Für neue Autoren:
kostenlos, einfach und schnell
Für bereits registrierte Autoren
Bachelorarbeit, 2009
41 Seiten, Note: 1,3
1. Einleitung
2.1 Definitorische Abgrenzung des Volks- vom Kunstmärchen
2.2 Die wichtigsten Merkmale des Volksmärchens
2.3 Der goldne Topf Ein Kunstmärchen?
2.3.1 Märchenkonzeption und Sprache
2.3.2 Die Handlungsstruktur
2.3.3 Ironie und Humor
2.3.4 Der Mythos im Märchen – romantische Naturphilosophie
2.3.5 Lesarten und selbstreferentielle Intertextualität
2.3.6 Identifikation
2.4 Die Kunstmärchen als heterogene Gattung
3. Fazit
Literaturverzeichnis
„In keiner als in dieser düstern verhängnißvollen Zeit, wo man seine Existenz von Tage zu Tage fristet und ihrer froh wird, hat mich das Schreiben so angesprochen – es ist als schlösse ich mir ein wunderbares Reich auf […] – mich beschäftigt die Fortsetzung der Fantasiestücke ungemein, vorzüglich ein Mährchen, das beynahe einen Band einnehmen wird – Denken Sie dabei nicht, Bester! an Schehezerade und Tausend und Eine Nacht – der Turban und türkische Hosen sind gänzlich verbannt - Feenhaft und wunderbar aber keck ins gewöhnliche alltägliche Leben tretend und seine Gestalten ergreifend soll das Ganze werden.“[1]
E.T.A. Hoffmanns Brief an seinen Verleger Carl Friedrich Kunz (August 1813) spielt auf ein charakteristisches Phänomen der deutschen Romantik an. Die epochalen Einflüsse förderten die Märchenkultur, so fanden neben den durch Erfindung und Arrangement charakterisierten Kunstmärchen vor allem die so genannten Volksmärchen besondere Popularität. Die Kinder- und Hausmärchen (im folgenden Verlauf: KHM) von Wilhelm und Jakob Grimm galten lange Zeit als Inbegriff dieser Gattung. Allerdings widerlegte Heinz Rölleke in den 1970er Jahren die Behauptung der Grimms, dass sie in ihrer Märchensammlung Stoffe aus der mündlichen Tradition unverändert konservierten.[2] Diese Ansicht führte zur Bedingtheit der Bezeichnung Volksmärchen; ferner gestaltete es sich als schwierig, eine eindeutige Abgrenzung zum Kunstmärchen zu formulieren.
Diese Gattungs- und Definitionsprobleme stellen ein aktuelles und umfangreiches Themenfeld der aktuellen Märchenforschung dar. Tangiert werden vor allem Herkunft, Gemeinsamkeiten, schriftliche und mündliche Überlieferungswege sowie die Rezeption der Märchen.[3] Entsprechend gestaltet sich auch die Gattungszugehörigkeit „De[s] goldne[n] Topf[es]“ als diffizil. Zum Teil wird Hoffmanns Werk als DAS paradigmatische Kunstmärchen deklariert, häufig wird durch alternative Gattungsbezeichnungen versucht, diesen Terminus zu umgehen. In der Forschungsliteratur werden für Hoffmanns Werk verschiedene Gattungsbezeichnungen vorgeschlagen, häufig wird sich mit einem ‚Sowohl- als-Auch’ beholfen, dabei überwiegen die Termini (Novellen)Märchen und Novellen.[4]
Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich die grundlegende Fragestellung der Arbeit: Am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns „Der goldne Topf“ sollen Abgrenzungsmerkmale zwischen Kunst- und Volksmärchen aufgezeigt werden. Im Hinblick auf die Probleme der Kunstmärchenforschung wird zudem beleuchtet, ob auch eine Einordnung in den Bereich der (Märchen)novelle Hoffmanns Werk gerecht wird. Dieses Ergebnis soll exemplarisch die Relevanz dieser problematischen Gattungsbezeichnung veranschaulichen.
Um dieser Aufgabenstellung nachzukommen, werden eingangs die Termini Volksmärchen und Kunstmärchen im Sinne Lothar Bluhms definiert und problematisiert: Der Märchenbegriff sei zwar nicht sinnvoll zu ersetzen, aber „das Bemühen um begriffliche Klarheit und die den Gebrauch begleitende Reflexion seiner Bedingtheiten“ wäre wünschenswert[5] (Kap. 2.1). Die zunächst allgemeinen Stilmerkmale des Volksmärchens werden aus Max Lüthis Untersuchung „Das europäische Volksmärchen“ bezogen (Kap. 2.2), um „De[n] goldne[n] Topf“ schablonenartig zu beleuchten (Kap. 2.3). Diese Analyse soll auch den weitgehend bestehenden Forschungskonsens bestätigen, dass die Kunstmärchen eigene Merkmale entwickelt haben, die sich nicht direkt aus dem Vergleich mit dem Volksmärchen ableiten lassen.[6] Aufgrund der Heterogenität der Gattung, die anhand von Wührls Studie verdeutlicht werden soll, konnte allerdings auch mit diesen typischen Kunstmärchenmerkmalen bislang keine eindeutige Gattungsdefinition aufgestellt werden (Kap. 2.4). Diese und weitere Probleme der Märchenforschung werden im Fazit noch einmal zusammengefasst.
Im heutigen Sprachgebrauch des Wortes ‚Märchen’ (Diminutiv zu Mär) ist das Spannungsverhältnis zwischen Phantastischem und Tatsächlichem erhalten geblieben, das sich bis zu seinen sprachlichen Wurzeln zurückverfolgen lässt. Der Begriff ‚mari’ (althdt.) oder ‚maere’ (mhd.) gilt im Mittelalter als Erzählinhalt mit Bedeutungen wie Kunde, Bericht, Erzählung oder ‚Gerücht’, unterlag aber früh einer Pejoration und wird noch heute auf erfundene oder unwahre Geschichten angewendet.[7]
Seit dem 18. Jahrhundert bezeichnet der Terminus die Gattung (Volks)märchen. Die Volksmärchen grenzen sich von anderen Wundergeschichten (wie Sage, Legende usw.) dadurch ab, dass sie das Wunderbare mit dem Natürlichen wie selbstverständlich mischen.[8]
Die gedankliche Unterscheidung zwischen Kunst- und Volksmärchen bildete sich rund 80 Jahre später heraus, als von Johann Gottfried Herder, Gottfried August Bürger, den Gebrüder Grimm und den Romantiker die Begriffe Volk, Volksüberlieferung und darunter auch Volksmärchen „für die politische und ästhetische Debatte instrumentalisiert wurden.“[9] Jacob Grimm prägte die Theorie des Volksmärchens, mit den KHM (1812/15) intendierten die Grimms eine bewusste Abgrenzung zu den freien poetischen Bestrebungen Brentanos, den sie aber weiterhin als ihren ‚Anreger’ „zum Zusammentragen alter deutscher Poesie“ verehrten.[10] Die Grimms erkannten in den Märchen „Reste alter Mythen und einer in ihrer Zeit verdeckten, jedoch wiederzuentdeckenden Naturpoesie, die nicht durch rationalistische Zutaten und abstrakte Stilelemente“ verunreinigt sei.[11] Dementsprechend haben sie sich bemüht, „diese Märchen so rein als möglich war aufzufassen […] Kein Umstand ist hinzugedichtet oder verschönert und abgeändert worden.“[12]
Die tatsächliche oder angebliche Herkunft aus der mündlichen Tradition war zunächst das wichtigste Kriterium für die Anwendung des Begriffs (Volks)Märchen.[13] Dagegen sind Kunstmärchen per lexikalischer Definition die Märchen, „die als Erfindung eines namentlich bekannten Autors in kunstvoll ausformulierter Sprache meist schriftlich festgehalten und verbreitet wurde[n] und somit zur Individualliteratur zähl[en].“[14] Direkte Entsprechungen dieses Terminus in anderen europäischen Ländern existieren nicht, auch wenn das Phänomen der Kunstmärchen eine internationale Verbreitung findet.[15]
In der Forschung wurde bereits der Versuch unternommen, wertungsfreiere Termini einzuführen. Kunstmärchen bedeutet – je nachdem welche Hälfte des Kompositums fokussiert wird – auf der einen Seite kunstvolle Dichtung im Gegensatz zum Volksmärchen, auf der anderen Seite beinhaltet Kunst auch den Aspekt der Konstruktion und wird somit „zum unlänglichen synthetischen Ersatz“ für das wirkliche Volksmärchen.[16] Es gilt die Übereinkunft, die Begriffe wertfrei zu gebrauchen, so sind auch „einfältige Erfindungen einer Phantasie, die sich darin gefällt, Blumen, Tiere oder Möbel reden, fliegen, handeln zu lassen“ als Kunstmärchen zu bezeichnen.[17]
In den ersten beiden Dritteln dieses Jahrhunderts wurde der Begriff Kunstmärchen meist unreflektiert als feste Gattungsbezeichnung verwendet.[18] Erst durch den Nachweis Heinz Röllekes, dass die KHM statt der angeblich ausschließlich volkstümlichen, mündlichen Erzählungen „ein Konglomerat aus mündlich zugetragenen Stoffen, Textteilen und Abschriften“ enthalten[19], gestaltete sich die Abgrenzungsfrage als weniger eindeutig.
Die Grimms beschränkten sich in den veröffentlichen Herkunftsangaben auf vage Angaben wie ‚mündlich in Hessen’, ‚aus den Maingegenden’ etc., um das anonyme Volk als Träger und Gestalter der Märchen zu rekurrieren – so bedinge der kollektive Ursprung seine kollektive Überlieferung.[20] Allerdings sind die Gewährsmänner der Grimms mit den französischen Literaturmärchen vielfach vertraut gewesen und zum Teil auch heute noch namentlich bekannt. Als eine Hauptquelle für den ersten Band sollte Marie Hassenpflug Erwähnung finden.[21] Dies widerspricht der Grimm’schen Intention einer Konservierung rein deutschen Kulturguts, das aus der mündlichen Tradierung erwachsen ist.
Ebenso widersprechen die Literarisierungen Willhelm Grimms der naturpoetologischen Ideologie. Er führte nicht nur die typischen Eingangs- und Schlussformeln ein, sondern versah die Texte mit Redewendungen, um ihnen den Charakter des Mündlichen zurückzugeben. Zur kindgerechteren Gestaltung arbeitete er die anfänglich verpönten moralischen Ermahnungen plastischer heraus und schwächte erotische Motive ab.[22] Er fügte sogar Kunstmärchen wie Hans im Glück in die Märchensammlung ein.[23]
Deshalb wird in der Forschungsliteratur der Begriff Volksmärchen für die Grimm’schen Märchen nicht mehr verwendet. Mittlerweile spricht man von der „Gattung Grimm“[24] oder wie Bluhm von ‚Buchmärchen’: Dieser Terminus beschreibe schriftlich fixierte, in der Regel literarisierte Erzählungen, die zwischen mündlich überlieferten Volkserzählungen und den Kunstmärchen stehen.[25] Allerdings ist es schon deshalb schwierig einen neuen Begriff einzuführen, weil die KHM „in aller Welt irrtümlich für die unverfälschte Wiedergabe einer nach Jahrhunderten noch um 1800 in Hessen lebendigen Tradition aufgefaßt wurden und in diesem Sinn unzählige Nachahmungen zeitigten.“[26]
Dementsprechend gestaltet sich der Vergleich der Kunst- und Volksmärchen anhand der Stilmerkmale Lüthis weiterhin als plausibel. Seine Untersuchung gilt in der Märchenforschung als signifikant. Die Merkmale hat er anhand der Untersuchung von Märchen 15 europäischer Länder aufgestellt, wobei der Fokus auf den KHM lag.[27]
Allerdings führte die Enthüllung des Grimm’schen Mythos’ zu der Forderung nach einer neuen bzw. erweiterten Definition des Kunstmärchens. Kontrovers wurde über die generelle Möglichkeit einer mündlichen Tradierung diskutiert. So stellte Manfred Grätz ähnlich wie Fehling fest, dass es im 18. Jahrhundert in Deutschland keine Volksmärchen mit einer urwüchsigen Existenz im Volk existieren, sondern dass die Märchen des beginnenden 19. Jahrhunderts auf französische und orientalische Quellen zurückgehen.[28] Mittlerweile wird von einem wechselseitigen Einfluss gesprochen, in dem sich Oralität und Literarität bedingen. Die Auffassung einer von der Literatur völlig unbeeinflussten oralen Tradierung ist obsolet.[29] Allerdings sollte das Definitionsmerkmal der mündlichen Tradierung relativiert werden. So meint auch Stefan Neuhaus, die Oralität sei überhöht worden, um „im 19. Jahrhundert […] eine nationale Einigung der deutschsprachigen Länder durch die ‚Entdeckung’ gemeinsamer kultureller Wurzeln vorzubereiten.“[30] Dies resultierte vor allem aus der Französische Revolution sowie der Okkupationen Napoleons.[31] Am Bespiel des Mythos Faust weist er nach, dass es auch in anderen Gattungen gängig ist, dass Autoren voneinander abschreiben, ohne dass eine Überlieferung durch das ‚Volk’ anzunehmen ist (vgl. auch Boccaccio).[32] So steht bei Goethes Faust und Thomas Manns Doktor Faustus die originäre Leistung im Vordergrund, ohne dass diese als reine Bearbeitungen des mittelalterlichen Sagenstoffes aufgefasst werden. Er sieht Schriftstücke immer durch den jeweiligen Autor individuell gestaltet und variiert, demnach sage die lexikalische Bestimmung zu wenig zur tatsächlichen Differenzierung der beiden Märchentypen aus und bedürfe einer Erweiterung. So sei es generell fraglich, ob mündliche Texte überhaupt wortgetreu aufgezeichnet werden können.[33]
Mit dem generellen Zweifel am romantischen Klischee von der Entstehung des Kunstmärchens aus dem Volksmärchen stellte sich die Frage über die (Un)selbstständigkeit der Gattung neu.[34]
Allerdings sind die Forschermeinungen über die Entstehungsgeschichte der Märchen disparat. Es erscheint unwahrscheinlich, dass sich der Ursprungsort der Märchen je eindeutig nachvollziehen lässt. Kontroversen bestehen darüber, ob das Märchen durch Monogenese oder Polygenese, eine Entstehung der Märchen an verschiedenen Orten unabhängig voneinander seinen Ursprung nahm (vgl. Anthropological School)[35] oder ob es sich bei dem Märchen vielmehr um eine Spätform der Dichtung handelt.[36] Geht man von der monogenetischen These aus, einer einmaligen Erfindung mit nachfolgender Diffusion (vgl. v. a. Finnische Schule), „so sind jedenfalls alle (Volks-)märchen zunächst Kunstmärchen und haben ihren eigentlichen Charakter erst durch die Überlieferungsgeschichte […] gewonnen.“[37]
Jens Tismar betont weiterhin die Unselbständigkeit der Gattung, da das Kunstmärchen erst vor der Folie des Volksmärchens vergleichbar werde.[38] Auch Volker Klotz ordnet dem Kunstmärchen das Volksmärchen über, er fordert wie Stefan Neuhaus, das Schema des Volksmärchens aufzuarbeiten, als dessen „Novellierung“ das Kunstmärchen erscheint.[39]
Hans-Heino Ewers (1987) sieht in der Tradition Friedemar Apels die Eigenständigkeit der Gattung, da sich das Kunstmärchen „am Volksmärchen allenfalls noch eines Stoffreservoirs bediene.“[40] So seien mindestens 90 % der europäischen Kunstmärchen vom Volksmärchen abgehoben.[41] Dies wird mehr und mehr zum Forschungskonsens. Das Kunstmärchen habe eigene Gattungsmerkmale und eine eigene -tradition ausgebildet, so dass der starre Vergleich am Volksmärchen aufgegeben und das Kunstmärchen neu definiert werden müsse – sowohl gegenüber dem Volksmärchen als auch gegenüber anderen Gattungen der Kunstliteratur.
Insgesamt hat der Blick auf die Kunstmärchenforschung gezeigt, dass im Rahmen der Diskussion Schriftlichkeit/Mündlichkeit eine neue Definition des Kunstmärchens anzustreben ist.[42] Dies gilt auch für die Begrifflichkeiten, die trotz aller kritischen Vorbehalte in der Arbeit beibehalten werden.
Anhand des Merkmals der Eindimensionalität lässt sich das Märchen von anderen Gattungen relativ unkompliziert abgrenzen. Die Welt ist nicht in Diesseits und Jenseits geteilt. Der Märchenheld verkehrt mit den übernatürlichen Figuren, als ob sie seinesgleichen wären.[43] In der Welt herrscht eine eigengesetzliche Ordnung, die auf immergültigen ethischen und ästhetischen Idealvorstellungen basiert. Demnach dominiert das Gute über das Böse, das Gerechte über das Ungerechte und das Schöne über das Hässliche. Tritt eine Störung dieser Ordnung auf, ist das ganze Geschehen darauf ausgerichtet, den Idealzustand wiederherzustellen. Das Wunder versinnbildlicht die Sehnsucht die bedrückende Realität zu überwinden.[44]
Unter ‚ Flächenhaftigkeit‘ fasst Lüthi die Eigenart des Märchens, dass es keine räumliche, zeitliche, geistige und seelische Tiefengliederung gibt. Das Märchenpersonal ist typisiert, es werden keine Menschen mit ‚lebendiger’ Innenwelt gezeigt: „Das Märchen saugt alles Räumliche von den Dingen und Phänomenen und zeigt sie uns als Figuren und figurale Vorgänge auf einer hell erleuchteten Fläche.“[45] Die Märchenfiguren handeln im Grunde immer kühl, seelische Triebkräfte werden durch äußere Anstöße ersetzt: „Woher die Jenseitigen kommen und wie sie leben, interessiert die Figuren des Märchens nicht […]. Bei ihnen tun wir keinen Blick in seelische Tiefen, während wir in der Sage die Qual und Sehnsucht der Jenseitigen ergriffen miterleben.“[46] Der Verzicht auf jede Einordnung offenbart den tiefen Sinn des Volksmärchens. Durch die abstrakte Zeichnung des Geschehens und der Figuren wird dem Märchen Klarheit und Sicherheit verliehen.[47]
Ende des 18. Jahrhunderts lösten sich die viele Jahrhunderte bestehenden Ordnungsschemata auf. Die Religion hatte als alleiniger Wegweiser durch das Leben ausgedient, die Entwicklung der Naturwissenschaften und der technischen Fortschritt hatten dem Individuum bisher ungeahnte Freiheiten eingebracht. Dieser Prozess von zunehmender Individualisierung und Rationalisierung hat offensichtlich zu Angst vor Erfahrungs- und Sinnverlust im „Räderwerk“ des Fortschritts geführt.[48] Entsprechend resultierte die Popularität der Märchen aus dem Wunsch, sich in eine wohlgeordnete, durchschaubare Märchenwelt zurückzuziehen. Zur Vermittlung dieses geschlossenen Weltbildes wird das Märchen in eine unbestimmte, mythische Vorzeit versetzt.[49]
Die obligatorischen Märchenformeln, die eigentlich von ausgesprochen künstlicher Struktur zeugen (rhythmisierte, oft sogar metrische Sprache), unterstützen den Märchencharakter. Während Handlungssteuerungsformeln dazu dienen, große zeitliche oder räumliche Distanzen zu überwinden, weist die Schlussformel in ironischer Weise auf die Unwirklichkeit der Erzählung hin. Die formelhafte Eingangsformel dient als Überleitung von der Realität in die Fiktion der Märchenwelt, Wirklichkeitsferne baut sich ebenso durch die fehlende räumliche Tiefenwirkung auf: „Die knappe Bezeichnung umreißt und isoliert die Dinge mit fester Kontur.“[50]
Isolation gilt Lüthi als beherrschendes Merkmal des abstrakten Stils. Mineralisches, Metallisches, sowie alles Klare wird bevorzugt in einer Darstellung von Dingen und Farben verwendet. Innerhalb der Metalle wird Gold, Silber, Kupfer bevorzugt– „Das Seltene, Kostbare hebt sich aus seiner Umgebung heraus, es steht isoliert.“[51] Während in der Wirklichkeit Mischfarben sehr viel häufiger sind als reine Töne, werden in der Märchenwelt die reinen Farben: golden, silbern, rot, weiß, schwarz präferiert, häufig auch blau, so dass die Farbwahl ebenso wie auch das genaue Passen der Situationen aufeinander (z. B. Wundergaben bei drohender Gefahr) das Motiv der Wirklichkeitsferne unterstützt.[52]
Die Märchenfiguren besitzen vielfach keine Umwelt, verschiedenste Gründe werden angeführt, warum der Held in ferne Länder auswandern muss, um scheinbar unlösbare Aufgaben zu bewältigen. Der in seiner Isolation aktive und handelnde Held ist ein typisches Element des Märchens. Familienangehörigen werden maximal der Kontrast- oder Handlungsfunktion wegen genannt, auf seinen Reisen ist der Held zumeist allein. Durch seine Isolierung ist der Held frei für das Eingehen der Bindung, die die Situation gerade fordern. Die „sichtbare Isolation“ findet nach Lüthi ihren Ausgleich in einer unsichtbaren Allverbundenheit.[53]
Das Begriffspaar Sublimation und Welthaltigkeit führt diesen Gedanken weiter. In der Realität dunkle, innerseelische Prozesse werden nicht offen dargelegt, sondern zu lichten Handlungsbildern sublimiert.[54] Die Deutung der Welt erfolgt nur symbolhaft. So enthalten Motive keine realistischen Schilderungen, sondern sind „entwirklicht – von den numinosen, magischen, mythischen, sexuellen und erotischen bis zu den profanen des alltäglichen Lebens.“[55] Die profanen Motive erfahren dieselbe Darstellung wie alle anderen. Ohne tragischen Ton kann von Mord, Tod, Verrat etc. erzählt werden, weil die Figuren schmerzlos sind. So gehen Realität und Konkretheit verloren, aber es entstehen klare Bilder. Das Märchen wird welthaltig.[56]
Eine starre Struktur durchzieht das Märchen, so werden gleiche Geschehnisse mit den gleichen Worten beschrieben.[57] Zahlen von fester Prägung und ursprünglich magischer Bedeutung werden bevorzugt (Einzahl, Zweizahl, Dreizahl, Siebenzahl, Zwölfzahl); für Lüthi ist die Dreizahl das „vornehmste Merkmal der Volksdichtung.“[58] Die dritte Wiederholung bringt häufig eine Wende oder einen Kontrast. So versagen z.B. zwei Brüder bei ihren Aufgaben, erst der dritte Bruder hat Erfolg etc.[59] Indem die (Un)helden mit dem Tod büßen, wird das typische Happy End akzentuiert (wobei dieses in bestimmten Märchentypen fehlen kann). Das Märchen zeichnet „alles mit Bestimmtheit und Schärfe “[60]
Dadurch gibt das Märchen dem Leser „hinter den werdenden und welkenden Formen der verweslichen Wirklichkeit […] die sichere Linie und die feste, starre Figur.“[61] Trotz völliger Unkenntnis über die wirkenden Zusammenhänge vermitteln die Helden ein Gefühl der Sicherheit, so dass sich aus dem Märchen die Botschaft gewinnen lässt: „Auch wenn du selber nicht weißt, woher du kommst und wohin du gehst und nicht weißt, was für Mächte auf dich einwirken und wie sie es tun […] – du darfst sicher sein, daß du in sinnvollen Zusammenhängen stehst.“[62]
Diese Ähnlichkeiten der europäischen Märchen deuten darauf hin, dass die Vorstellungen von einem Märchenaufbau gleich sind, so dass ein Vergleich „Des goldnen Topfes“ anhand der stilistischen Merkmale ergiebig erscheint. Allgemein wird ein Kunstmärchen dann als solches anerkannt, wenn die Märchenmerkmale dominieren. Diese stellen allerdings keine absoluten Kennzeichen dar, sie können auch nur partiell auftreten.
[...]
[1] E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel, Bd. 1. Hrsg. von Fr. Schnapp. Darmstadt, 1967 – 1969, 407ff.
[2] Vgl. Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm - Quellen und Studien. Gesammelte Aufsätze. Trier, 2004, 278.
[3] Vgl. Kathrin Pöge-Alder: Märchenforschung. Theorien, Methoden, Interpretationen. Tübingen, 2007, 11f.
[4] Vgl. Hartmut Steine>
[5] Lothar Bluhm: Grimm Philologie. Beiträge zur Märchenforschung und Wissenschaftsgeschichte. Hildesheim [u. a], 1995, 12f.
[6] Vgl. Claudia Liebrand: „Punschrausch und paradis artificiels: E.T.A Hoffmanns Der goldne Topf als romantisches Kunstmärchen.“ In: Alexander Vera u. Fludernik, Monika: Romantik. Trier, 2000, 32f.
[7] Vgl. Pöge-Alder, 21f.
[8] Vgl. Hermann Bausinger: Märchen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Brednich, Rolf Wilhelm (Hrsg), Bd. 9, Berlin, 1999, S. 250ff.
[9] Bluhm, 39.
[10] Pöge-Adler, 126.
[11] Vgl. Cary-Madeleine Fontaine: Das romantische Märchen. Eine Synthese aus Kunst und Poesie. München, 1985, 51f.
[12] Grimm, Jacob und Wilhelm: Kinder-und Hausmärchen. Gesamtausgabe mit allen Zeichnungen von Otto Ubbelohde. Zweiter Band. Kreuzlingen/München, 2005, 441.
[13] Vgl. Rölleke, 9.
[14] Paul-Wolfgang Wührl: Das deutsche Kunstmärchen. Geschichte, Botschaft und Erzählstrukturen. Baltmannsweiler, 2003, 5.
[15] Vgl. Bettina Kümmerling-Meibauer: Die Kunstmärchen von Hofmannsthal, Musil und Döblin. Köln [u. a.], 1991, 10.
[16] Liebrand, 33.
[17] Jens Tismar und Mathias Mayer: Kunstmärchen. Stuttgart [u. a.], 1997, 1f.
[18] Vgl. Kümmerling-Meibauer, 10.
[19] Pöge-Alder, 62.
[20] Vgl. Rölleke, 38.
[21] Vgl. Stefan Neuhaus. Märchen. Tübingen [u. a.], 2005, 134.
[22] Vgl. Rölleke, 38.
[23] Vgl. Ebd., 43f.
[24] Jolles, 219.
[25] Vgl. Bluhm, 27.
[26] Heinz Rölleke: Märchen. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus Weimar, Bd. 2, Berlin [u.a.]: de Gruyter, 2007, 515.
[27] Kümmerling-Meibauer, 224.
[28] Vgl. Tismar, 2f.
[29] Vgl. Pöge-Adler, 63f.
[30] Neuhaus, 19.
[31] Vgl. Ebd., 20.
[32] Vgl. Jolles, 232.
[33] Vgl. Neuhaus, 3.
[34] Vgl. Ewers, Hans-Heino: Deutsche Kunstmärchen von Wieland bis Hofmannsthal. Stuttgart, 1987, 654.
[35] Vgl. Rainer Wehse: „Uralt? Theorien zum Alter der Märchen.“ In: Oberfeld, Charlotte: Wie alt sind unsere Märchen? Forschungsbeiträge aus der Welt der Märchen. Krummwisch bei Kiel, 2005, 26.
[36] Lutz Röhrich: „Wechselwirkungen zwischen oraler und literaler Tradierung.“ In: Oberfeld, Charlotte: Wie alt sind unsere Märchen? Forschungsbeiträge aus der Welt der Märchen. Krummwisch bei Kiel, 2005, 69.
[37] Rölleke (Reallexikon Märchen), 515.
[38] Vgl. Tismar, 2f.
[39] Vgl. Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. Stuttgart, 2002, 9 u. 28.
[40] Ewers, 660.
[41] Vgl. Ebd., 656.
[42] Vgl. Tismar, 6.
[43] Vgl. Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. Tübingen [u. a.], 2005, 21.
[44] Vgl. Neuhaus, 5.
[45] Lüthi., 24.
[46] Ebd., 20.
[47] Vgl. Ebd., 86.
[48] Vgl. Detlef Kremer: Romantik. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart [u. a.], 2001, 5.
[49] Vgl. Lüthi, 80.
[50] Ebd., 26.
[51] Ebd., 28.
[52] Vgl. Pöge-Alder, 208.
[53] Vgl. Lüthi, 49.
[54] Vgl. Pöge-Alder, 208.
[55] Lüthi, 67.
[56] Vgl. Ebd., 69.
[57] Vgl. Lüthi, 34ff.
[58] Ebd., 36.
[59] Vgl. Pöge-Alder, 25ff.
[60] Lüthi, 59.
[61] Ebd., 80.
[62] Ebd., 86.
Examensarbeit, 47 Seiten
Germanistik - Komparatistik, Vergleichende Literaturwissenschaft
Bachelorarbeit, 84 Seiten
Diplomarbeit, 37 Seiten
Examensarbeit, 47 Seiten
Germanistik - Komparatistik, Vergleichende Literaturwissenschaft
Bachelorarbeit, 84 Seiten
Diplomarbeit, 37 Seiten
Der GRIN Verlag hat sich seit 1998 auf die Veröffentlichung akademischer eBooks und Bücher spezialisiert. Der GRIN Verlag steht damit als erstes Unternehmen für User Generated Quality Content. Die Verlagsseiten GRIN.com, Hausarbeiten.de und Diplomarbeiten24 bieten für Hochschullehrer, Absolventen und Studenten die ideale Plattform, wissenschaftliche Texte wie Hausarbeiten, Referate, Bachelorarbeiten, Masterarbeiten, Diplomarbeiten, Dissertationen und wissenschaftliche Aufsätze einem breiten Publikum zu präsentieren.
Kostenfreie Veröffentlichung: Hausarbeit, Bachelorarbeit, Diplomarbeit, Dissertation, Masterarbeit, Interpretation oder Referat jetzt veröffentlichen!
Kommentare