Für neue Kunden:
Für bereits registrierte Kunden:
Bachelorarbeit, 2010
51 Seiten, Note: 1,7
1. Einleitung
2. Geschichtliche Entwicklung
2. 1 Der Blick von Außen: Deutsche Regisseure über Gastarbeiter
2. 2 Der Blick von Innen: Türken in Deutschland über Türkei-Themen
2. 3 Cinema du Metissage: Türken in zweiter Generation
3. Interkulturalität und Multikulturalität als überholte Modelle
3.1 Kulturbegriff nach Welsch
3.2 Multikulturalität und Interkulturalität
3.3 Transkulturalität
3.4 Postkoloniale Theorieansätze
4. Fatih Akin
4.1 Gegen die Wand121 Min
4.1.1 Begründung der Filmauswahl
4.1.2 Kurzinhalt
4.1.3 Eröffnungssequenz und Filmaufbau
4.1.4 Bruch mit gängigen Motiven
4.2 Auf der anderen Seite116 Min
4.2.1 Begründung der Filmauswahl
4.2.2 Kurzinhalt
4.2.3 Dramaturgie und Ästhetik
4.2.4 Bewegungssituation
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
In den 1950er und 1960er Jahren erfährt die deutsche Gesellschaft nach der Sperrung der deutsch-deutschen Grenzen einen erheblichen Wandel. Durch den Anstieg des Arbeitskräftebedarfs werden tausende von Gastarbeitern angeworben. Bis Mitte der 1970er Jahre ist jeder siebte Arbeiter in Deutschland ein Einwanderer. Von diesen gesellschaftlichen Umstrukturierungen blieb auch die deutsche Filmproduktion nicht unberührt. Eingeläutet durch die ersten filmischen Auseinandersetzungen mit den neuartigen Gesellschaftsstrukturen, beginnt aus heutiger Sicht die Suche nach einem Namen für diese Filme:
Während die ersten Filme über Gastarbeiter in den 1960er und -70er Jahre bedenkenlos noch als ,Migrantenfilme' bezeichnet wurden, verändert sich einige Jahrzehnte später die Rezeption des ,Migrantenkinos'. Erst als die Nachfahren der ersten Migrantengeneration damit begannen Filme zu produzieren, wurde die Problematik einer vereinfachten Zuschreibung in ihrem ganzen Ausmaß spürbar. Vor allem bei der Auseinandersetzung mit Filmen von deutschen Regisseuren mit türkischer Abstammung wird deutlich, dass die Filme differenzierter betrachtet werden müssen und nicht dem Stereotyp ,Migrantenkino' zugeschrieben werden können. In Erkenntnis dessen, führte man den Hilfsterminus ,Deutsch-Türkisches-Kino' ein. Als Einwandererkinder, die selbst keine direkte Migrationserfahrungen mehr gemacht haben, lassen sich Filme von entsprechenden Regisseuren jedoch nur noch schwer einer ,deutschen' oder einer ,türkischen' Kultur zuschreiben. Ganz im Gegenteil: Wie sich in der vorliegenden Arbeit zeigen wird, entziehen sich diese Filme vehement einer nationalen Zuschreibung und visualisieren stattdessen die Aufhebung kultureller Grenzen. Während die frühen ,Migrantenfilme' ein Deutschland präsentierten, in dem die Kulturen parallel zueinander verlaufen, nehmen Filmemacher der zweiten oder dritten Generation Abstand von monokulturellen Vorstellungen. Als gebürtige Deutsche verstehen sie sich selbst als deutsche Regisseure, die deutsche Filme produzieren und sehen sich im ,Deutsch-Türkischen-Kino' daher deplatziert. Regisseure wie Fatih Akin, dessen Filme in der vorliegenden Arbeit als anschauliches Beispiel dienen werden, plädieren für ein globales Kino, das von universellen Themen handelt.
In Anbetracht dessen wird in dieser Arbeit vorgeschlagen, die Filme Fatih Akins von sämtlichen nationalen Zuschreibungen loszulösen und sie stattdessen als Produzenten transnationaler Räume zu verhandeln. Nachdem Kapitel 2 die genaue Entwicklung in der Historie des ,Migrantenfilms' nachgezeichnet, wird im darauffolgenden Kapitel Wolfgang Welschs Modell der ,Transkulturalität' vorgestellt. Anschließend werden die ersten beiden Teile der Liebe, Tod und Teufel-Trilogie von Fatih Akin als anschauliche Beispiele für die filmische Umsetzung einer transkulturellen Gesellschaft dienen. Es wird sich zeigen, dass Gegen die Wand die kulturellen Grenzen verwischen lässt, während Auf der anderen Seite eine gänzliche Auflösung herbeiführt.
Nach der Absperrung der deutsch-deutschen Grenze 1961 verstärkte sich der ohnehin schon hohe Arbeitskräftebedarf in Landwirtschaft und Industrie weiter, weshalb in den Mittelmeeranrainerstaaten sogenannte Gastarbeiter angeworben wurden. Unter anderem hat Deutschland von Mitte der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre mit Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei bilaterale Regierungsvereinbarungen zur Anwerbung und Vermittlung von Arbeitnehmern abgeschlossen, wodurch die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik um rund 3,5 Millionen anstieg. Als 1973 ein Anwerbestopp erlassen wurde, entwickelte sich die Arbeitsmigration zu einer Familienmigration, innerhalb der sesshafte gewordene Gastarbeiter ihre Familien in die Bundesrepublik nachziehen ließen.1 Laut John Berger, einem britischen Schriftsteller und Kunstkritiker, ist Mitte der 1970er Jahre jeder siebte Arbeiter in Deutschland ein Einwanderer.2 Trotz dem Nachziehen der Familien und dem allmählichen Sesshaftwerden, ist bei vielen dieser Immigranten der Rückkehrgedanke in das Heimatland noch lange erhalten geblieben. Die daraus resultierende mangelnde Identifikation mit dem immigrierten Nationalstaat führte zu der Entstehung von subnationalen Gebilden; zu der Entstehung von ethnischen Enklaven, in denen eigene diasporischen Gemeinschaften und abgeschlossenen Familien- und Glaubenskreisen lebten und denen die neue Sprache sowie Kultur lange Zeit fremd blieben.3
Von diesen gesellschaftlichen Umstrukturierungen in der Bundesrepublik blieb auch die deutsche Kulturmaschinerie nicht unberührt. Im Zuge der massiven Arbeiter- und Familienmigration bildet sich in Deutschland in den späten 1960er, frühen 1970er Jahren mit dem ,Migrantenfilm' ein neues sozial-realistisches Genre heraus, das die neuartige gesellschaftliche Situation verdeutlichen und die damit einhergehenden Problematiken in das Bewusstsein der Bevölkerung rufen sollte.
Als einer der ersten Filmemacher, die sich in Deutschland mit der Gastarbeiterthematik auseinandersetzten, kann der Autorenfilmer Rainer Werner Fassbinder angeführt werden. Lange bevor die in Deutschland lebenden Ausländer einen filmischen Blick auf ihr Dasein in der Fremde gewagt haben, verarbeitet Fassbinder aus inländischer Perspektive heraus das Leben mit den Arbeitermigranten in Deutschland. Mit Katzelmacher (1969) und Angst essen Seele auf (1974) dreht er „Pionierfilme [...] über Gastarbeiter"4, deren statische Bilder stark an die Ästhetik des autonomen Off-Theaters erinnern. Der als produktivster und vielseitigster Autorenfilmer des Neuen Deutschen Film geltende Fassbinder verhandelte die Ausländerthematik mit einem Blick, der die Gastarbeiter zur Projektionsfläche für die Existenzängste der Deutschen werden ließ.5 Letztlich rückt Fassbinder weniger den Fremden selbst, als vielmehr die Vorurteile der Gesellschaft gegenüber Minderheiten in sein Zentrum. Er zeigt den Blick eines Deutschen auf den Gastarbeiter, der sich in der Ambivalenz zwischen Hass und Faszination bewegt. Vor allem mit Angst essen Seele auf stellt Fassbinder den Migranten erster Generation als Opfer am Rande der Gesellschaft dar, der sich wegen kultureller sowie sprachlicher Barrieren nur schwer in die Gesellschaft integrieren kann. Schon der Arbeitstitel von Angst essen Seele auf, nach dem alle Türken Ali heißen6, verweist jedoch auf einen klischeebeladenen und wenig differenzierten Ansatz des Filmemachers.
Neben Fassbinder beschäftigen sich in den Anfangsjahren des ,Migrantenfilms' einige weitere deutsche Filmemacher auf ähnliche Weise mit der Thematik und ließen damit insbesondere den Türken als „siebten Mann"7 eine fast unwandelbare Rolle in ihrer filmischen Darstellung einnehmen. Probleme wurden allenfalls aufgezeigt, doch kaum reflektiert. Zudem gestaltet sich die filmische Konstruktion der Gastarbeiterthematiken als überaus schwierig, da der Ausländer nicht als Teil der Gesellschaft anerkannt wurde. Anstatt eine ergiebige Vermischung der kulturellen Identitäten aufzuzeigen, suggerierten die Filmbilder eine klare Trennung innerhalb der Gesellschaft:
„Die problematische Grundannahme von klar abgrenzbaren, homogen in sich geschlossenen nebeneinander existierenden kulturellen Identitäten führte zu einer Rhetorik über Minderheiten, die von ethnografischem Interesse und sozialem Engagement getragen war, zugleich jedoch Ungleichheit und Ausgrenzung festschrieb."8
Hinsichtlich Deniz Göktürks Aussage bleibt als Essenz festzuhalten, dass der erste Blick der deutschen Filmemacher auf die Gastarbeiter in den 1970er und 1980er Jahren nur wenig produktiv war. Die Konstruktion binärer Oppositionen zwischen einer rein ausländischen und einer rein deutschen Kultur erschwerte letztlich den Dialog, anstatt ihn zu erleichtern.9 ]
In der Forschung wird Tevfik Ba§er als Initiator einer neuen Phase des ,Migrantenfilms' verhandelt. Da Ba§er als erster Regisseur türkischer Abstammung gilt, der in Deutschland einen Film über ein Türkei-Thema gedreht hat, kann mit seinem ersten Spielfilm 40 qm Deutschland (1986) gleichzeitig auch der Beginn eines ,deutsch-türkischen Kinos' konstatiert werden. Im Gegensatz zu den vorherigen deutschen Perspektiven kam sein filmischer Blick von Innen heraus und verbildlichte das vom Elend behaftete und isolierte Leben türkischer Landsleute in Deutschland. Mit klaustrophobischen, von Isolation zeugenden Bildern erzählte Ba§er mit 40 qm Deutschland die Geschichte von einer türkischen Frau namens Turna, die von ihrem Mann unter dem Vorwand sie vor dem schlechten Einfluss der westlichen Gesellschaft schützen zu wollen, in einer 40 qm großen Wohnung eingesperrt wird. Turnas einziger Zugang zur Außenwelt stellt ein Fenster in ihrer Hamburger Altbauwohnung dar. Von einer Begegnung oder gar Vermischung der Kulturen kann im Zusammenhang mit diesem Film daher nicht gesprochen werden. Stärker als bereits die deutschen Regisseure inszeniert Ba§er sein sozial-realistisches Drama ausgehend von einer „Parallelität von kulturellen Welten".10 Seinen Film beschreibt Tevfik Ba§er selbst als authentischen Einblick in das Leben eines Gastarbeiters in Deutschland:
„Ich möchte, dass die Deutschen uns kennenlernen, denn Unbekanntes macht Angst und erzeugt Hass, wie an den Ausschreitungen gegenüber Türken zu sehen ist. Deshalb schildere ich an einem besonderen Fall die Gastarbeiterverhältnisse in der Bundesrepublik."11
Wie Özkan Ezli in seinem Artikel Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz von dieser Aussage ableitet, zielt Ba§ers Film auf eine Vermittlung zwischen den Kulturen ab und lässt die Protagonisten zu einem Kollektivsubjekt werden, deren Grenzen mit einem Kultursystem zusammenfallen. Ba§ers Verständnis einer homogenen und normativ aufgefassten Kultur führt laut Ezli zu der absoluten, allgemeingültigen und damit problematischen Differenz zwischen einer rückständigen türkischen Tradition und einer modern aufgeklärten Gesellschaft.12 Ebenso stellt auch Göktürk in seinem Artikel Migration und Kino fest, dass der Angehörige einer Minderheit durch diese Form der angeblichen Realitätskonstruktion schnell als „ein Sprachrohr seiner Gruppe aufgefasst"13 wird. Dahingehend wurden die Filme Ba§ers letztlich auch rezipiert, was zu stark pauschalisierenden Aussagen (unter anderem in der Kulturpresse) führte. Dieser Ansatz wird sich in Kapitel 2 unter den Aspekten der Modelle der ,Multikulturalität' sowie der ,Interkulturalität' weiter verdeutlicht.
Die Schablone vom Leid geplagten, zumeist türkischen Gastarbeiter wurde in den kommenden Jahren immer wieder aufgegriffen. Mit einem klar stereotypisierten Ansatz wurden Filmemacher wie Ba§ers nicht müde vom Leben der Ausländer am Rande der deutschen Gesellschaft zu erzählen. Die Differenz zwischen den Deutschen und den Türken erscheint zu jener Zeit immer mehr als unüberwindbar, wird jedoch vor allem durch die Filmförderungen weiter bekräftigt, wenn nicht sogar initiiert. Als Geldgeber, die die Produktionen ausländischer Filmemacher in Deutschland überhaupt erst ermöglichten, diktierten die Förderungen auf Bundes- sowie Landesebene die Richtlinien und setzten damit die Maßstäbe für das sogenannten ,cinema of duty':
„Gefragt waren pflichtbewusste Problemfilme. [...] Filmemacher sahen sich häufig festgelegt auf leidvolle Geschichten vom Verlorensein >zwischen den Kulturenc. Um der Förderung teilhaftig zu werden, reproduzierten in Deutschland lebende Autor/innen und Regisseur/innen ausländischer Herkunft in ihren Drehbüchern und Filmen häufig Klischees über die >eigene< Kultur und deren archaische Sitten und Bräuche."14
Während die ,Migrantenfilme' der 1960er, -70er und -80er Jahren ohne weiteres noch als Problem- oder Betroffenheitskino beschrieben werden können, begann Anfang der 1990er Jahren eine neue Phase des ,deutsch-türkischen Kinos'. Immer häufiger meldeten sich Regisseure der zweiten Migrantengeneration zu Wort und ließen Pionierfilmer wie Tevfik Ba§er, der selbst noch aus der Fremde kam, weit hinter sich. Mit einem neuen Selbstbewusstsein erzählten die zumeist in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Filmemacher von dem alltäglichen Leben zwischen den Kulturen. In Frankreich wurde für diese Art des Kinos der Begriff ,Cinema du metissage' geprägt, der die Selbstverständlichkeit eines Lebens mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln unterstreichen sollte und die Fremdheit aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.15 Diana Schäffler stellt in ihrer Arbeit Deutscher Film mit türkischer Seele fest, dass sich das ,Cinema du metissage' in Deutschland jedoch nicht als eigenständiges Genre etablieren konnte, weil die Bezeichnung der ,metissage' als cineastische Schnittstelle verstanden werden muss, die ebenso eine Fortsetzung des Begriffs ,Kino der Fremdheit' darstellt, als auch ein Widerspruch dagegen meint.16
Gerade von einem Kino, das von der Fremdheit erzählt, wurde in den 1990er Jahren größtmöglicher Abstand genommen. Die Regisseure aus zweiter Migrantengeneration forderten die Anerkennung als deutsche Filmemacher, die deutsche Filme produzieren. Heute bedient man sich dem Hilfsterminus ,Deutsch-Türkisches Kino', der bei den deutschtürkischen Regisseuren jedoch ebenfalls auf Ablehnung stößt. Das neue Kino, das Mitte der 1990er Jahre seinen Anstoß mit ersten Kurzfilmen von türkischstämmigen Filmhochschülern wie Ayse Polat oder Buket Alakus fand, lässt sich eben „nicht mit der einfachen Dichotomie der «deutschen» und «türkischen» Kultur greifen. Anders als in den Migrantenfilmen davor, die immer wieder klar abgegrenzte Kulturen aufeinander prallen ließen, stehen im Zentrum der deutsch-türkischen Regisseure und Regisseurinnen der zweiten Generation [...] offene Formen des Zusammenlebens in einer hybriden, urbanen Gesellschaft."17
Üblicherweise wird Filmgeschichte aus einer nationalen Perspektive geschrieben. An diesem Punkt der Historie des ,deutsch-türkischen Kinos' ist jedoch fraglich, ob diese Vorstellung „überhaupt noch eine adäquate bzw. einzig sinnvolle Darstellung ist."18 Folgende sehr allgemein formulierte Fragen verweisen leicht auf die Problematik einer Kategorisierung: Was zeichnet einen deutschen Film aus? Was einen türkischen und wo verläuft die Grenze? Lässt sich diese in Zeiten der Globalisierung noch klar definieren?
Wirft man einen Blick auf die bisherigen Filme von deutsch-türkischen Regisseuren in zweiter Generation, verdeutlicht sich das Problem der Kategorisierung bereits innerhalb dieser Bandbreite, ohne Filme von rein deutschen Filmemachern als Vergleich hinzunehmen zu müssen. Denn: „Biografischer Hintergrund und künstlerische Praxis heute aktiver [deutsch-türkischer] Filmemacher fallen unterschiedlich aus und verbieten eine Zusammenfassung mit großer Geste."19 Das Repertoire der türkischstämmigen Filmemacher ist thematisch wie stilistisch ebenso bunt wie unkategorisierbar und kann kaum noch ethnisch zugeschrieben werden. Regisseure wie Fatih Akin oder Thomas Arslan meiden deutsch-türkische Themen nicht, während andere gänzlich darauf verzichten. Zudem bewegen sich die Filmproduktionen in vollkommen unterschiedlichen Genres und müssen auch in ihrem Stil differenziert betrachtet werden. So werden Thomas Arslans Filme stilistisch der ,Berliner Schule' zugeordnet, während sich Fatih Akin, vor allem in seinen Anfangsjahren, stark am amerikanischen Genrekino und den ,Gangsterfilmen' von Martin Scorsese orientiert hat. Festzuhalten bleibt, dass anhand der Komplexität der Themen, der zusätzlich vielfältigen Genreauswahl und der mannigfaltig filmischen Mitteln, nicht mehr ausreichend erfasst werden kann, um was für ein ,Kino' es sich nun eigentlich handelt.
Der offensichtliche Wandel - weg von einem Film, der die Kulturen parallel zueinander verlaufen lässt, hin zu einem Film, der die Gesellschaft als eine Hybride darstellt - setzte sich in der öffentlichen Wahrnehmung kaum durch. Obwohl sich viele Filmemacher der zweiten oder gar dritten Migratengeneration kaum noch mit ihren türkischen Wurzeln identifizieren, werden ihre Filme noch immer dahingehend klassifiziert. So musste sich „Fatih Akin während der Berlinale 2004 noch gegen das Etikett eines „Gastarbeiterfilms" für „Gegen die Wand" wehren."20
Kapitel 2 hat dargestellt, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten ein ebenso starker stilistischer wie thematischer Wandel innerhalb der Historie des ,Migrantenfilms' vollzogen hat. Sind die frühen ,Migrantenfilme' - etwa die von Fassbinder oder Ba§er - bei ihrer Verarbeitung und Darstellung der Gastarbeiterthematik noch von einer Parallelität der Kulturen ausgegangen, ist den Filmen ab den 1990er Jahren eine klare Distanzierung von einer Vorstellung monokultureller Gegebenheiten abzulesen. Zwar spielen Erfahrungen der Migration in deutsch-türkischen Filmen noch immer eine Rolle, allerdings darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass die zweite oder dritte Migrantengeneration selbst keine direkten Migrationserfahrungen mehr gemacht hat. Daher kann der Begriff ,Migrantenfilm' sowohl aus Sicht auf die Migrationsbewegung der entsprechenden Regisseure, als auch mit Blick auf die erzählten Geschichten kaum mehr als passende Bezeichnung für die aktuellen Filme deutsch-türkischer Filmemacher geltend gemacht werden. Als beinahe ebenso unpassend stellt sich die Hilfsbezeichnung ,Deutsch-Türkisches Kino' heraus, da die Filme aufgrund mangelnder Definitionen der kulturellen Grenzen zu Zeiten der Globalisierung weder als rein ,deutsch' noch als rein ,türkisch' verstanden werden können. Ein weiteres Problem an der Bezeichnung ,Deutsch-Türkisches Kino' stellt zudem die Versuchung dar, den Begriff der Rationalität' vorschnell mit dem der ,Kulturalität' gleichzusetzen. Die Unterscheidung der beiden Begriffe ist von großer Wichtigkeit, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass jeder, der mit einem deutschen Pass ausgestattet ist, auch das Verständnis einer deutschen Kultur in sich trägt. Zudem wäre damit eine klare Definition dessen vorausgesetzt, was eine deutsche Kultur ist und was diese ausmacht.
Im weiteren Verlauf der Arbeit wird daher vorgeschlagen, die aktuellen Filme von Regisseuren mit türkischen Wurzeln aus einer konkreten nationalen sowie kulturellen Zuschreibung herauszulösen und stattdessen unter dem Begriff ,transkulturelles Kino' zu verhandeln.21 Bevor über den Begriff der ,Transkulturalität' gesprochen werden kann, muss jedoch zunächst das Grundverständnis, auf dem dieser Begriff beruht, konstatiert werden. Die folgende Theorie des ,Transkulturalismus' basiert auf Thesen des deutschen Philosophen Wolfgang Welsch, der die Postmoderne als Verfassung radikaler Pluralität versteht, die die gesamte Breite der Lebenswirklichkeiten beeinflusst.22 Ausgehend von der Annahme, dass die Vorstellung einer radikalen Pluralität in der Postmoderne nicht mehr nur eine Erfindung von Kunsthistorikern, Künstlern und Philosophen ist, sondern im Zeitalter der Globalisierung und Technologisierung zum Prinzip der Gesellschaften und zum Paradigma der Wissenschaft geworden ist, stellt Welsch fest, dass es fortan ein Denken und Handeln braucht, das diese Pluralität vorbehaltlos mit einbezieht.23
Welsch zufolge weist unsere postmoderne Welt und die sich darin befindlichen Kulturen eine Verfasstheit auf, „die anders ist, als unsere Kulturbegriffe sie behaupten oder suggerieren."24 Daher erarbeitet er ein Konzept, das sich von anderen radikal unterscheidet. Sein Vorhaben ist es, einen Begriff zu finden, der der Verfasstheit unserer heutigen Kultur deskriptiv angemessen ist und darüber hinaus auch den normativen Erfordernissen der Gegenwart Rechnung zu tragen vermag.25
Welsch kritisiert und problematisiert ein Verständnis von ,Kultur', das auf Vorstellungen von einem einheitlichen und in sich geschlossenen Gebilde basiert, wie in etwa Johann Gottfried Herder oder Umberto Eco es dargestellt haben.
Herders Modell geht beispielsweise davon aus, dass ,Kultur' immer die Kultur eines Volkes ist und sich damit die Kultur eines Volkes unverwechselbar von den Kulturen anderer Völker unterscheidet.26 Welsch nimmt von Herders Vorstellung homogener Kulturen Abstand, da diese seiner Meinung nach keine voneinander abgegrenzten Einheiten mehr bilden. Des Weiteren mangelt es Herders Verständnis von ,Kultur' nach Welsch an elementaren Differenzierungsmöglichkeiten - in etwa nach „regional, sozial und funktional unterschiedlichen Kulturen"27. In diesem Zusammenhang bringt er den Begriff der ,Transkulturalität' ins Spiel:
„Sie [hier: die Kulturen] haben nicht mehr die Form homogener und wohlabgegrenzter Kugeln oder Inseln, sondern sind intern durch eine Pluralisierung möglicher Identitäten gekennzeichnet und weisen extern grenzüberschreitende Konturen auf. Insofern sind sie nicht mehr Kulturen im hergebrachten Sinn des Worts, sondern sind transkulturell geworden. Transkulturalität [...] will anzeigen, dass sich die heutigen kulturellen Formationen jenseits der klassischen Kulturverfassung befinden und durch die klassischen Kulturgrenzen wie selbstverständlich hindurchgehen, diese überschreiten."28
Mit dem Hervorbringen des Begriffes der ,Transkulturalität' nimmt Welsch nicht nur Abstand von der bisherigen Auffassung von ,Kultur', sondern auch von Modellen der Multikulturalität sowie der Interkulturalität; Größtenteils Modelle, die auf Herders Verständnis von ,Kultur' aufbauen.
Um die Bewegungssituation von Menschen aus verschiedenen Kulturen darzustellen, werden unterschiedliche Modelle benutzt. Mit Multikulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität werden die drei Wesentlichen in dieser Arbeit vorgestellt. Wie in den kommenden zwei Unterkapiteln soziologisch erläutert werden soll, wird Interkulturalität erst durch Multikulturalität ermöglicht. Das Modell der Transkulturalität baut auf Vorstellungen der beiden anderen Modelle auf, grenzt sich in mancher Hinsicht aber auch stark von ihnen ab. Gezeigt werden soll, dass Wolfgang Welschs Konzept der ,Transkulturalität' dem heutigen Zustand der postmodernen Gesellschaft sehr nahe kommt und im Hinblick auf die kulturellen Veränderungen, die sich insbesondere durch Migrationsbewegungen vollzogen haben, gut angewandt werden kann.
Bei dem Konzept der Multikulturalität wird von einem gruppenbezogenen Kulturverständnis ausgegangen. Die Variable, die eine Gruppe auszeichnet, ist dabei die nationale oder ethische Herkunft - ganz im Herder'schen Sinn. Der multikulturelle Ansatz geht von einer gleichzeitigen Anwesenheit verschiedener kultureller Gruppen in einer Gesellschaft aus, bei der aber vollkommen offen bleibt, wie die Multikulturalität überhaupt entstanden ist und wie das Zusammenleben der Gruppe funktioniert. Diesen Fragen widmet sich erst das Konzept der Interkulturalität, das insofern einen Schritt weiter geht und bereits Aufschluss über einen bestimmten Umgang mit der Multikulturalität gibt.29
Mit dem Präfix inter verweist der Begriff ,Interkulturalität' nach Aglaia Blioumi bereits auf das dabei berücksichtigte ,Miteinander' der Kulturen.30 Der Interaktionscharakter zwischen den Kulturen tritt demnach erst bei dem interkulturellen Ansatz hervor: Festgestellt wird, dass kulturelle Überschneidungen zwischen dem ,Eigenen' und dem ,Fremden' stattfinden, die letztlich zum Austausch zwischen den Kulturen führen. Die Möglichkeit eines Austausches wird also mitgedacht, die Differenzen zwischen dem ,Eigenen' und dem ,Fremden' werden aber beibehalten.
Das Modell der ,Transkulturalität' greift den Austauschgedanken zwischen den Kulturen auf, nimmt jedoch Abstand von Vorstellungen des ,Eigenen' und des , Fremden':
Eines der größten Probleme der Konzepte der Multi- und Interkulturalität ist nach Welsch die Tatsache, dass die Trennung zweier Kulturkreise die Zuschreibung von Stereotypen verstärkt und zu Stigmatisierung von ganzen Nationen führen kann31. So geht Welsch in seinem Aufsatz Transkulturalität - Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen soweit zu sagen, dass die traditionellen Kulturkonzepte „deskriptiv falsch und normativ irreführend"32 sind. Die reinliche Trennung von Kulturen führe dazu, dass man nach Charakteristiken für die andere, fremde Kultur sucht, um diese kategorisieren und zuschreiben zu können. Insofern handelt es sich bei den Konzepten der Multi- und Interkulturalität um essenzialistische Konzepte, die Fragen nach dem Wesen, der ,Essenz' stellen. Problematisch daran ist, dass der Essenzialismus glaubt, allein durch äußere Beobachtungen und Erfahrungen eine objektive Wahrheit benennen zu können. Durch die auf rein äußerlichen Beobachtungen basierenden Zuschreibungen wird die Kultur zum Ghetto und der Fremde in seiner Andersartigkeit in dieses Ghetto gesperrt33, so Welsch. Daher deklariert er das Konzept der Interkulturalität als „prinzipiell für ungenügend"34 und stellt die Gegenthese auf, dass die Bewegung zweier unterschiedlicher Kulturkreise zu einer Verwischung oder gar Aufhebung der Grenzen führt - wodurch nicht nur der Gedanke von Kulturen als homogene Einheiten aufgehoben wird, sondern letztlich auch stereotype Zuschreibungen nicht mehr möglich sind.
[...]
1 Vgl. Oswald, Ingrid: Migrationssoziologie. Konstanz, 2007. S. 81f.
2 Berger, John zitiert durch: Göktürk, Deniz: Migration und Kino - Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele? In: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland - ein Handbuch. Stuttgart, 2000. S. 329 - 347. hier S.330.
3 Vgl. Elsaesser, Thomas: Transnationales Kino in Europa: Jenseits der Identitätspolitik. Doppelte Besetzung, Interpassivität und gegenseitige Einmischung. In: Strobel, Ricarda. Jahn-Sudmann, Andreas (Hg.): Film transnationalen und transkulturell - Europäische und amerikanische Perspektiven. 2009, München. S. 27 - 44. hier S. 32.
4 Kaes, Anton: Der Neue Deutsche Film. In: Nowell-Smith, Geoffrey (Hg.): Geschichte des internationalen Films. S. 556 - 581. hier S. 579.
5 Vgl. Mackuth, Margret: Es geht um Freiheit. Interkulturelle Motive in den Spielfilmen Fatih Akins. Saarbrücken, 2007. S. 1.
6 Der Arbeitstitel von Angst essen Seele auf lautet Alle Türken heißen Ali.
7 Die Figur des „siebten Mannes" steht für den Mythos der stummen Figur, die Unfähig zur Kommunikation und Integration ist.
8 Göktürk, 2000. S. 331.
9 Vgl. Ebd. S. 331.
10 Ezli, Özkan: Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akins globalisiertes Kino. In: Ezli, Özkan. Kimmich, Dorothee. Werberger, Annette (Hg.): Wider den Kulturzwang - Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld, 2009. S. 207 - 230. hier S. 213.
11 zitiert durch: Ezli, 2009. S. 213.
12 Vgl. Ezli, 2009. S. 213f.
13 Göktürk, 2000. S. 336.
14Göktürk, 2000 S. 333.
15 Vgl. Seeßlen, Georg zitiert durch: Schäffler, Diana: Deutscher Film mit türkischer Seele - Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis in die Gegenwart. Saarbrücken, 2007. S. 8
16 Vgl. Schäffler, 2007. S. 8.
17 Ezli, 2009. S. 210.
18 Blumentrath, Hendrik. Bodenburg, Julia u.a.: Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film. Münster, 2007. S. 7
19 Löser, Claus: Berlin am Bosporus - Spielarten und Hintergründe des deutsch-türkischen Kinos. siehe: http://filmdienst.kim-info.de/artikel.php?nr=150793&dest=frei&pos=artikel, 18.01.2010.
20 Sowohl als auch: Das »deutsch-türkische« Kino heute - Drei Fragen zum „deutsch-türkischen" Kino. siehe: http://www.filmportal.de, 23.03.2010.
21 Ein ähnlicher Ansatz findet sich in „Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film". Dort schlagen die Autoren eine ähnliche Verhandlungsweise für die deutsch-türkische Literatur vor. Vgl. Ebd. S. 59.
22 Vgl. Welsch, Wolfgang: Unsere moderne Postmoderne. Weinheim, 1988. S. 4f.
23 Vgl. Welsch, Wolfgang: Postmoderne - Pluralität als ethischer und politischer Wert. Köln, 1988. S. 34.
24 Welsch, Wolfgang: Transkulturalität - Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen. In: Schneider, Irmela. Thomsen, Christian W. (Hg.): Hybridkultur - Medien, Netze, Künste. 1997, Köln. S. 67 - 90. hier S. 67.
25 Vgl. Ebd. S. 1
26 Herder, Johann Gottfried paraphrasiert durch: Blumentrath, Bodenburg, 2007. S. 15.
27 Welsch, Wolfgang: Transkulturalität - Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen. siehe http://www.via- regia.org/bibliothek/pdf/heft20/welsch_transkulti.pdf, veröffentlicht: 1994, eingesehen: 29.01.2010. S. 4.
28 Welsch, 1994. S. 1.
29 Vgl. Mackuth, 2007. S. 21.
30 Vgl. Blioumi, Aglaia: Migration und Interkulturalität in neueren literarischen Texten. München, 2002. S. 28.
31 Ein gutes Beispiel für die fatalen Folgen einer tatsächlichen Umsetzung des Konzeptes einer multikulturellen Gesellschaft stellt die USA dar. Seyran Ates stellt in Der Multikulti-Irrtum heraus, dass das Ergebnis der Konzeptumsetzung in nahezu allen US-amerikanischen Großstädten zur Bildung von nach Rassen klassifizierte Bezirke geführt hat, die beinahe gänzlich geschlossene Gesellschaften darstellen. Als anschauliches Beispiel kann ,Chinatown' dienen. Als Ergebnis festzuhalten ist, dass der erträumte amerikanische ,melting pot' nicht umgesetzt werden konnte, da keine Vermischung der Kulturen stattfand, sondern Parallelwelten entstanden sind. Vgl. dazu: Ates, Seyran: Der Multikulti-Irrtum - Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können. Berlin, 2007. S. 255f.
32 Welsch, 1997. S. 71.
33 Vgl. Welsch, 1994. S. 7.
34 Ebd. S. 10.