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Bachelorarbeit, 2010
39 Seiten, Note: Sehr gut
Einleitung
1. Grundlagen zum Thema Stottern
1.1. Ätiologie des Stotterns
1.2. Die Symptome des Stotterns
1.3. Der Entstehungsmechanismus von Stottern
1.4. Therapiemethoden bei Erwachsenen
2. Sozialpsychologische Aspekte des Stotterns
2.1. Stottern - ein dialogisches Problem
2.2. Stottern aus Sicht Sprachgesunder
2.3. Stottern aus Sicht chronisch Stotternder
3. Methode
3.1. Die Online-Befragung
3.2. EESE - Erfassung der Erfahrungen von stotternden Erwachsenen
3.2.1. Was untersucht der EESE?
3.2.2. Wozu wurde der EESE entwickelt?
3.2.3. Wie wird der EESE durchgeführt und ausgewertet?
3.2.4. Welche Abschnitte hat der EESE?
4. Ergebnisse
4.1. Allgemeine Informationen
4.2. Reaktionen auf das Stottern
4.3. Kommunikation in täglichen Situationen
4.4. Lebensqualität
5. Diskussion
Literaturverzeichnis
Kurzzusammenfassung
Diese Bachelorarbeit setzt sich mit den psychosozialen Folgen des Stotterns bei Erwachsenen auseinander. Es wurde eine Fragebogenuntersuchung mittels der Arbeitsversion des EESE (Erfassung der Erfahrungen von stotternden Erwachsenen) durchgeführt, um folgende Fragen aus Sicht stotternder Erwachsener zu beantworten: Wie nehmen stotternde Erwachsene ihre beobachtbare Stottersymptomatik, ihre Reaktionen auf das Stottern und die Schwierigkeiten, mit denen sie im täglichen Leben konfrontiert sind, wahr? Welche Kommunikationsprobleme treten im Alltag auf? Wie wirkt sich die Redeflussstörung Stottern auf die Lebensqualität dieser Erwachsenen aus?
Die Untersuchung macht deutlich, dass Stottern ein komplexes und individuelles Krankheitsbild ist und in vielen Bereichen Auswirkungen auf das Leben und Verhalten Betroffener hat. Jede/r betroffene Erwachsene hat seine/ihre ganz persönliche Stotterproblematik, reagiert in verschiedenen Lebensbereichen dementsprechend anders und fühlt sich unterschiedlich stark belastet.
Für eine erfolgreiche Therapie ist daher die ehrliche Auseinandersetzung damit, wie und in welchem Ausmaß Stottern das Leben im jeweiligen Fall beeinflusst, Voraussetzung - sowohl auf Seiten der Klientinnen als auch auf Seiten der Therapeutinnen. Dieses Bewusstsein bildet die Basis einer ganzheitlichen Therapie.
Stottern ist eine Erfahrung, die jede/r von uns schon einmal gemacht hat. Jede/r kann sich an Situationen erinnern, in denen er/sie gestottert hat, sei es aus Müdigkeit, Angst oder Verlegenheit, weil man zu viel Alkohol getrunken hat oder weil man sich Hals über Kopf verliebt hat. Wird eine Kommunikationssituation als verunsichernd empfunden, ist der Dialog nicht mehr gelassen und locker, stattdessen beschleunigt sich die Artikulation, man verhaspelt sich, man hat Wortfindungsstörungen und manchmal „verschlägt es einem komplett die Sprache“ oder „es bleibt einem das Wort im Hals stecken“.
Was aber im Fall von Sprachgesunden in vereinzelten Kommunikationssituationen passiert, prägt - situationsabhängig und inkonstant - einen großen Teil der Alltagskommunikation einer stotternden Person. Redeflussgestörte machen immer wieder die Erfahrung, dass Dialoge misslingen und sie in kommunikativen Situationen erfolglos sind. Der daraus resultierende psychosoziale Stress kann unterschiedliche negative Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen haben (Scherer, 2003, S. 89ff).
Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich damit, wie stotternde Erwachsene ihre beobachtbare Stottersymptomatik, ihre Reaktionen auf das Stottern und die Schwierigkeiten, mit denen sie im täglichen Leben konfrontiert sind, wahrnehmen. Welche Kommunikationsprobleme treten im Alltag auf? Wie wirkt sich die Redeflussstörung Stottern auf die Lebensqualität dieser Erwachsenen aus?
Um diese Fragen aus der Sicht Betroffener behandeln zu können, wurde eine Fragebogenuntersuchung durchgeführt. 22 stotternde Erwachsene füllten online die aktuelle Arbeitsversion des Einschätzungstests EESE (Erfassung der Erfahrungen von stotternden Erwachsenen) aus und ermöglichten damit einen Einblick in die Erlebniswelt Stotternder.
Die Ergebnisse dieser Bachelorarbeit sollen LogopädInnen dabei helfen, die Komplexität des Krankheitsbilds Stottern zu erfassen und sie dafür sensibilisieren, in welcher Weise Stottern das Leben ihrer KlientInnen beeinflusst. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen bei der Behandlung des Stotterns unterstützen und dazu beitragen, das ganzheitliche Verständnis dieser Redeflussstörung zu verbessern.
Stottern ist eine Redeflussstörung, die in etwa 75% der Fälle zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr auftritt. Schon in der Kindheit stottern doppelt so viele Jungen wie Mädchen, wobei das Stottern bei Mädchen früher auftritt. Bis zum Alter von acht Jahren neigt Stottern besonders bei Mädchen zur spontanen Remission - bis zum Erwachsenenalter verändert sich das Verhältnis kontinuierlich, sodass es schließlich bei Männern vier- bis fünfmal häufiger zu finden ist als bei Frauen. Bei ca. 1,3% der Kinder kommt es zur Chronifizierung des Stotterns und man geht davon aus, dass etwa 1% der Erwachsenen chronisch stottert (Benecken, 2004, S. 624; Ptok, Natke & Oertle, 2006, S. 1216).
Die Ursachen für die Entstehung von Stottern sind bis heute nicht endgültig geklärt, allerdings scheinen genetische Faktoren eine wichtige Rolle zu spielen. In Studien konnten Dispositionsorte für Stottern auf mehreren Chromosomen nachgewiesen werden, die auch geschlechtsspezifisch unterschiedlich auftreten (Neumann, 2007, S. 6). Ochsenkühn & Thiel betonen aber, dass Stottern multifaktoriell bedingt ist und neben der Genetik auch Störungen erworbener Fähigkeiten und Umwelteinflüsse zur Entwicklung dieser Redeflussstörung beitragen. Konkret sprechen sie von Störungen der zentralen Wahrnehmungsentwicklung, Störungen der feinmotorischen Koordination von Atmung, Stimme und Artikulation, Störungen der psychosozialen Entwicklung und Zusammenhängen mit den psycholinguistischen Fähigkeiten des Kindes (2005, S. 26ff). Beispiele für umweltbedingte Belastungen sind negatives elterliches Verhalten, häufig wiederkehrende Erwartungen und Ansprüche an das Kind, die es nicht erfüllen kann, und häufige Änderungen der Familienkonstellation (Sandrieser & Schneider, 2001, S. 23).
Kohlbrunner spricht sich für eine ausgeprägte psychosomatische Genese aus, da Stottern typischerweise in bestimmten Situationen auftritt, etwa beim Sprechen vor Publikum, in dialogischen Situationen, bei milden Graden von Ärger oder während kognitiv komplexen Aussagen des/der Stotternden. Im Unterschied dazu gibt es auch Situationen, in denen Stottern schwach oder gar nicht auftritt, unter anderem im Selbstgespräch, beim Singen, beim Sprechen mit einem Kind oder beim Rollenspiel (2004, S. 6ff).
Im Unterschied zum eben beschriebenen idiopathischen Stottern (engl. „developmental stuttering“) kann Stottern auch plötzlich durch einen Schlaganfall, ein Schädel-Hirn-Trauma, Epilepsie oder einen Hirntumor ausgelöst werden. Auch im Zuge von Demenz oder einer neurologischen Erkrankung, wie z.B. Morbus Parkinson und Morbus Alzheimer, kann Stottern auftreten. In diesem Fall spricht man von neurogenem Stottern (engl. „neurogenic“ oder „organic stuttering“). Außerdem wird Stottern häufig syndromspezifisch, z.B. im Zusammenhang mit einer geistigen Behinderung, als Sprachauffälligkeit beschrieben. Bei Morbus Down liegt die Auftretenswahrscheinlichkeit beispielsweise bei etwa 40%.
Wird Stottern durch ein traumatisches Erlebnis ausgelöst, spricht man von einer weiteren Form des Stotterns, dem traumatischen oder psychogenen Stottern. Ausgelöst durch eine besondere Belastungssituation - ein Trauma - tritt eine Redeflussstörung auf, die mit dem Ende der Stressphase wieder abklingt, sodass sich kein ständiger Leidensdruck aufbaut. Psychogenes Stottern kann auch mit verschiedenen psychischen Störungen, wie z.B. Angstneurosen, Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen, assoziiert sein (Benecken, 2004, S. 624; Friedrich, Biegenzahn & Zorowka, 2008, S. 316; Zückner & Ebel, 2001, S. 110ff).
Beim Stottern werden von der Umwelt hör- bzw. sichtbare äußere Symptome und innere Symptome, die von anderen nicht unmittelbar beobachtet werden können, unterschieden. Zu den äußeren Symptomen zählen Kernsymptome (engl. „core behaviour“) und Begleitsymptome (syn. Sekundärsymptome). Im Folgenden werden die Kernsymptome kurz erklärt:
- Repetitionen: Wiederholung von Lauten („k-k-k-kann“), Silben („ka-ka-kann“) und einsilbigen Wörtern („kann-kann-kann“).
- Prolongationen: Hörbare Unterbrechungen des Redeflusses, bei der ein Laut, meist ein Kontinuant am Anfang eines Wortes, auffällig gedehnt wird („ffffffffahren“, „Aaaabend“). Eine Prolongation kann bei Stotternden bis zu mehreren Sekunden anhalten und so mehrfaches Nachatmen erfordern.
- Blocks: Auch hier ist die Bewegung der Artikulatoren unterbrochen, einschließlich der Lautproduktion und Atmung („ kann“). Synonym werden Blocks auch als „stille Prolongationen“ oder „tense pauses“ bezeichnet. Charakterisieren Blocks die Stottersymptomatik eines/einer Betroffenen, spricht man von tonischem Stottern.
Beim Begleitverhalten werden das Flucht- und Vermeidungsverhalten der stotternden Person unterschieden, welche individuell unterschiedlich als Reaktion auf die Kernsymptomatik erlernt werden. Zum Fluchtverhalten zählen Mitbewegungen der Feinmotorik (z.B. Augenzwinkern, Stirnrunzeln oder Aufblähen der Nasenflügel), als auch der Grobmotorik (z.B. Grimassieren, Kopfbewegungen oder Ballen der Faust). Stotternde reagieren mit diesem oder ähnlichem Verhalten, um aus einem Stotterereignis zu flüchten. Während mithilfe dieser Parakinesen das Stottern zu Beginn oft wirklich beendet werden kann, verliert sich ihre Funktionalität mit der Zeit.
Neben dem Fluchtverhalten tritt oft auch Vermeidungsverhalten auf, welches dazu dienen soll, das Stottern zu verhindern. Bei dieser Art des Verhaltens kann man zwischen nonverbalen Aspekten (z.B. Fehlen von Blickkontakt oder Vermeidung bestimmter Gesprächssituationen) und verbalen Aspekten (z.B. Umschreibungen schwieriger Wörter, Verwenden von Synonymen oder Satzumstellungen) unterscheiden. Eine Unterkategorie des Vermeidungsverhaltens stellen Aufschiebungen mithilfe von Embylophonien (Flicklaute wie „hm“ und „äh“) bzw. Flickwörtern (Embylophrasien wie „also“ oder „Was ich sagen will...“) dar. Diese Einschübe dienen dazu, den Sprecheinsatz hinauszuschieben und automatisieren sich, je öfter sie angewendet werden (Friedrich et al., 2008, S. 317; Natke, 2005, S. 15ff). In Abb. 1 ist der Ablauf eines typischen Stotterereignisses schematisch dargestellt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1 Typischer Verlauf eines Stotterereignisses bei entwickeltem Stottern (eigene Abb. in Anlehnung an Natke, 2005, S. 22)
Zu den „inneren Symptomen“ zählen kognitive und emotionale Aspekte, wie z.B. negative Gefühle, Reaktionen und die innere Haltung des/der Betroffenen. Dies beeinflusst unter anderem auch die Sprechatmung (inspiratorisches Sprechen oder Sprechen mit Restluft) und kann zu vegetativen Reaktionen wie Erröten, Erhöhung der Pulsfrequenz, Händeschwitzen, etc. führen. Es wird angenommen, dass bis zu achtzig Prozent der Stottersymptomatik innerlich und damit versteckt verläuft, während nur etwa zwanzig Prozent äußerlich und für die Umwelt bemerkbar sind (Zhang, Saltuklaroglu, Hough & Kalinowski, 2009, S. 18). Auch Maning betont, dass die Begleitsymptomatik jener Aspekt des Stotterns ist, der das Leben und Handeln stotternder Menschen am stärksten beeinträchtigt (1999, S. 161).
Während der Sprachentwicklung kommt es bei bis zu 80% der Kinder im Alter von zwei bis vier Jahren zu entwicklungsbedingten Sprechunflüssigkeiten, welche die Grundlage für die Entstehung des primären Stotterns darstellen.
Erst wenn in dieser Phase sogenannte „aufrechterhaltende Faktoren“, wie z.B. negative elterliche Reaktionen oder psychosozialer Stress, über einen längeren Zeitraum auf das Kind einwirken, kann es zur Stabilisierung und Chronifizierung des Stotterns kommen (siehe Abb. 2).
Es gibt zwei Ursachenmodelle, die das Zusammenwirken mehrerer Faktoren, die schlussendlich zu manifestem Stottern führen, beschreiben: das kumulative „Modell des überlaufenden Fasses“ und das Anforderungs- und Kapazitätenmodell (1987). Ersteres verdeutlicht, wie positive und negative Einflüsse das Kind in seiner Entwicklung bestärken bzw. verunsichern. Das Kind wird durch das Fass symbolisiert - es enthält alles, was das Kind an disponierenden Faktoren und erworbenen Fähigkeiten mitbringt. Innere und äußere Einflüsse wirken auf das Fass ein: positive Erfahrungen stärken die Stabilität, negative Erfahrungen, die nicht kompensiert werden können, sammeln sich solange an, bis das System schlussendlich überlastet ist und der berühmte Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt - es kann zu Stottern kommen.
Das Anforderungs- und Kapazitätenmodell (zitiert von Ochsenkühn & Thiel, 2005, nach Starkweather, 1987; Starkweather et al., 1990) stellt die kindlichen Fähigkeiten den Anforderungen der Umwelt an das Kind sowie auch jenen, welche das Kind selbst an sich stellt, gegenüber. Starkweather (1987) geht davon aus, dass flüssiges Sprechen durch das Gleichgewicht zwischen Abb-3 An[oraemnt,s-111111 Kapa/lUUcnm‘Kiciiim Gleichgewicht (Ochsenkühn & Thiel, 2005, S. 30)
Anforderung und Kapazität ermöglicht wird. Folgende Fähigkeiten und Faktoren werden unter „Kapazitäten“ bzw. „Anforderungen“ zusammengefasst (siehe Abb. 3):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ist das System von Anforderungen und Kapazitäten nicht in Balance - sei es, dass bei normalen Kapazitäten ein Übergewicht an Anforderungen besteht oder bei normalen Anforderungen ein Untergewicht an Kapazitäten - kann dies zum Auslöser für Stottern werden (Friedrich et al., 2008, S. 320; Ochsenkühn & Thiel, 2005, S. 28ff).
Bis heute wurde keine Kausaltherapie des Stotterns gefunden. Großteils werden verhaltenstherapeutische Methoden angewendet, wobei sich in der logopädischen Stottertherapie grundsätzlich zwei Therapieansätze unterscheiden. Einerseits gibt es Verfahren zur Bearbeitung des Sprechens (engl. "fluency shaping"), welche darauf abzielen, das Stottern zu eliminieren, und andererseits Verfahren zur Bearbeitung des Stotterns (engl. „stuttering modification“ oder „stuttering management“), mit dem Ziel, das Stottern flüssiger zu machen.
Vertreter des Fluency Shaping-Ansatzes gehen davon aus, dass Stottern ein erlerntes Sprechmuster ist, das es zu „verlernen“ gilt. Indem der/die Betroffene lernt, auf eine neue, kontrollierte Weise zu sprechen, soll das Stottern von vornherein ausgeschlossen werden. Dabei wird die neue Sprechweise schrittweise einem natürlich klingen Sprechen angepasst und in den Alltag integriert (Natke, 2005, S. 88f; Ptok et al., 2006, S. 1218f).
In der Stottermodifikation wird an motorischen und psychischen Reaktionen auf das Stottern, wie z.B. verbales und non-verbales Vermeidungsverhalten oder der Angst vor Stotterereignissen, gearbeitet. Dieser Ansatz, der auch als „Non-Avoidance-Ansatz“ bezeichnet wird, verbindet Methoden der psychologischen Beratung mit Verfahren zur sensomotorischen Steuerung von Stottersymptomen (Natke, 2005, S. 83f).
Fluency Shaping und Stottermodifikation stellen gegensätzliche Herangehensweisen dar. In der therapeutischen Praxis werden sie oft in Kombination angewendet, da sich bisher keine Methode bzw. eine bestimmte Verbindung dieser Therapieansätzen als überlegen erwiesen hat (Ptok et al., 2006, S. 1220). Die folgende Tabelle stellt die beiden Ansätze einander gegenüber und zeigt ihre unterschiedlichen Aspekte auf:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Fähigkeit, Stottern zu kontrollieren und Stotterfreies Sprechen durch Aufbau und in tolerierbare Sprechunflüssigkeiten Verstärkung flüssigen Sprechens umzuwandeln Ängste und Ängste und Fehleinstellungen müssen Probleme durch Ängste und Einstellungen Einstellungen identifiziert und direkt behandelt werden verschwinden, wenn flüssiges Sprechen das Stottern ersetzt Patient soll sich dazu bekennen, dass er Patient soll sich nicht mehr als „Stotterer“ ein „Stotterer“ ist, es akzeptieren und sehen lernen, mit dem Stottern zu leben Einstellung Patient muss lernen, ohne Vermeidung Flüssiges Sprechen macht es überflüssig, zum Stottern und Verhaltenskollaps zu stottern Toleranz für Stottern zu entwickeln
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1 Vergleich von Stottermodifikation und Fluency Shaping; extreme Positionen nach Ham, 1986 (eigene Abb. in Anlehnung an Natke, 2005, S. 91)
Ein tieferes Verständnis für die Sichtweisen und Einstellungen Stotternder und Nicht- Stotternder kann LogopädInnen dabei helfen, sich besser in ihre stotternden KlientInnen hineinzuversetzen und sie im Rahmen der Therapie im Umgang mit der Redeflussstörung zu unterstützen. Dieses Kapitel setzt sich daher mit folgenden Fragen auseinander: Was passiert, wenn Betroffene und Sprachgesunde miteinander kommunizieren? Und wie erleben beide Seiten Stottern und seine Auswirkungen?
Wie bereits erwähnt, kennt jede/r Sprachgesunde Situationen, in denen, abhängig vom sozialen Kontext, der momentanen emotionalen Befindlichkeit oder der Komplexität des Gesagten, der Redefluss gestört ist, die Atmung flach wird oder gar ganz stockt. Laut Scherer bewegt sich damit jeder Mensch auf einem Kontinuum zwischen Sprechflüssigkeit und - unflüssigkeit, der Unterschied zwischen Stotternden und Nicht-Stottemden liegt lediglich in der Häufigkeit des Auftretens (2003, S. 89f).
Sandrieser und Schneider betonen hingegen, dass das Stottern „nicht einfach nur ein „mehr“ von Sprechunflüssigkeiten“ ist, sondern dass diese Sprechunflüssigkeiten eine typische Qualität haben, die bei Nicht-Stottemden nur selten vorkommt. Zuhörerinnen nehmen Stottersymptome selbst dann als auffällig wahr, wenn sie im selben Ausmaß wie „übliche“ Sprechunflüssigkeiten auftreten. Genauer unterscheiden die Autorinnen zwischen normalen/funktionellen Unflüssigkeiten und stottertypischen/symptomatischen Unflüssigkeiten. in den Bereich der normalen Unflüssigkeiten fallen beispielsweise Wiederholungen von Wörtern und Satzteilen, Pausen, Satzabbrüche, Satzkorrekturen und Einschübe. Die stottertypischen Symptome wurden bereits in Kapitel 1.2. näher beschrieben (2001, S. 6f).
Scherer führt aus, dass mit jemandem sprechen bedeutet, Gedanken auszudrücken, etwas von sich preiszugeben. Damit riskiert man Kritik, Vorurteile oder einfach, vom anderen eingeschätzt und beurteilt zu werden. ist man sich in dieser Situation seiner selbst sicher und weiß, was man kann, ist es einfach, ruhig, betont und flüssig zu sprechen:
Für meine Aussage kann ich mir Zeit nehmen, wenn ich mir sicher bin, dass mir in Ruhe zugehört wird. ich überlege in aller Ruhe, mache natürliche Pausen, ordne meine Gedanken. Meinem Gesprächspartner mute ich sogar zu, die - vollkommen natürlichen - Unterbrechungen auszuhalten, die ich benötige, um meine Gedanken zu ordnen und zu formulieren. ich kann mir für meine Mitteilung Zeit lassen, brauche beim Sprechen nicht zu hetzen, muss mich nicht beeilen (Scherer, 2003, S. 90).
Kommen jedoch Störfaktoren hinzu, die auf den/die Sprecherin bedrohlich wirken - etwas Unangenehmes soll gesagt werden, viele Leute hören zu, der/die Gesprächspartnerin erzeugt beim/bei der Sprechenden Stress, etc. - löst dies ein „evolutionäres Notfallsprogramm“ aus: kämpfen - täuschen - fliehen. Sofort verändert sich die Qualität des Sprechflusses:
[...] Infolgedessen erhöhe ich zunächst mein Sprechtempo, ich beschleunige meine Artikulation, lasse meine Gedanken schneller aus meinem Mund, beeile mich, spreche überstürzt, poltere, verhasple mich, habe Wortfindungsstörungen. Um Sicherheit in der Kommunikation vorzutäuschen, fülle ich als nächsten Schritt meine nicht gewollten Pausen mit Embylophonien wie „äh“ und „hm“ sowie mit Embylophrasien. Als weitere
Fluchtschritte ziehe ich mich immer weiter in mein Schneckenhaus zurück. [...] Das geht soweit, dass ich mich letzten Endes gar nicht mehr äußere; ich verkrieche mich ganz in mein Schneckenhaus, verweigere Sprache, schweige (Scherer, 2003, S. 90).
Die „Dialogschnecke“ in Abb. 4 zeigt, wie sich das Sprechverhalten bei wachsender Unsicherheit im Gespräch verändert.
Während Nicht-Stotternde derartige unangenehme Kommunikationssituationen aber nur fallweise erleben, machen Stotternde ständig wieder-kehrende negative Dialogerfahrungen, die sie verunsichern und mit der Zeit prägen.
Das Stottern beeinträchtigt alle am Gespräch Beteiligten. Für den/die SprecherIn bringt es den Verlust von Selbstkontrolle und Selbstvertrauen mit sich, für den/die ZuhörerIn bedeutet es den Verlust der Berechenbarkeit von Gesprächssituation und KommunikationspartnerIn. Dieses Nicht- Entsprechen der Norm des Sprechenkönnens führt im Gespräch oft zu Unsicherheit, erntet Unverständnis und bringt oft mit sich, dass der/die Stotternde „etikettiert“ bzw. in eine „Schublade gesteckt“ wird - Stotterer, Legastheniker, Aphasiker, behindert, oder einfach zu bemitleiden (Wieser, 2002, S. 7f).
Benecken beschreibt, dass Unterhaltungen zwischen Sprachgesunden und Stotternden dazu tendieren, im Laufe des Gesprächs von der Sachebene auf die Selbstoffenbahrungs- und Beziehungsebene abzugleiten. Dem Stottern werden psychische Zustände wie Angst, Verlegenheit oder Unsicherheit zugeschrieben, welche der/die Betroffene durch die Sprechunflüssigkeit offen zeigt, während Nicht-Stotternde sie in den meisten sozialen Situationen zu verbergen versuchen, da sie ihnen unangenehm oder peinlich sind (2004, S. 627).
[...]