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Bachelorarbeit, 2022
59 Seiten, Note: 1.0
1 Einleitung
2 Begriffsbestimmungen
2.1 Bildungsungleichheit
2.2 Soziale Herkunft
2.3 Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit?
3 Das deutsche Bildungssystem
3.1 Geschichtliche Entwicklung des deutschen Bildungssystems
3.2 Struktur und Aufbau des deutschen Bildungssystems
3.2.1 Elementarbereich
3.2.2 Primarbereich
3.2.3 Sekundarbereich I
3.2.4 Sekundarbereich II
3.2.5 Tertiärbereich
3.3 Funktionen von Schule
4 Theorien zur Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungswe- sen
4.1 Der Rational-Choice-Ansatz Raymond Boudons
4.1.1 Primäre Herkunftseffekte
4.1.2 Sekundäre Herkunftseffekte
4.2 Bourdieus Theorie der sozialen Praxis
4.2.1 Der Habitus
4.2.2 Der soziale Raum
4.2.3 Die Kapitalarten
5 Zum aktuellen Stand der Forschung
5.1 Operationalisierung der Begriffe ‚Bildungserfolg‘ und ‚soziale Herkunft‘
5.2 Forschungsergebnisse
6 Empfehlungen zum Abbau herkunftsbedingter Bildungsungleich- heit am Beispiel Estlands
6.1 Struktur und Aufbau des estnischen Bildungssystems
6.1.1 Elementarbereich
6.1.2 Primarbereich
6.2 Verpflichtende Vorschule
6.3 Abschaffung der Mehrgliedrigkeit
6.4 Ganztagsschulen
7 Fazit und Ausblick
8 Literaturverzeichnis
9 Abbildungsverzeichnis
10 Tabellenverzeichnis
Unterschiede der ‚Bildung’ sind heute [...] zweifellos der wichtigste eigentlich ständebildende Unter- schied [...] [und] eine der allerstärksten rein innerlich wirkenden sozialen Schranken. Vor allem in Deutschland, wo fast die sämtlichen privilegierten Stellungen […] nicht nur an eine Qualifikation von Fachwissen, sondern außerdem von ‚allgemeiner Bildung‘ geknüpft [sind]. (Weber, 1988, S. 157)
Dieses Zitat des deutschen Soziologen Max Weber zeichnet sich angesichts der gegen- wärtigen Debatten um Inklusion und Chancengleichheit in Schulen durch besondere Ak- tualität aus (vgl. Unterberg, 2022, o. S.). Große Schulleistungsstudien, wie PISA (Pro- gramme for International Student Assessment), weisen darauf hin, dass im deutschen Bildungssystem die Schüler*innen aus sozioökonomisch benachteiligten Schichten gerin- gere Kompetenzen erwerben als die Gesamtschülerschaft (vgl. McElvany, 2018, S. 541). Die PISA-Studie von 2000 brachte außerdem als Resultat hervor, dass in Deutschland im Vergleich zu allen teilnehmenden OECD-Staaten (Organisation for Economic Cooperation and Development) der stärkste Zusammenhang zwischen Sozialstatus und Leseleistung von Jugendlichen zu verzeichnen ist (vgl. ebd.). Auch 18 Jahre nach der Erhebung der ersten PISA-Daten belegt die PISA-Studie von 2018 die starke Kopplung zwischen sozia- ler Herkunft und Bildungserfolg (vgl. Reiss et al., 2019, S. 139). Bereits für den Elemen- tarbereich lassen sich bezüglich Besuchsdauer, Beteiligungsquoten sowie Kompetenzer- werb sozial bedingte Disparitäten feststellen (vgl. McElvany et al., 2019, S. 541). Diese Differenzen setzen sich in der Sekundarstufe fort (vgl. ebd.). Auch die IGLU-Studie (Inter- nationale Grundschullese-Untersuchung) 2016 wies darauf hin, dass Schüler*innen aus sozioökonomisch ungünstiger gestellten Schichten bezüglich der Übergangsempfehlung im vierten Schuljahr eine strengere Beurteilung durch die Lehrkräfte erfahren (vgl. Stubbe et al., 2017, S. 244).
Da Bildungsinstitutionen Wissen vermitteln sowie Bildungszertifikate vergeben (vgl. Baethge, 2010, S. 294), resultiert aus der ungleichen Chancenverteilung ein beträchtli- ches Gerechtigkeitsproblem (vgl. Rose, 2018, S. 352). Schließlich stellt Bildung eine zent- rale Ressource für individuelle Lebenschancen, Selbstverwirklichung, beruflichen Erfolg sowie gesellschaftlicher Teilhabe dar. Dementsprechend birgt ein geringer Bildungsstand ein hohes Arbeitslosigkeitsrisiko in sich, reduziert die Chance auf ein attraktives Einkom- men und führt häufig zu starken gesundheitlichen Belastungen (vgl. Solga & Dombrowski, 2009, S. 7).
Die gegenwärtigen öffentlichen Diskurse sowie die für ein selbstbestimmtes Leben ent- schiedene Signifikanz von Bildung bedingen die Auswahl und Thematisierung der Frage- stellung dieser Bachelorarbeit. Folglich soll anhand wissenschaftlicher Literatur herausge- arbeitet werden, welche Ursachen für die enge Kopplung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg verantwortlich sind. Die vorliegende Arbeit widmet sich demnach der For- schungsfrage: Wie entstehen herkunftsbedingte ungleiche Bildungschancen in Deutsch- land?
Dazu werden zunächst die Begriffe ‚Bildungsungleichheit‘, ‚soziale Herkunft‘ sowie ‚Chan- cengleichheit‘ im Vergleich zu ‚Chancengerechtigkeit' definiert, welche die Verständnis- grundlage für die Bearbeitung der oben genannten Fragestellung bilden. Im Fokus des darauffolgenden dritten Kapitels steht das Schulsystem in Deutschland. In diesem Zu- sammenhang werden die geschichtliche Entwicklung des deutschen Bildungssystems skizziert und anschließend dessen Struktur und Aufbau von heute sowie die Funktionen von Schule detailliert erläutert. Im vierten Kapitel wird der theoretische Hintergrund be- leuchtet. Dabei werden der Rational-Choice-Ansatz Raymond Boudons sowie Pierre Bourdieus Theorie der sozialen Praxis als mögliche Erklärungen für die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem herangezogen. Im anschließenden Kapitel fünf werden ausgewählte empirische Studien vorgestellt, die ei- nen bedeutungsvollen Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft in Deutschland nachweisen. Hierbei werden vor allem die Forschungsergebnisse der IGLU- Studie 2016 und PISA-Studie 2018 in den Blick genommen. Obwohl sich hauptsächlich auf die Leistung der in Deutschland lebenden Schüler*innen in der Lesekompetenz kon- zentriert wird, wird dennoch immer wieder auf den Stand Estlands verwiesen, dessen Bil- dungswesen im siebten Kapitel im Vergleich zu Deutschland erläutert wird. Anhand die- ses Vergleichs sowie des empirisch-theoretischen Wissens um die Reproduktion sozialer Ungleichheit im deutschen Bildungssystem werden im weiteren Verlauf des siebten Kapi- tels drei Verbesserungsvorschläge für den Abbau sozial bedingter Bildungsungleichheiten formuliert und unterbreitet. Die Arbeit schließt im achten Kapitel mit einem resümierenden Fazit sowie einem Ausblick ab.
Bildungsungleichheit wird als eine Form sozialer Ungleichheit charakterisiert, welche sich auf Ungleichverteilung von Ressourcen sowie den Zugang zu diesen innerhalb einer Gesell- schaft bezieht. Laut Hradil und Schiener (2001) leben Menschen zumeist in einem beständi- gen zwischenmenschlichen Gefüge, wie beispielsweise Familien, Vereinen und Staaten (S. 15). Im Laufe der Zeit nehmen sie durch die vielfältigen Beziehungen zueinander unter-
schiedliche soziale Positionen in diesem Gefüge ein, welche sich durch differenzierte Bedin- gungen, wie Gemeinsamkeiten und Unterschiede, voneinander abgrenzen lassen. Zusätzlich gehen diese sozialen Positionen mit bestimmten Lebens- und Arbeitsbedingungen einher, wodurch sich eine Kategorisierung „als besser- oder schlechter, höher- oder tiefergestellt, bevorrechtigt oder benachteiligt“ (ebd.) vornehmen lässt. Aufgrund der Tatsache, dass hier als Ursache von sozialer Ungleichheit auf die Position von Individuen in sozialen Gefügen verwiesen wird, wird betont, dass es sich nicht um eine ‚sozial erzeugte‘, sondern um eine
‚sozial bedingte‘ beziehungsweise eine herkunftsabhängige Ungleichheit handelt (vgl. ebd.). Von sozialer Ungleichheit kann in verschiedenen Bereichen des Lebens die Rede sein, so auch in dem Bereich der Bildung. Demnach bezeichnet Bildungsungleichheit in Abhängigkeit von sozialer Herkunft „Unterschiede im Bildungsverhalten und in erzielten Bildungsabschlüs- sen von Kindern, die in unterschiedlichen sozialen Bedingungen und familiären Kontexten aufwachsen" (Müller & Haun, 1994, S. 3). Das bedeutet, dass einige Personen beispielswei- se aufgrund von mangelnden finanziellen Ressourcen über weniger Möglichkeiten verfügen, einen bestimmten Bildungsabschluss zu erreichen als andere. Somit sind nicht die individuel- len Fähigkeiten, sondern die soziale Herkunft von ausschlaggebender Bedeutung für den schulischen Erfolg (vgl. Schlicht, 2011, S. 35f.).
Einleitend ist zu erwähnen, dass in der Literatur verschiedene Definitionen für den Terminus der sozialen Herkunft zu finden sind, welche diese Begrifflichkeit jeweils aus unterschied- lichsten Perspektiven fokussieren. In der empirischen Bildungsforschung spiegelt die soziale Herkunft zunächst die sozioökonomische Stellung der Familie wider, welche sich auf die „re- lative Position […] in einer sozialen Hierarchie“ (Maaz, 2006, S. 20) bezieht. Die PISA-Studie bewertet diese Stellung über die der Bezugspersonen eines*r Schülers*in, welche zugleich Auskunft über die finanziellen Mittel, Macht und Prestige der jeweiligen Familie erteilt (vgl. ebd.).
Dahingegen versteht der französische Sozialphilosoph und Soziologe Bourdieu unter dem Begriff der sozialen Herkunft die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu, einer sozialen Klasse beziehungsweise einer sozialen Schicht, die jeweils durch ihre eigenen Werte und Normen gekennzeichnet sind. Diese werden bei der Sozialisation des in die jeweilige Schicht hineingeborenen Individuums erlernt und verinnerlicht (vgl. Bourdieu, 1992a, S. 31ff.). Desto näher sich Individuen demnach hinsichtlich ihrer Klassenzugehörigkeit sind, desto ähnlicher sind auch ihre Werte und Normen. Dementsprechend haben Zugehörige einer sozialen Schicht nicht nur Vorlieben und Abneigungen gemein, sondern auch eigene Chancen zur
Partizipation am gesellschaftlichen Leben, welche mit unterschiedlichen Zugängen zu den Ressourcen einer Gesellschaft einhergehen (vgl. Bourdieu, 1992b, S. 55ff.)
Die zentrale Relevanz der sozialen Herkunft für die vorliegende Arbeit resultiert aus ihren folgenreichen Auswirkungen auf die Bildungschancen und aus den damit verbundenen indi- viduellen Lebens- und Verwirklichungschancen. Schlechtere sozioökonomischen Lebensbe- dingungen beziehungsweise eine niedrige soziale Herkunft können in „weniger guten Chan- cen der Teilhabe an den wertvollen Gütern dieser Gesellschaft“ (Schauenberg, 2007, S. 26) resultieren und somit einen unmittelbaren negativen Einfluss auf die Schullaufbahn und den Erfolg in der Schule ausüben. Um der Reproduktion dieser ungleichen Chancenverteilung entgegenzuwirken, wird in der Bundesrepublik Deutschland die Herstellung von Chancen- gleichheit angestrebt.
“Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Spra- che, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen An- schauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ (Art. 3 Abs. 3 GG)
Als öffentliche Institution eines demokratischen Rechts- und Sozialstaates sieht sich die Schule mit den Bestimmungen des Grundgesetzes konfrontiert, welche den Verpflichtungen des Gleichheitsprinzips folgt (vgl. Becker, 2010, S. 183). Demnach muss das deutsche Bil- dungssystems jedem Individuum, und zwar unabhängig von leistungsfremden Merkmalen, wie Bildung, Geld, Geschlecht und Religion, dieselben Chancen zur Leistungsentfaltung er- öffnen, um eine Chancengleichheit gewährleisten zu können (vgl. Hradil & Schiener, 2001, S. 153). Im Sinne des demokratischen Bildungssystems wäre somit eine Chancengleichheit dann verwirklicht, wenn die „gleichleistungsstarken Kinder verschiedener sozialer Gruppen dem Anteil dieser Gruppen an der Gesamtbevölkerung entsprechend bei einem bestimmten Schulabschluss vertreten [wären]“ (Meulemann, 1985, S. 102). Dementsprechend müssen geeignete Fördermaßnahmen im Bildungswesen für Schüler*innen niedrigerer sozialer Her- kunft ergriffen werden, um dem Ziel der demokratischen Chancengleichheit gerecht zu wer- den (vgl. Becker, 2010, S. 183).
Es ist anzumerken, dass der Begriff der Chancengleichheit oft synonym mit Chancengerech- tigkeit verwendet wird (vgl. Ricken, 2015, S. 133). Die Verwendung dieser beiden Termini als Synonyme soll auf den deutschen Philosophen Georg Hegel zurückgehen, für den Gerech- tigkeit dann bestand, wenn „die Gleichheit vor dem Gesetz gegeben war“ (Rauschenbach, 2008, S. 35). Obwohl diesen Begriffen gemeinsam ist, dass sie sich auf die Chancen der Verwirklichung von Lebenszielen, die in einer Gesellschaft im Allgemeinen als erstrebens- wert betrachtet werden, beziehen, zeichnen sie sich durchaus durch unterschiedliche Bedeu-
tungen aus (vgl. Lengfeld, 2007, S. 62). Chancengerechtigkeit wurde in jüngster Zeit auf- grund vermehrter Kritik an dem Begriff der Chancengleichheit durch die CDU/CSU in den Fokus gerückt. Diese Begrifflichkeit bezeichnet die Forderung nach „faire[n] Chance[n] zur freien Teilhabe an der Gesellschaft“ (Bertelsmann Stiftung et al., 2014, S. 20) aller ohne Be- nachteiligung aufgrund sozialer oder natürlicher Merkmale (vgl. ebd.).
Stellt man die beiden Begriffe Gleichheit und Gerechtigkeit gegenüber, erweist sich Chan- cengerechtigkeit als eine „Leerformel, in die man alles hineinpacken kann“ (Rolff, 2016, o. S.). Dies gilt jedoch nicht für die Chancengleichheit, da bei dieser anhand von Ungleich- heitsstatistiken beispielsweise belegt werden kann, dass trotz des Rückgangs der regionalen Ungleichheit, die auf eine signifikante Verbesserung der Mädchen im schulischen Kontext zurückzuführen ist, die soziale Ungleichheit an Hochschulen zugenommen hat. Somit erwei- sen sich die Gleichheit als eine empirische und die Gerechtigkeit als eine normative Katego- rie. Gleichheitsaussagen können empirisch begründet werden, da sie auf Daten fundieren, wohingegen Gerechtigkeit sich nicht quantitativ bestimmen oder messen lässt (vgl. ebd.).
Nachdem sich dieses Kapitel zur fachlichen Grundlegung dieser Arbeit mit den Begriffen
‚Bildungsungleichheit‘, ‚soziale Herkunft‘ und ‚Chancengleichheit‘ detailliert auseinanderge- setzt hat, soll im folgenden Kapitel das Bildungssystem in Deutschland in den Blick genom- men werden. Zu diesem Zweck werden die geschichtliche Entwicklung des deutschen Bil- dungssystems, dessen Struktur und Aufbau sowie die Funktion der Schule fundiert erläutert.
Bis etwa in das 18. Jahrhundert hinein waren die Kirche für die Lateinschulen, die Städte für die Bürgerschulen und der Adel für die Ritterakademien zuständig, während der Staat die Landesuniversitäten und einige wenige Landes- oder Fürstenschulen unterhielt (vgl. Hepp, 2011, S. 35). Deshalb wurde das Bildungswesen zu dieser Zeit als die auf deren Bedürfnisse zugeschnittene „Domäne der Stände“ (ebd.) bezeichnet. Dies änderte sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts aufgrund der kulturellen und sozioökonomischen Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesse und der damit einhergehenden Herausbildung von eigenständi- gen Bildungssystemen in Nationalstaaten (vgl. Becker, 2014, o. S.). Allmählich wurden die Ständeordnung sowie der standesabhängige Zugang zu Bildung aufgelöst und das Ver- ständnis des Begriffs der Bildung erfuhr einen grundlegenden Wandel. So wurden im Jahr 1794 im Allgemeinen Landrecht von Preußen die Schulen als durch öffentliche Mittel finan- zierte Institutionen des Staates definiert und die allgemeine Schulpflicht eingeführt und fest-
gelegt (vgl. Hepp, 2011, S. 35). Auf das Ziel der geistigen Vervollkommnung eines jeden Menschen ausgerichtet, verlangte Wilhelm von Humboldt in seinem neuhumanistischen Konzept, dass Bildung im Sinn einer Allgemeinbildung fortan allen Menschen gleichermaßen zugänglich gemacht werden solle (vgl. ebd., S. 15). Jedoch konnte dieses Ziel unter den Rahmenbedingungen des Obrigkeitsstaates nicht realisiert werden. So durften die Kinder unterer Schichten zwar staatliche Elementarschulen besuchen, in diesen wurde jedoch eine einfache, auf Gehorsam gegenüber dem Staat und der Kirche abzielende Bildung angestrebt (vgl. ebd., S. 16). Schließlich war es nur der Anspruch des wirtschaftlich aufstrebenden Bil- dungsbürgertums, Gymnasien und höhere Bildungsinstitutionen zu besuchen, mit denen ein höherer Bildungsabschluss und ein damit verbundener entsprechender sozialer Status ein- hergingen (vgl. ebd.). Auf das Zeitalter der Aufklärung ist zudem auch die Gründung der Re- alschulen als Reaktion auf den Arbeitsmarkt zurückzuführen, welche ausschlaggebend für die Einrichtung des dreigliedrigen Schulsystems, bestehend aus Volks-/ bzw. Elementar- schulen, Realschulen und Gymnasien, war (vgl. Link, 2011, S. 138). Die Realschulen, die der bürgerlichen Mittelschicht vorbehalten waren, fokussierten eine Ausbildung im Bereich des Militärs und der privatwirtschaftlichen Verwaltung (vgl. Becker, 2014, o. S.). Nach zahl- reichen Debatten über die Struktur des Schulwesens wurde schließlich im Jahr 1919 mit der Weimarer Verfassung die allgemeine Schulpflicht in Deutschland eingeführt (vgl. Thuswald, 2016, S. 267). In der Reichsschulkonferenz von 1920 wurde zudem eine gemeinsame Schu- le für die ersten vier Schuljahre - die Grundschule - beschlossen. Dieses mehrgliedrige Schulsystem mit einer gemeinsamen Grundschulzeit wurde unter der nationalsozialistischen Diktatur in den 1930er Jahren beibehalten (vgl. Link, 2011, S. 139).
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs begann der Wiederaufbau der Institutionen des Bil- dungssystems. Die DDR schloss mit den Weimarer Traditionen des Bildungssystems ab, indem sie das gegliederte Schulwesen ablehnte und schrittweise ein Einheitsschulsystem einrichtete, in dessen Rahmen alle Schüler*innen gemeinsam von der ersten bis zur zehnten Klasse unterrichtet wurden (vgl. Hepp, 2011, S. 213f.). Dahingegen wurde trotz enormer Phasen der Unsicherheit in der Bundesrepublik keine Neufindung des Bildungswesens vor- genommen, sondern dessen Rekonstruktion angestrebt, welche sich an dem intentionellen Erbe der Weimarer Ära orientierte (vgl. Busemeyer, 2015, S. 58). Die amerikanischen Besat- zer äußerten enorme Kritik an dieser gegliederten Struktur des deutschen Bildungssystems, nachdem sie es auf seine ‚Demokratie-Tauglichkeit‘ überprüft hatten (vgl. Link, 2011, S. 139). Dennoch konnten sie ihre Reformvorschläge nicht durchsetzen, sodass schließlich die Dreigliedrigkeit des Schulsystems etabliert wurde (vgl. ebd.), welche „durch eine nativistische Begabungstypologie und eine dieser Typologie entsprechende[n] Klassifikation von Berufs- gruppen“ (Baumert et al., 2008, S. 57) gerechtfertigt wurde. Die Hauptschule galt fortan als die Schule der „praktisch begabten unteren Volksschichten“ (ebd.) und das Gymnasium wie-
derum als die Schule für die „abstrakt Begabten“ (ebd.). Somit stellte die höhere Bildung nach wie vor ein Distinktionsmerkmal gehobener Schichten dar, weshalb die Chancenun- gleichheit des deutschen Bildungssystems zunehmend in öffentliche Kritik geriet (vgl. Be- cker, 2009, S. 195).
Mit den Diskussionen um die Bildungsungleichheit und Chancengleichheit wurde auch der Begriff der Bildungsexpansion Teil des öffentlichen Vokabulars, unter dem der erhebliche Ausbau des Bildungssystems, und zwar insbesondere der sekundären und tertiären Berei- che, zu verstehen ist (vgl. Hradil & Schiener, 2001, S. 157ff.). Ausgelöst wurde die Bildungs- expansion durch den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt der Gesellschaft seit den 1960er Jahren, mit dem eine steigende Nachfrage nach besser qualifizierten Arbeitskräf- ten einherging, welche die deutsche Bevölkerung im internationalen Vergleich früher oder später aufgrund des wachsenden beruflichen Qualifikationsdefizits nicht mehr erfüllen konnte (vgl. Witjes, 2015, S. 26). Um das wirtschaftliche Wachstum der Bundesrepublik zu unter- stützen, sollten ein Zugang zu weiterführenden Bildungswegen und eine damit einhergehen- de Chance zu beruflichem Aufstieg für größere Teile der Bevölkerung geöffnet und erleich- tert werden (vgl. Hradil & Schiener, 2001, S. 157). So wurden infolge der Bildungsexpansion viele Gesamtschulen, Realschulen, Gymnasien sowie Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten errichtet (vgl. Geißler, 2014, o. S.), was sich in den Bildungsabschlüssen der Schüler*innen widerspiegelt: So besuchten vor Beginn der Expansion noch 70 Prozent aller 13-Jährigen die Hauptschule, 11 Prozent gingen zur Realschule und 15 Prozent auf das Gym- nasium (vgl. Hradil & Schiener, 2001, S. 158), während im Jahr 1995 nur noch ein Viertel der Gesamtschülerschaft die Hauptschule besuchte und der Anteil der Schüler*innen, die das Gymnasium besuchten, sich verdoppelte und auf 31 Prozent anstieg. Gleichermaßen spiegeln sich der Andrang auf Gymnasien und Realschulen sowie der Niedergang der Hauptschule in den Schulabschlüssen der Schüler*innen wider: Während im Jahr 1960 nur 6 Prozent der Ge- samtschülerschaft einen Hochschulabschluss erreichten und über 70 Prozent ihre Schulbil- dung nach der Hauptschule beendeten, schlossen Mitte der 1990er Jahre nur noch rund 30 Prozent aller Schüler*innen ihre Schullaufbahn mit einem Hauptschulabschluss ab (vgl. ebd.). Insgesamt bewirkte die Bildungsexpansion eine kontinuierliche Höherqualifizierung und Ni- veauerhebung der Bildungsbeteiligung der Bevölkerung, weshalb aus schichtungssoziologi- scher Sicht heraus von einer „Umschichtung nach oben“ (Geißler, 2014, o. S.) die Rede ist. Die Realschule verlor ihr Stammklientel an das Gymnasium, während die mittleren und guten Hauptschüler*innen nun eine Realschule oder auch ein Gymnasium besuchten (vgl. Baumert et al., 2008, S. 85). Schließlich wurde ein mittlerer allgemeinbildender Schulabschluss zur
„faktischen Mindestnorm“ (Ditton, 2013, S. 65), woraus eine Existenzkrise der Hauptschule resultierte. Deren Besuch barg fortan die Gefahr in sich, im Anschluss nur eine unsichere und unattraktive Erwerbstätigkeit zu finden oder gar keinen Arbeitsplatz zu erhalten, was die bis
heute bestehende Zurückhaltung der Eltern gegenüber dieser Schulform erklärt (vgl. ebd.). Allgemein kann festgestellt werden, dass alle Sozialschichten von der Bildungsexpansion profitieren konnten, und zwar insbesondere die Kinder schwächerer Sozialschichten (vgl. Maaz et al., 2008, S. 214). Die Bildungsexpansion bewirkte weitgehend eine Entschärfung sozialer Ungleichheiten, indem geschlechtsspezifische, konfessionelle und regionale Be- nachteiligungen abgebaut wurden; an den Chancen der unteren Sozialschichten auf höhere Bildung änderte dies aber nichts. So konnten die sozialen Disparitäten auf dem Gymnasium trotz eines Anstiegs potenzieller Absolvent*innen nicht reduziert werden (vgl. ebd., S. 215), denn die Chancen auf höhere Bildung von Bevölkerungsgruppen der unteren Schichten blie- ben größtenteils unverändert, wodurch die Abstände zwischen den Schichten mit der traditi- onell höchsten und der traditionell niedrigsten Bildungsbeteiligung größer wurden (vgl. Choi, 2009, S. 24). Folglich eröffneten sich durch die Bildungsexpansion zwar nun „mehr Bildungs- chancen, aber [es resultierte] weniger Chancengerechtigkeit“ (Geißler, 2005, zitiert nach Link, 2011, S. 76). Man kann in diesem Zusammenhang auch vom sogenannten Fahrstuhlef- fekt sprechen, laut welchem alle sozialen Gruppen nun zwar einige „Stockwerke höher lie- gen“ (Büchner, 2003, zitiert nach Schauenberg, 2007, S. 33), der Abstand zwischen ihnen jedoch unverändert bleibt. Somit haben nicht die einzelnen Schichten eine Verbesserung ihrer Situation durch die Bildungsförderung erfahren, sondern vielmehr hat eine Niveauerhe- bung der Bildungsbeteiligung der Gesamtbevölkerung stattgefunden (vgl. ebd.).
Bis Anfang der 1960er Jahre hatte sich in den meisten Bundesländern folgende Struktur des Schulwesens herausgebildet: Im Alter von sechs Jahren war ein Kind schulpflichtig und so- mit dazu verpflichtet, die Grund- bzw. Volksschule zu besuchen, in welcher es für vier Jahre gemeinsam mit anderen Kindern unterrichtet wurde (vgl. Baumert et al., 2008, S. 56). An- schließend besuchte ein Großteil der Schüler*innen, bevor sie ihre berufliche Ausbildung absolvieren konnten, über einen vom Bundesland abhängigen Zeitraum von vier bis fünf Jah- ren die Volksschuloberstufe, welche meist konfessionell und nach Geschlecht gegliedert war (vgl. ebd.). Im Jahr 1964 wurden schließlich mit dem Hamburger Abkommen einheitliche Bezeichnungen für die weiterführenden Schulformen als Hauptschule, Realschule und Gym- nasium festgelegt (vgl. Hepp, 2011, S. 213). Das Gymnasium galt weiterhin als exklusivere Schulform und wurde nach einer Aufnahmeprüfung von nur etwa 12 bis 15 Prozent der Zehn- bis Elfjährigen besucht, von denen jedoch weniger als die Hälfte es schaffte, das Abi- tur zu bestehen (vgl. Baumert et al., 2008, S. 57). Obwohl die 1960er Jahre nicht als die Jah- re der großen Reformen im Bildungssystem charakterisiert werden können, wurden dennoch in dieser Zeit viele Reformdebatten über die Modernisierung des deutschen Bildungswesens geführt. So wiesen einige Pädagog*innen, wie Picht (1964) und Peisert (1967), öffentlich darauf hin, dass der Bildungsabschluss im deutschen Bildungssystem in starkem Maß von der sozialen Herkunft der Schüler*innen abhängig sei (vgl. Hepp, 2011, S. 13; vgl. Konrad, 2008, S. 39). Vor allem Picht erregte mit der Veröffentlichung seines Werkes über die ‚deut- sche Bildungskatastrophe‘ Aufsehen, in welchem er das deutsche Bildungssystem hinsicht- lich seiner mangelnden internationalen Wettbewerbstauglichkeit und herkunftsbedingten Chancenungleichheit kritisiert. Peisert (1967) prägte diese Debatten mit der symbolischen Kunstfigur des ‚katholischen Arbeitermädchens vom Lande‘, welche für die sozialstrukturel- len Bildungsungleichheiten und die bildungspolitischen Reformbemühungen in der Bundes- republik der 1960er Jahre stand und die Ergebnisse seiner Untersuchung zur sozialen Lage und zu den Bildungschancen in Deutschland verdeutlichte: Katholische, auf dem Land le- bende Arbeitermädchen hatten in überwiegend katholischen bayerischen Landkreisen eine besonders geringe Chance auf höhere Bildung (vgl. Link, 2011, S. 22). Folglich waren bei- nahe alle Reformmaßnahmen, darunter auch die Expansion des sekundären Bildungsberei- ches, immer auch sozial motiviert und an die Hoffnung auf größere soziale Gerechtigkeit geknüpft (vgl. Maaz et al., 2008, S. 214).
Das öffentlich diskutierte deutsche Bildungssystem wurde jedoch im Jahr 1973 von den De- batten um die ‚Ölkrise‘ und die damit einhergehende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands abgelöst (vgl. Link, 2011, S. 18). In den 1970er Jahren wurde es somit ruhiger um die Bildungspolitik. Dennoch kam es zu einem Konflikt der Parteien um das The- ma der Einführung integrierter Gesamtschulen, welcher bis in die 1980er Jahre hinein an- hielt. Die Bundesländer, in denen die SPD regierte, wie Hessen und Nordrhein-Westfalen, errichteten einige Gesamtschulen mit dem Ziel, das dreigliedrige Schulsystem, welches auf- grund des frühen Festlegens auf eine Schulform als besonders selektiv und chancenunge- recht kritisiert wurde, durch integrierte Gesamtschulen zu ersetzen (vgl. Hepp, 2011, S. 214). Die Vorstellung, die Dreigliedrigkeit des Schulsystems durch eine flächendeckende Einfüh- rung von Einheitsschulen zu ersetzen, erwies sich jedoch als Utopie, woraufhin sich neben der klassischen Dreigliedrigkeit eine weitere Variante, die Viergliedrigkeit des Schulsystems, herausbildete und etablierte (vgl. ebd.). Nach der deutschen Einheit im Jahre 1990 passten sich die neuen Bundesländer mehrheitlich dem westdeutschen Bildungssystem an. Das Thema Bildungspolitik spielte allmählich eine untergeordnete Rolle und das öffentliche Inte- resse an dieser schwand. Ein Zustand, der sich jedoch durch die Veröffentlichung der PISA- Ergebnisse 2001 schlagartig wieder änderte (vgl. ebd.).
Aufgrund der öffentlichen Interessenverschiebung von der Bildungspolitik hin zur Wirt- schaftspolitik nahm Deutschland ab den 1970er Jahren über 20 Jahre hinweg nicht mehr an internationalen Vergleichsstudien teil, weshalb sich immer mehr eine „Illusion der Chancen- gleichheit“ (vgl. Geißler, 2006, zitiert nach Link, 2011, S. 19) verbreitete. Auch das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler*innen bei der TIMSS-Studie (Trends in International Mathematics and Science Study) 1955, bei welcher Deutschland im internationalen Vergleich entgegen den Erwartungen nur mittelmäßig abschnitt, erregte nur ein geringes Aufsehen,
wodurch die Illusion der Chancengleichheit weiter bestand (vgl. ebd., S. 20). Dies ändert sich jedoch schlagartig mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA-Studie im De- zember 2001. Die Themen Bildung und Chancengleichheit waren nun wieder omnipräsent, und zwar sowohl im wissenschaftlichen, politischen als auch im massenmedialen Diskurs (vgl. Stojanov, 2011, S. 47). Deutschland landete beim ersten PISA-Test, an welchem 32 Nationen teilnahmen, abgeschlagen auf Platz 21, wobei die deutschen Schüler*innen in allen Kompetenzen unterdurchschnittlich abschnitten (vgl. Rosenkranz & Frietsch, 2019, o. S.). Die Ergebnisse der Studie belegten, dass Länder, wie beispielsweise Estland, Schweden und Finnland, deren Schüler*innen besonders gute Leistungen erbrachten, eine vergleichs- weise niedrige Anzahl an sogenannten Risikoschüler*innen aufwiesen. Gleichzeitig schnitten diese Länder deutlich besser bei der Förderung von Schüler*innen unterer Sozialschichten ab, da die soziale Herkunft eines*r Schüler*in schwächer an seinen*ihren Bildungserfolg ge- bunden war als beispielsweise in Deutschland (vgl. Hepp, 2011, S. 215). Die unterdurch- schnittlichen Ergebnisse der PISA-Studie entsprachen nicht der „Selbstwahrnehmung Deutschlands als Bildungsnation“ (Busemeyer, 2015, S. 125), weshalb man auch vom soge- nannten PISA-Schock spricht (vgl. ebd.). Fortan wurden als Reaktion auf den PISA-Schock viele Versuche unternommen, wie die schrittweise Zusammenführung von Haupt- und Real- schule zu einer neuen Schulform oder das Einführen der acht- statt neunjährigen Gymnasi- alzeit, um das Bildungssystem Deutschlands zu reformieren (vgl. ebd., S. 125f.). Dennoch versuchten einige Präsident*innen der ständigen Konferenz der Kultusminister (KMK) sowie auch die Kultusminister*innen der Länder eine Diskussion um die Organisationsform von Schulen zu vermeiden (vgl. Link, 2011, S. 21). So wurden in den meisten Debatten um die Struktur des Schulwesens nur kleinere innere Schulreformen thematisiert und nicht tiefgrei- fende äußere Schulreformen angestoßen, welche die gesamte Struktur des Bildungssystems hätten verändern können. Denn es wurde angenommen, dass solche Veränderungen, wel- che die Organisationsform von Schule betreffen, nur zur Leistungsnivellierung führen würden (vgl. ebd.). Auch in den letzten Jahren wurde auf Grundlage von Wirtschaftsberichten das deutsche Bildungssystem immer wieder kritisiert. Dabei erregte vor allem der Besuch des UN-Sonderberichterstatters für das Menschenrecht auf Bildung, Vernor Muñoz, im Jahr 2006 in Deutschland Aufsehen (vgl. ebd.). Dieser inspizierte im Februar 2006 für zwei Wochen das deutsche Bildungssystem und kritisierte es nach einschlägigen Analysen und einigen Besuchen in verschiedenen Bildungseinrichtungen in Bezug auf seine Mehrgliedrigkeit, frühe Selektion und föderalistische Prägung, die seiner Meinung nach allesamt die Reproduktion von Chancenungleichheit im deutschen Bildungssystem förderten (vgl. ebd.). Muñoz würdig- te in seinem Bericht zwar die Reformbemühungen, betonte aber gleichzeitig, dass die sozia- len und ökonomischen Benachteiligungen zwingend beseitigt werden müssten, damit das Recht auf Bildung in Deutschland jedem Kind gleichermaßen zuteilwerden könne (vgl.
Lohrenschreit, 2013, o. S.). Die Hauptursache für diese Bildungsbenachteiligung ist laut Muñoz Vernor die starke Kopplung des Bildungserfolgs eines Kindes an dessen soziale Her- kunft; ein Zustand, von dem vor allem in Deutschland lebende Kinder mit Migrationshinter- grund betroffen sind, welche häufig in sozial schwächeren Familien aufwachsen. Folglich seien nicht kulturelle oder ethnische Ursachen von ausschlaggebender Bedeutung für den Bildungserfolg, sondern soziale Faktoren (vgl. ebd.).
Es lässt sich festhalten, dass durch die Auslösung der Ständeordnung im 18. Jahrhundert fortan nicht mehr der Stand, sondern die soziale Schicht ausschlaggebend für den Bildungs- zugang war. Auf diese Epoche geht zudem die Geburtsstunde des dreigliedrigen Schulsys- tems, bestehend aus Volks- beziehungsweise Elementarschulen, Realschulen und Gymna- sien, zurück. Dieses dreigliedrige Schulsystem mit einer gemeinsamen Grundschulzeit, wel- ches als Reaktion auf den Arbeitsmarkt konzipiert und eingerichtet wurde, wurde auch unter der nationalsozialistischen Regierung in den 1930er Jahren beibehalten. Es stützte sich da- bei auf die Theorie der unterschiedlichen Begabungstypen, nach welcher Schüler*innen auf verschiedene Schulformen verteilt wurden, um gezielt auf unterschiedliche Berufswege vor- bereitet zu werden. Das Bildungssystem zu dieser Zeit war jedoch undurchlässig, weshalb es in den 1950er Jahren zur Bildungsexpansion kam, die eine allgemeine Höherqualifizie- rung der Bildungsbeteiligung der Gesamtbevölkerung bewirkte, von welcher alle Sozial- schichten profitieren konnten. Die Abstände zwischen den Schichten mit der höchsten und niedrigsten Bildungsbeteiligung vergrößerten sich jedoch. Folglich bestand trotz der Bil- dungsexpansion und dem damit einhergehenden Anstieg der Anzahl potenzieller Absol- vent*innen höherer Bildung sowie etlichen Reformversuchen noch immer eine herkunftsbe- zogene Chancenungleichheit im deutschen Bildungssystem. Nachdem geschildert worden ist, dass durch die Veröffentlichung des Berichts des UN-Sonderberichterstatters und durch die Ergebnisse der ersten PISA-Studie das deutsche Bildungssystem insbesondere in Bezug auf Schüler*innen sozial schlechter gestellten Familien als chancenungerecht kritisiert wur- de, sollen im Folgenden der Aufbau und die Struktur des heutigen deutschen Bildungssys- tems erläutert werden.
Entsprechend der föderalistischen Staatsstruktur des deutschen Bildungswesens existiert kei- ne länderübergreifende gesetzliche allgemeingültige Regelung für das Bildungssystem, denn die Verantwortlichkeiten für das allgemeinbildende und berufsbildende Schul- und Ausbil- dungswesen sowie die Hochschulgesetzgebung unterliegen der Kulturhoheit der 16 Bundes- länder (vgl. Kulturhoheit, Art. 72-75 GG, zitiert nach Gudjons & Traub, 2016, S. 272). Dem- entsprechend können die Landesregierungen weitgehend selbstständig darüber entscheiden, wie sie ihre Bildungssysteme ausgestalten wollen, weshalb die Bildungssysteme der 16 Bun-
desländer untereinander einige Unterschiede aufweisen. Dennoch enthält das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) grundlegende Bestimmungen bezüglich der Themen Bildung, Erziehung, Kultur und Wissenschaft, nach welchen sich die Länder richten müssen (vgl. Metzner, 2017, o. S.). So ist es Erziehungsberechtigten laut Artikel 7 Absatz 2 des Grundgesetzes vorbehalten, über die Teilnahme ihres Kindes am Religionsunterricht zu ent- scheiden (vgl. ebd.). Um die föderalistische Struktur des Bildungssystems zudem aufrecht- zuerhalten, koordiniert die KMK die Bildungsangelegenheiten zwischen den Bundesländern und sichert zugleich die Vergleichbarkeit von Zeugnissen und Abschlüssen (vgl. Gudjons & Traub, 2016, S. 272.). Allgemein kann das deutsche Bildungswesen als ein vielstufiges und stark differenziertes System charakterisiert werden. Dieses kann in fünf Bereiche unterglie- dert werden , den Elementarbereich, Primarbereich, Sekundarbereich I, Sekundarbereich II und Tertiärbereich (Abbildung 1). Sie umfassen jeweils verschiedene Bildungsgänge und Bil- dungseinrichtungen (vgl. Edelstein, 2013, o. S.), welche im Folgenden näher beschrieben werden.1
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Das Bildungssystem Deutschlands (Döbert, 2017, S. 186)
Der Elementarbereich, welcher Kindertagespflegeinrichtungen sowie Kindertagesstätten um- fasst, ist kein förmlicher Bestandteil der Schulverwaltung in Deutschland, sondern vielmehr der Kinder- und Jugendhilfe zugeordnet (vgl. Döbert, 2017, S. 169). Alle Kinder, die das sechste Lebensjahr noch nicht vollendet haben und dementsprechend noch nicht schulpflich- tig sind, haben das Recht, eine vorschulische Einrichtung zu besuchen. In diesen sollen den Kindern spielerisch und altersgerecht Wissen vermittelt und deren Persönlichkeitsentwick-
lung gezielt gefördert werden (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden- Württemberg, 2013, o. S.). Eltern ziehen deshalb zunehmend vorschulische Bildungseinrich- tungen zur Vorbereitung schulrelevanter Fähigkeiten in Betracht, deren Besuch „positiv mit dem späteren Schulerfolg korreliert“ (Gansen, 2009, S. 201). Laut dem Statischen Bundes- amt besuchten über 90 Prozent der Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren im Jahr 2021 in Deutschland eine Kindertagesbetreuungsstätte (vgl. Statistisches Bundesamt, 2021, o. S.), wobei diese seltener von Kindern unterer Sozialschichten als von Kindern oberer So- zialschichten genutzt wurden (vgl. Witjes, 2015, S. 51).
Mit der Vollendung des sechsten Lebensjahres ist ein Kind in Deutschland schulpflichtig. Es wird in eine Grundschule eingeschult, in welcher die Schüler*innen gemeinsam von der ers- ten bis zur vierten Klasse unterrichtet werden.2 Bevor der Übergang in eine Schulart der Se- kundarstufe I erfolgt, spricht die Grundschullehrkraft am Ende der Grundschulzeit eine Schul- laufbahnempfehlung aus, welche auf Basis der erbrachten Schulleistungen des*r jeweiligen Schülers*in erfolgt (vgl. Döbert, 2017, S. 170). Hierbei handelt es sich in den meisten Bun- desländern nur um eine Empfehlung3, nach welcher sich die Eltern richten können, aber nicht müssen (vgl. Edelstein, 2013, o. S.). Dennoch ist die Grundschulempfehlung von ent- scheidender Relevanz für den weiteren Bildungsverlauf der Schüler*innen, denn obwohl die- se in den meisten Bundesländern keinen verbindlichen Charakter hat, orientiert sich dennoch die Mehrheit der Eltern an dieser und meldet folglich ihre Kinder an der von der Lehrkraft empfohlenen Schulform an (vgl. Jacobs, 2019, o. S.). Neben den Regelschulen besteht au- ßerdem in jedem Bundesland die Möglichkeit für Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf, auf einer Förderschule beziehungsweise Sonderschule beschult zu werden. In dieser werden sie mithilfe von geschulten Pädagog*innen entsprechend ihrer Fähigkeiten gefördert (vgl. Edelstein, 2013, o. S.).
Im Sekundarbereich I, welcher die Zeit nach der Grundschule bis zur Vollendigung der Schulpflicht umfasst, fächert sich das deutsche Bildungswesen in verschiedene Schularten beziehungsweise Bildungsgänge auf (vgl. ebd.), weshalb das deutsche Schulsystem als mehrgliedrig kategorisiert wird. In jedem Bundesland ist die Sekundarstufe I unterschiedlich organisiert. So stellt das Gymnasium die einzige Schulform dar, welche in allen Bundeslän- dern anzutreffen ist (vgl. Döbert, 2017, S. 170), während die Hauptschule mit steigender Tendenz in den Bundesländern abgeschafft beziehungsweise mit der Realschule zusam- mengeführt wird (vgl. Gudjons & Traub, 2016, S. 276). Diese Zusammenführung von Haupt- und Realschule wird beispielsweise in Hessen als Mittelstufe, in Niedersachsen als Ober- schule und in Nordrhein-Westfalen als Sekundarschule bezeichnet (vgl. Tillmann, 2015, o. S.). Somit existieren aufgrund schulstruktureller Maßnahmen neben dem Gymnasium in einigen Bundesländern bis zu fünf weitere Schularten, während in Bundesländern wie Berlin, Sachsen und Saarland eine Reduktion auf zwei Schulformen stattgefunden hat (vgl. Döbert, 2017, S. 170). Das herkömmliche dreigliedrige Schulsystem, bestehend aus Gymnasium, Realschule und Hauptschule, welches jahrzehntelang das deutsche Bildungswesen geprägt hat, existiert somit in Deutschland nicht mehr (vgl. ebd.). Nach erfolgreichem Absolvieren von neun Schuljahren, womit die Vollzeitschulpflicht abgeschlossen ist,4 erhält ein*e Schü- ler*in einen Hauptschulabschluss und nach zehn Jahren einen Realschulabschluss, welcher auch als ‚Mittlere Reife‘ bezeichnet wird. Das ‚Abitur‘, welches die Möglichkeit eröffnet, an einer Hochschule zu studieren, kann hingegen erst nach erfolgreicher Beendigung der gym- nasialen Oberstufe des zweiten Sekundarbereichs erlangt werden (vgl. ebd., S. 171). Nach Abschluss einer anderen Schulart als dem Gymnasium wird es Schüler*innen außerdem ermöglicht, das Abitur auf anderen Bildungswegen nachzuholen. So kann beispielsweise ein*e Realschulabsolvent*in sein*ihr Abitur an einem Fachgymnasium nachholen. Außerdem können Schüler*innen auf eine niedrigere Schulart verwiesen werden, wenn sie die Anforde- rungen der gewählten Schulart nicht erfüllen können (vgl. ebd., S. 178).
Der Sekundarbereich II, welcher sich an den Sekundarbereich I anschließt, umfasst sowohl allgemeinbildende als auch berufliche Vollzeitschulen sowie die Berufsausbildung im dualen System (vgl. Edelstein, 2013, o. S.). Basierend auf den erworbenen Bildungsabschlüssen, ste- hen den Jugendlichen verschiedene Bildungseinrichtungen offen. So ermöglicht ein Haupt- schulabschluss vor allem die Aufnahme einer dualen Berufsausbildung, für welche jedoch zu- nächst einmal eine Lehrstelle in einem Betrieb gefunden werden muss. Sollte dies nicht gelin- gen, müssen die Jugendlichen, sofern sie noch nicht ihr 18. Lebensjahr erreicht haben und dementsprechend noch schulpflichtig sind, eine berufsvorbereitende Maßnahme im Übergangssystem antreten (vgl. ebd.). Zu den Angeboten des Übergangssystems zählen unter anderem berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen (BvB) der Bundesagentur für Arbeit sowie die Berufsvorbereitungs- und Berufsgrundbildungsjahre (BVJ/BGJ) (Neises, 2018, o. S.). Diesen Maßnahmen ist gemeinsam, dass sie keinen Berufsabschluss, sondern be- rufsvorbereitende und sozialpädagogische Kenntnisse vermitteln (vgl. Nigges-Gellrich & Schmidt, 2013, S. 307). Den Jugendlichen mit einem Realschulabschluss stehen neben dem dualen System der Berufsbildung noch die beruflichen Oberschultypen (Fachoberschule, Be- rufsoberschule und Fachgymnasium) sowie die gymnasiale Oberstufe offen. Während die dua- le Berufsausbildung auf einen beruflichen Abschluss abzielt, ermöglichen die übrigen Bil- dungsgänge das Erreichen der allgemeinen oder fachgebundenen Hochschulreife, welche die Absolvent*innen zur Aufnahme eines Studiums im Tertiärbereich qualifizieren (vgl. Edelstein, 2013, o. S.).
Zum Tertiärbereich werden zum einen diejenigen Bildungsangebote gezählt, die den Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung voraussetzen. Unter diese werden zum einen Fach- hochschulen, Universitäten und weitere Hochschularten, die einen akademischen Abschluss ermöglichen, subsumiert. Zum anderen umfasst der Tertiärbereich auch solche „Einrichtun- gen, die berufsqualifizierende Studiengänge anbieten[,] sowie Einrichtungen der beruflichen (Weiter-) Bildung“ (ebd.), wie beispielsweise Fachschulen und Berufsakademien. Letztere vermitteln in Form einer Wechselausbildung eine praxisorientierte und gleichzeitig wissen- schaftsbezogene berufliche Bildung. Dagegen dienen Fachschulen, welche eine abgeschlos- sene Berufsausbildung sowie Berufserfahrung voraussetzen, der beruflichen Weiterbildung für den praktizierten Beruf (vgl. ebd.).
Heutzutage herrscht breiter Konsens dahingehend, dass das mehrgliedrige deutsche Bil- dungssystem veraltet und nicht mehr zeitgemäß ist (vgl. Sleegers, 2021, o. S.), da es auf einer wissenschaftlich widerlegten Begabungstheorie basiert, nach welcher Schüler*innen in leistungshomogenen Klassen verschiedenen Schularten zugeteilt werden sollen (vgl. Leucht et al., 2016, S. 13f.) Da dieses Ziel verfehlt wird und die Selektion nicht ausschließlich nach Leistung, sondern vielmehr auch nach sozialer Herkunft stattfindet (vgl. ebd.), ist das deut- sche Bildungswesen nicht in der Lage, die ihm zugeschriebenen Funktionen zu erfüllen (vgl. Nolte, 2020, o. S.). Nachfolgend wird auf diesen Umstand detaillierter eingegangen.
Bildung ist die „Voraussetzung zur Handlungsfähigkeit jedes Einzelnen und der Gesellschaft“ (Löw, 2003, S. 35). Das über theoretische „Einsicht vollzogene Lernen“ (Brockhaus Enzyklo- pädie, 1967, zitiert nach Joskus, 2002, S. 15), aber auch die Erziehung als die im prakti- schen Umgang mit den Werten der Gesellschaft „bewirkte Formung des Verhaltens“ (ebd.) finden deshalb in vielen verschiedenen Institutionen statt, in denen Bildung praktiziert wird. Schulen als Orte institutionalisierter Bildung vertreten somit den Anspruch, Schüler*innen Bildung beziehungsweise Wissen, Kultur, Normen und Werte zu vermitteln, um sie in ihrer
Entwicklung zu mündigen, verantwortungsvollen und an der Gesellschaft partizipierenden Individuen zu unterstützen. Der Pädagogikprofessor Helmut Fend schreibt der Institution Schule eine Doppelfunktion der Sozialisation zu. Demnach liegen die beiden grundlegenden Funktionen von Schule in der Reproduktion der Gesellschaft und der Ausbildung der Persön- lichkeit begründet, welche in Wechselwirkung zueinander stehen und sich gegenseitig be- dingen (vgl. Fend, 2006, S. 53f.). Fend unterscheidet vier verschiedene Funktionen des Bil- dungssystems für die Gesellschaft: die Enkulturationsfunktion, die Qualifikationsfunktion, die Allokations- bzw. Selektionsfunktion und die Integrations- und Legitimationsfunktion (vgl. ebd., S. 49f.).
[...]
1 Aufgrund der nicht länderübergreifenden gesetzlichen Regelung für das deutsche Bildungssystem stimmt Abbil- dung 1 nicht gänzlich mit dem Bildungssystem jedes Bundeslandes überein. So sind die Schulformen in den ver- schiedenen Bundesländern nicht identisch oder die Grundschulzeit beträgt sechs und nicht vier Jahre (vgl. Edel- stein, 2013, o. S.).
2 Ausnahme: Berlin und Brandenburg mit sechsjähriger Grundschulzeit (vgl. Döbert, 2017, S. 173).
3 Ausnahme: In Bayern, Brandenburg und Thüringen ist die Grundschulempfehlung bindend (vgl. Kuhn, 2021, o. S.).
4 Ausnahme: zehnjährige Schulpflicht in Berlin, Brandenburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt (vgl. Döbert, 2017, S. 169).