Diplomarbeit, 2023
50 Seiten, Note: 1
Abstract
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 These
1.2 Ziel
1.3 Fragestellungen
1.3.1 Frage
1.3.2 Frage
1.3.3 Frage
2 Ausgangslage
3 Konzept der Lebensweltorientierung der Sozialen Arbeit von Hans Thiersch
3.1 Entstehung und anthropologische Fundierung
3.2 Definition
3.3 Komplexitat des Alltags
4 Rechte-basierte Padagogik von Janusz Korczak
4.1 Das Recht des Kindes aufden Tod
4.1.1 Das Rechtdes Kindesaufseineeigenen Alltagserfahrungen
4.1.2 Das Recht des Kindes aufseine eigenen Erfahrungen in der Krise
4.1.3 Das Recht des Kindes aufden Tod wortwortlich
4.2 Das Recht des Kindes aufden heutigen Tag
4.2.1 Wertschatzung des Augenblicks
4.2.2 Freie Verfugbarkeit von Zeit
4.3 Das Recht des Kindes das zu sein, was esist
4.3.1 Das Recht auf Individuality
4.3.2 Padagogik der Maeutik
4.3.3 Die Asymmetrie des padagogischen Verhaltnisses
5 Das Recht des Kindes aufAchtung als ubergeordnetes Recht
5.1 dialogische Padagogik
5.2 reflexive Padagogik
5.3 konstitutionelle Padagogik
5.4 partizipative Padagogik - das Kameradschaftsgericht
5.5 partizipative Padagogik und das Generationenverhaltnis
6 Partizipation in (sozial-)padagogischen Handlungsfeldern
6.1 Partizipation als Grundrecht
6.2 Partizipation, aber wie ?
7 Resume
Anhang
Anhang 1 - Big Brother
Anhang 2 - Die Bestimmer:lnnen
Anhang 3 - Das Grundgesetz
Anhang 4 - Hausversammlung
Literaturverzeichnis
Monografien, Sammelbande & Zeitschriften
Internetquellen
This thesis is an attempt to interlace Janusz Korczak's rights-based pedagogy and the concept of lifeworld-oriented social work (LWO for short) by Hans Thiersch. The concept examines people in their everydayness of their coping tasks and define them to be subjects, whose self-will and self-reliance are to be respected. The asymmetry of the relationship between addressees and providers of social work does not constitute a hierarchy of competencies but demands negotiations of solution on an equal footing. In doing so, the impositions for the addressees must be taken in account, as a trust in their resources and capabilities and as a demand for action towards the potentials of a more successful everyday life. Building Korczak’s postulates on the rights of children, leading to the child's right to respect, this work shows how the anthropological foundation of Korczak's rights-based pedagogy coincides with that of the LWO by Hans Thiersch. Based on participation as a structural and action of the LWO, this work traces its meaning for adolescents’ participation in Korczak's pedagogy. Thereby, the sharing of power between the generations proves to be a conditio sine qua non for generational relationship oriented towards the principle of justice. This requires the pedagogue to take on a specific foundational attitude towards the child in the pedagogical relationship, which is based on the same principles as those between the addressees and social work professionals. Thus, the work not only honors the theoretical and practical merits of Janusz Korczak as a pedagogue, but also shows the relevance of his thinking and action against the background of Hans Thiersch’s LWO as a conceptual paradigm ofsocial pedagogy.
Die vorliegende Arbeit ist der Versuch einer Verschrankung der rechte-basierten Padagogik von Janusz Korczak und dem Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit (kurz LWO) von Hans Thiersch. Diese sieht die Menschen in der Alltaglichkeit ihrer Bewaltigungsaufgaben und erklart ihre Adressat:lnnen zu Sub- jekten, deren Eigensinn und Selbstzustandigkeit zu respektieren sind. Aus der Asymmetrie des Verhaltnisses von Adressat:lnnen und Helfenden der Sozialen Arbeit konstituiert sich aber keine Hierarchie der Kompetenzen, vielmehr der lm- perativ zum Aushandeln von Losungen auf Augenhohe. Dabei sind Zumutungen fur die Adressat:lnnen einzukalkulieren, als Vertrauen in deren Ressourcen und als Anforderung zum Handeln hin auf die Potentiate eines gelingenderen Alltags. Mit der Entfaltung der von Korczak postulierten Kinderrechte und dem uberge- ordneten Recht des Kindes aufAchtung, zeigt die Arbeit, wie die anthropologi- sche Fundierung der rechte-basierten Padagogik Korczaks mit jener der LWO zusammen trifft. Anhand von Partizipation als Struktur- und Handlungsmaxime des Konzepts der LWO zeichnet die Arbeit deren Bedeutung fur die Heranwachsenden in der korczakschen Padagogik nach. Dabei erweist sich die Teilung von Macht zwischen den Generationen als conditio sine qua non fur ein am Prinzip der Gerechtigkeit orientiertes Generationenverhaltnis. Dies erfordert eine spezi- fische Arbeitshaltung im padagogischen Verhaltnis zwischen Kind und Pada- gog:lnnen, der dieselben Prinzipien zugrunde liegen, wie jener zwischen Adres- sat:lnnen und Professionellen der Sozialen Arbeit. So wurdigt die Arbeit nicht nur die theoretischen und praktischen Verdienste von Janusz Korczak als Padagoge, sondern zeigt die Relevanz seines Denkens und Handelns vor dem Hintergrund des Konzepts der LWO als Paradigma der Sozialpadagogik auf.
Die vorliegende Diplomarbeit mochte Henryk Goldszmit alias Janusz Korczak, der 1878 oder 1879 in Warschau geboren wurde, als Menschen wurdigen, vor allem aber die Aktualitat und Relevanz seiner Padagogik mit der Perspektive des Konzepts der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch als gegenwartiges Paradigma der Sozialen Arbeit1, insbesondere der Sozialpadagogik, verschran- ken._Einer breiten Offentlichkeit ist Janusz Korczak, der polnisch-judische Kin- derarzt von Beruf, Schriftsteller aus Leidenschaft und Padagoge aus Zufall (Vgl. Lifton, 1995, S. 169 zitiert nach Wyrobnik, 2021, S. 25) aufgrund seiner Ermor- dung durch die Nationalsozialisten 1942 in Treblinka, zusammen mit „seinen“ Waisenkindern, bekannt. Bis zum todlichen Ende blieb er bei den Kindern, ob- wohl er nachweislich die Moglichkeit gehabt hatte, sich selbst zu retten. Dies mag als ultimativer Beleg fur seine Haltung gelten, die er in seinem umfassen- den literarischen und padagogischen Werk entwickelte und nach der er sein ganzes Leben lang strebte.
Hierjedoch soil seine rechte-basierte Padagogik der Maeutik im Mittelpunkt seiner vielen herausragenden Lebensleistungen stehen, wie ich sie in dieser Arbeit entfalten mochte. DerZeitzeuge Alexander Lewin schreibt dazu:
Die Legende der letzten drei Lebensjahre, das Bild des Weges, den er mit den Kindern und dem Personal gegangen ist, durfen nicht Jahr- zehnte padagogischen Wirkens uberlagern. [...] Denn Korczak war in jeder Lebenslage, und ganz besonders in Extremsituationen, immer sich selbst und seinen Prinzipien treu (Lewin,1998, S. 149 zitiert nach Wyrobnik, 2021, S.28).
Zu Beginn werde ich im 2. Kapitel die gesellschaftlich-politischen Bedingungen der zweiten Moderne nachzeichnen, um dann im 3. Kapitel das Konzept der Le- bensweltorientierten Sozialen Arbeit - im Folgenden kurz LWO - von Hans Thiersch vorzustellen. Mit dem Recht des Kindes auf den Tod, dem Recht des Kindes auf den heutigen Tag und dem Recht des Kindes, das zu sein, was es ist, entfalte ich im 4. Kapitel die rechte-basierte Padagogik von Janusz Korczak und verschranke diese mit dem Konzept der LWO der Sozialen Arbeit von Hans Thiersch. Dies mundet im 5. Kapitel in dem Recht des Kindes aufAchtung, der kopernikanischen Wende im padagogischen Verhaltnis, die sich auch in der Ar- beitshaltung der Professionellen der Sozialen Arbeit gegenuber ihren Adres- sat:lnnen abbildet. Weiters gehe ich auf die Bedeutung der partizipativ-konstitu- tionellen Elemente am Beispiel „Kameradschaftsgericht“ fur die Gestaltung des Generationenverhaltnisses ein. Im 6. Kapitel der Arbeit komme ich nochmals auf die Frage der Partizipation von Kindern und Jugendlichen zuruck und beleuchte diese im Kontext der gegenwartigen sozialpadagogischen Handlungsfelder in Osterreich. Dabei werde ich auch die Expertenmeinungen von Florian Arlt - Ge- schaftsfuhrer des Steirischen Dachverbandes der Offenen Jugendarbeit - und Bernd Mehrl - Projektleiter bei beteiligung.st, der Fachstelle fur Kinder-, Jugend- und Burgerlnnenbeteiligung - zum Status quo der Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Steiermark wiedergeben.
Janusz Korczak erklart das Kind zum Menschen und Hans Thiersch die Adres- sat:lnnen der Sozialen Arbeit zu Subjekten, deren Eigensinn und Selbstzustan- digkeit bei der Bewaltigung der alltaglichen Aufgaben im Horizont des gelingenderen Lebens ernst zu nehmen und anzuerkennen sind. Das Kind, wie auch die Adressat:lnnen der Sozialen Arbeit sind zuvorderst als Expert:lnnen ihrer selbst und ihres lebensweltlichen Alltags zu respektieren. Die These der vorliegenden Arbeit lautet, dass sowohl Theorie und Praxis von Janusz Korczak fur die Padagogik als auch das Konzept der LWO von Hans Thiersch fur die Soziale Arbeit eine kopernikanische Wende darstellen und ihre Imperative in Bezug auf die (so- zial-) padagogische Haltung und ihre partizipativen Handlungsmaximen kongru- ent sind.
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel - ich greife hier in Analogie auf ein Bild von Hans Thiersch selbst zuruck - den radikal-revolutionaren Ansatz der korczak- schen Grundprinzipien fur die Neugestaltung des intergenerativen Verhaltnisses auf der Vorderbuhne dieser Arbeit darzulegen und zu zeigen, wie sich diese Grundprinzipien im Verhaltnis von Sozialer Arbeit und deren Adressat:lnnen im Konzept der LWO auf der Hinterbuhne abbilden. Dabei werde ich bewusst nicht auf einen Diskurs des Theoriekonzepts eingehen, da dies den vorgegebenen Rahmen der Arbeit sprengte. Deshalb werde ich mich auf einzelne, aber m.E. nach grundlegende Aspekte im Horizont der Zielformulierung beschranken.2
Wie verschranken sich die anthropologische Fundierung der korczakschen Padagogik und die daraus resultierenden Folgerungen mit dem Konzept der LWO? Dabei werde ich vorweg die Grundzuge des Konzepts der LWO grob nachzeich- nen und im Folgenden mit den Aussagen von Korczak in Dialog treten lassen.
Wie stellt sich die anthropologische Fundierung der korczakschen Padagogik dar und welche Folgerungen lassen sich daraus fur das padagogische Verhaltnis im speziellen und das Generationenverhaltnis im allgemeinen ableiten? Ausgangs- punkt hierbei sind die von Janusz Korczak in seiner Schrift Wie liebtman ein Kind postulierten drei Grundrechte - das Recht des Kindes aufden Tod, das Recht des Kindes aufden heutigen Tag und das Recht des Kindes das zu sein, was es ist - spater von Korczak noch erganzt urn das Recht des Kindes auf Gehor und Teil- habe in Angelegenheiten, die seine Person betreffen und das alien ubergeord- nete Recht des Kindes aufAchtung.
Welche Bedeutung hat die konstitutionelle Padagogik Korczaks in Bezug auf die Partizipation von Heranwachsenden fur die sozialpadagogischen Handlungsfel- der?
Die Welt ist komplex und sie ist kompliziert geworden. Nie zuvor in der Mensch- heitsgeschichte - zumal in den freiheitlich-demokratisch organisierten Offenen Gesellschaften - waren die Moglichkeiten, eigene Lebensentwurfe zu gestalten und zu realisieren so vielfaltig, nie zuvor scheint es, war die individuelle Freiheit groBer, die (Aus-)bildung, den Beruf, den Wohnort, die Lebenspartner:lnnen, die Form des Zusammenlebens, das eigene Geschlecht und die Sexualitat, ja selbst den eigenen Tod zu bestimmen. Gleichzeitig werden traditionelle gesellschaftli- che Sicherungssysteme bruchig und losen sich auf. Freiheit wird zum Auftrag und fur den vereinzelten Menschen in der zweiten Moderne geradezu zum Zwang. Sie verweist auf die Selbstzustandigkeit und Eigenverantwortung fur das Leben und lasst die je eigenen psycho-physischen Anlagen und die materiellen Res- sourcen des Menschen und die unterschiedlichen sozialen, kulturellen, politi- schen und okonomisch-bkologischen Bedingungen innerhalb von und zwischen Gesellschaften unberucksichtigt. Die hochentwickelten Gesellschaften verfugen einen bis dato ungekannten Reichtum, er ist nur ungleich verteilt. Ulrich Beck sprach vom „Fahrstuhleffekt“: der Lebensstandard der Gesellschaft fahrt hoch, doch die prinzipielle Ungleichheit in den kapitalistischen Strukturen bleibt davon unberuhrt (Vgl. Beck, 1986). In diesen gegebenen neoliberalen Bedingungen teilt sich die Welt in Gewinner und Verlierer, der Mensch wird Humankapital und den Interessen der Produktion, des Marktes und der Gewinnmaximierung unterge- ordnet. Als Gestalter ihres Lebens erfahren die Menschen Konkurrenz, Abstiegs- und Ausgrenzungs(angste), Zwange zur Selbstausbeutung und werden zu Ich- AGs und Solidarity wird dethematisiert.
So kann es nicht verwundern, dass Eltern in Sorge um die Bewaltigung der so vielfaltigen und vielschichtigen Alltagsanforderungen an sie und ihre Kinder, noch vor deren Geburt einen Aufrustungsplan furzu erlernenden Fahig- und Fertigkei- ten entwerfen und der Schlachtruf hierbei lautet Bildung.
Geist und Korper mussen geformt und trainiert werden, von der fruhkindlichen Forderung, vom Babyschwimmen zum Kinderyoga, der Vorschule uber die zu- mindest bilinguale Volkschule mit au&erschulischem Musikunterricht, Ballettstun- den und Golfunterricht, dem organisierten Erlebnisurlaub mit Klettertouren und Wildwasserrafting, von privaten Nachhilfestunden und Forderunterricht in den Schulferien, hin zu Matura und Studium inklusive einem Collegejahr in den USA. Nichts weniger als die Integration in die gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen der neoliberalen Verwertungslogik steht hierbei auf dem Spiel. So meint Joachim Kappner in seiner Streitschrift Rettet die Kindheit. “Es ist, vor allem an- deren, der Ungeist der Okonomisierung [...] So wird das Kind zum Objekt. Nicht sein Wohl steht im Vordergrund, sondern seine spatere Nutzlichkeit" (Kappner, 2015, S. 18). In seinem Vorwort zu Emile oder Uber die Erziehung schreibt Jean- Jaques Rousseau: „Die Kindheit ist uns etwas vollkommen Unbekanntes - mit den falschen Vorstellungen, die wir davon haben, gehen wir mehr und mehr in die lrre.“ [...] Immer suchen sie [die Erwachsenen, d. Verf.] im Kind den Erwachsenen, ohne zu bedenken, was ein Kind vorher ist“ (Rousseau, 1990, S. 102). 137 Jahre spater gibt Janusz Korczak die Antwort: “Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind es bereits" (SW, Bd. 9, S. 50)3. Sie sind Menschen mit ihrer eigenen Art zu sehen, zu denken und zu empfinden und wie wir sehen werden, mit Rechten, eigenen Rechten, die nicht aus den Rechten der Erwachsenen abge- leitet sind.
Das Konzept der Lebensweltorientierten Arbeit entstand in den spaten 1960er und 1970er Jahren, als Antwort auf autoritar verfestigte und arbeitsmarktorien- tierte Gesellschaftsstrukturen und eine Soziale Arbeit, die mit Moral und Gewalt ihr Klientel mit Mitteln der Disziplinierung und Verwaltung an die Randstandigkeit drangte (Vgl. Thiersch, 2020, S. 16f.).
Thiersch erinnert sich in diesem Kontext an eine Begebenheit, die das „Klima“ jener Zeit eindrucklich veranschaulicht:
Ich reiste mit Martin Bonhoeffer von Gottingen aus, wo ich studierte, in ein gropes Heim in der Nahe, in dem einer der Jungen, urn die er sich kummerte, untergebracht war. Nun sollte er in eine endlich ge- fundene Pflegestelle umsiedeln; aber als wir ankamen, war er aus- gerissen und gerade wieder eingefangen worden. Er stand im Foyer der Anstalt, verzweifelt, gleichsam klein, ganz zusammengefallen und hilflos, umstanden vom Heimleiter, einem Pastor und mehreren Erziehern, die erhaben auftrumpfend auf ihn einredeten: Was erge- tan habe, wie undankbar er sei, dass das Konsequenzen haben werde usw. Der Junge war eine gute Viertelstunde lang stumm und standhaft, dann konnte er nicht mehr und begann in sich hinein zu schluchzen, er wurde barsch ergriffen und abgefuhrt. Der Heimleiter wandte sich nun uns zu, wurdig herablassend und erkennbar sehr mit sich zufrieden: ,,Da seht ihr jungen Burschen einmal, was Erzie- hung heiftt!" Wirwaren angewidert und verzweifelt (ebd.).
Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit sieht Menschen als Menschen mit ihren je eigenen Anlagen und unterschiedlichen Bedingungen in den Bewaltigungs- mustern des allgemeinen menschlichen Lebens. Sie sieht sie nicht als andere Menschen, aufgrund von Geschlecht, Alter, Herkunft, Bildung, soziookonomi- schem Status und Lebensweise stigmatisierte Menschen. Hier liest sich die anthropologische Auffassung des Konzepts der LWO geradezu wie die radikal- revolutionare Wende Korczaks in seiner Sichtweise der Kinder, das Credo seiner Padagogik von der Gleichheit in der Verschiedenheit: „Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind es bereits" (SW, Bd. 9, S. 50). So stellt sich im Kontext der Stigmatheorie von Erving Goffman (1975) die Frage, ob Probleme der schwierigen Jugendlichen und ihrer Familien nicht immer auch und zunachst Probleme der Institutionen sind - der Po- lizei, des Gerichts, der Sozialarbeit und der Schule - ,die sie im Na- men von Hilfen durch ihre Definitionen beschadigen und damit erst zum Problem machen (Thiersch, 2020, S. 20).
Es entwickelten sich neue Formen der Jugendhilfe und anstelle der oft abge- schieden gelegenen KindergroBheime auf dem Land, entstanden kleine, dezent- rale Wohngruppen in der Stadt. Die Mobile Jugendarbeit ging in den Offentlichen Raum, auf die StraBe als Lebensort der Jugendlichen auf diese zu und entwi- ckelte hier neue Konzepte fur einen gelingenderen Alltag. Damit einher ging auch die Forderung nach einer angemessenen Ausbildung und Professionalitat in der Sozialen Arbeit. „Wir waren mit Marx uberzeugt, dass nur „die Erziehung der Erzieher" die Basis fur Veranderungen in der Praxis schaffen konnte [...]“ (ebd.), und in Ubereinstimmung mit Korczak, wie ich an dieser Stelle erganzen mochte und an andere Stelle entfalten werde.
Die Lebensverhaltnisse von Menschen in der zweiten Moderne sind gekenn- zeichnet von der Pluralisierung der Lebenslagen und der Individualisierung der Lebensfuhrung. Lebensweltorientierte soziale Arbeit setzt bei der
Bewaltigung des Alltags der Betroffenen mit ihren je eigenen Ressourcen und Problemen bei der Erledigung der Alltagsaufgaben an.
Lebensweltorientierung - noch einmal anders formuliert - sieht die Menschen in der Alltaglichkeit ihrer Bewaltigungsaufgaben und agiert in der Orientierung an ihnen, sie sieht aber gleichsam dahin- ter und durch sie hindurch diese Erfahrungen auch in ihrer Fundierung in den Fragen derAnthropologie und Ethik, der Psychologie, der Politik und Okonomie und der Kultur. Die alltaglichen Bewalti- gungsmuster konnen als Vorderbuhne verstanden werden, auf der Menschen sich in ihren Erfahrungen und Handlungsmustern bewe- gen und darin doch immer auch durch die strukturellen Bedingungen der Hinterbuhne bestimmt sind. Auf der Vorderbuhne des Alltags und in ihren spezifischen Spielregeln werden Probleme der Hinterbuhne ausgetragen. Der Alltag ist die Schnittstelle von Ver- haltnissen und Verhalten, von objektiven und subjektiven Faktoren (Thiersch, 2020, S. 27).
Alltag ist die Lebenswelt, in der wir uns vorfinden, zu der wir gehoren. Es ist die Welt, in der wir darauf vertrauen, dass wir sie in ihren Zusammenhangen verstehen, dass wir die uns darin gestellten Aufgaben handhaben konnen und dass dies alles fur uns Sinn macht. Thiersch unterscheidet 4 Grundtypen in Hinblick aufdie unterschiedlichen Gewichtungen und Bewertungen von Alltag.
I. Der Alltag wird als unhinterfragte Notwendigkeit fur die Daseins-Fursorge fur sich selbst und die eigene Familie in langweiligen, argerlichen oder anstren- genden Routinen erlebt. Aufstehen, Zahne putzen, Fruhstucken, in die Arbeit gehen, einkaufen, Arztbesuche, Wasche waschen und so weiter und so fort. Das hoherbewertete, „eigentliche“ Leben vollzieht sich in der Freizeit, in den Ferien. In dieser Gewichtung ist Alltag trivial, wird nicht weiter thematisiert und problematisiert. Dieses „alltagliche“ Verstandnis von Alltag meint, dass dieser selbstverstandlich ist, jeder hat seinen Alltag und man kennt sich aus. ,,Ein solches Verstandnis von Alltag aber hat auch fatale Konsequenzen fur ein professionelles Arbeitsbewusstsein in der Praxis. Da der Bezug auf den Alltag unter diesen Bedingungen keine strukturierende Kraft hat, wird er als ungenugend, ja defizitar erlebt" (Thiersch, 2020, S. 39).
II. Eine zweite Sieht stellt die Kompetenzen der Menschen zur Alltagsbewalti- gung heraus. Diese betont die Leistungsfahigkeit des Einzelnen wie die der privaten sozialen Netze von Vereinen, Kirchen, Selbsthilfegruppen und so weiter und so fort. Bewaltigungskompetenzen und gegenseitige Hilfen ,,stif- ten Sicherheit und Vertrauen in die Welt und die Menschen. Fragen, die dar- uber hinausreichen, sind uberflussig und verunsichern nur die Selbstver- standlichkeit der Alltagsarbeiten" (ebd.).
Auch diese Leseart des Alltags ist fur die sozialpadagogische und sozialpoli- tische Diskussion nicht ohne Folgen, wenn die selbstredend vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen der Menschen uberhoht und gleichzeitig die Belastungen und Uberforderungen im Alltag kleingeredet werden. So bildet sich eine neokonservative Argumentation, ,, [...] man durfe Menschen nicht dadurch schwachen, dass sie in ihrer Kompetenz in Frage gestellt und in alien Schwierigkeiten aufdie Unterstutzungsangebote der Professionellen ver- wiesen werden" (Thiersch, 2020, S. 40) und zudem wird der Sozialen Arbeit ein Interesse an hilfebedurftigen Menschen zureigenen Existenzlegitimation unterstellt. Die Konklusion daraus ist dann, die Leistungen der Sozialen Arbeit, ja des Sozialstaates generell zuruckzufahren (Vgl. ebd.).
III. Dieser Typus sieht den Alltag kritisch, erlebt ihn uberfordernd, fehlende Mog- lichkeiten zurfreien Alltagsgestaltung schlagen dann urn in Wut und Hilflo- sigkeit. Sie begreifen sich als Dissident:lnnen zu den „kolonialisierenden ge- sellschaftlichen Verhaltnissen" und verweigern sich der okologischen und sozialen Ausbeutung, der Konsumlogik einer kapitalistischen Gesellschafts- ordnung (Vgl. Thiersch, 2020, S. 38). Sie kreieren einen alternativen Alltag und steigen bewusst aus den gegebenen Verhaltnissen aus. Dies fuhrt zu alternativen Konzepten in Opposition zur etablierten Sozialen Arbeit.
IV. Andere wiederum sehen sich zwar im Alltag in Bezug auf die Aufgaben parti- ell uberfordert und in ihren Bedurfnissen partiell eingeschrankt. Der Wider- stand gegen die gegebenen Verhaltnisse ist aber nicht prinzipiell und radikal, vielmehr suchen sie im System nach Freiraumen der alltaglichen Lebensge- staltung. Das verlangt nach eignen Bemuhungen, Unterstutzung und Bera- tung (Vgl. Thiersch, S. 38). Gegenwartige Soziale Arbeit bezieht sich uber- wiegend aufdiese Position und geht ,,von der Ambivalenz heutiger Alltagser- fahrungen aus, sie sehen ihre Starken, sehen aber zugleich die Uberforderung und Bedrohung des Alltags" (Thiersch, 2020, S. 40).
Somit ist Lebensweltorientierung die allgemeine Absicht, Menschen in ihrem Ei- gensinn, ihren Aufgaben und Problemen im Alltaglichen, aber auch in ihren inter- nalen Potentialen, ihrem prinzipiellen Willen und der Fahigkeit zu lernen, ernst zu nehmen und mit ihnen gemeinsam im transparenten Dialog und auf Augenhohe, tragfahige Lebensstrategien zu entwerfen. Im Spannungsverhaltnis von Selbstzustandigkeit und Unterstutzung erfordert dies auch Zumutungen fur die Menschen in Hinblick auf einen gelingenderen Alltag. Zumutungen sind dabei die zwei Seiten einer Medaille: Respekt und Vertrauen in die Menschen, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu meistern, sie aber auch zu provozieren und sie mit Anfor- derungen des Alltaglichen in den gegebenen Verhaltnissen zu konfrontieren.
Im nun folgenden Kapitel entfalte ich die rechte-basierte Padagogik von Janusz Korczak, das ubergeordnete Recht des Kindes aufAchtung, wobei ich sozusagen als Matrix im Hintergrund immer wieder Verbindungslinien zum Konzept der LWO der Sozialen Arbeit mit Korczaks anthropologisch-padagogischem Konzept auf- zeigen werde. Im Jahr 1919 publizierte Janusz Korczak den ersten Teil seiner Tetralogie Wie liebt man ein Kind unter dem Titel Das Kind in der Familie. Einer breiteren Leserschaft ist das Werk vor allem durch seine Forderung nach einer Magna Charta Libertatis als ein Grundgesetz fur das Kind bekannt:
„Vielleicht gibt es noch weitere, aber diese drei Grundrechte habe ich heraus- gefunden: 1. Das Recht des Kindes auf den Tod. 2. Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag. 3. Das Recht des Kindes das zu sein, was es ist" (SW, Bd.4, S. 45).
In der 2. Auflage (1929) erweiterte er diese drei Rechtsprinzipien urn das Recht des Kindes „seine Gedanken auszusprechen und aktiven Anteil an unseren Uber- legungen und Urteilen in Bezug aufseine Person zu nehmen" (ebd.).
Auf diese Grundrechte und das uber allem stehende Recht des Kindes aufAchtung mochte ich im Folgenden genauer eingehen.
Die Formulierung mutet zunachst etwas befremdlich an. Vielmehr ware anzuneh- men, dass die meisten Menschen als erstes und wichtigstes Grundrecht des Kindes und aller Menschen das Recht auf das Leben postulierten. Ich mochte drei mogliche Lesearten dieses ersten Rechts des Kindes vorschlagen:
Das Recht des Kindes auf seine eigenen Alltagserfahrungen, das Recht des Kindes auf seine eigenen Erfahrungen in der Krise und das Recht des Kindes auf den Tod wortwortlich genommen.
Irit Wyrobnik sieht dieses Recht in engem Zusammenhang mit der Tatigkeit von Korczak als Kinderarzt und seiner Beobachtung, dass angesichts der hohen Kin- dersterblichkeit, aus Angst vor Krankheiten und anderen Gefahren, das burgerli- che Milieu, dem Korczak selbst entstammte, mit einer „ubertriebenen Sorge bzw. Uberbehutung" reagierte (Vgl. Wyrobnik, 2021, S. 55). Korczak selbst schreibt: „Aus Furcht, der Tod konnte uns das Kind entrei&en, entrei&en wirdas Kind dem Leben; wirwollen nicht, dass es stirbt, und erlauben ihm deshalb nicht zu leben" (SW, Bd. 4, S. 49). In der Uberbehutung, gegenwartig spricht man in diesem Zusammenhang gerne auch von Helikoptereltern, erfahrt das Kind eine Degradie- rung seines Lebens zur blo&en Existenz, als immer und uberall unter Kontrolle stehendes Objekt der (Fur-) Sorge, das in seinem So-Sein, seinen Handlungs- freiheiten und Freiraumen nicht anerkannt ist. Hier verweist das Recht auf den Tod auf das spezifisch Humane des Menschen, die personale Freiheit, in der das Recht auf eigene Erfahrungen, Handlungs- und Deutungsmuster in der Welt grundet. Friedhelm Beiner sieht in diesem ersten Grundrecht die „konsequente Forderung Korczaks nach Eigenstandigkeit und Selbstbestimmung..." (Beiner, 2008, S. 27).
Dieser Respekt, die Anerkennung von Selbstzustandigkeit und Eigensinnigkeit in der Bewaltigung des Alltags in Raum, Zeit und den sozialen Beziehungen, hier spezifisch des Kindes, sind, wie oben gezeigt, auch Ausgangspunkt der LWO. In Das Recht des Kindes aufAchtung schreibt Korczak: „Der Arzt hat das Kind dem Tod entrissen, die Aufgabe des Erziehers ist es, ihm das Leben zu gewahrleisten, ihm das Recht zu verschaffen, Kind zu sein" (SW, Bd. 4, S. 412).
Die Sorge um die Gesundheit, die physische und psychische Integrity des Menschen angesichts der naturlichen und gesellschaftlichen Risiken soil hier nicht kleingeredet werden. Die unmittelbar empfundenen korperlichen Schmerzen eines Menschen, die Verletzung seiner korperlichen Unversehrtheit ubersteigen im Augenblick des Leidens das Leid der ganzen Welt.
Im Alphabet derAlltaglichkeit betont Thiersch den Vorrang des Leibes in der Un- mittelbarkeit der Erfahrung des Alltags. „Der Leib ist fur den Menschen die ihm nachste Wirklichkeit [...], die Sorge um den Leib ist primar. 1st der Mensch in Krankheit und Schmerz und der Angst um sein Wohlbefinden gefangen, verblasst und versinkt die andere, weitere Welt" (Thiersch, 2020, S. 55).
Bei allem Verstandnis fur ein Schutz- und Sicherheitsdenken in der Logik der Lebens-Versicherung muss die Freiheit und die Moglichkeit der Erfahrung, den Alltag im Horizont des Gelingenderen zu transzendieren, in die Waagschale des Lebens geworfen werden. Risiken und krisenhafte Ereignisse gehoren dazu. In der Distanz zur Alltaglichkeit und dem Willen zur Veranderung konnen sie gera- dezu eine Chance fur einen „Re-Start“ und die Loslosung aus der Verfangenheit im Spinnennetz des Erledigungsdrucks derAlltaglichkeit sein, „wenn die Verlass- lichkeit des „Und-So-Weiter“ abbricht - im Verlust des Arbeitsplatzes, im Zerbre- chen von Beziehungen, in Krankheiten, in der Konfrontation mit dem Tod von nahestehenden Menschen und in der Erwartung des eigenen" (Thiersch, 2020, S. 67f). Das Konzept der LWO der Sozialen Arbeit betont den emanzipatorischen Charakter von krisenhaften Ereignissen wie eben u.a. Krankheit oder die Konfrontation mit dem Tod, die in der Distanzierung von Alltaglichkeit das Potential fur andere und neue Handlungs- und Deutungsmuster erfahrbar machen und zu einem gelingenderen Alltag hinfuhren konnen.
Thiersch fuhrt in diesem Zusammenhang eine Szene aus einem John Green Roman an. Zwei krebskranke Jugendliche trauen sich nicht, sich zu lieben. Die knappe verbleibende Zeit und die Angst, der Schmerz wurde dann noch grower werden, entmutigt sie. Bei einem Ausflug ins Anne-Frank-Haus erfahren sie, „dass das Leben auch im Angesicht des Todes gelingen kann; sie wagen ihre eigene Liebe und finden ihr Gluck. Alltag wird lebbar, indem er uberschritten wird, indem in dessen schier unaushaltbaren Schrecklichkeiten dem Leben Sinn ab- gewonnen werden kann" (Thiersch, 2020, S. 68). Krisenhafte Ereignisse sind keine Traumata, dennoch sei an dieser Stelle auf mogliche positive Folgen ver- wiesen, wie sie Richard G. Tedeschi mit dem Begriff posttraumatisches Wachs- tum fur 5 Bereiche beschreibt: intensivere Wertschatzung des Lebens, gestei- gerte Wichtigkeit personlicher Beziehungen, Bewusstwerdung der eigenen Star- ken, Entdeckung von neuen Moglichkeiten im Leben und intensiveres spirituelles Bewusstsein und Sinnerfahrung (Vgl. Tedeschi & Calhoun, 1995, S. 455 -471).
Einen aufwortwortliche Weise verstandenen Blick auf das Recht des Kindes auf den Tod wirft Agnieszka Maluga in Die Rechte des Kindes und der Tod, einer uberarbeiteten Fassung ihre Dissertation. Dabei kommt sie zum Schluss, dass es
„kein Recht des Kindes auf aktive Sterbehilfe ist [d.Verf.]. Korczak selbst au&erte sich zur aktiven Sterbehilfe, aber er distanzierte sich kritisch von ihr. Er nahm sich - wie bei vielen anderen Grenzthemen auch - die Freiheit des unzensierten Gedankens. Letztendlich lehnte er die Euthanasie als Mord und als ein Un-Recht ab“ (Maluga, A., 2021).
Im Kinderhospizbereich beobachtete sie vorwiegend „eine Haltung Kindern ge- genuber, die sich durch partnerschaftliche Kooperation, offene Kommunikation und hochstmogliche Beteiligung auszeichnet" (ebd.). Das Kind ist Experte seiner selbst und die Erwachsenen sind aufgerufen, von ihm zu lernen. ,,Das Kind lehrt und erzieht [...] Man darf das Kind nicht geringschatzen. Es weift mehr uber sich selbst als ich uber das Kind. Es befasst sich mit sich selber in alien Stunden des Wachseins. Ich kann es nur erraten" (SW, Bd. 9, S. 247). Korczak fordert hier die Erwachsenen auf, in Dialog mit den Heranwachsenden zu treten; ohne Mitwir- kung der Kinder, ohne deren Beteiligung kann Erziehung nicht stattfinden. Erin- nert sei an dieser Stelle an das Recht des Kindes, ,, seine Gedanken auszuspre- chen und aktiven Anteil an unseren Uberlegungen und Urteilen in Bezug auf seine Person zu nehmen" (SW, Bd.4, S. 45). Das sterbende Kind, aber auch seine Geschwister und Freund:lnnen haben das Recht auf Mitteilung ihrer Gedanken und Gefuhle zu den Themen Krankheit, Sterben, Tod und Trauer. „Der Ausschluss dieser Themen wird mit einer Verhinderung von Lebensbewaltigung gleichgesetzt, weil den Kindern dadurch wesentliche Erfahrungsmoglichkeiten auch fur Erziehung und Bildung verschlossen werden wurden" (Maluga, A., 2021).
Aus Sicht des Konzepts der LWO, wie oben bereits beschrieben, wohnt der Krise die Moglichkeit auf das Gelingendere im Alltag inne. Wichtig dabei ist zu betonen, dass das Gelingendere keine vorgegebene, absolute, normativ gesetzte GroBe ist, sondern „immer ruckgebunden an die lebensweltlichen Vorstellungen, Entscheidungen und Anstrengungen der Menschen und von ihnen und ihren Poten- zialen aus bestimmt. Das Gelingendere ist das je Mogliche" (Thiersch, 2020, S. 68). Ein eindruckliches Beispiel dafur liefert folgende Aussage eines Vaters:
Es sei Diebstahl, so ein Vater im Gesprach, seine Tochter aufgrund ihrer Erkrankung im Alltag einzuschranken. Sie behauptete sich mit ihren sieben Jahren als Torwartin einer FuBballmannschaft. Und diese korperliche Betatigung mache ihr Freude, starke ihr Selbst- vertrauen, gebe ihr Mut und ganz viel Kraft, so der Vater. Auch wenn ein Restrisiko aufgrund ihres Zustandes bleibe, sagte der Vater: Er konne seine Tochter nicht in Watte packen und einschlieBen. Er spreche aber auch offen mit ihr uber die aktuelle Situation und ihre Erkrankung (Maluga, A., 2021).
Die Worte des Vaters ,,nicht in Watte packen, nicht einschlie&en" verweisen un- mittelbar auf das Recht des Kindes auf den Tod. Die Momente des Gelingende- ren auf der Vorderbuhne des Alltags, den Augenblick des Glucks, leiten direkt uber auf das zweite korczaksche Kinderrecht.
Dieses Recht werde ich im Folgenden unter 2 Aspekten naher bestimmen: Zu- nachst geht es urn die Wertschatzung des Augenblicks. Das Sein im Hier und Jetzt hat Bedeutung und verlangt nach Anerkennung. Der zweite Aspekt betrifft die Frage der freien Verfugbarkeit von Zeit und deren Bewertung.
Korczak betont mit dem Recht des Kindes aufden heutigen Tag die Eigenwertig- keit des Hier und Jetzt. Kindheit ist nicht blo&e Vorbereitungs- und Ausbildungs- zeit des Kindes in Hinblick auf eine ungewisse Zukunft. Jeder Augenblick ist wich- tig und muss ernstgenommen werden: „Wie soil es morgen leben konnen, wenn wir ihm heute kein bewusstes, verantwortungsvolles Leben ermoglichen. Nicht niedertrampeln, nicht geringschatzen, nicht der Knechtschaft des Morgen uberlassen, nicht stoppen, nicht hetzen, nicht antreiben" (SW, Bd. 4, S. 404). Wyrobnik sieht die Forderung nach nicht-kontrollierten Freiraumen und Freizeiten in Korczaks Biografie, in seinen Kindheitserfahrungen begrundet, „ein wohlbehu- tetes Kind, das vieles aus mancherlei vorgebrachten Grunden (z.B. urn der Ge- sundheit, der Zukunft willen) nicht durfte. Hier spricht also das erwachsen gewor- dene »Salonkind«, das dieses Recht auf die Gegenwart fur alle Kinder einfordert" (Wyrobnik, 2021, S. 86). Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Bildung und Selbstbildung, aber auch ein Recht auf das Gluck des Augenblicks oder in den Worten Korczaks: „Jeder hat das Recht auf einen guten Lehrer und ein sein Portionchen Himbeereis" (SW, Bd. 4, S. 489). Korczak zufolge ringen die Chance auf Bildung und Moglichkeit der Genusserfahrung urn die ausgewogenen Balance.
Die Gegenwartsfokussierung ist dem Konzept der LWO auf der Vorderbuhne des Alltags inharent. Der Alltag ist dabei bestimmt von der „Vielgestaltigkeit der Momente und deren Zusammenhangen" (Thiersch, 2020, S. 52).
Thiersch betont dabei, dass „die Subjektivitat der Deutungen und die Unmittel- barkeit der Erfahrung in der Alltaglichkeit von Zeit, Raum und sozialen Beziehun- gen im Vordergrund stehen [d.Verf.], ebenso die Bewaltigungsaufgaben, der Kampf um Anerkennung und das Ziel eines gelingenderen Lebens" (ebd.). Raum und Zeit haben dabei eine objektiv-messbare und eine subjektiv-erfahrene Be- deutung.
Die Wahrnehmung der Eigenzeit in der soziokulturellen Gegenwart ist ambivalent: Zum einen wird sie vom Erledigungszwang der alltaglich gegebenen Anfor- derungen her erfahren. Der schieren Quantitat an Bewaltigungsaufgaben wohnt inharent das Gefuhl der Uberforderung und das Momentum des Zeitdrucks inne, das nur scheinbar durch die zunehmende Freiheit in Bezug auf das Zeitmanage- ment kompensiert wird. Das digitale Zeitalter geht einher mit der Flexibilisierung der Arbeitszeit, arbeiten von zu Hause, der Moglichkeit sich jederzeit in virtuellen Raumen zu begegnen, zu kommunizieren, sich zu informieren, einzukaufen, Essen zu bestellen, Musik zu horen, Videos zu streamen etc.. Diese Freiheiten sind aber auch verbunden mit der Selbstverantwortlichkeit, die Zeit zu strukturieren und zu organisieren, was bei Vielen wieder zu einem Gefuhl der Uberforderung fuhrt. Zeit haben, Zeit geben und sich Zeit nehmen fallen in die Selbstzustandig- keit des Einzelnen. Fur Kinder und Jugendliche im Besonderen stellt sich die Frage der Eigenzeit und der Zeitwahrnehmung unter den Bedingungen der neo- liberalen-kapitalistischen Gesellschaftsordnung nochmals anders. Schule, die begrifflich von MuBe abgeleitet ist, „bedeutet damit ursprunglich eine freie Bil- dungszeit, ein distanziertes, spielerisches Sich-Einlassen auf die Dinge zur Entwicklung eigener Fahigkeiten und zur reflektierten Auseinandersetzung mit sich und der Welt. Voraussetzung dafur ist eine privilegierte Lebenssituation [...]“ (Sting & Knecht, 2022, S. 58). Das burgerliche Konzept des Moratoriums als eine Art Auszeit, eine partiell freie Zeit von familiaren und beruflichen Verpflichtungen, verstanden als eine frei verfugbare Zeit fur sich selbst, gewidmet der Entwicklung und Bildung der eigenen Identity, der Personlichkeit und sozialer Beziehungen, wohlgemerkt immer gekoppelt an den soziookonomischen Status der Herkunfts- familie, wird unter dem Primat der Okonomisierung aller gesellschaftlichen
Bereiche und der Humankapitalperspektive zunehmend strukturiert und instituti- onalisiert. Die Anforderungen fur Heranwachsende in Bezug auf Bildungserwerb im Sinne beruflicher Qualifikationen setzen dabei immer fruher ein und werden ,,von derVerpflichtung zur Absolvierung institutionalisierter Bildungsgange be- stimmt, wahrend sich die freie Zeit fur biografische Experimente und tentative Selbstpositionierungen in eine zweite nachschulische Jugendphase verschiebt" (Sting & Knecht, 2022, S. 58f). War Bildung zunachst ein Privileg und mit der Vorstellung von freier Zeit assoziiert, so stellt sie sich in den Bedingungen der zweiten Moderne als Zwang zur permanenten Selbstoptimierung und Lernbe- reitschaft dar.
,,lm 15. Deutschen Kinder- und Jugendberichtwerden das „Ringen urn Frei- raume", die (Wieder-)Herstellung von Zeitsouveranitat und die Gewahrleistung von freier Zeit fur Selbstbildung und Personlichkeitsbildung zu wesentlichen ju- gendpolitischen Forderungen erhoben (BMFSFJ, 2019, S. 470 zitiert nach Sting & Knecht, 2022, S. 61). Padagogikversteht ihreAufgabe immerauch alsVorbe- reitung von Kindern und Jugendlichen aufdie Herausforderungen derZukunft. Hier gemahnt uns das Recht des Kindes aufden heutigen Tag, nicht in einer Verengung und Verdichtung dieserzukunftsorientierten Perspektive daraufzu vergessen, „den Moment achtsam erleben zu lassen und ergebnisoffen nutzen zu durfen" (Scheipl, 2022, S. 14.) Fur die Bewaltigung der Entwicklungsaufga- ben braucht es Zeit ,,zum Reden und zum Zuhoren, zum Dialog und zum ge- meinsamen Tun.[...] Jedenfalls benotigt dieses Tun Zeit und lebensweltorien- tierte Offenheit im weitesten Sinne" (Scheipl, 2022, S. 7). Dabei sieht Scheipl die Padagogik durch eine scheinbare Ambiguitat derJugend herausgefordert. Er konstatiert, die Jugend wolle „einerseits Zeit fur die Gegenwart haben und sie mit dem „Recht aufden heutigen Tag" (Korczak, 1926/2008, S. 40) auskos- ten. Anderseits konnen Jugendliche die Zukunft (das Erwachsensein) - zum Beispiel hinsichtlich derTeilhabe an der Konsumwelt oder der sexuellen Selbst- bestimmung - kaum erwarten" (Scheipl, 2022, S.14). Daraus folgert er hierfur die Offene Jugendarbeit (im Folgenden OJA), dass diese einen Erfahrungsraum bieten konne und die Gegenwart ,, offnen fur die Auseinandersetzungen und Reflexionen mit den Fantasien des Morgigen, des Zukunftigen" (ebd.). Die so aufgefasste „Wartezeit“ der Jugend in ihren Einschrankungen der Handlungs- moglichkeiten scheint nach Scheipl nicht zu vergehen,
man fuhlt sich zum Nichtstun verurteilt. Das verleitet junge Menschen haufig dazu, die Zeit entweder zu vertrodeln oder sich mit uberschieBenden Aktivitaten „verkurzen“ zu wollen. Beide Zugange bieten hervorragende Moglichkeiten, den Umgang mit der Zeit im Rahmen der (O)JAzu reflektieren und dabei darauf zu achten, dass die Wahrnehmung von „Zeit“ wesentlich bestimmt ist von unseren Tatigkeiten bzw. Erlebnissen. So fuhren etwa das Warten, Lange- weile, Angst oder Verzweiflung zu einer Verlangsamung des erleb- ten Zeitflusses, wahrend die Zeit beim Spiel oder bei konzentrierten Tatigkeiten zu „verfliegen“ scheint (vgl. Hammond, 2019, S. 293317), (Scheipl, 2022, S. 14f).
Dieser Sichtweise mochte ich mit Korczak und Thiersch entgegnen, dass der Ei- gensinn der Heranwachsenden und das gegenwartige Erleben ernst zu nehmen und anzuerkennen sind. Die individuelle Erfahrung von Langeweile ist die Vo- raussetzung fur die Realisierung kreativer Potentiale welcher Gestaltungsart auch immer, ein Werturteil uber die Gestaltung des Gegenwartigen, zumal noch auf eine ungewisse Zukunft hin ausgelegt, aus der Perspektive des ,,lch weiB es besser", verbietet sich. Die Anerkennung des Individuums als Experte seiner selbst und seines Status als Subjekt, mit dem Verweis auf seine grundsatzliche Selbstzustandikgeit erlaubt keine generalisierenden Bewertungen uber die Qua- litat der Eigenzeit. Diese padagogische Haltung erfordert das kontinuierliche Reflektieren des padagogischen Handels auch in Hinblick auf die Gefahr der be- wussten oder unbewussten Manipulation der Heranwachsenden. Hier gilt das Recht eines jeden Menschen, das zu sein, was er ist.
Mit diesem Recht zielt Korczak auf die Anerkennung von Individuality und fordert eine Padagogik der Maeutik, die sich der Asymmetrie des padagogischen Ver- haltnisses bewusst ist.
Die Heranwachsenden haben ein Recht auf Anerkennung in ihrer Vielfalt und He- terogenitat. Die Menschen sind einzigartig und verschieden in Alter, Geschlecht, in ihrem Aussehen, in Bezug auf ihre Herkunftsfamilie, den soziookonomischen Status, Kultur, Religion und Ethnie, den individuellen Anlagen des Charakters, dem Temperament, der Interessen und Begabungen. Das Kind ist kein wei&es Blatt Papier, das von Erwachsenen beliebig beschriftet werden kann, im Gegen- teil: ,,Das Kind ist wie ein Pergament, dicht beschrieben mit winzigen Hierogly- phen, von denen du nur einen Teil zu entziffern vermagst; einige kannst du lo- schen oder nur durchstreichen und mit eigenem Inhalt fullen" (SW, Bd. 4, S. 13), oder an anderer Stelle: ,, Die Birke bleibt eine Birke, die Eiche eine Eiche - und die Klette eine Klette. Ich kann das, was in der Seele schlummert, erwecken, aber ich kann nichts neu schaffen" (SW, Bd. 4, S. 194). Demzufolge sind Eltern und Padagog:lnnen aufgefordert, das Kind nicht nach eigenen Normvorstellungen zu modellieren, sondern vielmehr in Beobachtung und Dialog zu entdecken, was in ihm angelegt ist und es in der Entwicklung zu begleiten und zu fordern.
In diesem Verstandnis ist Korczaks Haltung eine Padagogik der Maeutik mit dem Verweis auf die Grenzen des padagogischen Handelns. Die dahinterliegende Botschaft erscheint mir aber noch bedeutsamer und herausfordernder: Es ist das Recht des Kindes aufAchtung in seinem So-Sein und dieses transzendierend, der moralische Imperativ der Wertschatzung seines Eigensinns im Hier und Jetzt, ungeachtet der Soll-Vorstellungen der Erwachsenenwelt. „Diesen Respekt je- doch aufzubringen ist mehr als eine Haltung: es ist Arbeit, Arbeit des Erwachsenen an sich selbst [...]“ (Kerber-Ganse, 2009, S. 124). Das bedeutet zunachst und zuvorderst einen radikalen Perspektivenwechsel in der Beziehung des Erwachsenen zum Kind. Korczak folgend, weift es der Erwachsene nicht besser, vielmehr konnen wir von den Kindern lernen, denn sie sind die Expert:lnnen ihrer selbst. Die sokratische Haltung des Nicht-Wissens, aber des Verstehen-Wollens schafft eine Begegnung aufAugenhohe, wofur die Erwachsenen verantwortlich sind. Dies ist gefordert, weil nur durch die Mitwirkung der Expert:lnnen kann Er- ziehung gelingen, entsprechend dem korczakschen Credo von der Gleichheit in der Verschiedenheit. Kinder werden nicht Menschen, sie sind es bereits. Somit sind Kinder die Subjekte und Akteure ihres Lebens, sie reprasentieren sich selbst und haben ein Recht auf Gehor und Beteiligung in Angelegenheiten, die sie selbst betreffen. Dieses Recht auf Selbstreprasentation grundet aus Perspektive der LWO im lebensweltlichen Alltag.
Die Welt der Alltaglichkeit ist meine Welt: ich bin betroffen; ich bin gemeint, ich kann nicht vertreten werden. Ich esse, ich schlafe, ich sehe und hore, ich lerne, ich lebe mein Leben - ich sterbe meinen Tod. Hier reprasentiert sich im Alltag das grundlegende Faktum, dass der Mensch Subjekt seines Lebens ist (Thiersch, 2020, S. 58.f).
Dabei geht es immer auch um Selbstdarstellung und Stolz, Anerkennung und Zugehorigkeit. Heranwachsende wollen genauso wie die Erwachsenen gesehen werden und ihr Leben meistern. In ihren Anstrengungen und Leistungen zur Be- waltigung des Alltags wollen sie respektiert und in ihren Deutungen der Alltaglichkeit anerkannt werden. (Vgl. Thiersch, 2020. S. 63) Kinder und Jugendliche for- dern Respekt fur ihre Lebensstile, ihre Anerkennung als gleichberechtigt und - wurdig. Anerkennung, Stolz und Selbstzustandigkeit sind auch ein Thema, wenn Kinder in belastenden Familienverhaltnissen, beiArmut, Gewalt, Suchten, Krank- heiten der Eltern, in die Verantwortung gedrangt werden, das Familiensystem aufrecht zu erhalten und nebenbei noch die eigenen Bewaltigungsaufgaben des Alltags in der Schule und der Peergroup zu erledigen haben, nach auBen hin aber eine „heile Welt" darzustellen versuchen, die AuBenstehenden keinen Blick auf die wirklichen Verhaltnisse erlauben darf. Dieser Stolz, das Bedurfnis nach Anerkennung und Zugehorigkeit verlangt Respekt und Empathie, gerade und nicht zuletzt von Professionellen. Der Respekt zielt aufdie Anerkennung derAu- tonomie, die Empathie auf die Schutz-, Hilfe,- und Pflegebedurftigkeit und An- dersartigkeit von Kindern und Jugendlichen (Vgl. ebd.).
Korczak betont die Individuality, konstituiert durch das bio-psycho-soziale System des Einzelnen und die Anerkennung derAutonomie der Heranwachsenden, sieht aber ebenso die Entwicklungsbedurftigkeit des Kindes/Jugendlichen und die Asymmetrie in den Interaktionen zwischen ihnen und den Erwachsenen, die mehr Macht, Wissen und Lebenserfahrung haben. Die Andersartigkeit des Den- kens und Fuhlens und des Wissens begrunden aber nach Korczak kein hierar- chisches Verhaltnis, keinen Vorrang des Erwachsenen gegenuber dem Kind. Vielmehr stehen sie miteinander im Dialog auf Augenhohe. Eltern wie Professio- nelle beobachten, begleiten und unterstutzen Heranwachsende maeutisch in ihrer Entwicklung und Entfaltung ihrer Personlichkeit. Jurgen Oelkers bemerkte in Bezug auf diese Haltung, dass sie weder autoritar noch antiautoritar, dass Korczak weder „Fuhrer“ noch „Partner“ der Kinder sei, sondern ,,nur derjenige, der fur sie Verantwortung ubernimmt, wenn sie sich nicht selbst helfen konnen" (Oelkers, S 158, 2017, zitiert nach Wyrobnik, 2021, S. 72).
Hier klingt an, was Thiersch im Verhaltnis von der Selbstzustandigkeit der Adres- sat:lnnen und den Hilfen der Sozialen Arbeit fur das Konzept der LWO formuliert hat. Dieses anerkennt den Eigensinn der Menschen als Subjekte ihres Lebens. Thiersch sieht ebenfalls eine prinzipielle Asymmetrie zwischen den Adressat:ln- nen, die auf Hilfe angewiesen sind und den Helfenden der Sozialen Arbeit, die neue Ressourcen und Perspektiven anbieten. Diese Asymmetrie fuhrt zu einem Gefuhl der „Unterlegenheit und Abhangigkeit" bei den Klient:lnnen. (Vgl. Thiersch, 2020, S. 107). In ihrer Selbstzustandigkeit mussen die Adressat:lnnen der Sozialen Arbeit respektiert und in ihrer Wurde anerkannt werden. ,,Es geht in aller Hilfe urn Anspruche und Rechte der Adressat*innen, urn Partizipation, Teil- habe und gemeinsame Gestaltung. Aus dieser Perspektive gesehen, sind Hel- fer*innen und auf Hilfe angewiesene Menschen im Prinzip gleich" (Thiersch, 2020, S. 108).
Im Wissen urn den Status von Kindern und Jugendlichen, zu Zeiten Korczaks als recht- und schutzlos, einer autoritar-strafenden und beschamenden Padagogik ausgeliefert, geht damit die Diskreditierung des traditionellen Begriffs der Erzie- hung einher und dessen Ersetzung durch Beziehung (Vgl. ebd.).
Fur die Padagogik Korczaks und seine Tiefendimension des Erziehungsbegriffs kann dies nicht gelten, denn gerade sein rechte-basierter Ansatz demaskiert das Machtverhaltnis von Erzieher:lnnen und Zoglingen und setzt diesem mit dem Postulat der Kinderrechte eine revolutionar neue Auffassung von Erziehung ent- gegen. Das folgende Zitat von Hans Thiersch mag hier die Kongruenz zwischen der padagogischen Haltung Korczaks und dem Konzept der LWO verdeutlichen.
Sozialarbeiterisches Handeln klart Probleme in einer gemeinsamen Interaktion, in einer Ko-Produktion. Es geht in den Aktionen der Un- terstutzung und Hilfe um Arrangements des Aushandelns und Ver- handelns, es geht in der Arbeit an Problemen nicht darum, dass Adressat*innen Probleme haben, fur die Padagog*innen Losungen anbieten - das ware in der Hierarchie von Problem und Losung nur noch einmal die erneuerte Form eines traditionell autoritaren Macht- verhaltnisses. Es geht um eine Verstandigung zwischen prinzipiell gleichen Menschen und ihre prinzipiell gleichwertigen Losungsvor- schlage und darin dann um die Unterscheidung von unterschiedlich glucklichen und hilfreichen Losungen (Thiersch, 2020, S. 108).
Die Wurde des Kindes wird fur das Kind erlebbar, indem es Wertschatzung und Achtung in seinem So-Sein im Hier und Jetzt durch die Erwachsenen erfahrt. Die Padagogik der Achtung „gibt einen menschenrechtlichen MaBstab fur die Bezie- hung zwischen Menschen, die gleichzeitig ,gleich‘ und - an Erfahrung - sehr ,ver- schieden' sind (Kerber-Ganse, 2009, S. 120f). Hier liegt fur Waltraut Kerber- Ganse „der Schlussel zu Korczaks kinderrechtlicher Bedeutung heute“ (ebd., S. 121).
Fur Korczak ist das Kind ein Fremder, eine „unbekannte GroBe" (SW, Bd. 4, S. 202) und um es zu verstehen, erfordert es eine beobachtende, forschende und reflexive Haltung, „denn ein Kind ist wie ein Pergament, dicht beschrieben mit winzigen Hieroglyphen, von denen du nur einen Teil zu entziffern vermagst" (SW, Bd. 4, S. 13). Wie schon erwahnt, ist die Haltung Korczaks ein ,,ich weiB nicht" und die Aufgabe der Erzieher:lnnen ist zu lernen vom Kind, das Experte seiner selbst ist. Die Antwort auf die Frage von 1919 Wie liebtman ein Kind? lautet nun: indem die Erwachsenen das Recht auf Achtung des Kindes respektieren. „Diesen Respekt jedoch aufzubringen ist mehr als eine Haltung: es ist Arbeit, Arbeit des Erwachsenen an sich selbst [...] Dieser Respekt oder besser das Recht des Kindes aufAchtung, sie sind des Kindes Menschenrecht" (Kerber-Ganse, 2009, S. 124f). Dieses mit den Kindern sprechen und nicht zu den Kinder spre- chen, ist der revolutionare Durchbruch im padagogischen Verhaltnis und im All- gemeinen. „Dieses Lernen aber vom Kind gilt an jedem Ort und in jedweder Be- ziehung. Wir mussen uns mit ihm verstandigen, horen, lernen und gemeinsame Wege mit ihm in der Verstandigung suchen" (Kerber-Ganse, 2009, S. 125). Die Anerkennung des Rechts aufAchtung des Kindes vollzieht sich erst im Dialog, im ernsthaften Zuhoren, im Bemuhen um Verstehen, im Lernen vom Kind.
Diese Anerkennung des Perspektivenwechsels im Alltaglichen muss muhsam er- lerntwerden, in der Interaktion mit den Adressat:lnnen, in Versuch und Irrtum, in der konkreten Erfahrung von Nicht-Verstehen. Die korczaksche Methode des Lernens ist hierbei die Reflexion und die Selbstreflexion auf Grundlage seiner aufgezeichneten Beobachtungen und Erfahrungen.
Korczak ruttelt den Erwachsenen auf: denn der Erwachsene muss uber sich selbst, uber seine Gewordenheit, uber seine Absichten, uber die Folgen seines Tuns, uber die verborgenen Pramissen seines Handelns reflektieren. Anders wird er die Instrumentalisierung des Kindes zu eigenen Zwecken nicht erkennen (Kerber-Ganse, 2009, S. 126.).
Korczak geht mit seiner reflexiven Padagogik dem Konzept der LWO voran. ,,lm Konzept Lebensweltorientierung kann professionelles Handeln nur als reflexive Soziale Arbeit realisiert werden" (Thiersch, 2020, S. 163). Sie ist kritisch und selbstkritisch und hat vor allem auch die Folgen und Nebenfolgen des professio- nellen Handelns aufzudecken und zu hinterfragen. In der Sozialpadagogik ist die fachliche Reflexivitat institutionalisiert. Sie beinhaltet Formen der kollegialen Be- ratung, Teamberatung, Mediation und Supervision. Thiersch verweist auf die wi- derspruchliche Doppelfunktion einer solchen internalen Institutionalisierung, zum einen, indem sie „die Professionellen in ihrer Arbeit und in ihrem Selbstzutrauen starkt (der Verf.)" (ebd.), zum anderen die notwendige kollegiale Kontrolle einfor- dert (Vgl. ebd.). Au&erdem muss die Institutionalisierung der Reflexivitat auch externe Formen einschlie&en, wie ,,mit unabhangigen Begleit- und Evaluations- forschungen" (ebd.) und ebenso wichtig die Adressat:lnnen selbst, in Form von Feedback uber die Erfahrung und Wirksamkeit Sozialer Arbeit, aber auch in Form von Ombudsstellen, urn Konflikte aufzuarbeiten (Vgl. ebd.).
Korczaks Padagogik wird oftmals als eine „Padagogik der Liebe" interpretiert (kritisch dazu Winkler 1999, S. 319 zitiert nach Kerber-Ganse, 2009, S. 131). Doch Korczak baut nicht allein auf die interpersonale padagogische Beziehung, viel- mehr schutzt er das Heimkind vor Willkur, und sei es nur die schlechte Tages- laune der Erzieher:lnnen. Michael Winkler nennt dies „entpersonalisierte Erzie- hung": „Korczak, der Padagoge der Liebe, des Dialogs, macht zum fruhestmog- lichen Zeitpunkt objektive, absolute formale Regelungen verbindlich" (ebd.). In den Waisenhausern Dorn Sierot und Nasz Dorn implementiert Korczak ein System der Selbstverwaltung, an dem die Kinder und Jugendlichen ebenso teilhaben wie die Erwachsenen. Dies geschieht in der Absicht, das Recht des Kindes auf Achtung konstitutionell gegen das Belieben der Erzieher:lnnen abzusichern. Die konstitutionellen Elemente der Kinderrepublik „entlehnt“ er zunachst der Erwach- senengesellschaft, basierend ,,auf den Prinzipien der Gerechtigkeit, der Bruder- lichkeit, dergleichen Rechte und Pflichten [...]“ (SW, Bd. 9, S. 207) und perspektivisch auf die Bedurfnisse und Besonderheiten des Kinderheims zu- geschnitten (Vgl. ebd.) Derfundamentale Perspektivenwechsel im Verhaltnis des Kindes zum Erwachsen und der Gesellschaft als Ganzes wird in der folgenden Aussage Korczaks in seiner revolutionaren Dimension deutlich: „Die gegenwar- tige Erziehung ist von dem Grundsatz durchdrungen, dass der Erzieher gegen- uber der Gesellschaft fur die Kinder verantwortlich ist. Wir mochten die Erziehung auf Grundsatzen aufbauen, wo der Erzieher vor den Kindern fur die Gesellschaft verantwortlich ist.“ (ebd.) An dieser Stelle sei auf das „Doppelte Mandat" der Kin- der-und Jugendarbeit verwiesen, die im Spannungsfeld von personlicher Entwicklung der und gesellschaftlicher Erwartungen an die Heranwachsenden agiert. Nach Korczak ist aber der Erziehende die Representation der Gesellschaft, so unvollkommen sie ist, und zwar in ihrem Potential auf das Gelingen- dere, das bestmogliche der politisch-gesellschaftlichen Strukturen.
Der Erzieher ist vor den Kindern verantwortlich, nicht fur sie! Die Verantwortung namlich fur sich selbst kann zunehmend in die Hande der Kinder gelegt werden und das ist es, was der Erzieher gegenuber der Gesellschaft verantwortet; in diesem Sinne erst wird er fur die Gesellschaft verantwortlich und zwar vor den Kindern" (Kerber-Ganse, 2009, S. 134).
Selbstverwaltung gehort zu Korczaks Grundverstandnis von Gesellschaft und Demokratie. Dazu gehort das padagogische Experimentieren mit konstitutionel- len Elementen, deren genaue Dokumentation und die standige Reflexion der Er- fahrungen. Die Achtung des Kindes in seiner Menschenwurde braucht mehr als eine innere Haltung, es verlangt Institutionen der Selbstverwaltung und -verantwortung im Zusammenleben zwischen Kindern und Erwachsenen, die die Wurde, die Anerkennung als Subjekte ihrer Rechte verlasslich erfahr- und erlebbar machen.
Alle konstitutionellen Elemente der korczakschen Waisenhauser aufzuzahlen und zu beschreiben, die das Kind in seinem Recht aufAchtung gerade gegen- uber den Erziehenden schutzen sollen, wurde den Rahmen der Arbeit sprengen. Daher mochte ich an dieser Stelle ausfuhrlicher auf das Kameradschaftsgericht eingehen, da dieses eine zentrale Rolle im institutionellen Gefuge der Selbstver- waltung einnahm. Im Unterschied zu den anderen partizipativen Formen wie der Anschlagtafel, dem Briefkasten, der Betreuungskommission fur Neuankomm- linge, der Zeitung oder dem Parlament, die auf Freiwilligkeit beruhten, „musste ein Kind sich im Faile einer Anklage in jedem Faile stellen" (Kerber-Ganse, 2009, S. 137). ,,Man kann sich selbst beim Gericht anzeigen und jedes Kind, jeden Er- zieher, jeden Erwachsenen" (SW, Bd.4, S. 274) und weiter hei&t es: ,,Das Gericht ist nicht die Gerechtigkeit, aber es soil nach Gerechtigkeit streben; das Gericht ist nicht die Wahrheit, aber es mochte die Wahrheit finden." (ebd.) Die meisten der 109 Paragrafen waren Verzeihensparagrafen; fur die Kinderrichter war ein Rotationsmechanismus vorgesehen, urn Machtmissbrauch vorzubeugen. Die Kinder lernen zu argumentieren, zu differenzieren und mit Empathie zu urteilen, zu verzeihen und Wiedergutmachung zu leisten. Die Anzeigen erfolgen schrift- lich, also mitVerzogerung und Zeit zum Reflektieren, urn abzuwagen und zu ge- wichten. Durch die Offentlichkeit derVerhandlung wird Transparenz und person- liche Anerkennung ermoglicht.
Das Kind hat ein Recht auf die ernsthafte Behandlung seiner Ange- legenheiten, aufihre gerechte und ausgewogenen Beurteilung. Bis heute war alles vom guten Willen und den Launen des Erziehers abhangig. Das Kind hatte kein Recht auf Einspruch. Diesem Des- potismus mussen Grenzen gesetztwerden (SW, Bd. 4. S. 273).
Hier ist Selbstverwaltung kein Demokratielernen im Sandkasten fur den kunftigen Citoyen. Korczak gab den Kindern nicht nur eine Stimme, sondern Macht. Er hat gezeigt, wenn die Rechte der Kinder geachtet werden, dies nicht nur ein Reden uber eine rechte-basierte padagogische Haltung erfordert, sondern Verhaltnisse echter Partizipation und Beschwerdevefahren an dem jeweiligen padagogischen Ort, an das Alter und den Entwicklungsstand der Adressat:lnnen angepasst, ge- meinsam geschaffen und im padagogischen Alltag praktiziert. „Sie, die Kinder, waren es in diesem Faile, die diese Verhaltnisse ihrerseits immer wieder uber- prufen, bewerten, verandern - sie waren die Akteure" (Kerber, Ganse 2009, S. 141).
Wie in den vorherigen Kapiteln dargestellt, geht es Korczak in seiner Padagogik urn die Selbsterziehung beider: des Kindes als Experte seiner selbst in der Entwicklung der ihm innewohnenden Potentiale und der Erwachsenen als Lernende, beobachtend, dialogisch und reflektierend, sich selbst kennenlernend und so erst in der Lage, das Kind als unbekannte GroBe zu verstehen, welches auBerhalb seiner Verfugungsmacht ist, es sei denn durch Zwang und Gewalt. Das Recht aufAchtung des Kindes ist gewissermaBen die Verdichtung und der Kulminati- onspunkt dieser Padagogik. Die Absicherung des Respekts gegenuber der Er- wachsenengeneration, zumal am padagogischen Ort Waisenhaus, bedarf nach Korczak gemeinsam entwickelte, konstitutionelle Elemente echter, soil heiBen machtteilender Partizipation. Diese bilden die Rahmenbedingungen der eigen- verantwortlichen Selbsterziehung, die gemeinsam mit den Erziehenden immer wieder uberpruft und korrigiert werden. Micheal Winkler spricht dabei von der Begrenzung der Souveranitat der Erwachsenen durch die Souveranitat der Kinder (Vgl. Winkler, 1999, S. 318zitiert nach Kerber-Ganse, 2009, S. 143).
Als Strukturmaxime des Konzepts der LWO ist Partizipation ein Grundprinzip der demokratischen Gesellschaft, fur die Soziale Arbeit gelten Teilhabe, Mitbestimmung und Mitgestaltung der Lebensverhaltnisse fur alle Handlungsfelder. Partizipation ist aber auch eine Handlungsmaxime, die auf der Anerkennung der Ad- ressat:lnnen in ihrem Eigensinn, ihren Menschenrechten und in ihrer Selbstzu- standigkeit bei den Bewaltigungsaufgaben grundet. Sie konkretisiert sich im Alltag in der Kinderrunde im Kindergarten bis zur Mitbestimmung in Jugendhausern, in Projekten und in padagogischen Wohngruppen, aberauch im Hilfeplan und in der regionalen sozialraumlichen Planung. Thiersch betont dabei, dass Partizipation kein „belangloses Ritual" oder rein formales Prinzip ist, sondern sich auf „bedeutsame Aufgaben" bezieht. (Vgl. Thiersch, 2020, S. 140) und verweist in diesem Kontext auf das korczaksche „Heimerziehungskonzept“: ,,[...] bei Korczak, z.B. wurde ein ausgerissenes Kind wieder aufgenommen, wenn sich ein anderes Kind fur die Wiederaufnahme verburgt hat“ (ebd.). Ebenso wie Korczak verweist Thiersch auf das dialogische Prinzip des gemeinsamen Aus- handelns moglicher Losungen unter Berucksichtigung der Gleichheit in der Ver- schiedenheit. Thiersch spricht von der „doppelten Anerkennung" der Adressat:ln- nen und merkt dazu warnend an:“ [...] dies verfuhrte und verfuhrt immer wieder zu Bevormundungen, also dazu, in der Maske von Teilhabe die Eigensinnigkeiten der Adressat*innen zu gering einzuschatzen, sie einzuschranken oder zu uber- gehen, Partizipation ist gefahrdet zu einem Ruckfall in patriarchale Vorgaben" (ebd.). Aus Sicht des Konzepts der LWO ist aber auch die Einmischung gleich- sam auf dem gesellschaftlich-politischen Parkett der Hinterbuhne angezeigt, was besonders fur die Adressat:lnnen der Sozialen Arbeit schwierig ist. Es zeigt sich aber immer wieder, dass insbesondere die jeweiligen Jugendgenerationen sich au&erhalb der verfassten Politik organisieren und sich gegen diese etablierte Po- litik gemeinschaftlicheAktionen fur das andere Neue engagieren. Erinnert sei hier an ..Fridays for Future" oder „The Last Generation", die sich in Angst vor der dro- henden Klima- und Sozialkatastrophe mit der Wissenschaft verbunden und ein Ende des „Und-So-Weiter“ vehement einfordern. Hier stellt sich die Frage des Generationenverhaltnisses auf der Hinterbuhne der Alltaglichkeit von gesell- schaftlichen Macht- und Herrschaftsverhaltnissen im gesellschaftlich-politischen Kontext. Nach Herwart Kemper ist die „ubliche Sichtweise" auf das Generatio- nenverhaltnis von einem prinzipiellen Widerspruch her bestimmt. Auf der einen Seite die Hoffnung der Erwachsenen auf eine gelingendere Alltaglichkeit, auf eine kunftig bessere Welt und dem gegenuber eine Kindheit und Jugendphase - die im Vergleich zum Alltag der Erwachsenen - als ein mangelhafter Lebenszustand gesehen wird. (Vgl. Kemper, 1990). Aus diesem Mangel an Erfahrung, Wissen, Moral und Eigentum leitet die Erwachsenengeneration ihr„Recht“ ab, Macht uber das Kind auszuuben, als Kompensation fur die eigene Abhangigkeit in einem von Herrschaft bestimmten Gesellschaftssystem mit der Konsequenz, dass die man- gelhaften Zustande der Erwachsenengesellschaft kontinuierlich reproduziert werden. (Vgl. Kerber-Ganse, 2009, S. 145.) Kritisch gegen diese Auffassung des Generationenverhaltnisses argumentiert Kemper mit Korczak:
Die Erziehung muss als ein integraler Bestandteil der gemeinsamen Lebenspraxis von Alteren und Jungeren begriffen werden. Fur diese generationsubergreifende, gemeinsame Lebenspraxis aber konnen nicht mehr die uberkommenen Wertvorstellungen und Ver- haltensmuster der Erwachsenen allein maBgebend sein, weil sich in ihnen die beruflich-sozialen Unterschiede und weltanschaulichen Gegensatze als Folge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wider- spiegeln. Vielmehr mussen die Erwachsenen gemeinsam mit den Heranwachsenden die Kompetenz erwerben, aus ihren alltaglichen Lebensproblemen und -erfahrungen selbstandig Regeln fur ihre gemeinsame Praxis zu entwickeln und sich entsprechend den neu ge- wonnenen Handlungsmaximen permanent selber erziehen. Damit aber wird Erziehung bei Korczak nicht nur zu einer intergeneratio- nellen Aufgabe, sondern daruber hinaus auch zu einem gesamtge- sellschaftlichen Problem erklart (Kemper, 1990, S. 167).
Die Haltung der Achtung und Wertschatzung, der Respekt gegenuber jedem Kind fuhrt bei Korczak zur Aufhebung der bisherigen Machtverhaltnisse durch eine Praxis der Partizipation und Selbstverantwortung von Kindern/Jugendlichen, zu Korczaks kopernikanischen Wende, der Umkehrung des Generationenverhalt- nisses.
Partizipation ist im Sinne von Mitbestimmung als konstitutionelles Element nicht nur fur das „Demokratie-Lernen“ von Kindern und Jugendlichen und deren Selbstwirksamkeitserfahrungen von Bedeutung, sondern elementar fur die Absi- cherung von Kinderrechten und fur die Selbstreprasentation der Heranwachsenden im Verhaltnis der Generationen. Deshalb werde ich in den folgenden Kapiteln auf das Grundrecht auf Beteiligung, deren verschiedene Formen und die partizipative Situation in der sozialpadagogischen Praxis in Osterreich unter Ein- beziehung von Experteninterviews eingehen.
Wie gezeigt, setzt Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in den vielgestalti- gen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit und hier insbesondere der Sozialpa- dagogik eine bestimmte Arbeitshaltung voraus, man konnte auch sagen ein anthropologisches Verstandnis vom Kind, wie es Korczak in seiner rechte-basier- ten Padagogik entwickelt und praktiziert hat. Entscheidend an diesem Punkt ist aber, dass bei Korczak Kinder ein vollwertiger Teil der Gesellschaft sind. Partizipation ist keine Frage von Kulanz der Erwachsenen uber die sie nach Gutdunken verfugen konnen, sondern eine des Rechts. Dabei meint Beteiligung der Kinder nicht nur das Recht auf Meinungsau&erung, auf Information und auf Gehor in alien sie betreffenden Angelegenheiten4. „Will man Partizipation als [Demokra- tiejbildung in der Jugendarbeit, also als einen Ansatz, der auf die Subjekte und ihre Potentiate selbsttatiger Aneignung setzt, reichen Mitsprache und Mitwirkung nicht aus“ (Wittwer, 2015, S. 8 zitiert nach Steirischer Dachverband OJA& beteiligung.st, 2022, S. 23). Vielmehr geht es urn Teilung von Macht. Dies erfordert ein Umdenken, weg vom defizitaren Blick auf Kinder und Jugendliche und reinen Projektdenken hin zu einer dialogischen Padagogik des Zuhorens und Aushan- delns auf Augenhohe.
Die ARGE Partizipation hat Grundprinzipien fur die qualitatsvolle Partizipation von Jugendlichen definiert, die von beteiligung.st erweitert wurden (Vgl. Steirischer Dachverband OJA& beteiligung.st, 2022, S. 25f). Diese 13 Qualitatskrite- rien sollen hier kurz aufgelistet werden, konnen aber nicht en detail im Rahmen dieser Arbeit erlautert werden:
Begleitung durch Fachpersonal als Bindeglied zu den Entscheidungsstrukturen; Gemeinsame Zielformulierung; Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit der The- menwahl; Wertschatzung und gegenseitiger Respekt, Kinder und Jugendliche sind Expert:lnnen ihrer Lebenswelt und ihrer selbst; Aktivitat und Selbstwirksam- keit; Uberparteilichkeit gegenuber (partei-)politischen, konfessionellen oderwelt- anschaulichen Positionen, aber reflektierte Parteilichkeit fur die Heranwachsen- den; Verbindlichkeitrn Bezug auf die Umsetzung der Vereinbarungen; Intergene- rativer Dialog; Dokumentation und Transparenz im laufenden Partizipationspro- zess; Offentlichkeitsarbeit informiert uber den Beteiligungsprozess; Soziale Ge- rechtigkeit inkludiert alle jungen Menschen in ihrer Vielfalt und Diversitat in Hin- blick auf Partizipation; Evaluierung des Prozesses in alle Richtungen und Einbindung des Umfeldes (vgl. ebd. S.26).
Roger Hart (1992) und Wolfgang Gernert (1993) haben ein Stufenmodell der Partizipation entwickelt, dass die unterschiedlichen Steigerungsgrade von Kinder- und Jugendpartizipation in 9 Stufen beschreibt, beginnend bei Fremdbestim- mung, weil keine Partizipation; uber Dekoration, wo z.B. Kinder an einer Veran- staltung mitwirken ohne zu wissen, worum es geht; gefolgt von der Alibi-Teil- nahme, wo Kinder und Jugendliche freiwillig mitmachen, ihre Stimme aber nur scheinbar ein Wirkung hat, wie z.B. bei Kinderparlamenten; uber die Teilhabe, wo Kinder teilnehmen und bei unbedeutenden Angelegenheit mitreden durfen; hin zu Zugewiesen, aber informiert, wie beispielsweise bei Schulprojekten, die von Erwachsenen vorbereitet werden und die Kinder genau informiert sind. Wei- ters die Mitwirkung, z.B. Projekte kommunaler Stadtteilplanung, bei denen die Meinung der Kinder und Jugendlichen abgefragt wird, sie aber keine Entschei- dungskraft haben. Endlich die Mitbestimmung, bei der die Projektidee von den Erwachsenen kommt, Kinder und Jugendlichen aber mit ihnen demokratisch mit- entscheiden; gefolgt von der Selbstbestimmung, wobei die Initiative und die Durchfuhrung bei den Heranwachsenden liegt und von den Erwachsenen unter- stutzt und mitgetragen werden und schlieBlich die letzte Stufe der Selbstverwal- tung und Selbstorganisation, wobei die von den Kindern und Jugendlichen allein getroffenen Entscheidungen den Erwachsenen lediglich mitgeteilt werden (Vgl. ebd.,S28.).
Es sei an dieser Stelle daraufverwiesen, dass die hier oberste Sprosse der Stu- fenleiter, die Selbstverwaltung, nicht jene ist, die Korczak in seinen Waisenhau- sern implementiert, reflektiert und korrigiert hat. Denn die Beziehung der Gene- rationen ist bei ihm durch die Dialektik von Recht und Verantwortung bestimmt. Die Teilung der Macht ist an die dialogische Padagogik gebunden, es ist kein „Kinder an die Macht", sondern vielmehr ein gemeinsames (Aus-) handeln auf Augenhohe.
Insbesondere das Kindergericht war ja nicht aus der erwachsenen Verantwortung einfach entlassen. Denn die Handschrift Korczaks am Gerichtskodex ist unabweisbar. Was Kinder aber an der Institution des Kindergerichts lernen konnten, das waren: Verstandigung, Ernstnehmen, Zuhoren und - bis auf wenige Ausnahmefalle - Ver- sohnung (Kerber-Ganse, 2009, S 241).
Hier ist das Modell derTYPE-Pyramide (Typologie of Youth Participation and Empowerment) von Wong, Zimmermann und Parker ganz nahe an Korczaks Vor- stellung von Beteiligung. Nicht der hochste Grad an Autonomie stellt hier die Spitze der Pyramide dar, sondern das hochste Potential an Ermachtigung der Heranwachsenden. Es ist die gemeinsame und geteilte Kontrolle. Die Gleichheit in der Verschiedenheit ist den Autor:lnnen zufolge fur eine gesunde Entwicklung von Heranwachsenden am besten geeignet (Vgl. Wong, Zimmermann, Parker, 2010, S. 101). Was wir von Korczak gelernt haben, ist die Notwendigkeit der Auf- hebung einer paternalistischen, besserwisserischen Haltung, die Erwachsenen- Privilegien der Macht verteidigt, ohne die Differenz der Generationen zu leugnen.
Abbildung 1: TYPE-Pyramide[4]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
So haben nach dem TYPE-Modell die Heranwachsenden auf der Stufe Pluralistic die groBte Chance auf Empowerment, da die Jugendlichen eine aktive und par- tizipative Rolle einnehmen und die Kontrolle mit den Erwachsenen teilen, wah- rend die Stufe Autonomous - entspricht der Selbstverwaltung - ganz am unteren Ende rangiert. „Der jugendgeleitete Ansatz dagegen impliziert, dass Erwachsene Macht abgeben[...] (Steirischer Dachverband OJA& beteiligung.st, 2022, S. 30). Erwachsene, die ein Mehr an Erfahrung, Wissen, Ressourcen, Skills etc. haben, fungieren als Unterstutzer und Begleiter im Prozess und tragen zum Gelingende- ren bei. ,,lm gegenseitigen Austausch auf Augenhohe wird die Fahigkeit zur kriti- schen Reflexion der gegebenen Verhaltnisse bei Jugendlichen und Erwachsenen gefordert. Das geschieht nur, wenn Jugendliche und Erwachsene voneinander lernen" (ebd. S. 31).
[4]Quelle: https://www.researchgate.net/figure/Wong-et-als-2010-TYPE-Pyramid_fig4_321783095 Diese gegenseitige Verwiesenheit aufeinander wird auch immer wieder im Kon- zept der LWO der Sozialen Arbeit hervorgehoben. ..Partizipation realisiert sich schlie&lich in der gemeinsamen [Hervorhebung der Verf.] Aktion, also in Arbeits- arrangements, die von Adressat*innen und Professionellen in gemeinsamer [Hervorhebung der Verf.] Zustandigkeit oder in der Zustandigkeit der Adressat*innen entworfen und realisiert werden" (Thiersch, 2020, S. 141). Dabei ist es wichtig, Kinder- und Jugendliche ebenso wie Erwachsene, ,, die sich in ihrer verfestigten Resignation und ihrer als randstandig erfahrenen Position nicht beteiligen, zu er- mutigen und zu befahigen, ihre Probleme zu artikulieren und zu vertreten" (Thiersch, 2020, S. 140f). Das erfordert auch von Seiten der Sozialen Arbeit Zu- mutung und Provokation furdieAdressat:lnnen im Sinne des Heraus-Rufens und -Forderns zur Selbstreprasentation und Aktivitat. Beispielhaft dazu habe ich vier ausgewahlte Methodenbeispiele im Anhang aufgelistet, die ich der Fachbro- schure Partizipation in der Steirischen Offenen Jugendarbeit - Anregungen fur die Praxis entnommen habe und die vom Steirischen Dachverband Offene Jugendarbeit (StDOJA) in Kooperation mit beteiligung.st, der Fachstelle fur Kinder- Jugend- und Burgerlnnenbeteiligung 2022 herausgegeben wurde. Ich hatte die Gelegenheit mit Florian Arlt - Geschaftsfuhrer von StDOJA - und Bernd Mehrl - Projektleiter bei beteiligung.st - zwei Experten zu befragen, wie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OJA) Beteiligung von Klient:lnnen von derTheorie her gefasst und in der Praxis umgesetzt wird. Die Aussagen habe ich wie folgt zu- sammengefasst:
Beide Experten sehen Beteiligung von Kindern und Jugendlichen als Arbeitsprinzip der OJA fest verankert. Es ist ein fixer und wesentlicher Bestandteil des Bildungsauftrages der OJA und ein unhintergehbares Lernfeld fur Kinder und Jugendliche fur Selbstorganisationsfahigkeiten und Selbstwirksamkeitserfahrungen auf dem Weg zur Selbstbestim- mung. Daruber hinaus versteht die OJA Kinder- und Jugendpartizipa- tion als ein verbrieftes Recht der Klient:lnnen, wie es z.B. auch auf Landesebene im Steirischen Jugendgesetz, 2. Abschnitt §45 zum Aus- druck kommt:
Die Gemeinden sollen als Tragerinnen von Privatrechten zu den Zielsetzungen gemaB § 1 unter Bedachtnahme auf den Gemeindehaushalt beitragen. Sie kon- nen dies auch in gemeindeubergreifender Zusammenarbeit tun. Zu diesem Zweck sollen die Gemeinden insbesondere:
1.dafur sorgen, dass fur junge Menschen genugend Raum, wie z. B. Jugend- zentren, Jugendtreffpunkte, Spiel- und Sportflachen u. dgl. besteht bzw. dieser allgemein zuganglich ist;
2.Mitbestimmungs- und Mitsprachemoglichkeiten furjunge Menschen schaffen, jedenfalls bei jugendbezogenen Angelegenheiten;
3.regelmaBige Erhebungen uber die unterschiedlichen Bedurfnisse junger Menschen zur zielgerichteten Planung durchfuhren, die Ergebnisse sowie die ge- planten MaBnahmen in den zustandigen Gemeindegremien erortern und in geeigneter Form veroffentlichen.
Arlt sieht den Bildungsauftrag als primar an, da Kinder und Jugendli- che im Kontext der OJA erste Erfahrungen mit den verschiedenen For- men von Partizipation machen und lernen, da sie diese an anderen Sozialisationsorten wie beispielsweise Familie oder Schule offenbar noch nicht gemacht haben. Mehrl erganzt, dass Kinder und Jugendli- che mehrheitlich mit einer passiv-konsumorientierten Haltung die Einrichtungen der OJA aufsuchen, es gewohnt sind, vorgefertigte Ange- bote vorzufinden und nicht aktiv-selbsttatig zu entwickeln und zu- nachst auch keinen Bedarfin diese Richtung fur sich erkennen. Somit stellt sich fur die OJA zunachst einmal die Aufgabe der extrinsischen Motivation zur Partizipation. Beteiligung ist aber mehr als ein Werk- zeugkoffer der Methoden, vielmehr gehe es darum, Freiraume zu schaffen und attraktive Themensetzungen zu finden. Hier geht es urn Mitwirkung und Mitbestimmung beispielsweise in Fragen des Ange- bots, der Raumgestaltung und -nutzung, der Offnungszeiten, des Ein- satzes der Finanzmittel, des Regelwerks und stets genau zu beobach- ten und zu erforschen, sowie Vertrauen zu schaffen, urn die wirklichen Bedarfe der Kinder und Jugendlichen zu entdecken. Partizipation auf unterschiedlichen Stufen findet dabei zumeist in Projektform statt.
Arlt und Mehrl verweisen auf die Schwierigkeit im Kontext der OJA, konstitutionelle Elemente in den Einrichtungen fur sich selbst zu im- plementieren. Einerseits ist die Fluktuation sowohl bei den Adres- sat:lnnen wie bei den Fachkraften sehr hoch, andererseits ist der Or- ganisationsgrad der Einrichtungen selbst aufgrund der Prinzipien Frei- willigkeit, Niederschwelligkeit und Flexibilitat eher gering ausgepragt. Mehrl stellt fest, dass institutionalisierte Formen der Partizipation in den Einrichtungen der OJA unterschiedlich und eher gering verankert sind, das Thema als solches aber stets prasent und auf offene Ohren stofce. Auf kommunaler Ebene kann die Zusammenarbeit als kon- sensual beschrieben werden, ist aber, wie Mehrl betont, stark von den jeweiligen politischen Akteuren abhangig. Es gibt zwar gesetzliche Rahmenbestimmungen (siehe oben), diese haben aberden program- matischen Charakter einer Empfehlung.
Somit ergibt sich fur mich als Fazit, dass es zwar auf alien Handlungsebenen ein Bewusstsein fur die Wichtigkeit und Notwendigkeit des Rechts auf Partizipation fur Kinder und Jugendliche gibt, wenn auch unterschiedlich ausgepragt; eine ge- nugend konkret bestimmte Norm mit der Moglichkeit fur Kinder und Jugendliche, ihr Recht auf Teilhabe einzufordern, gibt es nicht. Bezogen auf Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe stellte die Volksanwaltschaft in ihrem Sonderbericht 2017 einen Nachholbedarf in der Praxis der Partizipation von Kinder- und Jugendlichen fest. Partizipative Ma&nahmen wie Hausparlamente, Kinderteams, Kindervertretungen und Beschwerdebriefkasten hatten nicht zu mehr Mitspra- che- und Mitbestimmungsmoglichkeiten aus Sicht der Heranwachsenden gefuhrt (Vgl. ebd. S. 35). ,,[...] nach Aussagen der Kinder und Jugendlichen, wurde [der Verf.] letztendlich doch wieder von einem Erwachsenen entschieden, dass man ihre Wunsche nicht berucksichtigen konne“(ebd.). Fur die politische Partizipation in Osterreich stellt Antonia Heidi ernuchtertfest: „Selbst in Landern mit program- matischen gesetzlichen Vorgaben ist also die Verwirklichung von Partizipations- projekten in den Gemeinden zurzeit noch vom Gutdunken der Burgermeister*in- nen abhangig" (Heidi, 2020). Trotz vieler vorbildlicher Projekte auf Landerebene „fehlt es offenbar in vielen Fallen noch am politischen Willen, die Gemeinden zur Schaffung von wirksamen Beteiligungsstrukturen zu verpflichten" (ebd.). Wie wir
aber von Korczak und Thiersch lernen, ist echte Partizipation mehr als eine pa- dagogische Ubung, sie ist ein Kinderrecht und erfordert die intergenerative Tei- lung von Macht. „Altere Generationen mussen aus der konservativen Denkweise heraustreten, die es nicht wahrhaben mochte, dass junge Menschen wertvolle Ideen und Losungsvorschlage zu politischen Problemen haben, die moglicher- weise kluger sind als ihre eigenen" (ebd.).
Die von Janusz Korczak postulierte Haltung der Padagog:lnnen gegenuber dem Kind und seinen Rechten stelltfur mich eine kopernikanische Wende im padago- gischen Verhaltnis dar. Seiner padozentrischen Auffassung nach, kreisen die Er- wachsenen urn das Kind: vom Kinde lernen, mit ihm in Dialog treten und es in seiner Individuality in jedem Augenblick respektieren. Indem Korczak die Kinder von Geburt an zu Menschen erklart und nicht erst durch Erziehung zu Menschen werden lasst, sie vom Stigma des Mangelwesens loslost, verandert er radikal- revolutionar das Bild vom Kind und vom Erwachsenen. Er wird zum Anwalt der Freiheitsrechte fur Heranwachsende - gegen die Unterdruckung und Verzwe- ckung von Kindern und Jugendlichen unterdem Vorwand, sie beschutzen und ihr kunftiges Wohl sicherstellen zu wollen. Auch bei Hans Thiersch und seinem Kon- zept der LWO erkenne ich diese Zentrierung der Adressat:lnnen der Sozialen Arbeit wieder: eine Arbeitshaltung, die Respekt und Anerkennung fur deren Ei- gensinnigkeit und Selbstzustandigkeit fordert. Sowohl das Kind bei Korczak wie auch die Adressat:lnnen der Sozialen Arbeit sind ExpertJnnen ihrer selbst und ihrer alltaglichen Lebenswelt. Ein herablassender Blick des Besserwissens ver- bietet sich bei beiden. Vielmehrsind fur (Sozial-)padagog:lnnen und Sozialarbei- ter:lnnen das Lernen von ihrem Klientel, Beobachtung, Dialog auf Augenhohe, kritische Reflexion und Selbstreflexion des eigenen Denkens und Handelns an- gezeigt. Kinder sind kein Eigentum von Erwachsenen und Hilfebedurftige keine Bittsteller, beide sind in ihrem So-Sein im Hier und Jetzt wertzuschatzen, anzu- erkennen und haben Rechte. Wie bei Korczak, so auch bei Thiersch, sind sie Gleiche unter Gleichen. Die Verschiedenheit und Asymmetrie in ihren jeweiligen Verhaltnissen begrundet keine wie immer geartete Hierarchie, sondern erfordert gerade wegen ihrer realen und vermeintlichen Unterlegenheit und Abhangigkeit in den gegebenen Verhaltnissen die Anerkennung ihrer Wurde und die Teilhabe an dergemeinsamen Gestaltung dieserVerhaltnisse in ihrem jeweiligen Potential auf das gelingendere Leben hin. Diese Konsequenzen aus dem Recht des Kin- des aufAchtung in Bezug auf die padagogische Haltung bei Korczak finden in der Arbeitshaltung der Professionellen der Sozialen Arbeit bei Thiersch ihren Re- sonanzraum. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass die Absicherung der partizi- pativen Rechte sowohl auf der Vorderbuhne des lebensweltlichen Alltags der Sozialen Hilfen wie auf der Hinterbuhne des gesellschaftlich-politischen-rechtstaat- lichen Systems nur unzureichend verwirklicht ist. So stellt sich fur Sozialpada- gog:lnnen die doppelte Aufgabe: mit dem Besen und der Schaufel in der Hand, vor der eigenen Tur wie auch vor den Toren der Gesellschaft und Politik zu keh- ren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Methodenquelle: s. https://www.kinderrechte.de/praxis/methodendatenbank/
Steirischer Dachverband OJA& beteiligung.st, 2022, S. 34).
Anhang 2 - Die Bestimmer:lnnen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Methodenquelle: s. https://www.kinderrechte.de/praxis/methodendatenbank/
Steirischer Dachverband OJA& beteiligung.st, 2022, S. 35).
Anhang 3 - Das Grundgesetz
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Methodenquelle: s. https://www.kinderrechte.de/praxis/methodendatenbank/
Steirischer Dachverband OJA& beteiligung.st, 2022, S. 36).
Anhang 4 - Hausversammlung
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Methodenquelle: s. https://www.kinderrechte.de/praxis/methodendatenbank/
Steirischer Dachverband OJA& beteiligung.st, 2022, S. 37).
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[...]
1 der Begriffsubsumiert hier sozialarbeiterisches und sozialpadagogisches Handeln
2 Es dient deshalb beim Theorienkonzept der LWO immer die Ausgabe von Thiersch (2020), Lebensweltorientierte SozialeArbeit- revisited, als Literatur.
3 Korczaks Werke werden in dieser Arbeit nach den von Friedhelm Beiner et al. herausgegebenen "Samtliche Werke" (SW) stets mit Band (Bd.) und Seitenzahl (S.) zitiert.
4 Vgl. hierzu dieArtikel 12 & 13 der UN-Kinderrechtekonvention
5 https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=LrStmk&Gesetzesnumer=20000626
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