Für neue Kunden:
Für bereits registrierte Kunden:
Bachelorarbeit, 2009
63 Seiten, Note: 1,3
1. EINLEITUNG
2. WOHNUNGSLOSIGKEIT
2.1 Wohnungslosigkeit – Was ist das?
2.1.1 Begriffsbestimmungen und Zielgruppe
2.1.2 Zahlen und Fakten
2.2 Geschlechtsspezifische Ursachen von Wohnungslosigkeit
2.3 Unterschiedliche Problemlagen von Wohnungslosen
2.4 Gesetzliche Rahmenbedingungen
2.5 Struktur und Angebote der Wohnungslosenhilfe
3. PSYCHISCH KRANK – FORMEN PSYCHISCHER STÖRUNGEN UND DAS PSYCHIATRISCHE VERSORGUNGSSYSTEM
3.1 Die Beschaffenheit psychischer Störungen
3.2 Klassifikationssysteme
3.3 Formen psychischer Störungen
3.3.1 Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen
3.3.2 Konsum- und substanzunabhängige psychische Störungen
3.4 Das psychiatrische Versorgungssystem in Deutschland
4. WOHNUNGSLOS UND PSYCHISCH KRANK – MENSCHEN ZWISCHEN ZWEI HILFESYSTEMEN
4.1 Wer sind die psychisch kranken Wohnungslosen?
4.2 Schwierigkeiten bei der Inanspruchnahme und Kooperation beider Systeme
4.2.1 Schwierigkeiten auf rechtlicher Ebene
4.2.2 Schwierigkeiten auf versorgungsstruktureller Ebene
4.2.3 Schwierigkeiten auf fachlicher Ebene
4.2.4 Schnittstellenprobleme
4.3 Handlungsansätze und Forderungen
5. FAZIT
6. LITERATURVERZEICHNIS
Man findet sie in Parkanlagen, Bahnhofspassagen, unter Brücken, in Hauseingängen oder an sonstigen öffentlichen Plätzen. Von der Gesellschaft werden sie abfällig als ,Pen- ner‘ bezeichnet: Wohnungslose sind heute in den meisten größeren Städten keine Sel- tenheit mehr. Viele von ihnen sind alkoholisiert, andere fallen durch ihr sonderbares Ver- halten in der Öffentlichkeit auf. Sie gehören zu einer Randgruppe unserer Gesellschaft.
Die Mehrheit empfindet sie als unangenehme Zeitgenossen, die man lieber meidet. Au- gen zu und durch: Kaum jemand hinterfragt die Ursachen, die zu einem Leben auf der Straße geführt haben und macht sich Gedanken darüber, was ein Leben ohne Rück- zugsmöglichkeit in die eigenen vier Wände wirklich bedeutet. Die Erscheinung von Armut und Verwahrlosung wird von vielen ignoriert, um das Problem der sozialen Randständig- keit dieser Personen nicht wahrnehmen zu müssen. Von der Gesellschaft als sonderbare Einzelgänger abgestempelt, die sich vom gesellschaftlichen Zusammenleben verabschie- det haben und in ein Leben geflüchtet sind, das außer dem bloßen Überleben keinerlei Verantwortung von ihnen fordert, werden diese Menschen selbst im 21. Jahrhundert in Deutschland noch immer stigmatisiert.
Auch eine psychische Erkrankung bedeutet ein Stigma in unserer heutigen Zeit. Immer noch herrscht große Unsicherheit über den Umgang mit Betroffenen.
Um das eigene Gewissen zu beruhigen und Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen, re- det man sich ein, dass schon irgendjemand für diese Menschen schon zuständig sein wird und heutzutage, in Zeiten des Sozialstaates, niemand mehr unfreiwillig auf der Stra- ße zu leben braucht. Man entzieht sich der Verantwortung und unterstellt den Wohnungs- losen sich ihre Situation frei ausgewählt zu haben und keinerlei Versuche zu beginnen, in ein normales Leben zurückzukehren.
Wer aber ist dieser ,irgendjemand‘ den wir für zuständig halten?
Sieht man genauer hin, fällt auf, dass in den letzten Jahren die Anzahl psychisch kranker Menschen unter den Wohnungslosen gestiegen ist und dass sie versuchen im ,Bermuda- dreieck‘ von Wohnungslosenhilfe, Psychiatrie und Suchtkrankenhilfe ihren Ansprechpart- ner zu finden.
Ich habe mir die Frage der Zuständigkeit gestellt, habe den Anblick eines verwirrt und verwahrlosten Mannes in der Fußgängerzone hinterfragt: Wieso lebt er auf der Straße und wird von der Wohnungslosenhilfe scheinbar nicht erreicht? Und wieso befindet er sich auf Grund seiner offensichtlichen psychischen Erkrankung nicht im psychiatrischen Ver- sorgungssystem? Hat er versucht durch seine Wohnungslosigkeit aus dem Stigma der psychischen Erkrankung zu entfliehen, oder wollte er die niedrigschwelligste aller Hilfe- formen für sich annehmen, um dem Veränderungs- und Anforderungsdruck zu entgehen?
Dieser Anblick und die anschließende Hinterfragung der Situation des betroffenen Man- nes ließen mich auf das Thema meiner Bachelorthesis stoßen: „Wohnungslos und psy- chisch krank – Probleme bei der Zuständigkeit und Zusammenarbeit zweier unterschiedli- cher Hilfesysteme“.
Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit ist: Wieso fallen psychisch kranke Wohnungslose aus den beiden Hilfesystemen heraus und warum existieren keine geeigneten Hilfeformen für sie?
Die Beantwortung dieser Frage besteht in der Ermittlung der Schwierigkeiten, die woh- nungslosen psychisch kranken Menschen in die bestehenden Hilfesysteme zu integrieren und aufzuzeigen, wie adäquate Hilfen aussehen und zukünftig aussehen könnten.
Für mich ausgewählt habe ich das Thema zusätzlich, da ich keinerlei Vorerfahrungen im Bereich der Wohnungslosenhilfe und des psychiatrischen Versorgungssystems hatte, mich die Problematik der Betroffenen jedoch mitriss und ich mich nicht damit zufrieden geben wollte, dass in unserer heutigen Zeit diese Menschen immer noch vollständig durch das soziale Netz fallen.
Erst seit den letzten Jahren suchen in Deutschland die Wohnungslosenhilfe und das psy- chiatrische Versorgungssystem gemeinsam nach Antworten auf diese Fragen. Jedoch gilt es, viele Hindernisse zu überwinden und geeignete Formen der Forschung und Statistik zu finden, um die gegenwärtige Problemlage genauer beschreiben und erkennen zu kön- nen. Denn obwohl das Problem psychisch kranker Wohnungsloser in den beiden Hilfesys- temen bewusst ist, liefern die meisten bundesdeutschen Untersuchungen kein Datenma- terial, das für die konkrete Planung der psychiatrischen Versorgung von Wohnungslosen herangezogen werden könnte.
Das Thema gerät mit einer gewissen Selbstläufigkeit sowohl in den populären, als auch in den wissenschaftlichen Medien seit den letzten Jahren immer wieder in die Debatte. Pu- bliziert wurden jedoch nur eine geringe Anzahl von fundierten Aussagen. Die wenigen Un- tersuchungen, die hierzulande in dem Problemfeld durchgeführt wurden, haben ganz un- terschiedliche, aber durchweg hohe psychiatrische Prävalenzen zutage gefördert. Ein wei- teres Problem ist, dass sehr wenig aktuelle Publikationen zu diesem Thema existieren, was eine genaue Beschreibung der aktuellen Problemlage kaum ermöglicht. So muss ich bei dieser Arbeit davon ausgehen, dass – soweit keine neueren Materialien zur Verfügung stehen – sich in Bezug auf die früheren Quellen nicht viel verändert hat und das Problem immer noch weitläufig existiert.
Um zur zentralen Fragestellung hin zu führen, beschäftigt sich das zweite Kapitel ganz allgemein mit der Problematik der Wohnungslosigkeit. Zunächst werden durch Begriffsbe- stimmungen (2.1.1) und allgemeine Zahlen und Fakten (2.1.2) kurze Einblicke in die Thematik ermöglicht.
Darauf folgt die Beschreibung geschlechtsspezifischer Ursachen von Wohnungslosigkeit (2.2), sowie unterschiedlicher Problemlagen von Wohnungslosen (2.3). Die Thematik ei- ner psychischen Erkrankung wird hier immer nur kurz angerissen.
Des Weiteren werden gesetzliche Rahmenbedingungen (2.4), sowie die Struktur und An- gebote der Wohnungslosenhilfe (2.5) aufgezeigt, um die Situation psychisch kranker Wohnungsloser im dritten Kapitel besser analysieren zu können.
Das dritte Kapitel wird eingeleitet durch die Beschreibung der Beschaffenheit psychischer Störungen (3.1), sowie einer Einführung in deren Diagnostik (3.2).
Der Schwerpunkt des dritten Kapitels liegt darauf, einen kurzen Überblick über Formen psychischer Störungen zu geben, welche im Zusammenhang mit psychotropen Substan- zen (3.3.1), oder aber auch konsum- und substanzunabhängig (3.3.2) auftreten können sowie kurz das psychiatrische Versorgungssystem in Deutschland (3.4) vorzustellen, um die Problematik, die im vierten Kapitel aufgezeigt werden soll, besser verstehen zu können.
Im vierten Kapitel geht es dann explizit um psychisch kranke Wohnungslose und deren Befinden, beziehungsweise ,Verschwinden‘ zwischen den im zweiten und dritten Kapitel beschriebenen Systemen. Um die Schwierigkeiten besser verstehen zu können, die in diesem Kapitel aufgezeigt werden sollen, werden zu Beginn mögliche Ursachen der Ver- sorgungsprobleme auf Seiten der Betroffenen vorgestellt (4.1).
Danach folgt die Beschreibung der Schwierigkeiten bei der Inanspruchnahme und Koope- ration beider Systeme (4.2), aufgegliedert in unterschiedliche Ebenen: So befasst sich Kapitel 4.2.1 mit den Schwierigkeiten auf rechtlicher Ebene, Kapitel 4.2.2 mit strukturellen Problemen bei der Versorgung, Kapitel 4.2.3 mit Schwierigkeiten auf fachlicher Ebene und Kapitel 4.2.4 letztendlich mit Schnittstellenproblemen.
Abschließend werden bestehende Handlungsansätze aufgezeigt und Forderungen an die Hilfesysteme (4.3) entwickelt.
Auch nach ausreichender Recherche ist es schwierig, eine präzise Antwort auf diese Fra- ge zu geben. Es existiert kein einheitlicher Begriff für Personen ohne eigenen Wohnraum, sondern eine Vielzahl von Bezeichnungen, die im alltäglichen Sprachgebrauch oft gleich- gesetzt werden, bei näherer Betrachtung jedoch Unterschiede aufweisen. Bezeichnet werden Personen aus dieser sozialen Randgruppe unter anderem als Nichtsesshafte, Wohnungsnotfälle, Obdachlose, Wohnungslose, Mittellose, Penner, Stadtstreicher oder Berber.
Im Folgenden sollen die vier gebräuchlichsten Begriffe beschrieben und Zahlen, sowie Fakten von Wohnungslosigkeit aufgezeigt werden.
Als ,nichtsesshafte‘ Menschen werden Personen bezeichnet, die von einem Ort zum an- deren wandern und ohne feste Unterkunft sind. Der Begriff stammt aus der Zeit des Nati- onalsozialismus und wird als Beschreibung wohnungsloser Menschen noch bis heute verwendet (vgl. Brender 1999, S.16).
Sozialverwaltungen haben sich jedoch auf Grund der negativen Zuschreibung bestimmter Persönlichkeitsstrukturen durch die Bezeichnung eines Menschen als ,Nichtsesshaften‘ und der daraus resultierenden Stigmatisierung von diesem Begriff schon teilweise distan- ziert (vgl. Egerter 2004, S.9f).
Als ,Wohnungsnotfälle‘ bezeichnet man alle Personen, die wohnungslos, oder von Woh- nungslosigkeit bedroht sind (latente Wohnungslosigkeit), beispielsweise durch eine Räu- mungsklage, eine Kündigung oder sonstige Umstände, oder in unzumutbaren Wohnver- hältnissen leben (vgl. Lutz/Simon 2007, S.69). Die Unterscheidung zwischen Alleinste- henden und Familien wird aufgehoben und soziale und gesellschaftliche Strukturen in den Vordergrund gestellt (vgl. Ehmann 2006, S.22).
Die meisten Widersprüche lassen sich bei den Begriffen ,wohnungslos‘ und ,obdachlos‘ erkennen. Für Geißler (2008) sind Personen wohnungslos, wenn sie zwar ein Dach über dem Kopf haben, aber keinen Mietvertrag besitzen, zum Beispiel weil sie bei Verwandten, Freunden oder in Notunterkünften untergebracht sind, und obdachlos, wenn sie direkt auf der Straße leben (vgl. Geißler 2008, S.210). Andere Autoren definieren diese beiden Be- griffe genau umgekehrt.
In dieser Bachelorthesis wird Bezug auf die Definition der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) genommen, welche Einzelpersonen wohnungslos nennt, wenn sie über kein Wohneigentum oder keine mietrechtlich abgesicherte Wohnung verfügen und bei Verwandten und Freunden oder auf der Straße leben, beziehungsweise in Institutionen der Wohnungslosenhilfe oder des psychiatrischen Versorgungssystems untergebracht sind.
Des Weiteren soll an dieser Stelle bemerkt werden, dass sich die gesamte Arbeit auf Männer und Frauen ab einem Alter von 27 Jahren bezieht, da für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene das System der Jugendhilfe zuständig ist.
Über die Anzahl der Personen in Deutschland, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, gibt es keine bundesweite Statistik. Und obwohl es sich nur um Schätzwerte handelt, be- ruhen die meisten Zahlenangaben in der Fachliteratur und in den Medien auf jenen der BAG W.
Diese schätzt für das Jahr 2006 die Anzahl der Wohnungslosen auf etwa 254.000 Perso- nen. Davon sind circa 52% (132.000) alleinstehende Wohnungslose (Einpersonenhaus- halte) und rund 48% (122.000) Personen in Mehrpersonenhaushalten (vgl. BAG Woh- nungslosenhilfe 2008, S.5).
Der Frauenanteil soll bei 25% (64.000), die Anzahl der Kinder und Jugendlichen bei 11% (28.000) und die Zahl der Männer bei 64% (162.000) liegen (vgl. BAG Wohnungslosenhil- fe 2008, S.6).
Circa 18.000 Menschen leben ohne jegliche Unterkunft auf der Straße (vgl. BAG Woh- nungslosenhilfe 2007, S.1). Unmittelbar von Wohnungsverlust bedroht sind zwischen 60.000 und 120.000 Haushalte mit mindestens 120.000 bis zu 235.000 Personen (vgl. BAG Wohnungslosenhilfe 2008, S.5f).
Die Unterbringung im Gesundheitssystem (Krankenhaus, Pflegeheim, Psychiatrie) hat zwischen 2005 mit 2,6% und 2006 mit 3,0% leicht zugenommen, wobei rund 67% der Be- troffenen im Alter zwischen 25 und 49 Jahren sind (vgl. BAG Wohnungslosenhilfe 2008, S.23f).
Leider macht die BAG Wohnungslosenhilfe keinerlei Angaben über die Anzahl an Woh- nungslosen in der Psychiatrie.
In den letzten Jahrhunderten wurden unterschiedlichste Hypothesen über die Auslöser von Wohnungslosigkeit aufgestellt. Zu den ältesten gehören die psychiatrisch-neurolo- gischen Ansätze. Sie gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück und sehen die Ursache von Wohnungslosigkeit in der „abnormen Persönlichkeit“ (Stumpfl 1938, S.280) der Betroffe- nen und machen deren „Wandertrieb“ (Ehrlicher 1938, S.245) für ihre ,Nichtsesshaftigkeit‘ verantwortlich.
Psychologische Ansätze seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts verstanden ,nicht- sesshaftes‘ Verhalten als erlerntes Verhalten und nicht als eine in der Persönlichkeit ver- wurzelte Eigenschaft. Ihnen zufolge stellte Wohnungslosigkeit eine hilflose Konfliktlö- sungsstrategie und eine Reaktion auf Angst- und Zwangsgefühle dar (vgl. John 1988, S.85ff).
Soziologische Ansätze rückten Ende der 70er Jahre in den Vordergrund. Sie beachteten nicht nur die individuellen Ursachen von Wohnungslosigkeit, sondern richteten ihren Blick auf den Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft (vgl. John 1988,S.98ff).
Wie oben skizziert, stellten Erklärungsversuche für Wohnungslosigkeit in der Geschichte der Wohnungslosenhilfe anfangs individuelle, später dann gesellschaftlich-strukturelle Faktoren in den Vordergrund. Heute vertritt man ein mehrdimensionales Konzept, wel- ches die Wechselwirkung zwischen individuellen Risikofaktoren und gesellschaftlich- strukturellen Bedingungen als Ursache für Wohnungslosigkeit in Betracht zieht. Im Fol- genden sollen daher zuerst mögliche individuelle und dann gesellschaftlich-strukturelle Ursachen aufgezeigt werden.
Den ,typischen‘ Wohnungslosen gibt es nicht, jedoch nimmt die Wahrscheinlichkeit woh- nungslos zu werden zu, je mehr individuelle Risikofaktoren zusammentreffen.
Hierzu könnten zum einen traumatische Erfahrungen in der Kindheit, wie zum Beispiel Armuts- und Gewalterfahrungen, Heimunterbringungen oder das Nichtvorhandensein ei- nes stabilen Wohnsitzes, zählen, da verschiedene Studien belegen, dass Wohnungslose vermehrt diesen Belastungen ausgesetzt waren (vgl. Egerter 2004, S.14).
Zum anderen kommen Menschen durch krisenhafte persönliche Lebensereignisse, wie Arbeitsplatzverlust, Trennung, Scheidung, Krankheit, Unfall oder Tod einer nahestehen- den Person, in Notlagen, die sie überfordern, existenziell bedrohen und aus denen sie sich nicht mehr aus eigener Kraft helfen können (vgl. Geißler 2008, S.212).
Das Fehlen, beziehungsweise der Verlust sozialer Beziehungen, soziale Isolation, sowie die Verweigerung notwendiger und frühzeitiger Hilfen können ebenso zu den Risikofakto- ren gezählt werden (vgl. Geißler 2008, S.210ff).
Belastungen und Einschränkungen durch Abhängigkeitserkrankungen, sowie körperliche und psychische Erkrankungen sind weitere Risikofaktoren, die zur Entstehung und Fort- dauer von Wohnungslosigkeit beitragen (vgl. Kellinghaus 2000, S.14). Denkbar wäre je- doch auch, dass die Anhäufung von belastenden Situationen zum Ausbruch dieser Art von Erkrankungen führt und sie sich somit als Folge von Wohnungslosigkeit beobachten lässt. Ob der Ausbruch psychischer Störungen nun Ursache oder Folge von Wohnungslo- sigkeit ist, lässt sich nicht immer nachvollziehen.
Eine Studie aus den USA kommt zu dem Schluss, dass zwei Drittel der psychisch kran- ken Wohnungslosen vor und ein Drittel nach dem Verlust der Wohnung erkrankten (vgl. Masanz 2008, S.107).
Die oben beschriebenen individuellen Ursachen tragen zu einem Rückgang der Anpas- sungsfähigkeit und der sozialen Ressourcen der Betroffenen bei, was zu einer erhöhten Vulnerabilität gegenüber den gesellschaftlich-strukturellen Faktoren führen kann.
Hierzu zählen der Anstieg der Arbeitslosenzahl und die Kürzung von öffentlichen Sozial- leistungen, wodurch soziale Ungleichheiten und Armutsrisiken entstehen. Diese können für einen erschwerten Zugang zum Bildungssystem verantwortlich sein, was wiederum schlechte Startchancen ins Berufsleben zur Folge haben kann. Somit befinden sich die Betroffenen in einem Teufelskreis, der sehr schwer zu durchbrechen ist. Weitere gesell- schaftliche Rahmenbedingungen sind die steigenden Wohnpreise, sowie Stigmatisie- rungs- und Ausgrenzungsprozesse, die wohnungslosen Menschen kaum Chancen auf Wohnraum und Arbeitsplatz bieten (vgl. Lutz/Simon 2007, S.51ff).
Die Veränderung des institutionellen Versorgungssystems von stationär zu ambulant trägt ebenso zu einer erhöhten Wohnungslosigkeit bei. Viele Menschen sind nach der Entlas- sung aus einer stationären Einrichtung ohne Wohnung und landen somit direkt auf der Straße.
Dieses differenzierte Ursachenverständnis führte dazu, dass einseitig moralisierende Auf- fassungen von Eigenverantwortung und Fehlerhaftigkeit der Betroffenen zurückgedrängt werden konnten und die Auslöser von Wohnungslosigkeit nun mehrdimensional beleuch- tet werden. Wohnungslosigkeit ist daher aus heutiger Sicht mit vorausgehenden, bezie- hungsweise begleitenden persönlichen, sozialen und materiellen Problemen verbunden und wird überwiegend als Folge eines lang andauernden Verarmungs- und Desintegrati- onsprozesses benachteiligter Menschen verstanden.
Da viele Studien belegen, dass es Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Wohnungslosigkeit gibt, ist es jedoch wichtig, die individuellen und gesellschaftlich- strukturellen Ursachen geschlechtsspezifisch zu betrachten (vgl. Fichtner 2004, S.50).
Lange Zeit schien es, als seien Frauen weniger von Wohnungsnot betroffen als Männer. Wohnungslosigkeit in Form der früher so genannten Nichtsesshaftigkeit wurde eindeutig als eine reine Männerangelegenheit betrachtet. Frauen hingegen sind häufig verdeckt und unauffällig wohnungslos, weshalb sie vom Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe bis zu Beginn der 80er Jahre nicht erreicht wurden (vgl. Simon 2006, S.2).
Obwohl das Klientel der Wohnungslosenhilfe zum größten Teil aus Männern besteht, wurden männerspezifische Erklärungsversuche und Ursachen zu keiner Zeit grundlegend erforscht und ihnen kein relevanter Stellenwert zugewiesen. Vielmehr fällt auf, dass in der Literatur zunehmend geschlechtsspezifische Ursachen der Wohnungslosigkeit von Frau- en, deren Lebenslagen und strukturellen Benachteiligungen ausführlich beschrieben werden.
Gründe männlicher Wohnungslosigkeit werden in der Literatur auf Armut und soziale Ausgrenzung bagatellisiert. Auf den Gedanken einer defizitären männlichen Sozialisation, zum Beispiel durch das Scheitern bei der Erfüllung bestimmter männlicher Rollenerwar- tungen, hat sich die Wohnungslosenhilfe bis dato noch nicht eingelassen (vgl. Fichtner 2004, S.50).
Dies lässt sich insgesamt im Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit feststellen, die in den gerin- gen Anteilen geschlechtsbezogener Arbeit meist auf Mädchen- und Frauenarbeit ausge- richtet ist. Jungen- und Männerarbeit scheint hier, trotz aktuellen öffentlichen Diskurses, nur marginal ein Thema zu sein. Generell wird davon ausgegangen, dass für Frauen wirt- schaftlich und strukturell keinerlei Chancengleichheit gegenüber den Männern besteht und sie prinzipiell mehr Benachteiligungen ausgesetzt sind. Fichtner (2004) spricht von einer „geschlechtsblinden Männerforschung“, die lediglich die Diskrepanzen der Frauen in den Mittelpunkt einer geschlechtersensiblen Untersuchung stellt, abweichende Entwick- lungsprozesse von Männer jedoch nicht beachtet (vgl. Fichter 2004, S.50).
Auf Grund der defizitären männerspezifischen Ursachenforschung im Bereich der Woh- nungslosenhilfe, können daher im Folgenden nur die Ursachen weiblicher Wohnungslo- sigkeit genauer beschrieben werden.
Durch das Bewusstwerden einer Feminisierung der Armut wurde deutlich, dass für Frauen ein erhöhtes Risiko besteht, in Wohnungslosigkeit zu geraten (vgl. Steinert 1991, S.53f). Eine der wichtigsten Ursachen für den Wohnungsverlust von Frauen ist das Scheitern von Ehe oder Partnerschaft und die damit verbundene Trennung oder Scheidung (vgl. Rosenke/Schröder 2006, S.7). Viele Frauen haben oft kein ausreichendes eigenes Ein- kommen und sind somit finanziell von ihrem (Ehe)Partner abhängig. Frauenspezifische Sozialisation und traditionelle Geschlechterrollenzuweisungen, beispielsweise die ge- schlechtsspezifische Arbeitsteilung, tragen ebenfalls zu einem erhöhten Armutsrisiko von Frauen bei (vgl. Lutz/Simon 2007, S.153).
Sozialpsychologisch orientierte Ansätze nennen Probleme innerhalb der weiblichen So- zialisation als mögliche Auslöser von Wohnungslosigkeit (vgl. Steinert 1991, S.58f). Hier- zu zählen die Belastung der Frauen durch starre Rollenerwartungen, sowie verschiedene Formen von körperlicher und seelischer Gewalt durch den (Ehe)Partner oder anderer Familienangehörige (vgl. Sellach 2001, S.5f). Bei letzterem ist seit 1998 eine leicht rück- läufige Tendenz zu beobachten, was sich möglicherweise auf eine konsequente Anwen- dung des Gewaltschutzgesetzes zurückführen lässt (vgl. Rosenke/Schröder 2006, S.7).
Wichtig ist jedoch zu beachten, dass diese Art von Beziehungsproblematiken nachhaltig von Armut bestimmt wird. Daher müssen Erklärungsansätze weiblicher Wohnungslosig- keit in die Theorien der Begründungszusammenhänge spezifischer weiblicher Armutsrisi- ken mit eingebunden werden (vgl. Enders-Dragässer/Sellach 2000, S.102).
Deutlich wird, dass geschlechtsspezifische Ursachen von Wohnungslosigkeit nicht unab- hängig voneinander auftreten, sondern in einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge in Zusammenhang stehen. Sie sind immer im Kontext von gesellschaftlichen Verhältnissen, strukturellen Ungleichheiten, unterschiedlichen Rollenerwartungen und -zuschreibungen, sowie unterschiedlichen weiblichen und männlichen Voraussetzungen zu betrachten.
Ein Wohnungsverlust ist gleichzusetzen mit dem Wegfall einer elementaren Grundlage für ein gesichertes, menschenwürdiges Leben. Eine Wohnung ist nicht nur materielle Vo- raussetzung für Wärme, Schutz und Geborgenheit, sondern auch eine notwendige Basis für Arbeit, Familie, Privatleben, Hygiene, für bestimmte Formen der Kommunikation, wie zum Beispiel die Postzustellung oder das Internet, und für ein Mindestmaß an sozialer Anerkennung. Menschen, die über einen gewissen Zeitraum auf der Straße leben und ei- nen Verlust ihrer sozialen Kontakte hinnehmen mussten, haben unterschiedliche aus- grenzende und schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Ihre Wohnungslosigkeit ist – abhän- gig vom Lebensraum – durch spezielle Lebenssituationen gekennzeichnet. Diese prägen den körperlichen und seelischen Zustand der Betroffenen und haben Einfluss auf den Ausbruch und Verlauf von Krankheiten. Um die Situation psychisch kranker Wohnungslo- ser besser analysieren zu können, ist es daher erforderlich sich mit den Problemlagen wohnungsloser Menschen auseinanderzusetzen.
Zu den einzelnen Lebensräumen von Wohnungslosen zählen beispielsweise Notunter- künfte der Gemeinde, Wohnheime, betreute Wohnformen, Billigpensionen, die ,Straße‘ oder die Wohnung von Verwandten, Bekannten oder Freunden (vgl. Kellinghaus 2000, S.15ff).
Auf Grund der Vielzahl der individuellen Problemlagen, sollen an dieser Stelle nur die wichtigsten beschrieben werden.
Meist steht der Wohnungsverlust in Zusammenhang mit einem Arbeitsplatzverlust, oder ist mit bereits zuvor bestehender Arbeitslosigkeit verbunden. Durch den Einkommensver- lust können Unterhaltsverpflichtungen, Geldstrafen oder Schulden oft nicht mehr bezahlt werden (vgl. Gillich/Nieslony 2000, S.93ff).
Hinzu kommt, dass viele Sozialämter nur Gutscheine oder Tagessätze als Hilfe – sofern diese überhaupt beantragt wurde – gewähren (vgl. Kellinghaus 2000, S.18). Materielle Unterversorgung ist daher Bestandteil des täglichen Lebens für die Betroffenen.
Somit scheint es auch recht plausibel, dass viele Wohnungslose in die Kriminalität abrutschen.
Sie verüben meist Bagatellstraftaten wie ,Schwarzfahren‘, Kleindiebstähle von Geld, Le- bensmittel oder Suchtmittel und halten sich unerlaubt in öffentlichen und privaten Gebäu- den auf (vgl. John 1988, S.60).
Allgemein lassen sich Wohnungslose jedoch eher als Opfer denn als Täter beschreiben, da sie vermehrt Opfer von Gewalt durch ,Stärkere‘ innerhalb der Szene oder auf Grund rechtsradikaler Hintergründe sind (vgl. Kellinghaus 2000, S.18f).
Auch zählt strukturelle Gewalt zum Alltag wohnungsloser Menschen: Neben Diskriminie- rung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, werden sie durch die Polizei oft von öffentli- chen Plätzen vertrieben. Dies geschieht meist nicht auf Grund von Gefahrenabwehr, son- dern um das Stadtbild ,sauber‘ zu halten (vgl. Behrendes 2000, S.125f).
Reindl ist der Auffassung, dass es als Taktik der Politik anzusehen ist, das Bild von Woh- nungslosen als kriminelle Straftäter in der Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten. Denn wenn eine Gesellschaft ihre Zukunftsängste auf eine soziale Randgruppe projizieren kann, so wird sie die Schuld ihrer Situation nicht bei der Politik suchen (vgl. Reindl 2000, S.151f).
Eine derartige Diskriminierung und Funktionalisierung von wohnungslosen Menschen hat einen massiven negativen Einfluss auf das Lebensgefühl der Betroffenen und wird wohl kaum zur Verbesserung ihrer Lebenssituation beitragen.
Eine Folge von materieller Unterversorgung ist auch der Zwang zur Mobilität, welcher wei- tere Konsequenzen mit sich zieht. Die Betroffenen sind durch ihr ständiges Umherziehen postalisch nicht, oder nur schwer zu erreichen und besitzen meist kein Konto, auf das eventuelle Lohnersatzleistungen eingezahlt werden können. Die meist hinzu kommende unzureichende Körperpflege stellt eine weitere Hemmschwelle für Arbeit und Wohnung dar. Sie rutschen in den Teufelskreis ,ohne Arbeit keine Wohnung und ohne Wohnung kein reguläres Beschäftigungsverhältnis‘ ab. Finden die Betroffenen trotz ihrer Situation eine Arbeit, so ist diese meist bei dubiosen Firmen oder Drückerkolonnen (vgl. Kellinghaus 2000, S.18).
Das Leben in Wohnungslosigkeit ist ebenfalls gekennzeichnet durch ständige existenziel- le Bedrohungen. Eigentum ist nur schwer abzusichern, da meist keine abschließbaren Schränke in den Notunterkünften zur Verfügung stehen. Auch die Privatsphäre leidet un- ter einem Leben in Wohnungslosigkeit: In Notunterkünften leben meist viele Menschen auf geringem Raum zusammen, wodurch die Möglichkeit zum Abschalten kaum gegeben ist. Durch die Enge und ständige Unruhe entsteht meist eine angespannte und aggressive Atmosphäre. Studien belegen, dass durch diese Art von Lebensbedingung die gesunden Anteile im Menschen vollends verkümmern (vgl. Mühlbrecht 1992, S.13f).
Die ständige Suche nach einem sicheren Schlafplatz und die Angst, überhaupt einen zu finden, stellt ebenfalls eine belastende alltägliche Situation für die Wohnungslosen dar. Selbst Notunterkünfte können nur für eine bestimmte Zeit genutzt werden und scheinen relativ unsicher, da ein einseitiger Nutzungsvertrag besteht, der jederzeit gekündigt wer- den kann. Viele schlafen daher illegal auf der Straße, sind kaum vor Witterung geschützt (Erfrierungstode) und erhöhter Gefahr von Plünderung ausgesetzt (vgl. Specht-Kittler 1994, S.34ff).
Wohnungslosigkeit bedeutet meist auch Verlust sozialer Beziehungen, Isolation, Aus- grenzung und Stigmatisierung. Der soziale Raum für Wohnungslose wird dadurch immer enger und eingegrenzter. Oft bestimmt allein das Milieu die sozialen Beziehungen der Wohnungslosen (vgl. Gillich/Nieslony 2000, S.102ff).
Das Leben auf der Straße bedeutet somit nicht nur materielle, sondern auch soziale Randständigkeit. Diese belastende Lebenssituation kann starke körperliche und psychi- sche Schäden, sowie vorzeitige Alterung mit sich ziehen (vgl. Greifenhagen/Fichter 1998, S.94). Oft entwickeln wohnungslose Menschen problematische Bewältigungsstrategien, wie Alkohol- oder Drogenkonsum, welche weitere Gesundheitsschäden hervorrufen kön- nen (vgl. Gillich/Nieslony 2000, S.99).
Nationale Studien von Nouvertné 1996 und Reker 1997 haben ergeben, dass 20 – 40% der wohnungslosen Menschen unter behandlungsbedürftigen psychischen Krankheiten leiden und 70 – 80% suchtkrank seien (vgl. Masanz 2008, S.107). Auffallend ist die erhöh- te Anzahl wohnungsloser psychisch kranker Frauen im Vergleich zum Männeranteil bei einer Studie von Theisohn (2002): Der Frauenanteil psychisch kranker Wohnungsloser lag hier bei 63% (vgl. Theisohn 2002, S.140).
Auch lässt sich beobachten, dass viele psychisch kranke wohnungslose Menschen ko- morbide Störungen aufweisen. Unter Komorbidität wird das Vorhandensein von mehr als einer diagnostizierbaren Störung bei derselben Person verstanden (vgl. Moggi/Donati 2004, S.3), wie etwa das gleichzeitige Vorhandensein einer psychischen Störung und Ab- hängigkeitserkrankung. Oft werden auch die Begriffe ,Mehrfachproblemlage‘, oder ,Dop- peldiagnose‘ genutzt.
Bei der Studie von Theisohn liegt der Anteil von Mehrfachproblematiken bei wohnungslo- sen Männern und Frauen bei 26%, wovon 54% psychisch krank und alkoholabhängig und 8% psychisch krank und drogenabhängig sind, 19% eine Alkohol- und Drogenabhängig- keit und weitere 19% eine psychische Krankheit, Alkohol- und Drogenabhängigkeit auf- weisen (vgl. Theisohn 2002, S.139f). Leider liegen keine aktuelleren Studien vor.
Die Frage nach Ursache oder Folge ist, wie oben bereits erwähnt, sehr schwierig zu be- antworten. Einerseits konsumieren psychisch kranke Menschen Alkohol als Selbstmedika- tion, um Angst und Verwirrung durch die psychische Krankheit zu vermindern, anderer- seits können durch den Suchtmittelmissbrauch Halluzinationen und andere Psychosen ausgelöst werden. Dadurch ergibt sich das Problem, dass psychische Erkrankungen ne- ben einer Abhängigkeitserkrankung häufig nicht erkannt werden und die Betroffenen an- dauernden Entwöhnungsbehandlungen ohne sichtbaren Erfolg unterzogen werden (vgl. Wessel 2002, S.73f).
Auf Grund dieser Problemlage sind Wohnungslose mit Doppeldiagnose eigentlich drei Hil- fesystemen zuzuordnen. Verantwortlich fühlt sich jedoch weder die Suchtkrankenhilfe, noch das psychiatrische Versorgungssystem. Die Betroffenen werden nicht erreicht und erhalten somit keine adäquaten Hilfen. Das letzte Netz der sozialen Sicherung stellt dann die Wohnungslosenhilfe dar. Fraglich ist jedoch, ob diese den multiplen Problemlagen der Betroffen gewachsen ist und ohne spezifisch qualifiziertes Fachpersonal in den Bereichen Suchtkrankenhilfe und Psychiatrie die geeignete Hilfeform darstellt. Die daraus resultie- renden Schwierigkeiten sollen in 4.2 näher beleuchtet werden.
Als Folge ihrer geschlechtstypischen Sozialisation ist die Wohnungslosigkeit von Frauen häufig weniger auffällig als bei Männern. Frauen versuchen ihre Notlage eher durch die Inkaufnahme prekärer Wohnsituationen und Lebensverhältnisse zu kaschieren. Somit ha- ben Frauen ohne Wohnung mit besonderen geschlechtsspezifischen Problemlagen zu kämpfen. Im Folgenden sollen drei Formen von weiblicher Wohnungslosigkeit aufgezeigt werden, die in einer Studie von Enders-Dragässer und Sellach (2000) herausgearbeitet wurden.
Die Mehrheit aller wohnungslosen Frauen befindet sich in einer verdeckten Wohnungslo- sigkeit. Um nicht als wohnungslos aufzufallen und sich vor Übergriffen innerhalb der Sze- ne zu schützen, begeben sie sich oft in prostitutionsähnliche Verhältnisse. Ein vorüberge- hendes Unterkommen bei einem Mann bietet die Möglichkeiten, den eigenen existenziel- len Bedürfnissen (Schlafen, Essen, Körperpflege) nachgehen zu können und den gesell- schaftlichen Zuschreibungsprozessen zu entfliehen. Diese ,zweckorientierte Partnerschaf- ten‘ sind jedoch meist von Unterdrückung und sexueller Gefügigkeit geprägt, was im Hinblick auf die Entwicklung von psychischen Störungen von Bedeutung sein könnte (vgl. Enders-Dragässer/Sellach 2000, S.99).
Auch besteht weder mietrechtlicher Schutz, noch finanzielle Absicherung für diese Frauen (vgl. Lutz/Simon 2007, S.158).
Gewalt in der Beziehung, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch und auch Gelegen- heitsprostitution kennzeichnen eine Lebenssituation, die meist von der verdeckten in die sichtbare Wohnungslosigkeit führt (vgl. Schlottmann 1994, S.43). Sichtbar wohnungslos, auch offene, manifeste Wohnungslosigkeit genannt, sind Frauen, die öffentlich und vom Hilfesystem wahrgenommen, auf der Straße leben. Ihr Leben ist gekennzeichnet von ständigen öffentlichen und moralischen Abwertungen, da sie das schützende Familiensys- tem absichtlich verlassen haben. Der Anteil der sichtbar lebenden wohnungslosen Frauen ist, im Gegensatz zum Männeranteil, relativ gering (vgl. Gillich/Nieslony 2000, S.79ff).
In latenter Wohnungslosigkeit befinden sich Frauen, die von kurzfristiger Wohnungslosig- keit bedroht sind, in prekären Wohnverhältnissen, wie zeitlich befristete Arbeitgeberunter- künfte oder Bordelle, leben. Oft ertragen sie extreme Lebensbedingungen, um die Woh- nung nicht zu verlieren (vgl. Lutz/Simon 2007, S.158).
Durch das In-Kraft-Treten des Hartz-IV-Gesetzes am 1. Januar 2005, ergaben sich erheb- liche Änderungen in der Gesetzgebung: Die Arbeitslosenhilfe (SGB III) und die Hilfe zum Lebensunterhalt für Erwerbsfähige und deren Angehörige (BSHG) wurden zur ,Grundsi- cherung für Arbeitssuchende‘ (SGB II) zusammengeführt.
Die Hilfe zum Lebensunterhalt für nicht-erwerbsfähige Personen (BSHG), die Hilfen in be- sonderen Lebenslagen (BSHG), sowie die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsmin- derung (GSiG) wurden ins SGB XII eingegliedert.
Auch für Wohnungslose hatten diese Änderungen relevante Auswirkungen: Erwerbsfähi- ge Hilfebedürftige bekommen nun bei andauernder Arbeitslosigkeit von mehr als einem Jahr als neue Unterhaltsleistung Arbeitslosengeld II (§ 19 SGB II), deren in einer Bedarfs- gemeinschaft lebenden Angehörigen Sozialgeld nach § 28 SGB II. Des Weiteren gilt seit dem das Prinzip ,Fördern statt Fordern‘ (vgl. Brühl 2004, S.2). Im SGB XII wurden die einmaligen Leistungen pauschalisiert (vgl. Brühl 2004, S.11).
Die Bestimmungen des alten § 72 BSHG wurden ohne inhaltliche Änderungen in die §§ 67 – 69 SGB XII (Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten) über- nommen. Da nur nicht-erwerbsfähige Personen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII haben, können nur Erwerbsunfähige ,Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten‘ nach dem SGB XII erhalten.
Erwerbsfähige Personen können, gemäß § 16 Absatz 2 SGB II, Leistungen zu Eingliede- rung beziehen. Um Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zu haben, müssen jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Diese sind gegeben, wenn die Person zwischen 15 und 64 Jahren, erwerbsfähig (vgl. § 8 SGB II) und hilfebedürftig (vgl. § 9 SGB II) ist und ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in Deutschland hat (vgl. § 7 (1) Satz 1 SGB II).
Zentrales Ziel der Grundsicherung für Arbeitssuchende ist die Aufnahme und Beibehal- tung einer Erwerbstätigkeit. Gesetzliche Verankerung findet dies im Grundsatz des For- derns (§ 2 SGB II). Demnach muss der erwerbsfähige Hilfebedürftige „(...) aktiv an allen Maßnahmen zu seiner Eingliederung in Arbeit mitwirken (...)“ (§ 2 SGB II), da ihm sonst Sanktionen drohen (vgl. § 30 SGB II).
Wohnungslose Menschen hingegen befinden sich in besonderen sozialen Schwierigkei- ten, deren komplexer Hilfebedarf weit über die Eingliederung in Arbeit hinaus geht. Für sie sind daher die §§ 67ff SGB XII von entscheidender Bedeutung, welche im Folgenden nä- her beleuchtet werden sollen.
Gemäß § 67 SGB XII sind für „Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, (...) Leistungen zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu erbringen (...)“.
Im Sinne des § 1 Absatz 2 Satz 1 der Verordnung zu § 69 SGB XII (Verordnungsermäch- tigung) werden eine fehlende oder nicht ausreichende Wohnung, eine ungesicherte wirt- schaftliche Lebensgrundlage, gewaltgeprägte Lebensumstände, eine Entlassung aus ei- ner geschlossenen Einrichtung oder vergleichbare nachteilige Umstände zu den ,beson- deren Lebensverhältnissen‘ der Leistungsberechtigten gezählt, welche grundsätzliche mit den in 2.2 beschriebenen Ursachen von Wohnungslosigkeit gleichgesetzt werden können.
[...]