63). Den Jugendämtern wurden wesentliche Aufgaben entzogen. Die „Jugendpflege“ wurde der Hitlerjugend (HJ) übertragen, die „Jugendfürsorge“ der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), mit der Folge, dass in der HJ „arisch wertvolle“ Kinder- und Jugendliche für parteipolitische Ziele indoktriniert und instrumentalisiert wurden und die NSV sich um die „Fürsorge der wertvollen Mitglieder der Volksgemeinschaft“ kümmerte (vgl. Hansbauer u. a. 2020, S. 37). Die NSV war als (gemeinnütziger) Verein gegründet, sah sich aber als „Parteidienststelle“ der NSDAP vor allem dem Parteiprogramm verpflichtet. Die Hilfebedürftigen wurden nach „erbgesundheitlichen“ Maßstäben in drei Gruppen eingeteilt, was de facto eine „Selektion vor der Rampe“ war. „Rassisch oder erbbiologisch minderwertiges Menschenmaterial“ wurde den Trägern der Wohlfahrtspflege überlassen (vgl. Jordan u. a. 2015, S. 64). Diese Ausgrenzung der „Minderwertigen“ und die Verfolgung sogenannter „erbkranker Elemente“ wurde zunächst mit der Selektion durch den öffentlichen Gesundheitsdienst initiiert (vgl. BVÖDG 2017, S. 2), durch hoheitliche Maßnahmen der Jugendämter angeordnet, von der NSV kontrolliert und dann, wenn nötig, polizeilich vollzogen. Die Gleichschaltung von Verwaltung und freien Institutionen und der damit einhergehende Verlust rechtsstaatlicher Kontrolle führte zu tausendfachen ideologisch begründeten Verfolgungen und Tötungen, die die Profession mitzuverantworten hatte. Die Selektion im Rassenwahn arischer, rassehygienischen und/oder erbgesundheitlichen Kriterien forderte auch unzählige Opfer unter Kindern- und Jugendlichen. In der Nachkriegszeit stand die Gesellschaft vor dem Scherbenhaufen, den die Nazi- Diktatur hinterlassen hatte. Die Jugendhilfe wurde mit enormen sozialen Problemen konfrontiert, die noch gravierender waren als diejenigen nach dem ersten Weltkrieg (vgl. Jordan u. a. 2015, S. 71). Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 wurde das RJWG zu Bundesrecht. Im Jahr 1953 wurde es novelliert und in Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) umbenannt, blieb aber „inhaltlich auf dem „Status Quo von 1922 (bzw. 1924) bei stabileren, politischen durch die Besatzungsmächte garantierten Verhältnissen“ (Rätz u. a. 2014, S. 24). Das JWG war ein Ordnungsgesetz mit obrigkeitsstaatlichen Strukturen, repressiv und autoritär auf Interventionen ausgelegt, der stigmatisierende Verwahrlosungsbegriff blieb defizitorientiert bestehen und zementierte den Objektstatus der Betroffenen (vgl. Rätz 2018, S. 72 f.). Die von 1947 bis 1953 den Innenministerien zugeordneten Jugendämter wurden mit der Novellierung 1953, wie schon 1922 im RJWG festgeschrieben, aber nie umgesetzt, in die kommunale Selbstverwaltung überführt. Die Zweigliedrigkeit des Jugendamts in den Jugendhilfeausschuss und in die Verwaltung wurde organisatorisch festgeschrieben (vgl. Rätz u.a.2020, Kap. 2). Der ein Jahr nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1950 aufgelegte erste Bundesjugendplan stärkte und erweiterte die vorhandenen bzw. im Aufbau befindlichen Strukturen der Jugendhilfe und versuchte vor allem die materiellen Probleme der heimat-, berufs- und arbeitslosen Jugend zu lösen. Ein zweiter Schwerpunkt dieses Bundesjugendplans war die staatsbürgerliche Erziehungsarbeit zur Stärkung demokratischer Grundwerte aber auch die psychologische Vorbereitung der Jugend auf die Wiederaufrüstung und die 1956 eingeführte allgemeine Wehrpflicht (vgl. Trapper 2002, S. 26). In der Deutschen Demokratischen Republik wurde die Jugendwohlfahrt als eine allgemeine Aufgabe definiert, folglich die Jugendämter aufgelöst und zusammen mit den Schulämtern in die Abteilung Volksbildung integriert (vgl. Rätz u. a. 2020, Kap. 2). In der Bundesrepublik Deutschland ging die Reformdebatte um das JWG weiter und mündete in die Novellierung des Gesetzes im Jahre 1961,das bis 1991 seine Gültigkeit behielt. Das JWG hielt an den beiden zentralen Zielen des RJWG, der Stärkung des Elternrechts und dem Vorrang des freien Trägers fest. Die freiwillige Erziehungshilfe wurde eingeführt und ergänzte so die Fürsorgeerziehung um eine leistungsrechtliche Variante (vgl. Hansbauer u. a. 2020, S. 40). Auch nach der Novellierung stand das JWG unter der Prämisse von Sicherheit, Ordnung und Fürsorglichkeit mit dem Ziel durch ordnungsrechtliche Kontrolle den Kinderschutz sicherzustellen. Kritisiert wurde vor allem, dass die Betroffenen immer noch als Objekt staatlichen Handelns gesehen wurden und Unterstützungsangebote für Eltern und junge Menschen fehlten. Mit der 68er Studentenbewegung und der Heimkampagne formierte sich eine Gegenbewegung, die der bestehenden repressiven Dimension der Jugendhilfepraxis kritisch gegenüberstand (vgl. Rätz u. a. 2020, Kap. 2). Diese radikalen Kritikpositionen beeinflussten auch die fachliche Diskussion um das sozialpädagogische Profil der Kinder- und Jugendhilfe. Es wurden grundlegende Sozialisationsziele wie Autonomie, Sexualität, Kreativität, Produktivität und Soziabilität erarbeitet und im Sinne einer offensiven Kinder- und Jugendhilfe konzeptionell umgesetzt (vgl. Meysen u. a. 2019, in FK-SGB VIII, Einleitung Rn. 21). In der Praxis entwickelten sich alternative und individuelle Wohn- und Betreuungsformen, die im Gegensatz zu den autoritär geführten staatlichen und kirchlichen Heimen standen. Die angestrebte Reform sollte den Betroffenen einen starken subjektiven Rechtsstatus mit eigenen individuell einklagbaren Rechten sichern (vgl. Rätz u. a. 2020, Kap. 2). Für mehr Transparenz sorgte die in § 25 Abs. 2 JWG normierte Verpflichtung der Bundesregierung „alle vier Jahre erstmals zum 1. Juli 1963, dem Bundestag und dem Bundesrat einen Bericht über die Lage der Jugend und über die Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe vorzulegen“. Während sich die ersten beiden Jugendberichte 1965 und 1968 noch auf genau diese Punkte bezogen, wurde im dritten Jugendhilfebericht vom 26.Juli 1971 das Profil der Jugendämterin der Bundesrepublik kritisch hinterfragt und die Weiterentwicklung zur „sozialpädagogischen Fachbehörde“ gefordert (vgl. Meysen u. a. 2019, in FK-SGB VIII, Einleitung Rn.22). Auch stellte der Bericht fest, dass das JWG in seiner jetzigen Fassung „völlig durch seine Herkunft aus dem Polizeirecht (Pflegekinderschutz) und Strafrecht (FE) und durch obrigkeitliche Vorstellungen einer eingreifenden Verwaltung geprägt“ sei (Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode/Drucksache VI/3170 1972, S. 31). Nach jahrzehntelangen Diskussionen wurde am 1. Januar 1991 das JWG in den alten Bundesländern durch das KJHG ersetzt. In den neuen Bundesländern geschah dies aus organisatorischen Gründen bereits mit dem Beitrittstermin am 30.Oktober 1990. Das KJHG ist ein sogenanntes Artikelgesetz mit insgesamt 24 Artikeln. Der Artikel 1 entspricht dem SGB VIII. In den anderen Artikeln wurden in Widerspruch zum SGB VIII stehende gesetzliche Regelungen, wie z. B. im Bürgerlichen Gesetzbuch und im Jugendgerichtsgesetz, geändert und Übergangsvorschriften für die Anwendung des neuen Rechts festgelegt. Mit Einführung des SGB VIII wurde ein jahrzehntelanges Reformanliegen realisiert und das nachvollzogen, was in der Praxis schon längst etabliert war. Die entwickelten verschiedenen Formen der Jugendhilfe gingen in die Formulierung der Leistungen nach dem KJHG ein (vgl. Rätz u.a. 2020, Kap. 2). Grundlegende Neuerungen im KJHG waren die Abschaffung der Fürsorgeerziehung und der Freiwilligen Erziehungshilfe, die Ansiedlung aller Leistungen bei den örtlichen öffentlichen Trägern, der einklagbare subjektive Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung, die objektive Rechtsverpflichtung der öffentlichen Träger eine allgemeine fördernde Infrastruktur bereitzustellen und die Einbeziehung von Kinder und Jugendlichen mit seelischen Behinderungen in den Rechtsbereich der Jugendhilfe (vgl. Hansbauer u.a.2020, S. 43). Aus einem Kontroll- und Eingriffsgesetz wurde ein soziales Dienstleistungsgesetz für Kinder und Jugendliche und ihre Eltern, bei dem die Förderung und Entwicklung junger Menschen und ihre Integration in die Gesellschaftim Vordergrund stehen. Ziel ist es, gerechte Lebensbedingungen für Familien zu schaffen, unterschiedliche Lebenslagen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungenzu fördern(vgl. Rätzu.a.2014,S.25). Schon Mitte der 80er Jahre waren Leitgedanken zur Neuorientierung der Jugendhilfe formuliert worden, die ihren Niederschlag dann im Achten Kinder- und Jugendhilfebericht fanden, der im März 1990 vorgestellt wurde. Dieser stellt Leitlinien und Standards für Beurteilungskriterien einer zeitgemäßen Jugendarbeit aus sozialpädagogischer Perspektive in der Theorie der Lebensweltorientierung vor (vgl. Meysen u. a. 2019, in FK-SGB VIII, Einleitung Rn. 24). Diese Strukturmaximen sind primäre und sekundäre Prävention, lebensweltorientiertes Handeln, Dezentralisierung und Regionalisierung, Alltagsorientierung, einschließlich integrativer Orientierung, das Prinzip von Partizipation und Freiwilligkeit und die Notwendigkeit der Einmischung der Akteure Sozialer Arbeit in Bereiche außerhalb der klassischen Jugendhilfe, um dort entstehende Probleme im Sinne eines „Sozialanwalts“ zugunsten junger Menschen und ihrer Familien anzugehen. Eine rechtlich verbindliche Wirkung haben diese allgemein formulierten Zielsetzungen nur, soweit sie gesetzlich normiert sind (vgl.ebd., Einleitung Rn.24). Im Diskurs zwischen Fachpraxis und Rechtwird um die Umsetzung dieser allgemeinen strategischen Ziele gerungen. Unter rechtlichen Gesichtspunkten ist bedeutsam, dass diese Strukturmaximen bei der juristisch-methodischen Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und bei Ermessens-und Handlungsspielräumen als die dem SGB VIII zugrundeliegenden Prinzipien und insoweit als die das Gesetz prägenden Strukturelemente zu berücksichtigen sind (vgl.ebd., Einleitung Rn.25). Das ist umso wichtiger, weil die Kinder- und Jugendhilfe sich mit vielen Brennpunktthemen auseinanderzusetzen hat, wie der inklusiven Weiterentwicklung des SGB VIII, die Reform des Rechts der Heimerziehung (§§ 45 ff.) und auch mit der Stärkung von Kinderrechten durch Ombudsstellen (vgl. ebd., Einleitung Rn. 39).
Der Vierte Abschnitt des zweiten Kapitels des SGB VIII definiert die „klassischen“ individuellen Hilfen zur Erziehung. Dieses Kapitel bildet den Schwerpunkt des Leistungsbereiches im SGB VIII. „Als Erziehungshilfen werden die Leistungen der Jugendhilfe zusammengefasst, die für junge Menschen und ihre Familien in besonderen Lebensschwierigkeiten und bei der Bewältigung von Erziehungsproblemen Unterstützung und Hilfen gewähren“ (Münder u. a. 2020, S. 177 Rn. 5). Anspruch auf Hilfen zur Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen nach § 27 SGB VIII hat, wie in Absatz 1 formuliert, ein Erziehungsberechtigter „wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“. Dementsprechend sind die Leistungsvoraussetzungen erfüllt, wenn ohne sozialpädagogische Hilfe die dem Kindeswohl entsprechende Erziehung nicht geleistet werden kann und das auf die Situation des Kindes oder Jugendlichen ausgerichtete Angebot der erzieherischen Hilfen für die Entwicklung „geeignet und notwendig“ ist (vgl. Tammen/Trenczek 2019, in FK-SGB VIII, vor §§27-41 Rn. 6). Den umwelt- und lebensweltorientierten Paradigmen des SGB VIII entsprechend, wird der Hilfebedarf nicht defizitorientiert an „Verhaltensauffälligkeiten“ und „Störungen“ des Kindes oder Jugendlichen festgemacht, sondern vom sozialen Umfeld her wie z.B. Familie, Schule, Nachbarschaft und den hier problemverursachenden Faktoren betrachtet (vgl. Jordan u. a. 2015, S. 217). Bei den Hilfen zur Erziehung handelt es sich im Regelfall um Einzelfallhilfen, die beim zuständigen Jugendamt beantragt werden müssen. Ausnahmen sind familiengerichtliche Sorgerechtsentscheidungen gem. §§ 1666 ff. BGB, die sich am Handlungsauftrag des Jugendamts nach §§ 8a Abs. 3/42 SGB VIII orientieren. Die Anspruchsgewährung ist abhängig von einer Vielzahl komplexer und unbestimmter Rechtsbegriffe, die in nicht offensichtlichen Fällen durch Gutachten aus der Sozialpädagogik, der Pädagogik oder der Psychologie objektiv bestimmt werden müssen (vgl. Bernzen/Bruder 2018, S. 143). Diese objektive Bestimmbarkeit ist immer wieder Gegenstand gesellschaftlicher und individueller Interpretationen und den sich darauf stützenden Aushandlungsprozessen (vgl. Hansbauer u. a. 2020, S. 238). Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen besteht ein einklagbarer Rechtsanspruch (vgl. Tammen/Trenczek 2019, in FK-SGB VIII, vor §§ 27-41 Rn. 2). Prüfungsschwerpunkt liegt auf der Eignung der im Gesetz in den §§ 28-35 SGB VIII vorgesehenen Hilfearten. Der Gesetzgeber verweist in §27 Abs. 2 SGB VIII durch die Verwendung des Wortes „insbesondere“ auch auf die Möglichkeit anderer Hilfearten. Diese sind daher stets im Rahmen der Hilfeplanung zu prüfen (vgl. Bernzen/Bruder 2018, S. 143). Die im Gesetz vorgesehenen Hilfetypen aus den §§28 ff. SGB VIII umfassen ambulante, teilstationäre und stationäre Hilfen. Ambulante Angebote sind die Erziehungsberatung (§28 SGB VIII), die soziale Gruppenarbeit (§29 SGB VII), die Erziehungsbeistandschaft und der Betreuungshelfer (§30 SGB VIII) und die in §31 SGB VIII formulierte sozialpädagogische Familienhilfe. Die teilstationäre Erziehung in einer Tagesgruppe gemäß §32 SGB VIII ergänzt das familienunterstützende Angebot. Familienersetzend sind die stationären Leistungen der Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII), der Heimerziehung und sonstiger betreuter Wohnformen (§ 34 SGB VIII). Die in § 35 SGB VIII geregelte intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung wird der jeweiligen Lebenssituation des jungen Menschen angepasst und kann daher ambulant, teilstationär oder stationär angelegt sein. Die Neufassung des § 27 SGB VIII sieht bei entsprechendem Hilfebedarf in Absatz 2 die Möglichkeit der Kombination unterschiedlicher Hilfearten vor, um so die bisher uneinheitliche Handhabung in der Praxis zu verbessern (vgl. Beckmann/Lohse 2021, IV 2).
Die Hilfen zur Erziehung haben sich mit dem Inkrafttreten des KJHG im Sinne einer stärkeren Dienstleistungsorientierung und Beteiligungskultur im Hilfeplanprozess erheblich ausdifferenziert und quantitativ etabliert. Sie sind hinsichtlich des
Ausgabenvolumens nach der Kinderbetreuung das zweitgrößte Arbeitsfeld in der Kinder- und Jugendhilfe. Die jeweilige Hilfe im konkreten Fall ist eine Reaktion des Hilfesystems auf soziale Benachteiligungen und individuelle Beeinträchtigungen (vgl. Rauschenbach u. a. 2019, S. 63). Der vorgeschriebene im SGB VIII normierte Handlungsauftrag verpflichtet die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe eine Erziehung im Sinne des Kindeswohls sicherzustellen und geeignete und notwendige Hilfen bereitzustellen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Dienstleistungsviereck in den Hilfen zur Erziehung (Trapper 2002, S. 270)
Im Jahr 1974 wurde das Volljährigkeitsalter von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt. Damit wurde, von politischen Motiven getragen, eine junge Neuwählerschaft angesprochen. Diese gesetzliche Regelung stützte sich nie auf entwicklungspsychologische oder sozialpädagogische Argumente oder auf die Annahme, der Entwicklungs- und Reifeprozess junger Menschen sei früher abgeschlossen (vgl. Wiesner 2007, S. 18). Formal rechtlich waren damit über 18jährige von Unterstützungsleistungen der Kinder-und Jugendhilfe ausgeschlossen. Mit der Implementierung der §§6a und 75a in das JWG wurde diesem Umstand Rechnung getragen und die Gewährung von Hilfen zur Erziehung, Freiwilliger Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung auf die 1821-Jährigen jungen Volljährigen festgeschrieben. Voraussetzung war, dass der junge Volljährige dies beantragt hatte und ernsthafte Bereitschaft am Erfolg mitzuwirken zeigte (vgl. Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode/Drucksache 7/3642 1975, S. 4). In der Jugendhilferechtsreform vom JWG zum SGB VIII lag ein Schwerpunkt auf der Verbesserung der Hilfen für junge Volljährige.Entsprechend der Legaldefinition in § 7 Abs.1 Nr. 3 SGB VIII ist „junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist“. Nach interdisziplinären Erkenntnissen hat sich die „Jugendphase“ weit über das 18. Lebensjahr hinaus nach hinten verschoben und deshalb bestehen auch nach Eintritt der Volljährigkeit Hilfesituationen, die gesetzlich normierte Hilfemaßnahmen verlangen (vgl. Tammen 2019, in FK-SGB VIII, §41 Rn. 1). Das Hilfespektrum der Jugendhilfe wurde insoweit ausgebaut, dass man es nicht bei der Chance auf Fortsetzungsleistungen für junge Volljährige beließ, sondern die Möglichkeit individueller Neuanträge auf Jugendhilfeleistungen bis zum 21. Lebensjahr und eine notwendige Nachbetreuung festschrieb. Zudem war § 41 SGB VIII a.F. als SollLeistung formuliertund hattedaher eine höhere Rechtsqualität als eine an bestimmte Bedingungen gebundene Kann-Leistung. Der Betroffene hatdann einen individuellen, einklagbaren Rechtsanspruch auf Jugendhilfeleistungen. Die zuständige Behörde muss im Sinne einer Beweislastumkehr darlegen und beweisen, welche Ausnahmegründe dem Rechtsanspruch aus § 41 SGB VIII entgegenstehen (Wiesner 2007, S. 18). Die Hilfe sollte im Bedarfsfall abhängig von der individuellen lebensweltlichen Rahmung des jungen Menschen gewährt werden. Als Kriterien der Anspruchsgewährung waren die Entwicklung derindividuellen Persönlichkeit und die Befähigung zur eigenverantwortlichen und selbständigen Lebensbewältigung festgeschrieben (vgl. Jordan u. a. 2015, S. 298). Voraussetzung für die Hilfegewährung ist nach wie vor ein fristgerecht gestellter Antrag vor Ablauf des jeweiligen Lebensjahres und die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfeleistung. Da das Ziel der Volljährigenhilfe die Entwicklung von Autonomie und Selbständigkeit ist, sind Hilfen, die sich auf die Herkunftsfamilie beziehen, wie diesozialpädagogische Familienhilfe gemäß § 31 SGB VIII und die in §32 SGB VIII normierte Erziehung in einer Tagesgruppe vom Aufgabenkatalog ausgenommen. Von besonderer Bedeutung sind die in §§ 28 ff. SGB VIII genannten Hilfen zur Erziehung, wie Beratung, Beistandschaft und Einzelbetreuung und die außerhalb des Vierten Abschnitts verorteten Angebote zur schulischen und beruflichen Bildung (vgl. Tammen 2019, in FK-SGB VIII, § 41 Rn. 13). Der in § 41 SGB VIII a.F. verwendete weite Begriff der „individuellen Situation des jungen Menschen“ erschwerte eine präzise Formulierung der Anspruchsvoraussetzungen, erfasste aber einen möglichst großen Adressatenkreis. Darunter fallen alle jungen Menschen, die bei institutionellen und strukturellen Übergängen Begleitung und Unterstützung benötigen. Dazu zählen die sog. Careleaver, ebenso junge Menschen, deren Eingliederung in die Arbeitswelt noch nicht erreicht werden konnte oder gefährdet erscheint oder die durch problembelastete Lebenslagen wie Obdachlosigkeit, Suchterkrankungen, seelische Belastungen, psychische Störungen, gesundheitliche Einschränkungen oder durch nicht aufgearbeitete familiäre Konflikte belastet sind, Strafentlassene oder Entlassene aus der Psychiatrie und Personen, die aus problematischen Milieus wie der Prostitution oder der Obdachlosigkeit austeigen (vgl. Rosenbauer/Schiller 2016, S. 2). Die Hilfegewährung ist abhängig vom individuellen Reifegrad. „Das Fehlen von Ausbildung/Arbeit oder einer Unterkunft allein begründen noch keinen Jugendhilfebedarf. Für diesen ist entscheidend, dass - im Vergleich zur altersgemäßen üblichen Entwicklung oder Integration - Einschränkungen vorhanden sind in der Persönlichkeitsentwicklung und der Fähigkeit, ein eigenständiges Leben zu führen. Jugendhilfe unterstützt und ermöglicht in diesem Kontext die ,Nachreifung‘ und ,Verselbständigung‘ der jungen Menschen“ (ebd., S. 2). Neben gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen fließen „ungeschriebene Regeln“, die sich aus der Rechtsprechung entwickelt haben oder aus dem JWG gedanklich übernommen wurden, in den Bewilligungsprozess ein. Ein solches Merkmal istdie Erfolgsaussicht. So ist nur eine Hilfe, die eine Veränderung, einen Entwicklungsfortschritt erwarten lässt, geeignet. Des Weiterenist die Mitwirkungsbereitschaft des jungen Volljährigen entscheidend. Grundsätzlich ist eine sozialpädagogische Hilfeleistung ohne die Mitwirkung des Betroffenen nicht möglich. Dennoch wurde und wird diese Voraussetzung mit Bedacht nicht explizit in den §41 SGB VIII aufgenommen, weil bei jungen Volljährigen, gerade zu Beginn des Beziehungsaufbaus, oft eine gewisse Überzeugungsarbeit nötig ist, um Hilfen anzunehmen und sich Behörden bei der Ablehnung ohne Weiteres auf fehlende Mitwirkungsbereitschaft des jungen Volljährigen berufen könnten und damit kein Spielraum für den Aufbau einer Beziehung und die Unterstützung des Betroffenen bliebe (vgl. Wiesner 2007, S. 19). Die Leistungserbringung darf zudem nicht an Bedingungen geknüpft sein (vgl. Rosenbaum/Schiller 2016, S. 1). Mit der Verabschiedung des KJSG gehen verschiedene Verbesserungen für junge Volljährige und Careleaver einher. Der Verpflichtungsgrad für junge Volljährige wird erhöht (vgl. § 41 Abs. 1 S. 1 SGBVIII n.F.). Dennoch kritisiert das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familie (DIJuF), dass anders als im Dialogprozess Mitreden-Mitgestalten angedacht war, die eindeutige Formulierung als Rechtsanspruch „hat Anspruch auf“ in ein „erhalten Hilfe“ geändert wurde, was in der Praxis erneute Rechtsunsicherheiten befürchten lässt und regionalen Disparitäten nicht begegnen lässt (vgl. DIJuF 2020, S. 5 C I). Positiv hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen wird bewertet, „dass keine Prognose mehr dahingehend erforderlich ist, dass durch die Hilfe eine Befähigung zur eigenverantwortlichen Lebensführung erreicht wird. Vielmehr reicht es ausdrücklich, wenn zum Zeitpunkt der Hilfegewährung die Gewährleistung einer Verselbständigung nicht gegeben ist“ (ebd., S.5 C I). Die sog. Coming-Back-Option in § 41 Abs. 1 S. 3 SGB VIII n.F. ist klarer geregelt. Wenn junge Menschen, egal aus welchen Gründen noch einmal in die Kinder- und Jugendhilfe zurückkehren müssen, besteht in dieser Situation Anspruch auf die Fortsetzung der Hilfe oder eine andere bedarfsentsprechende Hilfe (vgl. Beckmann/Lohse 2021, II 4). Oft wechseln junge Menschen in andere Hilfesysteme. Nüsken merkt kritisch an, dass „die mögliche Zuständigkeit verschiedener Sozialleistungsträgerjedoch zu viel Unzuständigkeit, zu „Verschiebebahnhöfen“ und zu mangelnder Zusammenarbeit [führt]“ (Nüsken 2014, S. 64). Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sind dann gem. § 41 Abs. 3 SGB VIII n.F. verpflichtet, diesen Übergang reibungslos zu gestalten (vgl. Beckmann/Lohse 2021, II 4). In § 41a SGB VIII wird der Nachbetreuungsanspruch konkretisiert. So muss im Hilfeplan der Zeitraum und der Umfang der Beratung dokumentiert, überprüft und mit dem jungen Volljährigen besprochen werden (vgl. ebd., II 4). Das KJSG kommt zudem in § 94 Abs. 6 SGB VIII n.F. der schon lange in der Fachdebatte geforderten Reduzierung des Kostenbeitrags für junge Volljährige nach. Die Länder dürfen maximal 25 % des Einkommens der jungen Menschen einbehalten (vorher 75 %) und können landesrechtlich auch ganz von einer Kostenheranziehung absehen (vgl. ebd., II 4). Damit wurde der in der Fachdiskussion vertretenen Ansicht stattgegeben, dass nach alter Gesetzeslage „den jungen Menschen vermittelt [werde], dass Leistung sich nicht lohne; Selbstwirksamkeit, Arbeitsmoral und Belastbarkeit würden als Lernfelder zu wirtschaftlich einträglicher Arbeit und Unabhängigkeit vereitelt. Ein Ansparen für die Zukunft (z. B. Führerschein für Mobilität in der Arbeitswelt, Mobiliar) oder Freizeitgestaltung sei nicht möglich. Der hohe Verwaltungsaufwand und das vergleichsweise wenige Geld für den Staat aus der Kostenheranziehung stehe in keinem Verhältnis zu den negativen Effekten auf die Verselbständigung der jungen Menschen“ (BMFSJ Mitreden-Mitgestalten 2019, S. 63).
Die Selbstverwaltungspflichtaufgaben der Kommunen nach dem SGB II, dem SGB VIII und dem SGB XII sind entsprechend des in Art. 104a GG formulierten Konnexitätsprinzips primär aus kommunalen Haushaltsmitteln zu finanzieren. Steigende Sozialausgaben und kostenintensive vom Bund den Ländern übertragene Aufgaben, verpflichten die Städte und Kommunen zu hohen Mehrausgaben, die von Bund und Ländern nur teilweise getragen werden. Als Beispiel ist hier der seit dem 1. August 2013 garantierte Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung für Kinder zwischen einem und drei Jahren zu nennen. Die steigenden Kosten führen je nach Finanzkraft der jeweiligen Kommune zu einer mehr oder weniger angespannten Haushaltslage. Die Formel „Kämmerer versus Kümmerer“ bringt das Dilemma der ausführenden Akteure auf den Punkt (Grohs/Reiter 2014, S. 37). In der politischen Debatte wurde der in § 27 SGB VIII formulierte Rechtsanspruch aufgrund kommunaler Haushaltsprobleme zur Disposition gestellt und vorgeschlagen, den starken subjektiven Rechtsanspruch durch eine bloße Gewährleistungsverpflichtung zu ersetzen bzw. infrastrukturellen („sozialraumorientierten“) Angeboten den Vorrang zu geben oder durch Regelangebote den erzieherischen Bedarf festzuschreiben. Dies wurde von fachlicher Seite heftig kritisiert und dahingehende Bestrebungen scheinen zum Stillstand gekommen zu sein (vgl. Tammen/Trenczek 2019, in FK-SGB VIII, vor §§ 27-41 Rn. 6). Die kritischen Stimmen aus der Fachpraxis haben den legislativen „Reformbemühungen“ Einhalt geboten, aber wie wirkt sich die politische Diskussion auf die Exekutive aus? Die Leistungsvoraussetzungen im Recht der Kinder- und Jugendhilfe, sind, um eine personenbezogene, soziale Dienstleistung, die dem Einzelfall gerecht werden kann, bewusst offen formuliert. Diese „weich“ formulierten Leistungsvoraussetzungen bringen die Chance aber auch die Notwendigkeit mit sich, die rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten durch sozialpädagogische Fachlichkeit zu „füllen“, bieten aber auch ein „Einfallstor“ für fiskalische Interessen, wenn das pädagogische Fachpersonal unter Druck steht ein vorgegebenes Budget einzuhalten (vgl. Wiesner 2007, S. 19). In der Fachliteratur ist dokumentiert, dass fiskalische, von der Politik über Vorgesetzte bis in Dienstbesprechungen hineingetragene Erwartungshaltungen ein eigenes Steuerungspotential entfalten und so finanzielle Kriterien fachliche Entscheidungen des Jugendamts bezüglich der zu gewährenden Hilfeart determinieren (vgl. Eger 2008, S. 56 ff.). Messmer stellt fest, dass „Leistungsträger ein Entscheidungsprinzip bevorzugen, das leichten vor schweren, kurzfristigen vor langfristigen und billigen vor teuren Maßnahmen den Vorzug gewährt“ (Messmer 2007, S. 161). Unter der Überschrift „Öffentliche Soziale Arbeit als Erfüllungsgehilfin der Ökonomisierung“ beschreibt Seithe im Schwarzbuch Soziale Arbeit die Situation des sozialpädagogischen Fachpersonals im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), das vor der Aufgabe steht, die fachlich gebotenen Bedürfnisse und Wünsche der Klienten und die fiskalischen Interessen innerhalb eines vorgegeben Budgets in Einklang zu bringen. So ist es nur logisch, dass kostengünstige, begrenzte Hilfen den Vorzug bekommen und die Hilfeplangestaltungen der Jugendämter von Strategien beherrscht werden, die wenigstens kurzfristig Kosten sparen. Diesem sogenannten „Treppenprinzip“ entsprechend, werden kleinere weniger kostenintensive Hilfen anstelle eingriffs- und kostenintensiver langfristiger Hilfeprozesse von Seiten des Leistungsträgers favorisiert (vgl. Seithe 2012, S. 188). Seithe führt weiter aus, dass diese Strategie natürlich fachlich begründet wird, aber „es sich in vielen Fällen dabei um eine argumentative Hilfskonstruktion handelt, die fachlich gar nicht trägt“ (ebd., S. 188). Sie kritisiert weiter, dass in der Konsequenz zu lange zugeschaut wird, ständig an Fällen ohne klare Perspektive „herumgedoktert“ wird (vgl. ebd., S. 188). Vom fachlichen Standpunkt aus als besonders problematisch erweist sich das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Jahr 2005 auf den Weg gebrachte „Bundesprogramm zur wirkungsorientierten Ausgestaltung der Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen“. Die MitarbeiterInnen des ASD müssen eine effizienzgesteuerte Strategie des Kostenträgers mittragen und durchsetzen, bei dem mit einem entgeltbezogenen Anreizsystem, der Leistungserbringer monetär für eine beschleunigte Verselbständigung oder eine Rückführung aus Heimunterbringung belohnt wird. So bestimmt der Ergebniserbringer ob, er sich für das Geld oder die eventuell fachlich angemessene Verlaufsstruktur einer Heimerziehung entscheidet (vgl. ebd., S. 190). Finanzielle Anreize in einem derartig sensiblen Bereich führen den pädagogischen Anspruch ad absurdum und sollten sich per se verbieten, sind aber traurige Realität. Auch die Bewilligung von Hilfen nach dem 18. Lebensjahr hängt, neben dem individuellen Hilfebedarf, wesentlich von der Finanzlage der Kommunen ab (vgl. Jordan u.a. 2015, S. 287). Trotz der starken rechtlichen Stellung der Adressaten zeigt sich, dass das 18. Lebensjahr in der Regel das Ende der Jugendhilfe bedeutet. So wird diesen jungen Volljährigen in einer besonders sensiblen Lebensphase, meist mit wenig personalen, familiären und/oder sozialen Ressourcen zugemutet auf eigenen Füßen zu stehen, was als fachlich bedenklich eingeordnet werden muss (vgl. ebd., S. 287 f.). Während die Leistungskonkurrenz zum SGB XII abschließend geregelt ist und eindeutig auf den Vorrang jugendhilferechtlicher Leistungsansprüche verweist (§ 10 Abs. 4 S. 1 SGB VIII und § 67 SGB XII), besteht in der Praxis eine große Konkurrenz zum SGB II, die im Jahr 2006 mit dem 1. SGB II Änderungsgesetz, dem sog. „Auszugsverbot“ für erwerbslose Volljährige unter 25 Jahren noch verschärft wurde (vgl. Wiesner 2007, S. 20). Auch Rosenbaum/Schiller stellen fest, dass „ohne adäquate Prüfung des Jugendhilfebedarfs junge Menschen dann weggeschickt [werden] und drehen Schleifen zwischen Sozialämtern, Jobcentern und Jugendämtern, bleiben schließlich irgendwo hängen - oder auch nicht hängen. Neben der Frage, wiedie Fachkräfte vor Ort dieLebenssituationen und Krisen junger Menschen bewerten und beurteilen, wirken hier häufig auch Spardruck und Finanzierungsfragen. Kosten dürfen jedoch im Zusammenhang eines subjektiven Rechtsanspruchs keine entscheidende Rolle spielen!“ (Rosenbaum/Schiller 2016, S. 4). Sandermann u. a. sprechen von einer der Rechtsidee des SGB VIII widersprechenden Praxis, die vor dem Hintergrund kommunaler Sparzwänge „Strategien der Hilfevermeidung anstelle von Strategien zur Hilfegewährung“ verfolgt (Sandermann u. a. 2007, S. 16). Weiter beschreiben die Autoren diese Problematik als „Spitze des Eisbergs“ grundsätzlicher struktureller Defizite, dem auch andere Adressaten der Kinder-und Jugendhilfe tendenziell ausgesetzt sind (vgl. ebd., S.17). Wenn schon die Professionellen unter Druck stehen, wie geht es dann den Klienten, die sich zwischen diesen Fronten bewegen?
Der Gesetzgeber hat in § 1 SGB VIII als Generalklausel und Leitnorm das Verhältnis von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen zu ihren Eltern und zur Jugendhilfe definiert (vgl. Meysen/Münder 2019, in FK-SGB, VIII §1 Rn. 1). Gelingt es den Eltern nicht diese positiven Lebensbedingungen zu schaffen und die in Absatz 1 genannten Rechte zu verwirklichen, greift das staatliche Wächteramt (§1 Abs.2 S. 2SGB VIII und Art. 6 Abs.2 S.2 GG), d.h. der Sozialstaat steht in der Pflicht. Die „Hilfen zur Erziehung reagieren auf problematische sozioökonomische Verhältnisse und andere Lebenslagen mit besonderen Herausforderungen für eine gelingende Erziehung in der Familie“ (Monitor Hilfen zur Erziehung 2020, Startseite). Rauschenbach u. a. beschreiben schon 2009 die sozialen Zusammenhänge zwischen den Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe bei den Hilfen zur Erziehung und prekären Lebenslagen wie Armut, alleinerziehenden Elternteilen und Migration (vgl. Rauschenbach u.a. 2009, S. 9). Sozioökonomisch belastende Lebenslagen und damit einhergehende ökonomische Ungleichheiten bringen Ausgrenzungsprozesse und verringerte Teilhabemöglichkeiten mit sich, die Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, aber auch auf das Erziehungsverhalten von Eltern haben. Der Zusammenhang zwischen prekären Lebenslagen und Bildungserfolg, Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Freizeitgestaltung, delinquentem Verhalten, Sozialkontakten oder familiärem Zusammenleben bis hin zu Erziehungsstilen und Kindesvernachlässigung ist belegbar (vgl. Monitor Hilfen zur Erziehung 2020, Kap. 3). Legt man den Bezug monetärer Transferleistungen als Kennzahl für prekäre Lebenslagen zu Grunde, ergibt sich ein klarer Zusammenhang zwischen Armutslagen und einem erhöhten Bedarf an Hilfen zur Erziehung (vgl. Rauschenbach u.a. 2019, S. 70). Alleinerziehende nehmen überproportional Hilfen zur Erziehung in Anspruch (vgl. Rauschenbach u. a. 2009, S. 9). Tabel belegt in ihrer fachwissenschaftlichen Analyse von Daten der amtlichen Kinder und Jugendhilfestatistik von 2020 die Korrelation zwischen Transferleistungsbezug und den Ausgaben für Hilfen zur Erziehung, der besonders in der Fremdunterbringung auffällt (vgl. Tabel 2020, S. 34 ff.). Ein weiteres Risiko besteht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, das sich noch verschärft, wenn in deren Familien kein Deutsch gesprochen wird (vgl. Monitor Hilfen zur Erziehung, Kap. 3.3). „Problematisch wirkt sich jedoch die kumulative Belastung durch Risikofaktoren besonders in mehreren Lebensbereichen ohne die hinreichende Abfederung durch protektive Faktoren aus.“ (Enquetekommission 2010, S. 34). Die Kumulation von Risikofaktoren in Verbindung mit wenig ausgeprägten personalen, familiären und sozialen Ressourcen, die als Schutzfaktoren ein gelingendes Aufwachsen fördern könnten, vergrößert die Vulnerabilität der betroffenen Familien. Das Setting beeinflusst den gesamten Hilfeprozess und macht die Adressaten besonders schutzwürdig. So steht dem starken und einklagbaren subjektiven Rechtsanspruch eine aus verschiedenen strukturellen Gründen faktisch schwache Position der Betroffenen entgegen (vgl. Wiesner 2012, S. 5). Dem ist im Hilfeprozess und im Hinblick auf Beschwerde- und Partizipationsmöglichkeiten Rechnung zu tragen.
In der Praxis spielt die geschlossene Unterbringung innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe quantitativ keine große Rolle, steht aber durch die einschneidenden Methoden in der öffentlichen Diskussion (vgl. Münder u. a. 2020, S. 237 Rn. 26). Rechtlich verankert ist die geschlossene Unterbringung in § 34 SGB VIII, Heimerziehung, sonstige betreute Wohnformen, doch ist § 34 SGB VIII keine Rechtsgrundlage für eine freiheitsentziehende Unterbringung (ebd., S. 193 Rn. 49). Die Genehmigung erfolgt nach Antrag beim Familiengericht gemäß § 1631b BGB, „wenn sie zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Die genannten Kriterien sind Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ (Hoffmann 2009, S. 122). „Die Gefährdung anderer Rechtsgüter (Eigentum, öffentliche Ordnung etc.) reicht nicht als Einweisungsgrund aus“ (BMFSFJ 2001, S. 240). Im Einzelfall können auch erzieherische Gründe als „ultima ratio“ die geschlossene Unterbringung rechtfertigen, aber nur „so lange insbesondere eine Heimerziehung in einer offenen Einrichtung nicht aussichtslos erscheint“ (BGH 18.07.2012 XII-ZB 661/11). Die geschlossene Unterbringung als pädagogisches Instrument polarisiert die Fachwelt. Während Permien in der Studie des Deutschen Jugendinstituts „Effekte freiheitsentziehender Maßnahmen in der Jugendhilfe“ zu dem ambivalenten Ergebnis kommt, dass es ohne eine ähnlich einschneidende Intervention für viele Jugendliche kaum noch eine Erfolgshoffnung gegeben hätte und damit diese Interventionen, unter der Prämisse, dass sie von optimalen Bedingungen flankiert sind, rechtfertigt (vgl. Permien 2010, S. 93), kritisiert Lindenberg unter anderem den dem Grundgedanken des SGB VIII widersprechenden Zwangskontext, der durch die Vielzahl vorgegebener Strukturen, die pädagogische Arbeit buchstäblich auffrisst und konstatiert: „Einsperrung wird regelmäßig nicht zur Helferin, sondern zur Herrin der Pädagogik, weil sich sowohl die Pädagogen als auch die Kinder und Jugendlichen der Struktur der Institution und dem Mittel der Einsperrung unterwerfen müssen.“ (Lindenberg 2010, S. 759). Autoritäre Strukturen befördern Willkür und Machtmissbrauch. Deshalb müssen gerade in diesem „Grenzbereich der Pädagogik“ Partizipationsrechte und interne und externe Beschwerdemöglichkeiten für die Betroffenen sichergestellt sein.
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