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Bachelorarbeit, 2022
38 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Definition Diskriminierung
2.1. Institutionelle Diskriminierung
2.2 Exkurs über die Problematik des Begriffs ,Menschen mit Migrationshintergrund'
3. Die Begründung für einen Vergleich zwischen den Institutionen Polizei und Sc h u l e
4. Aufbau und Organisation der Institution Polizei
4.1. Zusammensetzung und institutionelle Lebenswelt der Polizei
5. Aufbau und Organisation der Institution Schule
5.1. Zusammensetzung der Schule
6. Einführung Vergleichsmaßstäbe
6.1 Vergleichsmaßstab Schlussregeln und Begründungsmuster
6.2 Vergleichsmaßstab Ermessensspielraum
7. (Staatliche) Logik hinter institutioneller Diskriminierung
8. Fazit
Literaturverzeichnis
„Deutschland ist und bleibt das Land in Europa mit der stärksten Zuwanderung“ (Marschke & Brinkmann 2015, S. 11). Etwa die Hälfte der in Deutschland geborenen Kinder hat zu Beginn unseres Jahrzehnts einen teilweisen oder vollständigen ,Migrations- hintergrund‘1 (vgl. Beauftragte 2005, S. 160 u. S. 561 zit. n. Marschke & Brinkmann 2015, S. 11). Ein diskriminierungsfreier Umgang sowie herkunftsunabhängige Chancengleichheit, sollten gerade unter diesen demografischen Verhältnissen großgeschrieben und umgesetzt werden. Für den schulischen Bereich belegen Studien (z.B. IGLU u. PISA) jedoch, dass in Deutschland ein besonders stark ausgeprägter Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg besteht (vgl. Hußmann et al. 2017, S. 197). Die Institution Polizei gerät immer wieder durch rechtsextreme Chatgruppen2 (vgl. u.a. Derin & Singelnstein 2022, S. 197), Racial Profiling (vgl. ebd. S. 178-184) und vieles mehr in den Fokus rassismuskritischer Debatten und muss sich somit Diskriminierungsvorwürfen stellen. Spätestens seit dem Tod von George Floyd in Minnesota und der damit auch in Deutschland einhergehenden Solidarität mit der Black Lives Matter-Bewegung, sind diskriminierungsrelevante Themen in aller Munde: „Es wird so viel über Rassismus in allen Bereichen und Kontexten gesprochen wie nie - von Betroffenen, Aktivistinnen und Initiativen“ (El-Mafaalani 2021, S. 7). So ist positiv zu erwähnen, dass die Thematik auch in den (Massen-)Medien Anklang findet, wobei das Niveau und die Sachlichkeit stark differieren können: Vor allem muss an dieser Stelle das Fehlen von Betroffenenperspektiven bzw. das fehlende Einbinden Betroffener als Expert:innen kritisiert werden3. Durch die Medien sowie Sprecher:innen der Institutionen entsteht oft der Eindruck, dass diskriminierende Ereignisse lediglich Einzelfälle seien und die Mitglieder der Institutionen eben auch nur einen ,Spiegel der Gesellschaft' darstellen (vgl. Derin & Singelnstein 2022, S. 107 -110). Dieser Ansatz verfehlt jedoch den Interventionspunkt von institutioneller Diskriminierung, bei dem nicht das Individuum und sein Vorurteil im Fokus stehen sollte, sondern die Organisation, die diskriminiert (vgl. Gomolla & Radtke 2009, S. 46). „Wenn Diskriminierung regelhaft in bestimmten Organisationen, Sektoren oder Branchen auftritt, wird das als institutionelle Diskriminierung bezeichnet“ (El-Mafaalani 2021, S.71). Diese Diskriminierungsform ist jedoch oft weniger offensichtlich, sie kann sogar im Handeln wohlmeinender Akteur:innen auftreten und ist somit schwieriger zu analysieren und aufzudecken (vgl. Gomolla in Scherr, El-Mafaalani & Yüksel 2017, S. 134).
Um die Mechanismen und Wirkungsweisen hinter institutioneller Diskriminierung zu verstehen, wird diese zunächst in Abgrenzung zu anderen Formen von Diskriminierung definiert. Am Begriff ,Menschen mit Migrationshintergrund' soll die Macht der Sprache im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Denk- und Handlungsmuster skizziert werden, um anschließend die Institutionen Polizei und Schule vorzustellen: Hier werden neben dem organisatorischen Aufbau auch rechtliche Rahmenbedingungen, Ermessensspielräume, die institutionelle Zusammensetzung und Lebenswelt sowie die damit verbundenen Normalitätserwartungen beleuchtet. Darauf aufbauend wird aufseiten der Schule die Studie „Institutionelle Diskriminierung“ (Gomolla & Radtke) mit dem Forschungsprojekt „KORSIT“ (Hunold, Brauer & Dangelmaier) aufseiten der Polizei anhand ausgewählter Vergleichsmaßstäbe analysiert. Hier soll gezeigt werden, wie die Auslegungen der bewusst weit gefassten Ermessensspielräume, welche durch das institutionelle Wissen und die Normalitätserwartungen der Beamt:innen geprägt sind, zur (Re-) Produktion von Ungleichheit beitragen (vgl. Fassin in Loick 2018, S. 135-165).
Vermutlich haben die meisten Menschen, wenn sie den Begriff Diskriminierung hören, gewisse Bilder im Kopf: Kahlrasierte Nazis im Osten Deutschlands, Fußballfans die Affenlaute von sich geben, während ein Spieler of Color am Ball ist, oder aber die durch Stern TV prominent gewordene Aussage ,Raus mit die Viecher' der mittlerweile verstorbenen Karin Ritter (vgl. u.a. Welt am Sonntag 2021). Dies liegt mit daran, dass in den Medien „hauptsächlich über die direktesten und offensichtlichsten Erscheinungsformen von Diskriminierung berichtet [wird]; die Aufmerksamkeit gilt i.d.R. einzelnen Täter:innen oder kleineren, klar identifizierbaren Gruppen (z.B. rechtsextremistische Gruppierungen)“ (Gomolla in Mecheril 2016, S. 74). „Besonders schwache Persönlichkeiten mit geringem Bildungsabschluss sind dafür empfänglich, den Frust über die eigene (negativ perzi- pierte) Situation oder sogar über das eigene Versagen in Form von Aggressionen auf Ersatzobjekte abzulenken“ (Brinkmann in Marschke & Brinkmann 2015, S. 21 n. Bergmann 2009a, S. 8 f.).
So bieten sich ,Personen mit Migrationshintergrund' als Kombination aus einerseits Konkurrenten (um Arbeitsplätze, Wohnraum, Sozialleistungen) und andererseits als Minderheiten im ,eigenen' Land als optimaler Sündenbock an, auf den Probleme abgewälzt werden können (vgl. ebd.). Nach diesem Sündenbock-Prinzip sind Sätze wie ,die nehmen uns unsere Arbeit weg' oder Forderungen nach ,Kindergartenplätzen zuerst für Deutsche' in Teilen der Gesellschaft weit verbreitet und werden durch AFD, Bildzeitung etc. befeuert: „Die Diskriminierung bestimmter Teilgruppen in den bzw. durch die Medien ist mehrfach belegt, insbesondere im Hinblick auf die selektive - nämlich negative - Darstellung sowie die sprachliche und bildliche Darstellung“ (El-Mafaalani in Scherr et al. 2017, S. 472). Erfahrungen mit Diskriminierung machen jedoch nicht nur ,Personen mit Migrationshintergrund'. Es gibt eine Reihe von Eigenschaften und Lebenssituationen, die Diskriminierung verursachen können (vgl. Gomolla in Mecheril 2016, S. 73): „Beispielsweise werden im deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse (sic!) oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität« geahndet“ (AGG, § 1, Bundesministerium der Justiz 2006, zit. n. Gomolla in Mecheril 2016, 73).
Schlägt man im Duden das Verb „diskriminieren“ nach, findet man folgende 3 Einträge:
1. durch [unzutreffende] Äußerungen, Behauptungen in der Öffentlichkeit jemandes Ansehen, Ruf schaden; jemanden, etwas herabwürdigen
2. (durch unterschiedliche Behandlung) benachteiligen, zurücksetzen; (durch Nähren von Vorurteilen) verächtlich machen
3. Unterscheiden (www.Duden.de n.d.)
Auch hier wird mit Vorurteilen, Behauptungen oder unzutreffenden Äußerungen argumentiert. In Punkt zwei und drei werden jedoch weitere wichtige Aspekte in Bezug auf Diskriminierung herausgestellt: Unterscheiden und Benachteiligen. „Mit dem Begriff »Diskriminierung« verbindet sich das Zusammenfallen von Unterscheidung und Bewertung bzw. Abwertung derjenigen, die von einer imaginierten Mehrheit unterschieden werden“ (Hormel & Scherr 2010 zit. n. Hummrich in Scherr et al. 2017, S. 337). Mechtild Gomolla definiert Diskriminierung wie folgt:
Diskriminieren meint mehr als das Unterscheiden von Objekten. Als soziale Diskriminierung werden Praktiken der Herabsetzung, Benachteiligung und Ausgrenzung bezeichnet, die gegen Angehörige bestimmter Gruppen bzw. Gruppen gerichtet sind. Dadurch werden Vorteile und Privilegien dominanter Gruppen und ihrer Mitglieder beim Zugang zu gesellschaftlichen Positionen und Möglichkeiten in der Gestaltung von Lebensbedingungen geschaffen, erhalten oder verstärkt (Gomolla in Mecheril 2016, S. 73).
Der Interessentheorie nach H. Blumer, R. Williams, D. Wellmann u.v.m. zufolge, liegt die Motivation in der Diskriminierung nicht in Vorurteilen, sondern in dem rational nachvollziehbaren Wunsch, eigene Privilegien und Macht zu schützen (vgl. Gomolla & Radtke 2009, S. 41). So geht die Geschichte des Rassismus auf die kolonialen Eroberungen zurück, denn eine defizitäre Positionierung nicht europäischer und ,nicht weißer Anderer' gehört zu ihrer historischen Grundstruktur (vgl. Messerschmidt in Gomolla, Kollender & Menk 2018, S. 90 f.). „Rasse sei eine soziale Konstruktion und Vorurteile seien nicht die Ursache für rassistisches Verhalten, sie stellten vielmehr eine nachträgliche Rationalisierung rassistischer Taten und Verhaltensweisen dar, sie seien eine Maskierung und dienten dem Schutz der Interessen der dominanten Gruppe“ (H. Blumer zit. n. Gomolla & Radtke 2009, S. 41). Noch nachdrücklicher formuliert dies Sow in ihrem Buch Deutschland Schwarz Weiss über alltäglichen Rassismus: „ »Die Rasse«- Idee ist aufs Engste mit dem weißen Bedürfnis verbunden, sich einen »anderen« zu schaffen - eine Projektionsfläche für alles Böse, Unheimliche, Verbotene oder Begehrte“ (Sow 2008, S. 73).
Bereits im Jahr 1954 argumentierte G. Allport, dass Rassismus eine Art Mischung aus psychologischen Spannungen und Ängsten sei sowie aus Fehlurteilen über Andere resultiere (vgl. Gomolla & Radtke 2009, S. 38). In der heutigen Zeit ruft beispielsweise „das Gerücht der Islamisierung des Abendlandes“ (Foroutan in Castro Varela & Mecheril 2016, S. 98) die genannten Ängste und Spannungen hervor. Daher treten diskriminierende Denk- und Verhaltensweisen nicht nur dort auf, wo man sie vermutet, sondern sind in der Mitte der Gesellschaft und somit auch in staatlichen Institutionen weit verbreitet. Alltagsrassismus existiert nahezu überall, z.B. wenn Geflüchtete als ,kulturell fremd' und ,bedrohlich' angesehen werden (vgl. Messerschmidt in Gomolla et al. 2018, S. 80) oder im gängigen Sprachgebrauch, sowohl im privaten, öffentlichen als auch medialen Raum, wenn eine Assoziation mit den Begriffen ,defizitär, unemanzipiert und rückständig' stattfindet. Durch die anfangs genannte Verortung diskriminierender und rassistischer Verhaltensweisen (lediglich) im rechten Spektrum, könnte man sogar konstatieren, dass Rechtsextreme eine Funktion für die Mitte der Gesellschaft einnehmen: „Wenn nationalistische und rassistische Denkweisen und Strukturen unter dem Gesichtspunkt „rechtsextrem“ betrachtet werden, kommt es kaum zu einer Auseinandersetzung mit Alltagsrassismus und normalisierten institutionellen Diskriminierungen“ (ebd. S. 81). Um die vielfältigen Formen von Diskriminierung aufzeigen zu können, haben Feagin und Booher Feagin (1986) vier verschiedene Typen diskriminierenden Verhaltens nach unterschiedlichen Graden der Intentionalität und Einbettung in Organisationen definiert (vgl. Gomolla & Radtke 2009, S. 48):
Typ A: Diskriminierung als intentionale Einzelhandlung
Übergriffe Einzelner, die entweder im privaten Raum oder in öffentlicher face-to-face Kommunikation mit rassistischer oder sexistischer Intention stattfinden. Sie beruhen auf Vorurteilen oder negativer Absicht (vgl. Feagin & Booher-Feagin zit. n. Gomolla & Radtke 2009, S. 49).
Typ B: Diskriminierung durch kleine Gruppen
„Absichtsvolle Diskriminierung durch kleine informelle oder formalisierte Gruppen , die jedoch nicht in großflächige soziale Organisationen eingebunden sind. (z.B. von mehreren Personen ausgeübte fremdenfeindlich motivierte Brandanschläge auf Asylunterkünfte oder Überfälle auf Ausländerinnen oder Obdachlose“ (ebd.).
Typ C: Direkte institutionalisierte Diskriminierung
„Handlungen, die im organisatorischen oder lokalen Handlungskontext möglich oder vorgeschrieben sind und negative Wirkung für Mitglieder bestimmter Gruppen haben“ (Feagin & Booher Feagin 1986 S. 30-31, zit. n. Gomolla & Radtke 2009, S. 49). Solche Übergriffe erfolgen kontinuierlich und nicht nur in bestimmten Phasen oder vereinzelt. Unter Anwendung des ,Inländerprivilegs‘ geschieht dies beispielsweise bei der Arbeitsvermittlung in Deutschland regelmäßig. Diese Form von Diskriminierung kann sowohl durch informelle Methoden in der Organisation, welche durch abgesicherte Gewohnheiten wie ungeschriebene Gesetze' gelten als auch durch höchst formelle behördlichgesetzliche -Regularien unterlegt werden (vgl. Gomolla & Radtke, S.49).
Typ D: Indirekte institutionalisierte Diskriminierung
Die Gewohnheiten besitzen ebenfalls differenzierende und schädliche Auswirkungen, etwa für ethnische Minderheiten und Frauen, dabei werden die organisatorisch verfügten Normen und Vorgehensweisen ohne direkte Vorurteile oder negative Absichten installiert und durchgeführt (vgl. ebd. S. 50). Schaut man nicht genauer hin, könn(t)en diese Praktiken auf den ersten Blick durchaus angemessen, neutral und gerecht intendiert sein (vgl. Feagin & Booher Feagin 1986, S. 31-33 n. Gomolla & Radtke 2009, S. 50.).
Während also wie bereits erörtert, die meisten Menschen eher Typ A und B nach Feagin und Booher Feagin vor Augen haben, wenn es um Diskriminierung geht, wird sich diese Arbeit hauptsächlich mit den Formen der institutionellen Diskriminierung, also Typ C und D beschäftigen. „Der Interventionspunkt ist nicht länger das Individuum und sein Vorurteil, sondern die Organisation, die diskriminiert“ (Gomolla & Radtke 2009, S. 46). Einen entscheidenden Beitrag, um institutionelle Diskriminierung zu analysieren lieferte Alvarez (1979) mit seinem Ansatz der „Distributionale[n] Ungerechtigkeit“. Demnach brauche man: „(1) De[n] statistische[n] Nachweis von Effekten der Ungleichbehandlung spezifischer Gruppen in sozialen Institutionen; (2) gelte es die Mechanismen (Strukturen, Regeln und Praktiken) sichtbar zu machen, die diese Effekte hervorbringen“ (ebd. S. 47). Dabei geht es ihm nicht um eine Kritik institutioneller Verteilungsaktivität und sozialer Ungleichheit an sich, vielmehr sei sichtbar zu machen, wie die Verteilungsprozesse in denen manche weniger bekommen als andere, in institutionellen Arrangements so mit Sinn ausgestattet werden, dass sie sowohl von Entscheidern als auch von Betroffenen als angemessen und fair empfunden werden (vgl. ebd.).
Das zentrale theoretische Moment liegt in der Annahme, dass Mechanismen institutioneller Diskriminierung unabhängig von individuellen Vorurteilen oder negativen Absichten operieren und aufrechterhalten werden können; sie lassen sich auch nicht primär als Summe diskriminierender Einstellungen und Handlungen vorurteilsbehafteter Individuen erklären (Gomolla in Scherr et al. 2017, S. 134).
Über diese Erkenntnis hinaus konstatiert Gomolla, dass institutionelle Diskriminierung „sogar im Handeln wohlmeinender Akteure zustande kommen“ (ebd.) kann.4 Dies macht deutlich, dass die Entstehungs- und Wirkungsformen institutioneller Diskriminierung deutlich komplexer sind, als die der direkten Diskriminierung, „weil die aus ihr resultierenden Benachteiligungen zum Teil von den diskriminierenden Personen nicht mutwillig ausgehen bzw. nicht intendiert sind“ (Gomolla & Radtke 2007, S. 25 zit. n. Fereidooni 2011, S. 23). Bekannte Abwehrhaltungen von Institutionen wie z.B. ,Rassismus bei der Polizei gibt es nicht' oder das Label ,Schule ohne Rassismus' verfehlen also zumeist den Kritikpunkt (vgl. El-Mafaalani 2021, S. 106). Messerschmidt betrachtet die starke Zurückweisung und Tabuisierung von Diskriminierung „als Folge des »Wunsches unschuldig zu sein«, den Christian Schneider in der zweiten Generation nach 1945 diagnostiziert [hat]“ (Schneider, 2010, S. 122 zit. n. Messerschmidt in Gomolla et al. 2018, S. 88). Durch diese in Institutionen gängige Abwehrhaltung5, wird die Chance auf eine rassismuskritische Umorientierung nicht wahrgenommen; stattdessen werden weiterhin unreflektierte Selbstbilder gepflegt (vgl. Messerschmidt in Gomolla 2018, S. 88). Auch deshalb sind Mechanismen institutioneller Diskriminierung noch wenig untersucht. Die empirische Forschung steckt (zumindest in Deutschland) noch in den Anfängen (vgl. Gomolla in Scherr et al. 2017, S. 135).
Das Gastarbeiterische konnte man abstreifen, indem man die Leiter der Leistungsgesellschaft hochkletterte. Kletter, kletter, wie es sich für Deutsche gehört, und plötzlich: Achtung, eine Durchsage für Zwischengeschoss Nummer drei, aufgrund aktueller Vorkommnisse haben wir den Parcours geändert, willkommen auf der Ebene Migrationshintergrund (Sezgin 2006, zit. n. Utlu in Arndt & Ofuatey-Alazard 2011, S. 446).
Die Publizistin Sezgin kritisiert mit dieser Aussage bereits 2006 den Begriff und das dahinterstehende Konzept ,Migrationshintergrund' bzw. ,Personen mit Migrationshintergrund'. Sie macht damit deutlich, dass es für Angehörige bestimmter Gruppen nicht möglich ist, das Etikett ,Migrationshintergrund' abzulegen. Bevor thematisiert wird, inwiefern der Begriff stigmatisierende Auswirkungen für betroffene Gruppen mit sich bringt, muss betont werden, dass dieser in verschiedenen - durchaus relevanten - Bereichen, etwa in der Schulstatistik oder in wissenschaftlichen Studien, unterschiedlich definiert ist (vgl. El-Mafaalani in Scherr et al. 2017, S. 470). Durch die unterschiedlichen Definitionen welche sich etwa bei den PISA-Studien sowie den Untersuchungen des Bundesinstituts für Berufsbildung feststellen lassen, ist eine Vergleichbarkeit kaum gewährleistet (vgl. ebd.). Das Statistische Bundesamt (2015) definiert ,Personen mit Migrationshintergrund' wie folgt:
Zu den Menschen mit Migrationshintergrund zählen alle Ausländer und eingebürgerte ehemalige Ausländer, alle nach 1949 als Deutsche auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderte, sowie alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil (Statistisches Bundesamt 2015, zit. n. El-Mafaalani in Scherr et al. 2017, S. 468).
Es handelt sich also um ein Label, was zunächst dazu dienen soll, Diskriminierungserfahrungen statistisch erfassen zu können und sichtbar zu machen. Jedoch wirkt dieses Label für viele Personen stigmatisierend: Menschen setzen sich damit auseinander, wie sie genannt bzw. angesprochen werden: Diese Anrufungen wirken umso intensiver, wenn sie mit amtlicher Autorität versehen sind, wie z.B. bei Arbeitslosen, Rentner:innen oder Student:innen (vgl. Bednaschewsky und Supik in Gomolla et al. 2018, S. 179). „Ein Label der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit (vgl. Mecheril, 2003) wie „deutsch“ sein, oder einen „Migrationshintergrund“ zu haben, ist da noch persönlicher, stärker, scheint wesentlicher und dauerhafter mit unserer Identität verknüpft“ (Bednaschewsky & Supik in Gomolla et al. 2018, S. 179). So prägt das Konzept ,Personen mit Migrationshintergrund' sowohl das Selbstbild der Betroffenen als auch das Alltagsverständnis der deutschen Gesellschaft. Laut Bednaschewsky und Supik wird somit einer großen Personengruppe ihr Deutschsein wieder aberkannt (vgl. ebd. S. 180). Dabei identifizieren sich viele Kinder, deren Eltern (oder Großeltern) nach Deutschland migriert sind, als Deutsche: Sie haben das deutsche Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Ausbildung durchlaufen, sind mit den Märchen der Gebrüder Grimm groß geworden und sprechen nicht nur akzentfrei Deutsch, sondern denken und träumen auch in dieser Sprache (vgl. ebd. S. 181). „Dennoch suggeriert ihnen das Label ,Deutsche mit Migrationshintergrund', dass es ,echte' und ,weniger echte' Deutsche gibt. Es führt zu Ungleichbehandlung, konstruiert und verfestigt ein Anderssein und verkennt die Vielfalt unter den Deutschen“ (ebd. S. 191).
Neben der Stigmatisierung durch den Begriff für Betroffene, gibt es einen weiteren großen Kritikpunkt: Als ,Menschen mit Migrationshintergrund' werden hauptsächlich fremd aussehende' Menschen wahrgenommen, so würden beispielsweise Dänen und Franzosen vermutlich eher weniger adressiert, obwohl sie ebenfalls in der Begrifflichkeit eingeschlossen sind (vgl. El-Mafaalani in Scherr et al. 2017, S. 475). Damit wird der Topos unterschiedlicher Grade von ,kultureller Fremdheit' aufgegriffen, unter dem sich auch erklären lässt, dass manchen Gruppen Bildungsbewusstsein und Schulerfolg bescheinigt wird (vgl. Gomolla & Radtke 2009, S. 255), während andere unter dem Stigma fehlender Anpassungsfähigkeit leiden und benachteiligt werden. So wurde beispielsweise ein „un- terschiedliche[r] Bildungserfolg von Schulkindern vietnamesischer Herkunft (sehr erfolgreich) und solchen libanesischer Herkunft (sehr wenig erfolgreich)“ (El-Mafaalani 2016, zit. n. El-Mafaalani in Scherr et al. 2017, S. 472) festgestellt. Wie die Beispiele zeigen, wird mit dem Begriff ,Menschen mit Migrationshintergrund' eine „höchst heterogene Gruppe konstruiert, die außer einer (direkten oder indirekten) Migrationsgeschichte keine weiteren Gemeinsamkeiten hat“ (ebd. S. 474). Besonders brisant im Hinblick auf die statistische Erfassung ist zudem, dass sowohl Teilhabechancen als auch das Risiko diskriminiert zu werden unter den ,Personen mit Migrationshintergrund' sehr unterschiedlich sind. (vgl. ebd.). „Dass bestimmte Menschen mit Migrationshintergrund eine von Diskriminierung besonders bedrohte Gruppe bilden, ist unbestritten“ (ebd. S. 475).
Es werden einerseits zum Teil andere Personen erfasst, als gemeint sind. Andererseits bleiben gesellschaftliche Teilgruppen, nämlich insbesondere Deutsche of Color, die von rassistischer Diskriminierung betroffen sind, durch die Definition des Migrationshintergrunds unsichtbar.
[...]
1 Zur Problematik des Begriffs ,Menschen mit Migrationshintergrund' siehe Kapitel 2.2. „Aufgrund der Ermangelung einer allseits anerkannten Alternative und in Übereinstimmung mit der amtlichen Statistik“ (Brinkmann in Marschke & Brinkmann 2015, S. 15) wird der Begriff in dieser Arbeit teilweise trotzdem genutzt, zumindest wenn Bücher oder Statistiken zitiert werden, in denen dieser verwendet wird.
2 Als jüngstes Ereignis können hier die laufenden Ermittlungen gegen acht Beamte des Spezialeinsatzkommandos der Polizei Münster genannt werden, welche in den Medien am 15.07.2022 bekannt wurden (vgl. u.a. Zeit 2022).
3 Als Paradebeispiel dafür lässt sich die vom WDR ausgestrahlte Sendung Die Letzte Instanz - zur Notwendigkeit der Abschaffung der,Zigeunersauce' anführen, die nicht nur in den sozialen Netzwerken viel Shitstorm kassierte (vgl. u.a. Welt am Sonntag 2021)
4 Beispielsweise, wenn Deutsche (!) Schüler:innen of Color immer wieder von Lehrkräften nach ihrer Herkunft gefragt werden. Die Frage kann von den (vermutlich) Deutsch ,einheimischen' Lehrkräften durchaus mit Interesse am Gegenüber verbunden sein, jedoch wird für die Befragten ihre vermeintliche Andersartigkeit angesprochen und somit auch ihr Deutschsein in Frage gestellt.
5 So sieht Horst Seehofer - um ein prominentes Beispiel zu nennen - eine von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) empfohlene Studie über Racial Profiling in Deutschland nicht für sinnvoll an. Der damalige Innenminister verweigerte die Studie mit der Argumentation, Racial Profiling sei verboten, also gäbe es dies auch nicht (vgl. Deutsche Welle 2020).