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Bachelorarbeit, 2020
66 Seiten, Note: 2,0
LITERATURVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
ANHANG
A. EINLEITUNG
B. DEFINITIONEN
I. Kinder
II. Kriminalität-Delinquenz
C GESCHICHTE DES JUGENDSTRAFRECHTS
I. Entwicklung bis
II. Das RStGB 1871
III. Jugendstrafrechtliche Reformbewegung
1. Ausgangspunktder Reformbewegung
2. Entwicklung bis zur Jahrhundertwende
3. JGG 1923
IV. Das RJGG 1943
V. Das JGG 1953
VI. Das 1. JGGÄndG undweitere Reformbestrebungen
D. ENTWICKLUNG DER KINDERDELINQUENZ
I. Darstellung der Kinderdelinquenz in der polizeilichen Kriminalstatistik
II. Allgemeine Entwicklung
III. Problem der Dunkelfelduntersuchung
E URSACHEN DER KINDERDELINQUENZ
I. Einfluss der Familie
II. Einfluss der Schule
III. Einfluss der Medien
F. FOLGEN DER DELINQUENZ FÜR KINDER
I. Strafrechtliche Folgen
II. Zivilrechtliche Folgen
G. UMGANG MIT DELINQUENTEN KINDERN
I. Umgang mit Kinderdelinquenz durch Polizei und Staatsanwaltschaft
II. Umgang mit Kinderdelinquenz durch Jugendämter
III. Umgang der Jugendhilfe mit Kinderdelinquenz
1. Hilfen zur Erziehung
2. Maßnahmen der Hilfe zur Erziehung
a) Ambulante Hilfe
b) Hilfe außerhalb der Familie
H. PRÄVENTIONSMAßNAHMEN
I. DISKUSSION UM DIE HERABSETZUNG DER STRAFMÜNDIGKEITSGRENZE AUF 12 JAHRE IN DEUTSCHLAND
I. Ausgangslage
II. Parameter der Feststellung der Altersgrenze in rechtshistorischer Betrachtung
III. Die Diskussion
1. Intention einer Senkung des Strafmündigkeitsalters
2. Lösungsansatz
J FAZIT
Kriminelles Verhalten junger Menschen zieht, seit Beginn der 90er- Jahre, zunehmend gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf sich.1 2 3 4 Aufgrund der anwachsenden Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistiken wird insbesondere die Zunahme von Straftaten strafunmündiger Kinder diskutiert.5
Immer häufiger berichten Medien von einem Anstieg der Kinderkriminalität. So sehen wir des Öfteren Schlagzeilen wie: „Immer mehr junge Straftäter“, „Gehören kriminelle Kinder in den Knast?“, „Jugendkriminalität steigt“ und Ähnliches.
Eine aktuelle Schlagzeile lautet: „Gruppenvergewaltigung in Mühlheim - Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze auf 12 Jahre.“ Medien, Presse und Social Media berichten von einer Gruppenvergewaltigung in Mühlheim und sorgen für bundesweites Aufsehen. Es wurde berichtet, dass drei 14-Jährige und zwei 12-Jährige eine Frau in ein Gebüsch zogen und sie dort vergewaltigten. Darauffolgend wurde ein 14-jähriger Täter verhaftet, dabei diesem eine Wiederholungsgefahr bestand. Die beiden 12-jährigen Täter konnten aufgrund ihres Alters nicht strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden.
Politik und Medien vermittelten den Eindruck, dass ein Problem existiere, das dringenden Handlungsbedarf begründe. Auch sorgte dieser Fall in Mühlheim an der Ruhr erneut für emotionale Diskussionen. Aufgrund dieser Berichterstattung nimmt die Öffentlichkeit Nachrichten über einen drastischen Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität, mithin der Verbreitung von Jugendgewalt, wahr. Als Lösung des derart wahrgenommenen „Problems der Kinderdelinquenz“ wird unter anderem eine Herabsetzung der geltenden Strafmündigkeitsgrenze angeregt und eine damit verbundene Möglichkeit eröffnet, bei Kindern schon vor Erreichen des 14. Lebensjahres zu strafrechtlichen Sanktionsmitteln zu greifen.
Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr sind in Deutschland gern. §19 StGB für ihre Straftaten nicht verantwortlich. Dennoch wird in der polizeilichen Kriminalstatistik eine Rubrik mit dem Titel Kinderkriminalität geführt und in Politik und Medien von steigender Kinderkriminalität gesprochen.6
Wenn Kinder sich abweichend verhalten und gegen das geltende Strafrecht verstoßen, spricht man daher gewöhnlich nicht von Kriminalität, sondern verwendet den Begriff der „Kinderdelinquenz“.7 Tatsächlich zeigt ein oberflächlicher Blick auf die polizeiliche Kriminalstatistik der 90er-Jahre einen Anstieg der Kriminalitätszahlen, insbesondere in Bezug auf die jüngeren Altersgruppen. Die statistischen Größen werden durch die Medien allerdings dramatisiert, indem von spektakulären Gewaltverbrechen berichtet wird und diese in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt werden. In der Bevölkerung kann hierdurch leicht der Eindruck entstehen, Sexual- und Tötungsdelikte seien bei kindlichen Tätern, im Unterschied zu früher, an der Tagesordnung.
Da, durch eine permanente Behandlung dieses Themas in den Medien, allgemein postuliert wird, dass gegen die vermeintlich wachsende Bedrohung durch Kinderdelinquenz strafrechtlich keine Handhabe besteht, wird das Drängen der Öffentlichkeit nach Verschärfung der Eingriffsmöglichkeiten immer schwerwiegender. Pädagogische Hilfen werden kaum zur Kenntnis genommen und Pädagogen geraten rasch in die Defensive.
Nunmehr fordern die Deutsche Polizeigewerkschaft sowie einzelne Politiker, das Alter für die Strafmündigkeit von 14 Jahren auf 12 Jahre zu senken.
Im Rahmen dieser Bachelorarbeit soll untersucht werden, ob eine Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze auf 12 Jahre eine sinnvolle Maßnahme ist, um gegen Kinderdelinquenz vorzugehen.
Hierbei wird zunächst auf die Geschichte des Jugendstrafrechts eingegangen, bei der die Reformbewegung von großer Bedeutung ist.
Des Weiteren wird die Entwicklung der Kinderdelinquenz von 1980 bis heute anhand der PKS behandelt und Ursachen sowie Folgen werden analysiert. Zudem sollen der Umgang den bestehenden Kontrollsystemen bezüglich delinquenter Kinder angesprochen und präventive Maßnahmen näher erläutert werden. Der letzte Abschnitt besteht aus einer Diskussion.
Das Ziel dieser Arbeit ist eine möglichst umfassende Auseinandersetzung mit der Thematik Kinderdelinquenz, um auf diese Weise zu klären, ob eine Änderung der geltenden Strafmündigkeitsgrenze einen vertretbaren Problemlösungsansatz verkörpert. Hierbei werden die verschiedenen Meinungen zur Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze vermittelt, indem die unterschiedlichen Standpunkte mit ihren wesentlichen Argumenten aufgezeigt werden. Angesichts dessen ist der Überlegung nachzugehen, welche Motive für die wiederholten Veränderungen der bestehenden Altersgrenzen bestimmend waren und inwiefern diese Gründe heute noch Geltung besitzen. Zu diesem Zweck dient ein historischer Rückblick.
Im Folgenden werden die Begriffe: Kinder, Kinderdelinquenz und Kriminalität definiert.
Laut §19 StGB sind unter dem Begriff Kinder alle Personen unter 14 Jahren zu verstehen.
Der BegriffDelinquenz bedarf der Abgrenzung zur Kriminalität.
Er bezieht sich auf Verstöße junger Menschen gegen Normen, Regeln und Gesetze. Dies bringt zum Ausdruck, dass die auffällig gewordenen jungen Delinquenten anders zu behandeln sind als Erwachsene Täter.6 Unter dem Begriff Kriminalität versteht man alle Verstöße der strafmündigen Täter gegen die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs.
Folglich kann dieser Terminus - aus entwicklungspsychologischen Gründen - nicht auf Kinder übertragen werden. Dementsprechend ist der Begriff Kinderkriminalität, der zumeist in älterer Literatur zu finden ist, zu vermeiden.7
Im Folgenden wird auf die Geschichte des Jugendstrafrechts eingegangen.
Das JGG ist ein Werk des letzten Jahrhunderts, was jedoch nicht bedeutet, dass jugendliche Delinquenten früher eine andere strafrechtliche Behandlung erfuhren als Erwachsene.
Zur Zeit der Zwölftafelgesetze galt das Privatstrafrecht, das heißt, die Strafgewalt war Aufgabe der Familie und wurde durch den Hausherrn ausgeübt. Zu dieser Zeit existierte keine feste Altersgrenze, so wurde eine Strafe gegen einen Jugendlichen erst verhängt, wenn Ehemündigkeit beziehungsweise Geschlechtsreife eingetreten war. Im kanonischen Recht unterschied man zwischen „infantes“, also Kindern bis zum vollendeten 7. Lebensjahr, die straffrei blieben, und „impuberes“, sprich junge Menschen von ihrem 8. bis zu ihrem 14. Lebensjahr, die bei Vorliegen von Schuldfähigkeit bestraft wurden. Bei Personen, die kurz davor waren das 14. Lebensjahr zu erreichen, wurde Straffahigkeit größtenteils bejaht. Sowohl im germanischen und fränkischen Recht wie auch im Schwabenspiegel wurde festgehalten, dass vor Erreichen einer bestimmten Altersgrenze nicht die volle Strafe verhängt werden soll. Der Sachsenspiegel schrieb die Strafmündigkeitsgrenze auf das vollendete 12. Lebensjahr fest.8
Die CCC entstand 1532 und galt als die erste reichsrechtliche Kodifikation. Wenn der junge Delinquent noch nicht die erforderliche Einsichtsfähigkeit besaß, so wurde zur Bestimmung der Strafzumessung - nach Artikel 179 CCC - ein Gutachten von Obergerichten und Rechtsfakultäten eingeholt. Überdies wurde in der CCC nach Artikel 164 eine Vorschrift zur Strafmilderung für junge Diebe unter 14 Jahren angelegt. Diese regelte, dass statt der Todesstrafe eine Leibesstrafe angewandt werden sollte.9 In dieser Zeit wurde die strafrechtliche Behandlung von jungen Tätern durch die Wissenschaft bestimmt, die unter dem Einfluss des römischen und italienischen Rechts stand.10 Es ist festzuhalten, dass die CCC keine Strafmündigkeitsgrenze enthielt.
Eine solche Altersgrenze wurde jedoch Gegenstand der meisten Gesetzesentwürfe der deutschen Partikularstaaten im 19. Jahrhundert. Das Strafmündigkeitsalter war in den einzelnen Ländern unterschiedlich festgelegt worden und lag zwischen 8 bis 14 Jahren. Es soll im Folgenden auf den „Codex Iuris Bavarici Criminalis“ und das „Allgemeine Preußische Landrecht“ eingegangen werden.
Im Jahre 1751 verabschiedete Bayern sein Gesetzeswerk, den „Codex Iuris Bavarici Criminalis“. Im Codex Iuris Bavarici Criminalis von 1751 wurde die absolute Strafunmündigkeit durch§4 bis zum 7. Lebensjahr geregelt. Die relative Strafmündigkeit wurde gern. § 14 bis zum 14. Lebensjahr - mit möglicher Milderung der Strafe - festgesetzt und mit Vollendung des 14. Lebensjahres die „ordentliche Strafe“ angewandt.11
Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 Unterschied zwischen Kindern und Unmündigen. So galten Personen bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres als Kinder und bis zum Ende des 13. Lebensjahres als Unmündige.12
In Bezug auf die Behandlung Jugendlicher beschränkte sich das Preußische Allgemeine Landrecht auf eine allgemeine Bestimmung: „Unmündige und schwachsinnige Personen können zwar zur Verhütung fernerer Vergehen gezüchtigt, niemals aber nach der strenge des Gesetzes bestraft werden.“13
Für die über 14-Jährigen gab es keine Sonderregelung.14 Erwachsene, Jugendliche und Kinder wurden demnach gleichbehandelt. Der Entwurf des Strafgesetzbuches für die Preußischen Staaten von 1827 legte in seinem §112 die Grenze der Unzurechnungsfähigkeit auf das Das RStGB von 1871 regelte in den §§ 55-57 die strafrechtliche Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Es führte die Altersstufe der Strafunmündigen wieder ein. Angesichts dessen lag die absolute Strafmündigkeitsgrenze gern. § 55 RStGB bei 12 Jahren. Gemäß § 56 RStGB war für die Strafbarkeit des Jugendlichen der Aspekt entscheidend, ob dieser bei Begehung der Tat die erforderliche Einsicht besaß.15
Im Folgenden wird auf die Jugendstrafrechtliche Reformbewegung eingegangen.
Die Anfänge der jugendstrafrechtlichen Reformdiskussion entwickelten sich kurz nach der Reichsgründung im Jahre 1871, bei der die Behandlung von Kindern und Jugendlichen Thema der öffentlichen Kritik war. Ausgangspunkt bildeten die gesellschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen des Kaiserreichs. Die Reformbewegung im engeren Sinne, das heißt die Bewegung, die in Deutschland zu einem eigenen Jugendstrafrecht führte, lässt sich erst seit dem Ende der 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts verfolgen.16
Die Jugendstrafrechtliche Reformbewegung im engeren Sinne, lässt sich in eine Zeit bis zur Jahrhundertwende und einen Zeitraum nach der Jahrhundertwende einteilen; genauer gesagt, setzte sie um 1890 ein.
Diese Entwicklung wurde durch das sich entwickelnde Bewusstsein der Gesellschaft und den Wandel der Anschauungen über junge Menschen geprägt. Es kam zu „sozioökonomischen Veränderungen“ neuer biologischer, psychologischer, soziologischer und pädagogischer Einsichten.17
Neue Denkansätze in der Strafrechtswissenschaft, die durch das Marburger Programm von Franz von Liszt geprägt wurden, beeinflussten diese Reformbewegungen. Von Liszt widersetzte sich der Ansicht der absoluten Straftheorie und entwickelte eine moderne Theorie, die sogenannte Relative Strafrechtstheorie.18
Er wollte das Vergeltungsstrafrecht, das den Abschreckungsgedanken beinhaltete, in ein Präventionsstrafrecht umwandeln, sodass nicht mehr der Grundsatz galt die Schuld zu sühnen, sondern eine Verhütung künftiger Straftaten durch erzieherisches Einwirken auf den Straffälligen zu bewirken.19
Im Jahre 1888 wurde die IKV ins Leben gerufen; von Liszt gehörte zu den Mitbegründern. Die Mitglieder der IKV vertraten die Ansicht von Liszt, dass spezialpräventive Einwirkungen auf Jugendliche geeignet seien. Die Ursache, wieso sich die Vereinigung mit Fragen bezüglich dieser Materie auseinandersetzen, war die Reichkriminalstatistik, die die hohen Zahlen der verurteilten Jugendlichen veröffentlichte. Sie kritisierten die Regelungen des RStGB 1871, die Freiheitsentziehende Maßnahmen als erforderlich ansah, die jedoch - laut den Mitgliedern der IKV - als erzieherisch wirkungslos galten und hohe Rückfallquoten hervorbrachten. Demgemäß wurde ein Ausschuss von drei Mitgliedern beauftragt, die folgende Frage zu beantworten hatten: „Nach welcher Richtung hin ist eine Umgestaltung der über die Behandlung jugendlicher Verbrecher im StGB gegebenen Bestimmungen wünschenswert?“. Der Staatsanwalt Appelius veröffentlichte 1892 die sogenannten Eisenacher und Berliner Beschlüsse, die durch den Ausschuss erstellt worden waren. Diese Beschlüsse legten Vorschläge zur Verbesserung der Behandlung jugendlicher Straftäter vor. Daraufhin veröffentlichte Appelius einen 100 Paragraphen umfassenden Gesetzesentwurf, der aus den Grundlagen dieser Beschlüsse bestand und sich mit der Behandlung junger Delinquenten beschäftigte. Die Hauptforderung des Entwurfs lag bei der Anhebung der Strafbarkeitsgrenze von 12 auf 14 Jahre. Dies führte zu einer jahrelangen Diskussion und resultierte in dem Ergebnis, dass eine neue Strömung, und zwar die Jugendgerichtsbewegung entstand. Erst seit 1909 waren von Seiten der Gesetzgebung erste Bemühungen erkennbar. Das Reichsjustizamt entwickelte einen „Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch“, der vorsah das Strafmündigkeitsalter auf 14 Jahre zu erhöhen oder die Erziehungsmaßregeln neben oder statt der Strafe anzuordnen.20
Abgesehen davon, wurden innerhalb der Gerichte in Köln, Berlin und Frankfurt die ersten Jugendgerichte eingeführt. In Wittlich im Rheinland wurden sogar deutsche Jugendgefängnisse errichtet, in denen die jugendlichen Häftlinge einem jugendgemäßen Erziehungsstrafvollzug unterzogen wurden.21
Mithin hatten die Forderungen der Reformbewegung ihre erste Entsprechung in der Realität gefunden. Mit Beginn des ersten Weltkriegs wurden die Reformarbeiten unterbrochen. Dementsprechend wurde die Arbeit der Strafrechtskommission, die 1913 einen Entwurf für ein deutsches Strafgesetzbuch fertiggestellt hatte, stillgelegt.22
Im Jahre 1919, ein Jahr nach Kriegsende, entstand ein neuer Entwurf bezüglich eines deutschen Strafgesetzbuches, das eine Verfeinerung des Entwurfs von 1909 darstellte. Dieser regelte die Trennung des Jugend- vom Erwachsenenstrafrecht, wurde jedoch gesetzlich nicht umgesetzt.23
Durch die Einrichtung der Jugendgerichte und der Veröffentlichung zahlreicher Gesetzesentwürfe erfuhren die Forderungen der jugendgerichtlichen Reformbewegung rege Zustimmung. Die Kernforderung, die Jugendlichen nicht zu bestrafen, sondern zu erziehen, fand in Teilen Akzeptanz in Wissenschaft, Praxis und Legislative. Die Reformbewegung verdeutlicht, dass das Bestrafen von Jugendlichen in der Regel sinnlos ist und diejungen Delinquenten eher erzogen werden sollten. Jedoch musste im Einzelfall ein Kompromiss zwischen „rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien und jugendgerechten Reaktionen“ gefunden werden.24
So entstand 1923 das erste JGG, dessen Entwurf der damalige Reichsjustizminister Radbruch einbrachte.25
Es war ein Strafgesetz speziell für Jugendliche, das das Resultat der Jugendgerichtsbewegung darstellte.26
Eine wichtige Neuerung des JGG von 1923 befand sich in § 2, in dem der Anwendungsbereich auf die Jugendlichen von 14 bis 18 Jahren festgeschrieben und damit das Alter der Strafmündigkeit von vormals 12 auf 14 Jahre angehoben wurde.27
Jugendliche, die straffällig geworden waren, aber zur Zeit der Tat nach ihrer geistigen oder sittlichen Entwicklung unfähig galten, dass „Ungesetzliche ihrer Tat“ einzusehen, sind gern. § 3 JGG 1923 nicht strafbar. Im Gegensatz zur bisherigen Regelung des § 56 Abs. 1 RStGB, bei der nur die Verstandesreife (geistige Reife) des Jugendlichen vorliegen musste, wurde - mit Einführung des JGG von 1923 - auch die sittliche Entwicklung des Jugendlichen für die Annahme einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit entscheidend. Den Kern des JGG 1923 bildeten die §§ 5-6. Verfehlungen von Jugendlichen, die sich körperlich und geistig noch in der Entwicklung befanden, sollten anders behandelt werden als Straftaten oder Verfehlungen Erwachsener.28
Es hieß in §5 JGG 1923, dass, wenn ein Jugendlicher eine strafbare Handlung begangen hat, das Gericht zu prüfen hat, ob Erziehungsmaßregeln - diese waren in §7 Abs. 1 JGG 1923 verankert - erforderlich sind.29 Das JGG von 1923 vereinte sowohl das Erziehungs- als auch das Strafprinzip in sich.30
In der Zeit des Nationalsozialismus erfuhr das Jugendstrafrecht - im Verlauf der Machtausübung - vermehrt Umbildungen gemäß der damaligen Ideologie.
Laut § 3 Abs. 2 S. 2 RJGG von 1943 konnten Kinder bereits ab 12 Jahren zu einem strafrechtlichen Prozess herangezogen werden, sobald der Schutz der Gesellschaft durch die Tat gefährdet wurde.31
Durch die Auflockerung der Altersgrenzen fand das Erwachsenenstrafrecht bei Jugendlichen Anwendung, die als Schwerverbrecher galten. Eine andere Neuerung bestand darin, dass die Aufhebung des Aussetzens der Strafen auf Bewährung32, sowie das Straf-und Polizeirecht zu vereinen, durchgesetzt wurde. Als Folge dessen, begannen Jugendkonzentrationslager zu entstehen.33
Daneben wurden zusätzliche Sanktionsarten wie Zuchtmittel und Jugendarrest eingeführt.34
Die Regelungen des RJGG von 1943 betrafen gern. § 1 Abs. 2 S.l RJGG von 1943 ausschließlich Verfehlungen deutscher Jugendlicher. Junge Menschen, die nicht unter den Anwendungsbereich des RJGG fielen, gehörten zum Herrschaftsbereich der Polizei.35
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das RJGG von 1943 von nationalsozialistischem Gut abgelöst. Im Jahr 1952 begann das Verfahren zur Anordnung eines Gesetzes, welches zulassen konnte, dass das RJGG von 1943 verändert werden durfte. Es sollte ein von nationalsozialistischem Beiwerk befreiter Gesetzestext entstehen. Es entwickelte sich jedoch ein vom RJGG 1943 unabhängiges Jugendgerichtsgesetz - vom 04.08.1953 das am 01.10.1953 in Kraft trat.36
Das JGG von 1953 übernahm die Grundstruktur des Sanktionenteils des RJGG von 1943 und blieb bei der Dreigliederung in Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Jugendstrafe.37
Die Strafmündigkeitsgrenze wurde wieder auf das 14. Lebensjahr heraufgesetzt und in§lAbs.3 JGG geregelt.38
Zudem wurde eine Bewährungshilfe eingerichtet, wodurch es wieder möglich war eine Strafe zur Bewährung auszusetzen. Des Weiteren erfolgte die Aufnahme von Jugendlichen von 18 bis 21 Jahren gern. § 105 Abs. lNr.1,2 JGG.39
Das JGG von 1953 bestimmte in §1 Abs. 3 als feste Strafmündigkeitsgrenze wieder die Vollendung des 14. Lebensjahres.40
Seit Ende der 70er-Jahre wurde eine Änderung des JGG diskutiert. Die Bundesregierung bestätigte die Reformbedürftigkeit.41 Leitbild war der erziehungsbedürftige Jugendliche.
So wurden durch die Jugendrechtskommission der Arbeiterwohlfahrt stärkende, unterstützende und chancenverbessemde Maßnahmen vorgeschlagen. Dem lag ebenso der Vorschlag aus dem Jahre 1980 seitens der Konferenz der Jugendminister vor, die eine Erhöhung des Strafmündigkeitsalters auf 16 Jahre forderten. Begründet wurde dies damit, dass die Jugendhilfe die Sozialisationsdefizite besser aufarbeiten könne, als der Strafvollzug dies vermöge. Die eingereichten Entwürfe forderten die Trennung von JWG und JGG, die letztlich uneinheitlich weiterentwickelt wurden. Durch das in Kraft treten des 1. JGGÄndG - am 01.12.1990 - und das Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (KJHG) vom 26.06.1990 kamen die Diskussionen vorerst zu einem Ende. Es entwickelten sich neue medizinischambulante Maßnahmen, wie die Betreuungsweisung, das soziale Training und der Täter-Opfer-Ausgleich. Diese sollten die traditionellen Sanktionen, wie Geldbußen und Jugendstrafen ersetzen. Dazu trugen kriminologische Forschungen bei, die erwiesen hatten, dass Kriminalität im Jugendalter entwicklungsbedingt ist und, bis auf paar Ausnahmefälle, nicht wiederholt wird. Dementsprechend ist eine Verurteilung Jugendlicher in weniger Fällen geboten, als es der Gesetzgebervon 1953 für erforderlich hielt.42
Die Bundesregierung war sich, im Zuge der Einführung dieses Gesetzes, bewusst, dass der Reformbedarf des gesamten JGG noch nicht ausgeschöpft war. Angesicht dieses Umstandes wurde ein Katalog entwickelt, in dem reformbedürftige Probleme aufgelistet wurden.43 Der Bundestag forderte die Bundesregierung bis zum 01.10.1992 auf, den zweiten Entwurf zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vorzulegen. Dies geschah jedoch erst im Jahre 2007. Erwähnenswert ist, dass § 2 JGG um einen Satz erweitert wurde. Der Satz 1 bezieht sich auf die Vermeidung erneuter Straftaten und Satz 2 bestimmt, dass hierbei der Erziehungsgedanke von zentraler Bedeutung ist, sodass das Ziel mit erzieherischen Mitteln erreicht werden soll.44
Seit Mitte der 90er Jahre hat das Thema Delinquenz zunehmend an Bedeutung gewonnen und rückt nunmehr in den Vordergrund.
Die Themen Kinder- und Jugendkriminalität werden „medial und politisch vermarktet, wodurch die Jugendkriminalität gesteuert wird“.45 Der FOCUS titelte im Jahr 1997 „Zu 51 Prozent verloren - Drastisch gestiegene Kinderkriminalität“.46
Im Jahre 1998 war im „Spiegel“ der Artikel „die Kleinen Monster - Warum immer mehr Kinder kriminell werden“49zu finden.50
Durch spezielle Mediendarstellungen wird in der Öffentlichkeit das Gefühl erzeugt, dass die Häufigkeit und Intensität der Kinder- und Jugendkriminalität ansteigt. Da kriminelle Aktivitäten von Kindern ein beachtliches Ausmaß von öffentlicher Aufmerksamkeit erlangen, folgen entsprechend häufiger Forderungen nach Verschärfung des Jugendstrafrechts.
Obwohl die Forderungen zur Verschärfung des Jugendstrafrechts durch die Fachwelt der Kriminologie sowie der Justizpraxis abgelehnt werden, ergibt es sich oftmals in der Politik, dass eine Strafverschärfung ausdrücklich gefordert wird und dieser Wunsch in der Bevölkerung weitgehend auf Zustimmung stößt. Dieser Effekt ist die Ursache von zwei Fehlannahmen: Die erste Fehlannahme ist die Wahrnehmung steigender Kinderkriminalität. In der Tat ist laut der PKS seit Anfang der 90er-Jahre ein deutlicher Anstieg in der Kinderkriminalität zu verzeichnen, wobei ab 1998 eine Rückentwicklung auszumachen ist. Die zweite Fehlannahme ist, dass „mehr Härte mehr Effizienz“ bewirkt.51
Es soll daher geprüft werden, ob die Darstellung der Kinderdelinquenz in der Medienberichterstattung der Realität entspricht oder ob sie auf Übertreibungen und Fehlinterpretationen statistischer Zahlen beruht.
Da die PKS die einzige Informationsquelle für eine Betrachtung der registrierten Kinderdelinquenz darstellt, soll - von diesen Zahlen ausgehend - ein Überblick über den tatsächlichen Umfang sowie die Entwicklung der Tatverdächtigenzahlen gewonnen werden.
Die PKS ist eine Übersicht aller polizeilich verzeichneten, strafrechtlich relevanten Sachverhalte bezogen auf die allgemeine Kriminalitätsrate, einzelne Straftaten, sowie Deliktsgruppen. Weiterhin sind in der PKS Personen erfasst, die als Tatverdächtige gelten, dabei wird jedoch nicht dokumentiert, ob dem vorliegenden Täter eine Anklageerhebung oder Verfahrenseinstellung widerfahren wird.47
In der PKS wird nur das sogenannte Hellfeld, das heißt, die der Polizei bekannt gewordene Kriminalität, erfasst.48
Somit verbleiben jene Taten, die eventuell strafbar wären, aber nicht zur Anzeige gebracht wurden Teil eines Dunkelfeldes.
Die amtliche Registrierung von Kinder- und Jugendkriminalität wird durch eine reaktive und proaktive Kontrolle entwickelt. Die reaktive Kontrolle wird durch das Anzeigeverhalten der Bevölkerung bestimmt. Es liegt in Verantwortung der Bevölkerung, ob Taten im Dunkelfeld verbleiben, wenn sie nicht zur Anzeige gebracht werden oder diese durch eine Anzeige in die Hellfelddaten aufgenommen werden. Anhand dieser Statistiken sind keine Schlussfolgerungen auf das delinquente Verhalten von Kindern möglich. Die Statistiken geben Aufschluss über das Registrierungsverhalten von Tatverdächtigen der Strafverfolgungsinstanzen.49
Da auch tatverdächtige Kinder unter 14 Jahren polizeilich registriert werden, enthält die PKS mithin Informationen über das Ausmaß der Kinderdelinquenz.
Im Folgenden werden die Daten der PKS - hier die Tatverdächtigenstatistik - herangezogen, um die Entwicklung der Kinderdelinquenz beurteilen zu können.
In der nachfolgenden Abbildung 1 wird zum Ausdruck gebracht, wie sich die Zahl der registrierten Tatverdächtigen seit Mitte der 80er-Jahre verändert hat. Dies wird auf die jeweilige Altersgruppe, sowie auf 100.000 Tatverdächtige bezogen.
[...]
1 Vgl. Müllner: Wartenbis sie 14 sind? S. 7.
2 Vgl. Streng: Jugendstrafrecht, S. 22, § 2 Rn. 39.
3 Vgl. Schulz: Polizeiliche Kriminalstatistik.
4 Vgl. Müllner: Wartenbis sie 14 sind? S. 7.
5 Roesler: Die Diskussion über die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze und den UmgangmitKinderdelinquenz, S. 1.
6 Vgl. Müllner: Wartenbis sie 14 sind? S. 7.
7 Vgl. Remschmidt/Walter: Kinderdelinquenz, S. 4.
8 Vgl. Fischer: Strafmündigkeit und Strafwürdigkeit im Jugendstrafrecht, S.53.
9 Vgl. Schaffstein/Beulke/Swoboda: Jugendstrafrecht, S. 39, Rn. 80 § 3.
10 Vgl. Günzel: Die geschichtliche Entwicklung des Jugendstrafrechts und des Erziehungsgedankens, S. llff.
11 Vgl. Ackermann: Die Altersgrenzender Strafbarkeit in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S. 26.
12 Vgl. Ackermann: Die Altersgrenzender Strafbarkeit in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S. 27.
13 Günzel, Stefanie: Die geschichtliche Entwicklung des Jugendstrafrechts und des Erziehungsgedankens, S. 20.
14 Vgl. Ackermann: Die Altersgrenzen der Strafbarkeit in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S. 27.
15 Vgl. Fischer: Strafmündigkeitund StrafwürdigkeitimJugendstrafrecht, S. 56.
16 Vgl. Fritsch: Diejugendstrafrechtliche Reformbewegung, S. llf.
17 Vgl. Fischer: Strafmündigkeit und Strafwürdigkeit im Jugendstrafrecht, S. 93.
18 Vgl. Stolp: Die geschichtliche Entwicklung des Jugendstrafrechts von 1923 bis heute, S. 29.
19 Vgl. Schaffstein/Beulke/Swoboda: Jugendstrafrecht, S. 41f., § 4 Rn. 92.
20 Vgl. Stolp: Die geschichtliche Entwicklung des Jugendstrafrechts von 1923 bis heute, S. 30-34.
21 Vgl. Schaffstein/Beulke/Swoboda: Jugendstrafrecht, S.43,§4 Rn. 96f.
22 Vgl. Fritsch: Diejugendstrafrechtliche Reformbewegung, S. 89.
23 Vgl. Stolp: Die geschichtliche Entwicklung des Jugendstrafrechts von 1923 bis heute, S. 35.
24 Vgl. Fritsch: Diejugendstrafrechtliche Reformbewegung, S. 167f.
25 Vgl. Ostendorf, in: Nk-JGG, S. 31, Rn. 2.
26 Vgl. Fritsch: Diejugendstrafrechtliche Reformbewegung, S. 161.
27 Vgl. Ostendorf, in: Nk-JGG, S. 31, Rn. 2.
28 Vgl. Stolp: Die geschichtliche Entwicklung des Jugendstrafrechts von 1923 bis heute, S. 39.
29 Vgl. Fritsch: Diejugendstrafrechtliche Reformbewegung, S. 96.
30 Vgl. Stolp: Die geschichtliche Entwicklung des Jugendstrafrechts von 1923 bis heute, S. 40.
31 Vgl. Ostendorf: Jugendstrafrecht, S. 33, Rn. 17.
32 Vgl. Streng: Jugendstrafrecht, S. 22, § 2 Rn. 38.
33 Vgl. Laubenthal/Baier/Nestler: Jugendstrafrecht, S. 16, Rn. 30.
34 Vgl. Ostendorf: Jugendstrafrecht, S. 33f, Rn. 17.
35 Vgl. Laubentahl/Baier/Nestler: Jugendstrafrecht, S. 16, Rn. 30.
36 Vgl. Laubenthal/Baier/Nestler: Jugendstrafrecht, S. 18, Rn. 34f.
37 Vgl. Meier/Bannenberg/Höffler: Jugendstrafrecht, S. 41, Rn. 13.
38 Vgl. Streng: Jugendstrafrecht, S. 22, § 2 Rn. 39.
39 Vgl. Meier/Bannenberg/Höffler: Jugendstrafrecht, S. 41, Rn. 13.
40 Vgl. Streng: Jugendstrafrecht, S. 22, § 2 Rn. 39.
41 BT-Drucksache 12/1031, S. 2.
42 Vgl. Heinz: Sekundäranalyse empirischerUntersuchungen (...), S. 2157-2160.
43 BT-Drucksache 12/103, S. 2.
44 Vgl. DVJJ: Gesetz zur Änderung des JGG, S. 4.
45 Ostendorf, in: Handbuch jugendkriminalität, S. 103.
46 FOCUS(Nr.21/1997).
47 Vgl. Schulz: Polizeiliche Kriminalstatistik.
48 Vgl. Bundesministerium des Innern: Polizeiliche Kriminalstatistik 2014, S. 2.
49 Vgl. Dur/Qybra: Jugenddelinquenz - Welche Risikofaktoren führen zur Delinquenz im Jugendalter, S. 7f.