Für neue Kunden:
Für bereits registrierte Kunden:
Bachelorarbeit, 2020
36 Seiten, Note: 1,0
1 Einleitung
2 Wesen und Funktion des Gesellschaftsromans
2.1 Effi Briest als Gesellschaftsroman
2.2 Definition des Bösen mit besonderer Berücksichtigung der Moralvorstellung der Gesellschaft
2.3 Die Gesellschaftsordnung des 19. Jahrhunderts als böse Instanz
3 Die Frauenproblematik im Gesellschaftsroman
3.1 Situation der Frau in der Familie des 19. Jahrhunderts
3.2 Infantilisierung der Frau: Die Ehefrau als wesentlicher Besitz des Mannes
3.3 Gesellschaftliche Stellung vor Mutterliebe
3.4 Das Frauenbild bei Barbara Duden
3.5 Kritik an der patriarchalen Machtstruktur
3.6 Opfer der Gesellschaft
4 Die Rolle von Effi Briest in der bürgerlichen Gesellschaft
4.1 Die Rolle als Kind
4.2 Die Rolle in der Natur
4.3 Die Rolle als Ehefrau
5 Ehebruchskandale: Weiterführende Überlegungen zu Effi Briest, Emma Bovary und Anna Karenina
5.1 Vergleich der Werke
5.2 Das Natur- und Objektmotiv
5.3 Gründe des Ehebruchs
5.4 Der Tod der Protagonistinnen
5.5 Conclusio des Vergleichs
6 Resümee
7 Literaturverzeichnis
Die vorliegende Bachelorarbeit untersucht die Manifestation des Bösen in der Gesellschaft in Fontanes Roman „Effi Briest “. Dabei soll zu Beginn eine übersichtliche Auskunft über das Wesen und die Funktion des Gesellschaftsromans gegeben werden. Darüber hinaus sollen unterschiedliche Aspekte der Frauenproblematik wiedergegeben und analysiert werden. Mit dieser Arbeit soll jenes Ziel verfolgt werden, die Infantilisierung der Frau in ihrer Ausprägung im 19. Jahrhundert korrekt wiederzugeben und die Verbindung zur Titelheldin Effi Briest herzustellen. Um die eigene These begründen zu können, soll die vorherrschende Gesellschaftsstruktur des 19. Jahrhunderts auf thematisch-inhaltlicher Ebene kritisch beleuchtet werden, um schlussendlich die Gesellschaft selbst als böse Instanz anzuerkennen.
Das Schicksal von Effi Briest scheint auf den ersten Blick typisch und repräsentativ zu sein für das 19. Jahrhundert. Die vorliegende Arbeit untersucht, inwiefern Fontanes Effi Briest dem damaligen Frauenbild entspricht respektive entsprechen musste. Die Normen der Gesellschaft, in welcher sie lebte, sind maßgeblich für ihr Schicksal verantwortlich. Denn sowohl im familiären und gesellschaftlichem Umfeld als auch in ihrer kindlichen Erziehung seitens der Eltern, sowie im nahtlosen Übergang durch ihren Ehemann, deuten bereits endlos viele Hinweise auf die logische Konsequenz des späteren Ehebruches hin. Die Kindlichkeit der Protagonistin Effi stellt ein weiteres zentrales Element des Romans dar und wird daher genauer betrachtet und analysiert.
Der erste Teil der Arbeit widmet sich dem Wesen und der Funktion des Gesellschaftsromans in der deutschen Literatur und auch der Klärung der Reaktion der Menschen auf gesellschaftskritische Werke. Weiters soll das Böse in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beleuchtet werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Auswirkungen des Bösen in der Gesellschaft gelegt wird. Darauf aufbauend wird die Frage erörtert, ob die Gesellschaft für böse Taten bzw. deren Auswirkungen verantwortlich gemacht werden kann. Basis der Überlegungen sind somit Theorien, welche die Moralvorstellungen einer Gesellschaft, geprägt von moralisch auferlegten Zwängen der Obrigkeit, zum Thema haben. Ich beziehe mich bei der Definition des Bösen auf den Philosophen Jean-Jacques Rousseau. Weiters möchte ich in dieser Arbeit die vorherrschende Gesellschaftsstruktur des 19. Jahrhunderts auf thematischinhaltlicher Ebene kritisch beleuchten, um die Gesellschaft selbst, infiltriert durch gelebte ethische Maßstäbe, als böse Instanz anzuerkennen, welche für das Fehlverhalten durch Verletzung entsprechender Sitten verantwortlich gemacht werden kann.
Anschließend wird im zweiten Teil gezeigt, dass mit einer vorherrschenden Frauenproblematik im Gesellschaftsroman zu rechnen ist. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht somit die Infantilisierung der Frau und impliziert die Beantwortung der Frage, ob die Ehefrau als wesentlicher Besitz des Mannes galt. Die Rolle von Effi Briest in der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Ehe mit Innstetten stehen in einem direkten Zusammenhang mit dem Ehebruch. Beide Themen sollen im Zuge der Arbeit näher beleuchtet und auch reflektiert werden. Denn bereits hier stellt sich die grundlegende Frage, ob die Moralvorstellung eines einzelnen Mannes das Leben und die Stellung einer Frau in der Gesellschaft zerstören kann, oder ob eine Frau unter Berücksichtigung ihrer Herkunft und Stellung selbst für die Richtung ihres Lebens verantwortlich sein kann. Die Thematik, inwiefern die Familie und die Ehe als eine Veranschaulichung der damaligen Gesellschaft gelten kann, soll ebenfalls näher behandelt werden. Die Kritik an der patriarchalen Machtstruktur dieser Zeit soll hinzukommend im historischen Kontext näher beleuchtet werden.
Im Zentrum des dritten und letzten Kapitels steht der direkte Vergleich derselben Thematik eingeordneter Werke von Flauberts Madame Bovary und Tolstois Anna Karenina. Es soll durch den Vergleich der zeitnah entstandenen Ehebruchromane des 19. Jahrhunderts darauf hingewiesen werden, dass die Gesellschaftsordnung innerhalb dieses Jahrhunderts in verschiedenen Ländern ähnlich festgelegt war und zusätzlich soll auf die Frage eingegangen werden, ob alle drei Frauen aufgrund der vorherrschenden Normen sterben mussten.
In dieser Arbeit möchte ich entsprechend analysieren und beweisen, dass der unschuldige Charakter von Effi Briest durch das doppelmoralische Korsett der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts derart beherrscht wurde, dass trotz der Kenntnis über die resultierenden Konsequenzen einer ehelichen Verfehlung und dem Empfinden der Schuld darüber, ihr persönlicher Kampf gegen das Böse aufgrund der nicht vorhandenen Empathie und Zuneigung innerhalb ihrer Ehe zum Scheitern verurteilt war und der begangene Ehebruch als notwendiger Schritt zum Überleben über der Moral siegte. Die Figur der Effi Briest anhand aller auf sie einwirkenden Kräfte und Mächte soll daher eingehend analysiert werden, um zu entscheiden, inwiefern der Einfluss der Gesellschaft und ihres Umfeldes die Wertung ihres Handelns als „böse“ verschuldete. Somit stellt sich auch die Frage, ob Effi als Opfer der weiblichen Sozialisation des 19. Jahrhunderts, unter besonderer Beachtung ihrer gesellschaftlich fixierten Rollen als Kind, Naturwesen und Ehefrau, gesehen werden kann. Der vorliegende Text soll im gesellschaftlichen und sozialen Kontext interpretiert werden, da die sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft davon ausgeht, dass der literarische Text Effi Briest die soziale und gesellschaftliche Wirklichkeit reflektiert.
Im gesellschaftlichen Bereich des 19. Jahrhunderts etablierte sich eine neue literarische Kunstrichtung, welche sich auch auf verschiedene andere Kunstformen auswirkte. Die Autoren verweigerten immer mehr eine surreale und ästhetisch kunstvolle Darstellungsweise und Ausdrucksform und legten mehr Wert darauf, die Wirklichkeit und das zu Beobachtende literarisch realistisch wiederzugeben. Fontanes Effi Briest hat sich nicht nur generell als Gesellschaftsroman etabliert, es zeigen sich auch eindeutig historische Kontexte zur Gesellschaftsgeschichte, die Erklärungsbedarf benötigen. Somit muss zuerst der Gesellschaftsbegriff definiert werden.
Das 19. Jahrhundert betitelt eine Zeit, in der das Individuum regelmäßig mit der Übermacht der Gesellschaft konfrontiert wurde. Zu Fontanes Lebzeit war die Toleranz der Gesellschaft gegenüber Kritik zwar größer geworden, aber es war dennoch weiterhin genug Luft nach oben vorhanden, um daraus einen moralisierenden Roman für die Gesellschaft zu schaffen. Denn auch eines seiner späten Werke wie Effi Briest an der Jahrhundertwende wurde von Zeitgenossen noch gesellschaftskritisch aufgefasst.1 Die Menschen dieser Zeit waren abhängig von Themen über Gefühle, wobei die Gesellschaft als harte Instanz und die Liebe als weiches Konstrukt fungierte. Fontanes Darstellung eines arrangierten Ehelebens war sozusagen von Anfang an zum Scheitern verurteilt und musste mit einer Tragödie enden. Die bürgerliche Ordnung war somit durch Sitten- und Gesellschaftsromane gefährdet, da diese durch ein sittliches Umdenken in eine Art Revolution bewegt werden konnte. Für Fontane bewegte das komplexe Gefüge der Gesellschaft die menschliche Seele in eine für sie erträgliche Richtung, wirkte sozusagen als Regelwerk von Menschen für Menschen.2 Die grundlegende Funktion hinter einem gesellschaftskritischen Werk ist die Herbeiführung eigener Bewusstheit mit Folge einer moralisierenden Wirkung auf die Leserschaft dieser Zeit. Im Roman verdeutlicht ausgerechnet der Sekundant und Freund Innstettens Wüllersdorf die Abhängigkeit der Menschen von der Gesellschaft und ihren unausweichlichen Regeln: „Die Welt ist einmal, wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht, wie wir wollen, sondern wie die anderen wollen.“3
Der Autor Wolfgang Matz vertritt die These, dass Fontanes Roman Effi Briest zutiefst modern gelesen werden konnte, auch wenn mehr künstlerisches als gesellschaftliches bei seinen Antworten auf die komplexe Problematik herausgelesen werden kann.4 Die Gesellschaft des preußisch-deutschen Kaiserreichs, welche nicht nur „klassen- und schichtenspezifisch“, sondern auch „geschlechtsspezifisch“ differenziert, war die Gesellschaft welche Fontane beschreibt und kritisch hinterfragt.5
Die Figur des Geerts von Innstetten gilt als Vertreter des sozialen Realismus, wobei ihm die Prinzipien der Gesellschaft und dessen Normen jegliches Handeln vorschreiben und sein Hauptantrieb vor allem durch eine erfolgreiche Arbeiter- und Arbeitskultur dominiert wird. Das Nebeneinanderleben innerhalb dieses Regelwerkes führt zum großen Unglück durch den Ehebruch, welches nicht nur Effi als Ehebrecherin, sondern auch Innstetten selbst durchleiden muss.6 Effi wird als Verunglückte ihrer Gesellschaft dargestellt, obwohl sie durch ihr Eheleben sozialisiert werden soll, vollzieht sich dieser Vorgang nicht und Effi scheitert am „gesellschaftlichen Ehemechanismus“7 ihres Jahrhunderts.8 In Fontanes Gesellschaft erschließt sich die Erkenntnis, dass der soziale Status der Frau erkauft werden kann. Effi Briest wurde daher auch im 19. Jahrhundert schon als Sitten-, Gesellschafts- und natürlich in der damaligen Zeit als Gegenwartsroman gelesen. Matz merkt an, dass als eigentliche Schuldfrage bis zur letzten Seite der vorherrschende Generationsunterschied zwischen Innstetten und Effi, bedingt durch Effis Jugend mit den daraus resultierenden Problemen, zu nennen ist.9 Die im Zentrum stehenden Handlungsmomente - der Altersunterschied, die lieblose Ehe und Affäre, der „natürliche" Tod der Protagonistin- entstehen nämlich erst in Fontanes Fiktion und sind nicht bei anderen realen Zeitgenossen zu finden. Bei Fontanes Effi Briest spielt der Zeitbezug in sozialer und moralischer Hinsicht eine große Rolle, da davon ausgegangen werden kann, dass dieser überschritten und hin zu einem menschlichen Wirkungsbereich modifiziert wurde.
Moralvorstellung der Gesellschaft
Durch die gesamte Arbeit hindurch wird sich das Motiv des Bösen immer wieder wie ein roter Faden ziehen und dementsprechend behandelt werden. Da der Begriff des Bösen in dieser Arbeit eine relevante Stellung einnimmt, muss dieser zunächst einmal geklärt respektive definiert werden.
,Die Details solcher Skandalfälle', so Fontane, ,sind mir ganz gleichgültig. Liebesgeschichten in ihrer schauderösen Ähnlichkeit, haben was Langweiliges - aber der Gesellschaftszustand, das Sittenbildliche, das versteckt und gefährlich Politische, das [sic!] diese Dinge haben (...), das ist es, was mich so sehr daran interessiert.'10
Gut und Böse fallen unter die Rubrik der moralischen Begriffe. Deswegen ist es unumgänglich das Böse mit der Moralvorstellung der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in Verbindung zu setzen. Fontane schrieb selbst in seinem Brief an Friedrich Stephany, dass ihn bei einem gesellschaftlichen Skandal der Zustand der Gesellschaft und das „versteckt“ Politische dahinter interessiert. Er impliziert damit, dass die Gesellschaft ihre Verhaltensweise auf einer Grundlage errichtet, die für sie als moralisch richtig und gut erscheint. Ehebruch gilt für die Gesellschaft dieser Zeit als moralisch verwerflich und hat schwerwiegende Konsequenzen zur Folge. Genannte Konsequenzen waren jedoch keinen moralischen Regeln unterworfen, wobei folglich die doppelmoralische Haltung entstand, schlechte Taten gleichermaßen zu sanktionieren.
Das Kapitel wirft zusätzlich die Frage auf wo sich zudem das Böse in der Gesellschaft widerspiegelt und ob auch im Roman von einzelnen Personen ausgegangen werden muss. Die Gesellschaft selbst fungiert hier als mächtige Instanz, die aus dem Ehebruch einen unverzeihlichen Skandal macht. Bezieht man das Böse, welches sich hinter den damaligen Moralvorstellungen verbirgt, nun auf Figuren im Roman, trifft die These auf Baron von Innstetten, Major Crampas und Effis Mutter Luise Briest zu.
Meine These verfolgt die Ansicht, dass sich das Böse unter einem Deckmantel der „bürgerlichen Moral" verbirgt. Schlechte Taten werden sozusagen gerechtfertigt und legitimiert, jedoch nur für die männliche Gesellschaft, wobei auch die Art des Vergehens eine Rolle spielt. Ein von Frauen begangener Ehebruch stellt in diesem Zusammenhang eine Tat dar, welche geächtet und in höchstem Maße bestraft wird, sei es durch Isolation oder Ausscheidung aus der Gesellschaft. Begeht der Ehemann Ehebruch, wird dies oftmals nicht nur negiert, sondern auch verständnisvoll toleriert. Die gesellschaftlichen Konsequenzen für den Ehebrecher belaufen sich auf keine Sanktionen. Im Fall von Crampas, der auch verheiratet ist und eine Affäre mit Effi beginnt, hat der Ehebruch an sich zwar keine Konsequenzen auf seine Ehe, jedoch im „moralischen" Rahmen, wo er in der Regel höchstens als gewissenlos apostrophiert wird. Innstetten, in seiner Ehre gekränkt, fordert Crampas zu einem Duell auf und kann ihn dabei töten, wobei die Tötung eines Kontrahenten in einem Duell zu dieser Zeit noch gesellschaftlich legitimiert war. Innstetten rechtfertigt sein Verhalten zuvor in einem Dialog mit seinem Vertrauten Wüllersdorf: „Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm."11
Unter dem „Ganzen" versteht Innstetten die vorgegebene Ehrvorstellung der Gesellschaft. Diesen „Kodex" vermag auch Innstetten selbst nicht brechen zu können, obwohl er durchaus zum Verzeihen bereit wäre, die Normen der Gesellschaft gebieten aber eine Bestrafung, beispielsweise ein Duell, um seine gekränkte Ehre wiederherzustellen. Innstetten fügt sich somit den Normen der Gesellschaft, was ihn zu einem ehrenhaften Mann seines Standes macht.12 Innstetten rechtfertigt sein Verhalten nicht, indem er behauptet von Hass und Eifersucht getrieben zu sein, sondern durch die Moralvorstellung. Das „tyrannisierende Gesellschafts-Etwas"13 lässt dem Menschen keine freie Wahl. Sie gebietet keine Verjährung solcher Normenverstoße - insbesondere nicht das Fremdgehen der Ehefrau - und selbst der Umstand, dass Innstetten seine Effi noch liebt, befreit ihn nicht von der Pflicht der Gesellschaft Folge zu leisten.
Laut Schafarschik ist Innstetten zu sehr ein „Schablonenmensch der Gesellschaft“14. Denn Innstetten ist sich bereits im Vorhinein darüber im Klaren, dass seine Freude im Leben von nun an erloschen sei, und auch ein Duell mit Major Crampas nichts an diesem Zustand ändern kann.
Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) stellt die Behauptung auf:
„Der Mensch ist von Natur aus gut, die Gesellschaft lässt ihn böse werden.“15
Jean-Jacques Rousseau hat sich sein ganzes Leben hindurch mit der Konfrontation zwischen Individuum und Gesellschaft auseinandergesetzt. Die Begriffe Begierde und Tugend sowie Freiheit und Autorität treten in diesem Zusammenhang immer wieder mit großer Relevanz bei ihm auf. Für Rousseau stellt die Gesellschaft die Voraussetzung für die Festigung des Gewissens dar. Erst wenn sich das Gewissen mit der tatsächlichen Vernunft verbindet, kann das Individuum über die ganze Bandbreite, Gutes und Böses zu tun, verfügen. Obwohl Rousseau die Ansicht vertritt, der Mensch sei in der Lage sich von seinen Neigungen zu distanzieren, könne er jedoch nicht im vorstaatlichen Zustand das Gute erkennen oder demnach agieren. Die Tugend ist jener Faktor, durch welchen die Bezwingung des Bösen angestrebt wird. Sie kann jedoch nur bestehen, wenn die Existenz dieses Bösen vorhanden sei. Daraus folgt, dass beide Faktoren gegeben sein müssen, um ein moralisches Handeln im Kampf gegen das Böse heraufzubeschwören.16
Wenn man die Aussage Rousseaus auf Fontanes Effi Briest bezieht, trifft die Vermutung, dass „der Mensch von Natur aus gut“ ist auf die Protagonistin Effi und die Gesellschaft, welche im Roman durch die Familie und den Ehemann Innstetten verkörpert wird, zu. Rousseau geht davon aus, dass die Gesellschaft der Ursprung des Bösen ist, was bei Fontanes Effi Briest der Fall ist und den Grundcharakter des Romans festlegt. Denn ohne die Entziehung der Menschlichkeit gegenüber Effi in ihrer gesamtgesellschaftlichen Umgebung, wäre es nie zu ihrem sozialen Fall und dem anschließenden Tod gekommen. Effi zerbricht an den Konventionen dieser Gesellschaft, sozusagen am Handeln und Nicht-Handeln der Personen in ihrem Leben, welche den Konventionen Folge leisten.
„Die Figuren haben keine Autonomie zum Handeln."17
Mende veranschaulicht in diesem Kontext jene Rolle, welche die Familie Briest in Effis Schicksal einnimmt. Sie sind dermaßen in ihrer „auf Herrschaftssicherung ausgerichteten"18 Rolle in der Gesellschaft sozialisiert, dass sie das Scheitern der Ehe zwischen Effi und Innstetten einfach hinnehmen. Die Normen der Gesellschaft sind in der Familie Briest sowie bei Innstetten derart verinnerlicht, dass sogar die Vernichtung ihrer Tochter bzw. der Ehefrau nicht genug Anlass ist, diesen Normen zu entsagen.19
Fontanes Realismus spiegelt sich in der Illustration der „Unmenschlichkeit der Gesellschaft"20 wider, welche den Staatsbürger über den Privatbürger herrschen lässt. Fontane macht den Zustand der Herrschaft und Macht des großen Ganzen sichtbar, in dem sich die Einzelperson seiner Unterdrückung nicht einmal bewusst ist. Degering kommt mehrmals auf dieses „Gesellschaftsetwas"21 zu sprechen und verdeutlicht so seine Unausweichlichkeit. Geht man davon aus, dass Effi von Natur aus ein guter Mensch ist, bewahrheitet bzw. erfüllt sich hier Rousseaus These, dass erst die vorgegebene Gesellschaftsordnung und der Zwang sich danach zu richten, zu Effis Untergang nach Aufdeckung des Ehebruchs führt. In diesem konkreten Fall wird Effi für ihr „böses" Handeln mit Scheidung von ihrem Ehemann und sozialen Ausschluss aus der Gesellschaft bestraft. Obwohl wir aus heutiger Sicht sagen können, dass der soziale Ausschluss als eine zu harte Strafe für Ehebruch gilt, handeln die Figuren wie die Familie Briest und Innstetten ihres Erachtens nach gut und richtig.
Auf Rousseaus Ansicht bezugnehmend, dass sich ein Mensch durch Tugend von seinen Neigungen distanzieren und das Böse somit bezwingen könne, sofern die Existenz des Bösen vorhanden sei, wird deutlich, dass die Anwesenheit des Bösen nicht unmittelbar in Effi Briest vorhanden war. In Fontanes Effi Briest agiert also keine von Natur aus vorhandene böse Handlungsmacht, weder durch die Affäre von Effi und Crampas noch durch die Ausschließung Effis aus der sozialen und familiären Gesellschaft durch die Familie Briest oder Innstetten. Da sich das Böse in der Gesellschaftskonvention widerspiegle, hätte seine Bezwingung vom einzelnen Individuum ausgehen können. Der Umstand, dass die Familie Briest und Innstetten, aber den Konventionen und Regeln der Gesellschaft Folge geleistet haben, stellt sie frei von der Behauptung „böse“ gehandelt zu haben. Denn ihres Erachtens konnten sie das Böse hinter ihren Taten nicht sehen, nahmen also keine Existenz des Bösen wahr. Die Affäre, natürlich ein schlechter Tatbestand in der Gesellschaftsordnung, die Effi einging, zeigt aber nicht davon, dass Effi sich nicht von ihren Neigungen distanzieren konnte. Vielmehr hat sie in ihrer Jugendlichkeit noch keine Vorstellungen solcher Dinge entwickeln können und Major Crampas Verführung somit mehr oder weniger zwar nicht unfrei, aber auch nicht bereitwillig, zugelassen.
Der Mensch ist laut Rousseau im Naturzustand gut, allerdings liegt in diesem Zustand noch gar kein richtiger Mensch vor, sondern dieser differenziert sich vom Animalischen nur durch vorhandene Fähigkeiten wie beispielsweise die Vernunft. Die Gesellschaft entsteht erst durch den Zusammenschluss vieler Menschen. Der vergesellschaftete Mensch bildet daher den Ursprung alles Bösen mit Taten wie z. B. der Scheinheiligkeit, der Missgunst und der Ungerechtigkeit. Daraus ergibt sich, dass Erziehung unmöglich gemacht wird, da auch sie ein Werk der Gesellschaft sei und damit nichts Anderes erreichen könne, als die Natur des Menschen zu vernichten. Rousseau stützt sich allerdings auf die Hypothese, dass der Mensch von Natur aus ein Bedürfnis nach Lernen und damit nach Erziehung hat.22 Effi konnte hingegen nicht erzogen werden, da ihr das Bedürfnis nach Lernen fehlte und sie zu sehr in ihrer wilden und kindlichen Natur gefangen war. Die Sozialisation Effis wird in ihrer Kindheit zwar nur rudimentär dargestellt, doch auch Mende schließt daraus: „Gelernt hat sie nichts.“23
In Rousseaus Schrift „ Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts“ (1762) ergibt sich eine weitere relevante These: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“24.
[...]
1 Vgl. Matz, 2014, S.172
2 Vgl. ebd. S. 177
3 Fontane, 1984, S. 235
4 Vgl. Matz, 2014, S. 175
5 Mende, 1980, S. 184
6 Vgl. Begemann, 2018, S. 205
7 Ebd. S. 204
8 Vgl. ebd. S. 204
9 Vgl. Matz, 2014, S. 169
10 Theodor Fontane an Friedrich Stephany, zit. n. Kaiser, Gerhard, in: Peer, 2019, S. 88
11 Fontane, 1984, S. 233
12 Vgl. Kesting, 1998, S. 66f.
13 Fontane, 1984, S. 234
14 Schafarschik, 1999, S. 120
15 Vgl. Rousseau, 1986, S. 5
16 Vgl. Brandt & Herb, 2012, S. 42
17 Mende, 1980, S. 201
18 Ebd. S. 201
19 Vgl. Mende, 1980, S. 201
20 Degering, 1978, S. 72
21 Ebd. S. 74
22 Vgl. Rousseau, 1998, S. 46f.
23 Mende, 1980, S. 205
24 J. J. Rousseau, zit. n. Brandt & Herb, 2012, S. 1