Masterarbeit, 2010
171 Seiten, Note: 2.0
Abstract
1. Einleitung
2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Zum Begriff der Beanspruchung
2.2 Der Berufseinstieg in der Lehrerinnen- und Lehrerforschung
2.2.1 Der Berufseinstieg in Stufen- und Phasenmodellen der Berufsbiographie
2.2.1.1 Das Modell von Fuller & Bown (1975)
2.2.1.2 Das Modell von Huberman (1991)
2.2.1.3 Das Modell von Sikes, Measor & Woods (1991)
2.2.1.4 Zwischenfazit
2.2.2 Berufseinstieg und Praxisschock
2.2.2.1 Der Praxisschock als Belastung beim Berufseinstieg
2.2.2.2 Exkurs: Der Praxisschock als Einstellungswandel
2.3 Beanspruchungen von Lehrerinnen und Lehrern
2.3.1 Hohe Beanspruchungen im Lehrberuf – ein Mythos?
2.3.2 Beanspruchungen im Lehrberuf – eine Systematisierung
2.3.3 Forschungsstand: Spezifische Beanspruchungen beim Berufseinstieg
2.4 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben
2.4.1 Ursprung des Konzepts
2.4.2 Anwendung des Konzepts auf die Berufseinstiegsphase von Lehrpersonen
2.4.3 Zusammenstellung der Beanspruchungsbereiche für den Leitfaden
2.4.3.1 Beanspruchungsbereich 1: Führung
2.4.3.2 Beanspruchungsbereich 2: Kooperation
2.4.3.3 Beanspruchungsbereich 3: Rolle
2.4.3.4 Beanspruchungsbereich 4: Vermittlung
2.4.3.5 Beanspruchungsbereich 5: Zeitliche Belastung
2.5 Bewältigungsstrategien (Coping) von Lehrerinnen und Lehrern
2.5.1 Das transaktionale Stressmodell von Lazarus (1995)
2.5.2 Begriffsdefinition und Überblick über Coping(strategien)
2.5.3 Forschungsstand: Copingstrategien im Lehrberuf
3. Angaben zur Erhebung
3.1 Fragestellungen
3.2 Grundgesamtheit und Stichprobe
3.2.1 Stichprobenziehung
3.2.1.1 Unterrichtstätigkeit an einer 3.-6. Primarklasse
3.2.1.2 Beschäftigung im Kanton Luzern
3.2.1.3 Klassenlehrperson
3.2.1.4 Volles Pensum (80-100%)
3.2.1.5 Kinderlos
3.2.1.6 Berufliche Erstausbildung
3.2.2 Stichprobenbildung und -rekrutierung
3.3 Das Erhebungsinstrument
3.3.1 Teil A: Erhebung von Beanspruchungsquellen im Lehrberuf
3.3.2 Teil B: Erhebung von Copingstrategien im Bereich Führung
3.3.3 Teil C: Erhebung von persönlichkeitsrelevanten Aspekten
3.3.3.1 Überzeugungen und Einstellungen zum Unterricht
3.3.3.2 Selbstwirksamkeitsüberzeugung
3.3.4 Teil D: Angaben zur Lehrperson, Klasse und Schule
3.3.4.1 Alter
3.3.4.2 Geschlecht
3.3.4.3 Schulort
3.3.4.4 Klassenstufe
3.3.4.5 Klassengrösse
3.3.4.6 Jungen- und Mädchenanteil
3.3.4.7 Anteil Kinder aus fremdsprachigem Elternhaus
3.3.4.8 Anteil Kinder mit der Abklärung AD(H)S
3.3.4.9 Anteil an integrierten Kindern (IF)
3.3.5 Postskriptum
3.4 Feldphase
3.4.1 Pretest
3.4.2 Durchführung der Befragung
3.5 Aufbereitung und Auswertung der Daten
4. Ergebnisse
4.1 Überblick über die Stichprobe
4.2 Beanspruchungen beim Berufseinstieg
4.2.1 Beanspruchungsbereich Führung
4.2.1.1 Einzelne Schülerinnen und Schüler
4.2.1.2 Klassenfraktionen
4.2.1.3 Klassenführung
4.2.2 Beanspruchungsbereich Kooperation
4.2.2.1 Kollegium
4.2.2.2 Vorgesetzte
4.2.2.3 Eltern
4.2.2.4 Schulische Dienste
4.2.2.5 Schulaufsicht
4.2.3 Beanspruchungsbereich Rolle
4.2.3.1 Ansprüche
4.2.3.2 Rollenklarheit
4.2.3.3 Emotionale Abgrenzung
4.2.4 Beanspruchungsbereich Vermittlung
4.2.4.1 Fachvermittlung
4.2.4.2 Erziehung
4.2.4.3 Heterogenität
4.2.4.4 Beurteilung
4.2.5 Beanspruchungsbereich Zeit
4.2.5.1 Stoffdruck
4.2.5.2 Vor- und Nachbereitung
4.2.5.3 Administration
4.2.5.4 Sitzungen
4.2.5.5 Weiterbildung
4.2.5.6 Weitere Aufgaben
4.3 Copingstrategien bei Beanspruchungen durch Führungsaufgaben
4.3.1 Herunterspielen
4.3.2 Schuldabwehr
4.3.3 Gedankliche Ablenkung
4.3.4 Positive Selbstinstruktion
4.3.5 Gedankliche Lösungssuche
4.3.6 Verdrängung
4.3.7 Selbstbemitleidung
4.3.8 Soziales Netzwerk
4.3.9 Selbstbestätigung
4.3.10 Körperlicher Ausgleich
4.3.11 Entspannung
4.3.12 Weiterbildung
4.3.13 Vorbeugende Massnahmen
4.3.14 Spontane Massnahmen
4.3.15 Institutionelle Massnahmen
4.3.16 Repressives Verhalten
4.3.17 Gespräch mit den Schüler/innen
4.3.18 Gespräch mit den Eltern
4.3.19 Professionelle Hilfe
4.3.20 Symptombekämpfung
5. Diskussion
5.1 Einschränkungen und Vergleichbarkeit
5.2 Beanspruchungen beim Berufseinstieg
5.3 Bewältigungsstrategien bei Beanspruchungen durch Führungsaufgaben
Verzeichnisse
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Anhang
Anhang A: Leitfaden Interview
Anhang B: Codierleitfaden
Anhang C: Brief an das Rektorat der PHZ Luzern
Anhang D: Transkribierte Gespräche
Anhang E: Postskriptum
Die vorliegende Masterarbeit interessiert sich für Beanspruchungsfelder beim Berufseinstieg von Primarlehrpersonen und die Bewältigung von Beanspruchungen im Bereich der Führungsaufgaben. Die vorhandenen Studien zu Beanspruchungen im Berufseinstieg von Lehrerinnen und Lehrern sind mehrheitlich quantitativ orientiert und eruieren unterschiedliche Beanspruchungen. Forschungsarbeiten zur Untersuchung von Bewältigungsstrategien von Lehrpersonen fokussieren entweder nicht explizit bestimmte Beanspruchungen oder sie interessieren sich nicht primär für Junglehrpersonen.
Das Konzept der Entwicklungsaufgaben dient zusammen mit der Ergänzung um zeitliche Aspekte als Raster für die vorliegende qualitative Erhebung von Beanspruchungen. Befragt werden 13 Primarlehrerinnen, welche ihre Ausbildung an der PHZ Luzern im Frühjahrssemester 2009 abgeschlossen haben und die vorgegebenen Kriterien erfüllen. Als Erhebungsmethode dient ein problemzentriertes Interview, welches in Teilen visuell unterstützt wird.
Wichtigste Ergebnisse der Arbeit sind, dass junge hohe Ansprüche an ihre Arbeit haben. Sie agieren anfangs aber noch sehr unsicher – vor allem bezüglich der Zusammenarbeit mit den Eltern und fühlen sich zeitlich stark beansprucht. Beanspruchungen durch Führungsaufgaben bewältigen die jungen Lehrerinnen in erster Linie durch Gespräche, pädagogische Massnahmen oder durch Schuldabwehr.
Sowohl in der Forschungsliteratur wie auch in der medialen Berichterstattung wird davon ausgegangen, dass der Lehrberuf mit stärkeren Belastungen behaftet ist als andere Beschäftigungsfelder (vgl. Keller 2010, p. 24; Lipowsky 2003, p. 53). Die im Umfeld Schule zu bewältigenden Aufgaben stellen insbesondere an frisch diplomierte Lehrerinnen und Lehrer hohe Anforderungen: Junge Lehrpersonen müssen für ihre Berufsausübung nicht nur über ein qualifiziertes didaktisches und fachliches Wissen, sondern vor allem auch über eine breite Handlungspalette an pädagogischen Handlungskompetenzen verfügen (vgl. Bräm 1994, p. 17).
Im schweizerischen Schulsystem übernehmen ausgebildete (Klassen)Lehrkräfte von Anfang an die volle Verantwortung für ihre Klassen – ein Moratorium für Novizen gibt es nicht (vgl. Zingg & Grob 2002, p. 216). Deshalb wird der Berufseinstieg von Junglehrpersonen in der Literatur auch metaphorisch mit einem „…Sprung ins kalte Wasser“ (Messner & Reusser 2000, p. 165) verglichen. Es wird nämlich davon ausgegangen, dass die Absolventinnen und Absolventen in einen soziokulturellen Kontext hineingestellt werden, auf den sie in der Ausbildung nicht adäquat vorbereitet werden konnten (vgl. Tanner 1993, p. 45).
Weil es sich beim Berufseinstieg zudem um eine besonders neuralgische Phase für Friktionen und Brüche in der gesamten Berufsbiographie handelt, wird dieser auch als „… sensible Phase“ (Treptow 2006, p. 43) bezeichnet. Dem entsprechend liegt es nahe, dass es sich beim Berufseinstieg um die am intensivsten erforschte Phase in der Berufskarriere von Lehrkräften handelt (vgl. Herzog, Brunner, Herzog & Müller 2007, p. 52). Allerdings stellt Lipowsky (2003, p. 48f.) in einem Überblick fest, dass die Literatur zu Befunden zur Berufseinstiegsphase von Junglehrpersonen in erster Linie aus dem Zeitraum zwischen den 1960er und den 1980er Jahren stammt, als sich Forschungsprojekte noch mehrheitlich mit dem Einstellungswandel beim Berufseinstieg und nicht mit Beanspruchungen befassten. Erst seit den 1990er Jahren fokussieren solche Studien stärker die beim Berufseinstieg erlebten Beanspruchungen.
Führungsaufgaben beanspruchen beim Berufseinstieg in besonderem Masse (vgl. Böhmann & Hoffmann 2002, p 25). Diverse weitere Studien konkretisieren diesen Befund, indem sie nachweisen, dass Junglehrpersonen jene Schwierigkeiten als besonders beanspruchend empfinden, welche aus dem täglichen Umgang mit verhaltensauffälligen, aggressiven, demotivierten oder schulmüden Schülern resultieren und in Disziplinarproblemen münden können (vgl. z.B. Anderson 2003, p. 145; Bräm 1994, p. 107, 173; Veenman 1984). Womöglich liegt dies auch daran, dass am Ende der Ausbildung die erwartete Beanspruchung beim Berufseinstieg gesamthaft zwar sehr realistisch eingeschätzt wird – Beanspruchungen im Bereich der Klassenführung aber deutlich unterschätzt werden und die jungen Lehrkräfte überraschen (vgl. Zingg & Grob 2002, p. 216).
In dieser Arbeit befrage ich Berufseinsteigerinnen[1] zu Beanspruchungen und Bewältigungsstrategien. Neuere Untersuchungen belegen zwar, dass Beanspruchungen beim Berufseinstieg nicht übermässig stark sind (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 311). Dieser Befund hängt aber möglicherweise damit zusammen, dass in der Berufseinstiegsforschung in erster Linie erfahrene Lehrkräfte befragt werden, welche Jahre oder sogar Jahrzehnte später auf ihren Berufseinstieg zurück blicken (vgl. Hirsch, Ganguillet & Trier 1990, Huberman 1991, Terhart, Czerwenka, Ehrich, Jordan & Schmidt 1994). Die beim Berufseinstieg erlebten Beanspruchungen werden von Lehrpersonen mit mehrjähriger Berufserfahrung rückblickend denn auch stark relativiert (vgl. Hericks 2006, p. 38f.). Basierend auf diesen Erkenntnissen wird in der Forschungsliteratur auch angenommen, der ‚Praxisschock‘ hätte „… viel von seiner individualbiographischen Brisanz verloren“ (Terhart 1997, p. 7). In der vorliegenden Arbeit wird nicht unterstellt, dass es sich beim Berufseinstieg um eine besonders stark belastende Phase handle. Sie basiert vielmehr auf der Annahme, dass bei Junglehrerinnen berufsphasenspezifische Beanspruchungs- und Bewältigungsmuster ausgemacht werden können. Solche Muster und Regelmässigkeiten möchte ich in dieser Arbeit aufdecken.
Befragt werden nur junge Lehrerinnen, die am Ende des Schuljahres auf ihr erstes Praxisjahr zurück blicken und sich dem entsprechend gut an allfällige Beanspruchungen und angewendete Bewältigungsstrategien erinnern. Möglicherweise fühlen sie sich auch weiterhin beansprucht. Ich möchte mit dieser Arbeit folglich einen tiefen Einblick in den Berufseinstieg von Lehrpersonen geben und anhand einer qualitativen Vorgehensweise eruieren, wodurch sich junge Lehrpersonen beansprucht fühlen und wie sie Beanspruchungen im Bereich der Führung bewältigen. Der vorliegenden Arbeit liegen zusammengefasst die folgenden zwei Fragestellungen zugrunde:
- Welche Aspekte ihrer beruflichen Tätigkeit beanspruchen junge Lehrerinnen während des ersten Berufsjahres?
- Wie bewältigen die junge Lehrerinnen Beanspruchungen durch Führungsaufgaben, das heisst, welche Copingstrategien wenden sie an?
Um diese beiden Leitfragen zu beantworten, gliedert sich die Arbeit in folgende Abschnitte: Im Kapitel zum theoretischen Hintergrund (Kapitel 2) wird in Anlehnung an das Belastungs- und Beanspruchungsmodell zunächst der Begriff der Beanspruchung erläutert (Kapitel 2.1). Anschliessend gibt Kapitel 2.2 einen Überblick über den Berufseinstieg in der Lehrerinnen- und Lehrerforschung. Eine Systematisierung von Belastungen und Beanspruchungen im Lehrberuf wird in Kapitel 2.3 vorgenommen. Als theoretisches Gerüst für die Interviewdurchführung und -auswertung sind die Kapitel 2.4 und 2.5 zu verstehen. Zunächst wird das Konzept der Entwicklungsaufgaben erläutert. Aufgrund dieses Konzepts ergeben sich fünf Beanspruchungsbereiche, auf welchen die Erhebung basiert (Kapitel 2.4). In Kapitel 2.5 wird anhand einer Symbiose von verschiedenen Ansätzen ein Raster für Bewältigungsstrategien generiert. Dieser Raster wird für die Kategorisierung der Bewältigungsstrategien heran gezogen, wenn die Junglehrpersonen auf diese zu sprechen kommen. Es folgen in Kapitel 3 die Angaben zur Erhebung. Zunächst werden noch einmal die Forschungsfragen in Erinnerung gerufen (Kapitel 3.1). Anschliessend wird ausgeführt, wie sich Grundgesamtheit und Stichprobe zusammen setzen (Kapitel 3.2). In Kapitel 3.3 wird das qualitativ orientierte Erhebungsinstrument ausführlich vorgestellt, bevor einige Informationen zur Feldphase zur Sprache kommen (Kapitel 3.4). Das dritte Kapitel endet mit den Hinweisen zur Aufbereitung und Auswertung der Daten (Kapitel 3.5). Im Ergebnisteil wird zunächst die Stichprobe hinsichtlich personen- und klassenspezifischen Angaben vorgestellt (Kapitel 4.1). Es folgen die Ergebnisse zu den Beanspruchungen (Kapitel 4.2) und jene zu den Bewältigungsstrategien (Kapitel 4.3). In einer ausführlichen Diskussion (Kapitel 5) komme ich schliesslich auf methodische Einwände zu sprechen und stelle die zentralen Ergebnisse einander gegenüber.
In der Lehrerinnen- und Lehrerforschung wird der Begriff der Beanspruchung häufig als Synonym von Belastung oder Stress verwendet (vgl. van Dick & Stegmann 2007, p. 34f.). Dies mag daran liegen, dass die Begriffe lange Zeit nicht eindeutig voneinander abgegrenzt wurden und demnach Unklarheiten von mehrdeutigen alltagssprachlichen Bedeutungen vorliegen (vgl. Kramis-Aebischer 1995, p. 28). Auch in neueren Untersuchungen wird teilweise auf eine genaue Klärung der Begriffe verzichtet (vgl. Gehrmann 2007, p. 186f.).
Ein Blick in die einschlägige Literatur macht aber deutlich, dass eine trennscharfe Definition von Beanspruchung vonnöten ist: So fühlen sich Berufseinsteigende und erfahrende Lehrpersonen ähnlich stark beansprucht – Ersteren werden beim Berufseinstieg aber mehr Belastungen attestiert (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 292).
Für die Definition von Beanspruchung gehe ich von den Ansätzen von Keller-Schneider (2010, p. 77f.), van Dick & Stegmann (2007, p. 35), van Dick (1999, p. 24), Abele & Candova (2007, p. 108) und Böhm-Kasper (2004, p. 13 f.) aus. Von diesem Konzept wird im Folgenden auch ausgegangen, wenn von Beanspruchung die Rede ist:
Beanspruchungen umfassen die subjektive Widerspiegelung (Wahrnehmung, Bewertung und kognitive Verarbeitung) von Belastungen und können je nach Person verschieden erlebt werden.
Aufgrund der Subjektivität von Beanspruchungen sprechen manche Autoren auch von „subjektive[r] Belastung“ (Forneck & Schriever 2001, p. 94) oder von „Belastungswahrnehmung“ (Zingg & Grob 2002, p. 216). Diese Begrifflichkeiten gehen womöglich auf das Rahmenmodell der Belastung und Beanspruchung nach Rudow (1994, p. 43, 46) zurück. In der nun folgenden Abbildung ist dieses Rahmenmodell abgebildet. In Anlehnung an die eben erfolgten Definitionen sind die Kästchen ‚objektive Belastung‘ und ‚subjektive Belastung‘ entsprechend mit ‚Belastung‘ bzw. ‚Beanspruchung‘ ergänzt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Rahmenmodell der Belastung und Beanspruchung nach Rudow (1994) (Quelle: van Dick & Stegmann 2007, p. 36; eigene Ergänzungen)
Wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis, dass in den Gesprächen mit den Lehrerpersonen von Belastung statt von Beanspruchung gesprochen wird. Der Begriff der Belastung wird deshalb gewählt, weil er umgangssprachlicher ist (vgl. Kapitel 3.3.1).
Der Berufseinstieg von Lehrerinnen und Lehrern wurde während den letzten Jahrzehnten unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht. Als wesentlichste Perspektiven nennt Martinuzzi (2007, p. 238) folgende fünf Forschungsparadigmen. Ich möchte den Berufseinstieg von Lehrpersonen unter den hier hervorgehobenen Aspekten betrachten:
Tabelle 1: Forschungsparadigmen in der Berufseinstiegsforschung von Lehrkräften (in Anlehnung an Martinuzzi 2007, p. 238)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Um die Berufseinstiegsphase in Relation zur gesamten Berufslaufbahn zu setzen, erfreuen sich Stufen- und Phasenmodelle aus den 1970er, 1980er und 1990er Jahren bis heute grosser Beliebtheit. Die Vorstellung einer Stufung der beruflichen Entwicklung hat ihren Ursprung in zahlreichen Konzeptionen, welche vor allem im angloamerikanischen Raum entworfen worden sind (vgl. Herzog et al. 2007, p. 45f.).
Im Folgenden werden drei bekannte Modelle dahin gehend untersucht, ob und inwiefern sie auf Beanspruchungen beim Berufseinstieg zu sprechen kommen. Es sind dies die Stufen- und Phasenmodelle von Fuller & Bown (1975), Huberman (1991) und Sikes, Measor & Woods (1991).
Das Stufenkonzept von Fuller & Bown (1975) bezieht sich auf die Anzahl der Berufsjahre als Indikator für die gemachten Erfahrungen (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 37). Fuller & Bown (1975) teilen die Berufsbiographie in drei Stufen ein: Die survival stage, die mastery stage und die routine stage (vgl. Messner & Reusser 2000, p. 160). Folgende Abbildung gibt einen Überblick über diese drei Stufen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Das Stufenkonzept von Fuller & Bown (1975) (Quelle: Messner & Reusser 2000, p. 160; Hervorhebung P.G.)
Auf der survival stage ist die Lehrperson stark mit persönlichen Schwierigkeiten, also mit sich selbst und ihrem Handeln beschäftigt (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 37, 107; Messner & Reusser 2000, p. 159). Der Aspekt des ‚Überlebens‘ zeigt sich darin, dass Folgendes im Vordergrund steht: Es geht um „… one’s adequacy and survival as a teacher, about class control, about being liked by pupils, about supervisors‘ opinions, about being observed, evaluated, praised, and failed“ (Fuller & Bown 1975, p. 37). Dieses Modell betrachtet die Berufseinstiegsphase demnach ausschliesslich im Zusammenhang mit Schwierigkeiten, Beanspruchungen und Unsicherheiten. Herzog et al. (2007, p. 46) gehen davon aus, dass Fuller & Bown (1975) diese Beanspruchungen in erster Linie auf die Klassenführung und den Unterricht zurück führen.
Dieses eher undifferenzierte Stufenmodell wird bis heute vielfach zitiert – teilweise aber auch kritisiert. So konstatiert Hericks (2006, p. 41), „… dass das Modell nicht zwischen verschiedenen Lehrerpersönlichkeiten differenziert [und den Berufseinstieg, P.G.] einseitig als eher negativ konnotierte Phase im Sinne des Praxisschocks [betrachtet, P.G.]“ (ebd.).
Das Modell von Huberman (1991) geht über die Eindimensionalität des eben vorgestellten Modells hinaus. Gemäss Lipowsky (2003, p. 50) basiert dieses Modell auf der Annahme, dass sich Lehrpersonen individuell entwickeln und Berufseingangsphasen daher unterschiedlich verlaufen können. Die ersten drei Berufsjahre betrachtet Huberman (1991, p. 249) analog zum Stufenmodell von Fuller & Bown (1975) unter dem Aspekt des ‚Überlebens‘ . ‚Überleben‘ wird hier aber um den Aspekt des ‚Entdeckens‘ erweitert, wie folgende Abbildung zeigt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Das Phasenmodell von Huberman (1991) (Quelle: Huberman 1991, p. 249; Hervorhebung P.G.)
Huberman unterscheidet zwischen einem relativ unproblematischen Berufseinstieg (‚Entdecken‘) und einem verhältnismässig schwierigen Start (‚Überleben‘) (vgl. Huberman 1991, p. 253). Unter einem schwierigen Start versteht er dabei „… Rollenüberlastung und Angst, schwierige Schüler, hoher Zeitaufwand, dichte Kontrolle durch die Ausbildner sowie Isolation innerhalb der Schule“ (ebd.).
Sikes et al. (1991, p. 231ff.) verwerfen die Ansicht, wonach bestimmte Phasen von allen Lehrpersonen durchlaufen werden. Obwohl sie bei ihrer Untersuchung einen für den Lehrberuf typischen Lebenslauf herauskristallisieren, unterstreichen sie, dass es sich bei diesem Entwicklungsverlauf um kein rigides Muster handle.
Sikes et al. (1991) nennen – im Unterschied zu den beiden vorangegangenen Modellen – als Kriterium nicht die Berufs- sondern die Alters jahre. Bis zum Alter von 28 Jahren befindet sich eine Lehrperson demzufolge in der „… ziemlich gut definierte[n] Frühphase, die Erkundungen und Experimente beinhaltet und in deren Verlauf die Grundlage dafür gelegt wird, dass man überhaupt unterrichten kann“ (ebd., p. 231). Als grundlegend bezeichnen die Autorinnen und Autoren zwei Aspekte: Es sind dies die Klassenführung und das Erlangen von Sicherheit in den unterrichteten Fächern (vgl. ebd.). Folgende Abbildung zeigt die einzelnen Stufen nach Sikes et al. (1991):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Entwicklungsverläufe nach Sikes et al. (1991) (Quelle: Schönknecht 2010, p. 3; Hervorhebung P.G.)
Bei diesen Stufen- und Phasenmodellen ist zu beachten, dass sie als „… idealtypische Konstruktionen“ (Lipowsky 2003, p. 51) verstanden werden müssen. Ferner handelt es sich bei den Studien um retrospektive Befragungen unter dem Paradigma der Berufs karriere (vgl. Herzog et al. 2007, p. 46; Huberman 1991, p. 251). Für die Formulierung solcher Modelle wurden demnach nur diejenigen Lehrpersonen mit einbezogen, welche nach einigen Berufsjahren noch im Beruf standen und ihre Berufsbiographie rekonstruierten (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 39).
Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass das Modell von Fuller & Bown (1975) den Berufseinstieg noch ausschliesslich als schwierig betrachtet, währenddem sich die Modelle von Huberman (1991) und Sikes et al. (1991) deutlich vielfältiger präsentieren. Von Relevanz ist an dieser Stelle, dass alle drei Modelle Beanspruchungen im Zusammenhang mit der Klassenführung erwähnen. Dieser Aspekt wird im Weiteren auch vertieft untersucht, da in dieser Arbeit auch die Bewältigung im Bereich von Führungsaufgaben von Interesse sind.
Seit Mitte der 1960er Jahre kann in der Lehrerinnen- und Lehrerforschung eine Hinwendung zu modernen soziologischen Theorien und zur empirischen Forschung beobachtet werden. In den 1970er Jahren rückten die subjektive Übernahme einer neuen Rolle, berufliche Sozialisation, biographische Prozesse und Fragen nach der Besonderheit der Arbeit der Lehrperson ins Zentrum des Interesses (vgl. Reh & Schelle 2006, p. 394).
Aus dieser Zeit stammen nicht nur die im vorangegangenen Kapitel ausgeführten Stufen- und Phasenmodelle, sondern auch der Begriff des ‚Praxisschocks‘. Der Begriff geht auf die Forschungen zum ‚Einstellungswandel‘ von Junglehrpersonen unter dem Paradigma der Sozialisationstheorie zurück (vgl. Hericks 2006, p. 35). Ein bekanntes und viel zitiertes Beispiel für die Erforschung des Einstellungswandels beim Berufseinstieg ist die Studie von Dann, Müller-Fohrbrodt & Cloetta (1981).
Bis in die 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre war mit dem Begriff des ,Praxisschocks' noch ausschliesslich die Änderung von Einstellungen bzw. Handlungsdispositionen durch unerwartete negative Erfahrungen im Praxisfeld gemeint. In der Zwischenzeit ist der ‚Praxisschock’ im weiteren Sinne zum Synonym für eine schwierige und teils belastende Anfangsphase in der beruflichen Praxis geworden (vgl. Hericks 2006, p. 37). Wenn demzufolge die Beanspruchungen beim Berufseintritt zu einer „… Überdosis an Diskrepanzerfahrungen“ (Pschenny 1995, p. 62) führen, neigen junge Lehrkräfte dazu, diese mittels Einstellungsrevisionen abzufangen (vgl. Anderson 2003, p. 144). Der seit den 1970er Jahren untersuchte ‚Praxisschock’ von jungen Lehrkräften kann also für zwei verschiedene Aspekte stehen: Damit gemeint sein können entweder das Erleben hoher Beanspruchungen beim Übergang in den Beruf oder die Reaktion auf Diskrepanzerfahrungen in der Form von Einstellungsänderungen (vgl. Zingg & Grob 2002, p. 223). Im Folgenden gehe ich kurz auf die beiden Dimensionen ein. Hinsichtlich der Fragestellungen sind im Anschluss aber ausschliesslich Belastungen bzw. Beanspruchungen und nicht der Einstellungswandel von Relevanz für diese Arbeit.
In Untersuchungen der 1970er und 1980er Jahre wurden in erster Linie personelle und materielle Bedingungen wie die zu hohe Schülerzahl und andererseits die Kluft zwischen vermittelter Theorie und erlebter Praxis für Beanspruchungen beim Berufseintritt verantwortlich gemacht (vgl. Stangl 1984, p. 143). Personelle und materielle Bedingungen werden heute zumindest in der Schweiz kaum (mehr) als beanspruchend empfunden. Der Demokratisierungsschub der letzten 30 Jahre und die gute materielle Ausstattung haben personelle bzw. materielle Probleme deutlich entschärft (vgl. Anderson 2003, p. 145.).
Der zweite Punkt wird in der jüngeren Debatte über die Reform der Lehrerinnen- und Lehrerbildung aber heute noch rege diskutiert (vgl. Zingg & Grob 2002, p. 216). Kritik an einer ungenügenden Vereinbarkeit von Theorie und Praxis wird vor allem noch an der deutschen Lehrerinnen- und Lehrerbildung geäussert (vgl. Petrik 2009, p. 59). Für die Schweiz ziehen Zingg & Grob (2002, p. 224) in Erwägung, dass sich der ‚Praxisschock' womöglich schon zu Zeiten der seminaristischen Ausbildung von der Aufnahme der Berufstätigkeit in die Ausbildung vorverlagert hat (vgl. ebd., p. 216). Die Studie untersuchte, inwieweit die erwarteten Belastungen der Studierenden mit den tatsächlich erlebten Beanspruchungen beim Berufseinstieg übereinstimmen. Die realistische bis pessimistische Einschätzung der Studierenden kann dahingehend interpretiert werden, dass die in der Lehrerausbildung praktizierte Verzahnung von Theorie und Praxis erfolgreich zu sein scheint (vgl. Zingg & Grob 2002, p. 223).[2]
Auch retrospektiv betrachtet entschärfen sich Beanspruchungen beim Berufseinstieg: Befragt man erfahrene Lehrpersonen zu ihrem schon Jahre zurückliegenden Berufseinstieg, so zeigt sich, dass die erlebten Anfangsschwierigkeiten mit zunehmendem Alter als immer weniger belastend eingeschätzt werden (vgl. Terhart 1997, p. 7). Eine weitere Relativierung von hohen Belastungen beim Berufseintritt wird durch die Erkenntnis erhärtet, dass Lehrkräfte nach einem allfälligen ‚Praxisschock’ ihre berufliche Selbstsicherheit sehr schnell wieder erlangen (vgl. Herzog et al. 2007, p. 53). Die berufliche Selbstachtung ist nach mehrjähriger Berufstätigkeit sogar signifikant besser als am Ende de Studiums. Ähnlich verhält es sich mit der Depressivität. Diese nimmt im Verlaufe der Jahre deutlich ab, auch wenn sie das erforderliche Signifikanzniveau verfehlt (vgl. Dann et al. 1981, p. 257). Diesbezüglich scheint die Überwindung von anfänglich erlebten Beanspruchungen belegt werden zu können und der Schluss liegt nahe, „... dass der ‚Praxisschock' im Bereich der Selbstsicherheit nach 3½ bis 4 Jahren überwunden scheint" (ebd., p. 260; Hervorhebung im Original).
Auf den ersten Blick legen die hier zusammen getragenen Befunde also nahe, dass der Berufseinstieg von Lehrpersonen nicht mit ausserordentlich hohen Beanspruchungen verbunden ist. Tatsächlich scheinen personelle und materielle Belastungen mehrheitlich überwunden zu sein. Ebenso konnte die Lehrerinnen- und Lehrerausbildung in der Schweiz allfällige Theorie-Praxis-Vereinbarkeitsprobleme offenbar schon recht gut mindern. Dass die erlebten Beanspruchungen beim Berufseinstieg viele Jahre später relativiert werden und Lehrerinnen und Lehrer die Selbstwirksamkeit nach einigen Jahren wieder erlangen, bedeutet aber nicht, dass sich junge Lehrpersonen während ihres Berufseinstiegs nicht beansprucht fühlen. Tatsächlich zeugen neuere Studien davon, dass sich Berufseinsteigende heute insbesondere durch jene Schwierigkeiten beansprucht fühlen, welche aus dem täglichen Umgang mit Schülern resultieren. In einem Kapitel zum Forschungsstand zu spezifischen Beanspruchungen beim Berufseinstieg soll zu einem späteren Zeitpunkt an diese Einwände angeknüpft werden (vgl. Kapitel 2.3.3).
Eine Mehrheit der Studien aus der Zeitspanne zwischen den 1960er und den 1980er Jahren kommt bezüglich des Einstellungswandels zu jenem Ergebnis, welches in der deutschsprachigen Literatur unter der Metapher der ‚Konstanzer Wanne’[3] bekannt geworden ist (vgl. z.B. Messner & Reusser 2000, p. 159; Petrik 2009, p. 60). Die ‚Konstanzer Wanne’ meint den Einstellungswandel von Absolventinnen und Absolventen zwischen der Ausbildung und den ersten Berufsjahren als Junglehrperson (vgl. Anderson 2003, p. 116): Es konnte mehrfach empirisch nachgewiesen werden, dass angehende Lehrkräfte zu Beginn ihres Studiums von pädagogisch konservativen Erziehungsvorstellungen geprägt sind. Diese nehmen im Verlaufe der Ausbildung zugunsten von liberalen und reformorientierten Einstellungen ab. Schon nach kurzer Zeit in der Berufspraxis und dem damit zusammenhängenden ‚Praxisschock’ nehmen die konservativen Einstellungen wieder Überhand. In einer graphischen Darstellung entsteht somit das Bild einer Wanne, wie folgende Abbildung zeigt (vgl. Herzog et al. 2007, p. 52):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Die Konstanzer Wanne (Quelle: Hericks 2006, p. 36)
Solche Einstellungs- und Verhaltensänderungen werden auf erlebte Diskrepanzerfahrungen zurückgeführt und somit als negative Anpassungsprozesse interpretiert (vgl. Pschenny 1995, p. 62). Es handelt sich um ein internationales Phänomen, welches in den deutschsprachigen Ländern mehrfach nachgewiesen worden ist (vgl. Lipowsky 2003, p. 52). Allerdings lässt sich das Phänomen in ähnlicher Weise auch in anderen Berufen beobachten, womit es nicht berufsspezifisch zu sein scheint (vgl. ebd., p. 49).
In der Theorie ist die ‚Konstanzer Wanne’ kaum zu fassen. Die theoretischen Positionen bei der Erklärung und Bewertung dieses Phänomens gehen in sehr unterschiedliche Richtungen (vgl. Hinsch 1979, p. 114ff.). So besteht bis heute kein Konsens darüber, worauf dieser ‚Wannen’-Effekt zurückzuführen ist (vgl. Herzog et al. 2007, p. 52). Neben dem Problem, dass die These der ‚Konstanzer Wanne’ bis heute nicht theoretisch hergeleitet werden kann, wird deren Existenz teilweise auch in Frage gestellt. Hänsel (1985) bezeichnet die ,Konstanzer Wanne' als Mythos und interpretiert den von der Konstanzer Forschergruppe beschriebenen konservativen Wandel als einen „... fruchtbaren Lernprozess [...] in dem im Studium gelernte illusionäre Vorstellungen aufgegeben und durch realitätsgerechtere ersetzt werden" (ebd., p. 643). Ob nun von einem ‚Lernprozess‘ oder einem ‚Einstellungswandel‘ gesprochen wird: Auch Hänsel (ebd.) scheint nicht abzustreiten, dass sich in den ersten Berufsjahren die Einstellungen zum Unterricht tatsächlich verändern.
Die angeblich liberalere Haltung während des Studiums rührt womöglich auch von der sozialen Erwünschtheit her, da Studierende nicht gerne als konservativ gelten (vgl. Petrik 2009, p. 60). Insofern könnte es sich bei diesem Phänomen auch um ein „... Artefakt der gewählten Untersuchungsmethode" (Hericks 2006, p. 36) handeln. Auch Tanner (1993, p. 209) führt verschiedene methodologische Einwände auf. Eine OECD-Studie belegt allerdings, dass „… die Einstellungen zum Unterricht […] relativ unbeeinflusst von der Sozialisation innerhalb der Schule, dem Einfluss der Kollegen und Vorgesetzten und anderen schulbezogenen Faktoren [sind, P.G.]“ (OECD 2009a, p. 483f.).
In der vorliegenden Arbeit interessiert nicht, worauf das Phänomen der ‚Konstanzer Wanne‘ zurück zu führen ist, oder ob überhaupt von einem Einstellungswandel die Rede sein kann. Da das Forschungsdesign nur einen Befragungszeitpunkt vorsieht, ist es auch gar nicht möglich, einen Einstellungswandel nachzuweisen. Die bisherigen Ausführungen weisen aber darauf hin, dass Junglehrpersonen tendenziell eher konservative Einstellungen zum Unterricht hegen. In einem kurzen Frageblock soll deshalb erhoben werden, ob dies zum Befragungszeitpunkt nach einem Schuljahr tatsächlich der Fall ist (vgl. Kapitel 3.3.3.1). Diese Angaben fliessen anschliessend in die Auswertung des Beanspruchungsbereichs ‚Führung‘ mit ein. Ich werde der Frage nachgehen, ob instruktivistische Einstellungen zum Unterricht mit weniger Beanspruchungen im Bereich ‚Führung‘ einher gehen und ob bei konstruktivistischen Haltungen das Gegenteil der Fall ist (vgl. Kapitel 4.2.1).
In den folgenden Unterkapiteln wird zunächst in Frage gestellt, ob Lehrerinnen und Lehrern einen Beruf ausüben, der stärker beansprucht als andere Berufsgruppen und welche Befunde allenfalls dafür sprechen (Kapitel 2.3.1). In einem nächsten Schritt geht es darum, Quellen der Beanspruchung im Lehrberuf zu systematisieren und aufzuzeigen, wo die vorliegende Arbeit verortet werden kann (Kapitel 2.3.2). Das Kapitel schliesst mit einem umfassenden Forschungsstand zu spezifischen Beanspruchungen beim Berufseinstieg (Kapitel 2.3.3).
Beanspruchungen von Lehrkräften zählen zwar nicht im Zusammenhang mit dem Berufseinstieg, aber in der empirischen Lehrerinnen- und Lehrerforschung generell zu den besonders intensiv bearbeiteten Bereichen. In den 1970er und 1980er Jahren wurde der Beanspruchung von Lehrpersonen zunächst im angloamerikanischen Raum zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt. Seit den 1990er Jahren hat dieser Forschungsbereich auch im deutschsprachigen Raum Fuss gefasst (vgl. Rothland 2009, p. 113). Die wissenschaftliche Beanspruchungsforschung im Lehrberuf kann demzufolge zu den jüngeren Forschungsthemen gezählt werden (vgl. Herzog 2007, p. 92). Erstaunlicherweise wird in der Beanspruchungsforschung meist nicht erwähnt, wodurch sich die Konzentration auf den Lehrberuf rechtfertigen lässt und weshalb nicht etwa auf das Beanspruchungserleben von Sekretärinnen oder Handwerkern eingegangen wird.
Tatsächlich wird in der Forschungsliteratur mittlerweile kaum mehr bestritten, „… dass der Lehrerberuf ein besonders belastender Beruf ist“ (Lipowsky 2003, p. 53). Auch Abele & Candova (2007, p. 107) sind der Ansicht, dass Lehrkräfte zu jenen Berufsgruppen gehören, die unter besonders viel Belastung leiden würden. Schmid (2003, p. 106) spricht in diesem Zusammenhang gar von „… offensichtliche[n] Gesundheitsbefunde[n]“ (ebd.). Schon in den 1980er und 1990er Jahren wurde das Burnout-Syndrom helfender Berufe so prominent, dass verschiedene Autoren zur Einschätzung kamen, es handle sich bei Lehrkräften um eine „… kollegiale Infektion, eine Gefühlslage, die wie eine Art Kriegsverletzung gerne vorgezeigt wird“ (Gehrmann 2007, p. 186). Die in der Literatur doch recht verbreitete These einer belasteten und leidenden Lehrerschaft dient der Lehrerinnen- und Lehrerforschung als Begründung für ihre intensiven Forschungsbemühungen (vgl. Rothland 2009, p. 112). Während den vergangenen Jahrzehnten haben Lehrerinnen und Lehrer besondere Aufmerksamkeit im Kontext der Burnoutforschung gewonnen, weshalb in der Zwischenzeit eine Fülle von Ergebnissen und Katalogen zu Belastungsfaktoren im Lehrberuf vorliegt (vgl. Krause & Dorsemagen 2007, p. 52).
Die These einer stark beanspruchten Lehrerschaft wird in der Literatur teilweise aber auch in Frage gestellt. So konstatiert Rothland (2009, p. 112), dass „die empirische Forschung zur Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf […] mit Blick auf die potentiellen, häufig unterstellten Zusammenhänge […] trotz einer Vielzahl von Untersuchungen bislang kaum eindeutige Antworten und Ergebnisse liefern [kann, P.G.]“ (ebd.). Der Autor folgert daraus, dass nicht bewiesen werden kann, dass Lehrkräfte stärker beansprucht seien als Sekretärinnen oder Handwerker. Auch Scheuch, Seibt, Haufe & Rehm (2008, p. 155) sind der Meinung, die bisherige Belastungsforschung im Lehrberuf kranke daran, keine vergleichende Wertung und Einordnung in Bezug auf andere Berufe herstellen zu können. Obwohl sie einräumen, dass dies nicht ganz einfach sei, verweisen sie auf verschiedene Ansätze, die es möglich machen würden, verschiedene Berufsgruppen hinsichtlich ihrer Belastung zu vergleichen (vgl. ebd., p. 156ff.).
Es stellt sich zu Recht die Frage, wodurch diese Konzentration auf den Lehrberuf nun legitimiert werden kann. In der Literatur wird diesbezüglich vielfach auf Befunde aus der Burnoutforschung verwiesen, wonach Lehrkräfte – im Vergleich zu anderen Berufsgruppen – insgesamt als besonders burnoutgefährdet gelten (vgl. Krause & Dorsemagen 2007, p. 53). Untersuchungen im Rahmen der Burnoutforschung sind denn auch besonders zahlreich (vgl. ebd., p. 75). So erstaunt es nicht, dass auch Ratgeber für die angeblich stark burnoutgefährdeten Lehrerinnen und Lehrer boomen.[4]
Was tatsächlich für eine höhere Anfälligkeit, ein Burnout zu erleiden, sprechen kann, ist der hohe Anteil an Lehrkräften, der frühzeitig in Pension geht. Gemäss Herzog (2007, p. 131) belegen die Zahlen amtlicher Statistiken, dass in der Schweiz und in Deutschland über 50% aller Lehrerinnen und Lehrer aufgrund von Dienstunfähigkeit vorzeitig in Pension gehen. Sosnowksy (2007, p. 120) verweist auf Statistiken, welche davon ausgehen, dass insgesamt fast 75% aller verbeamteten Lehrkräfte frühzeitig pensioniert werden. Dieser Unterschied in den beiden Statistiken ist wohl darauf zurück zu führen, dass Sosnowsky (ebd.) die Anzahl frühzeitiger Pensionen zitiert und nicht Pensionen aufgrund Dienstunfähigkeit.
Die Vielzahl an Forschungsarbeiten zu Beanspruchungen im Lehrberuf und die Tatsache, dass Lehrkräfte einen helfenden Beruf ausüben, sprechen dafür, dass Lehrerinnen und Lehrer besonders beansprucht sind. Gewisse Indikatoren wie eine erhöhte Burnoutgefährdung und die frühzeitige Pensionierung weisen ebenfalls in diese Richtung. Nicht ausser Acht gelassen darf allerdings die Tatsache, dass kaum Vergleiche zu anderen Berufen angestellt werden können und dass (die im Beruf verbliebenen) Lehrerinnen und Lehrer trotz der als hoch eingeschätzten Beanspruchung in ihrem Beruf grundsätzlich ausgesprochen zufrieden sind (vgl. Lipowsky 2003, p. 57.). Trotz dieser berechtigten Einwände gehe ich davon aus, dass es Sinn macht, auf das Beanspruchungserleben im Lehrberuf einzugehen. Im Gegensatz zu den oben zitierten Ansätzen möchte ich aber nicht von Statistiken und quantitativen Angaben ausgehen, sondern eine qualitative Herangehensweise wählen und allfällige Beanspruchungen im persönlichen Gespräch eruieren.
Obwohl kritische Stimmen bezweifeln, ob Lehrer tatsächlich besonders beansprucht sind, liegt in der Zwischenzeit eine Fülle von Ergebnissen und Katalogen zu Belastungs- und Beanspruchungsfaktoren im Lehrberuf vor (vgl. Krause & Dorsemagen 2007, p. 52f.).
Beanspruchungsfaktoren können grundsätzlich auf vier Ebenen angesiedelt werden: Der Systemebene, der Organisationsebene, der Klassenebene und der individuellen Ebene (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 21; Kramis-Aebischer 1995, p. 152f.). In der folgenden Tabelle sind diese vier Ebenen und deren hauptsächlichen Beanspruchungsfaktoren aufgelistet:
Tabelle 2: Beanspruchungen im Lehrberuf nach Ebenen (in Anlehnung an Keller-Schneider 2010, p. 21; Kramis-Aebischer 1995, p. 152ff..)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Durch diese Einteilung in vier Ebenen entsteht ein umfangreicher Katalog von Beanspruchungsfaktoren in den verschiedensten Bereichen.[5] Mit dieser Auflistung von Beanspruchungen nach Ebenen sortiert lässt sich die vorliegende Untersuchung aber noch nicht einordnen. Dies soll mithilfe der folgenden Tabelle geschehen, welche die Rubriken der Lehrerinnen- und Lehrerbelastungsforschung auflistet. Aufgrund der hier bearbeiteten Fragestellungen sind jene Rubriken schattiert, welche im Folgenden von Relevanz sind.
Tabelle 3: Überblick über Rubriken der Lehrerinnen- und Lehrerbelastungsforschung (in Anlehnung an Krause & Dorsemagen 2007, p. 60-74)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Mithilfe dieses Rasters lässt sich gut veranschaulichen, wo die Lehrerbelastungs- und beanspruchungsforschung ansetzen kann und welche Rubriken in der vorliegenden Arbeit von Relevanz sind. Aber inwiefern werden die markierten Rubriken berücksichtigt?
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen spielen insofern eine Rolle, als die befragten Lehrpersonen innerhalb des Kantons Luzern unterrichten und dementsprechend von ähnlichen Bedingungen auf der Systemebene ausgegangen werden kann. Bei den arbeitsbezogenen Einflussfaktoren wird ausschliesslich auf die subjektive Wahrnehmung eingegangen. Weiter gelangen nur zu mindestens 80% arbeitende, kinderlose Lehrpersonen mit einem Jahr Berufserfahrung als Klassenlehrperson auf der 3.-6. Primarstufe in die Stichprobe, womit personenbezogene Einflussfaktoren ebenfalls mit berücksichtigt werden.[6] Eine eigene Fragestellung bezieht sich auf die Copingstile. Die Persönlichkeit wird ferner in einem kleineren Rahmen hinsichtlich Einstellungen zum Unterricht und der Selbstwirksamkeitsüberzeugung berücksichtigt. Schliesslich werden die kurzfristigen Beanspruchungsreaktionen im kognitiven und affektiven Bereich und anhand von Verhaltensweisen erfragt. Bis anhin galt das Forschungsinteresse vor allem den langfristigen Beanspruchungsreaktionen (Burnoutforschung).
Widmen wir uns nun ausführlich den Forschungsergebnissen zu Beanspruchungen beim Berufseinstieg. Den bisherigen Ausführungen folgend stammt die Literatur zu Befunden zur Berufseinstiegsphase von Junglehrpersonen in erster Linie aus einem Zeitraum zwischen den 1960er und den 1980er Jahren (vgl. Lipowsky 2003, p. 48f.) Wie gesehen beschäftigten sich diese Studien aber mehrheitlich mit dem Einstellungswandel und dem dazu gehörenden Phänomen der ‚Konstanzer Wanne‘ (vgl. Cloetta & Hedinger 1981; Dann et al. 1981).
Diese Arbeit interessiert sich jedoch nicht für den Einstellungswandel, sondern für einen Bereich, der seit geraumer Zeit vernachlässigt wird: Beanspruchungen im Lehrberuf, welche primär beim Berufseinstieg vorkommen. Dass solchen beim Berufseinstieg auftretenden Beanspruchungen bisher wenig Beachtung geschenkt worden ist, scheint mit zwei Gründen zusammen zu hängen: Erstens ist in der Lehrerforschung mittlerweile seit zwei Jahrzehnten eine Verlagerung vom Berufseinstieg auf das gesamte Berufsleben zu beobachten (vgl. Herzog et al. 2007, p. 45). Zweitens konnten einige Studien keine signifikanten Zusammenhänge zwischen Berufserfahrung und erlebten Beanspruchungen konstatieren (vgl. Forneck & Schriever 2001, p. 112; Keller-Schneider 2010, p. 311). Dies, obwohl die objektiven Belastungen beim Berufseinstieg eigentlich offensichtlich wären (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 292).
Bei den erwähnten Studien wird allerdings nicht berücksichtigt, dass Lehrpersonen in der Berufseingangsphase die Beanspruchungswahrnehmung anders erleben als erfahrene Lehrerinnen und Lehrer. Womöglich fühlen sich berufseinsteigende und erfahrene Lehrpersonen ähnlich stark beansprucht. Allerdings strukturieren Berufsanfängerinnen und -anfänger die Beanspruchungswahrnehmung anders als erfahrene Lehrpersonen (vgl. ebd., p. 226). Oder anders ausgedrückt: Bezüglich der Quantität sind zwar keine nennenswerten Unterschiede zwischen erfahrenen und unerfahrenen Lehrpersonen auszumachen – wahrscheinlich aber scheint dies hinsichtlich der Qualität der Fall zu sein. Davon wird im Folgenden denn auch ausgegangen.
Allgemein haben Studien, welche Beanspruchungen beim Berufseinstieg fokussieren, oft die Eigenschaft, dass erfahrende Lehrpersonen mit mehrjähriger Erfahrung zu ihrem schon länger zurück liegenden Berufseinstieg befragt werden (vgl. Hirsch et al. 1990, Huberman 1991, Terhart et al. 1994). Im Zusammenhang mit dieser Methodik müssen aber zwei Kritikpunkte aufgeführt werden: Erstens werden auf diese Weise nur diejenigen Lehrpersonen in die Befragung mit einbezogen, welche nach einigen Jahren noch im Beruf stehen und nicht – vielleicht aufgrund von starken Beanspruchungen – schon vorher aus dem Lehrberuf ausgeschieden sind (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 39). Zweitens verweisen Kritiker dieser Methodik auf die grundlegende Differenz zwischen dem ursprünglichen Erleben und seiner späteren autobiographischen Thematisierung: So lassen spätere Ereignisse das frühere Geschehen in den Hintergrund treten oder führen zu einer neuen Einordnung in den biographischen Zusammenhang (vgl. Jakob 2010, p. 229f.). Denkbar wäre hier auch, dass sich die Befragten die beim Berufseinstieg erlebten Beanspruchungen nicht eingestehen wollen oder sich schlecht erinnern.
In einer Literaturrecherche kann Hericks (2006, p. 54ff.) denn auch nur zwei Studien ausmachen, welche sich explizit mit Beanspruchungen beim Berufseinstieg beschäftigen. Es sind dies die Studien von Veenman (1984) und Lipowsky (2003). Ergänzen liesse sich diese kurze Auflistung allerdings noch um die Schweizer Studie von Zingg & Grob (2002) und die neue Studie von Keller-Schneider (2010).[7] Die Ergebnisse dieser Studien werden im Folgenden kurz vorgestellt. Sie geben einen Überblick über die spärliche Erforschung von Beanspruchungen beim Berufseinstieg. Nicht berücksichtigt werden unter anderem die Studien von Terhart et al. (1994) und Hirsch et al. (1990), da diese beiden Studien Beanspruchungen beim Berufseinstieg mit erfahrenen Lehrpersonen retrospektiv rekonstruieren.
Die Studie von Veenman (1984)
Bei der Studie von Veenman (1984) handelt es sich um eine Metaanalyse von 83 mehrheitlich quantitativ ausgerichteten Fragebogenstudien aus verschiedenen Ländern (vgl. Hericks 2006, p. 54; Herzog 2007, p. 132). Veenman (1984, p. 153) kommt dabei zu folgendem Schluss: „… classroom discipline was the most seriously perceived problem area of beginning teachers“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Probleme im Zusammenhang mit der Klassenführung und der Disziplin sind also am bedeutendsten, auch wenn Veenman (ebd.) betont, dass der Anteil von Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteigern mit Disziplinproblemen je nach Studie stark variieren kann. Hinter classroom discipline folgen mit grossem Abstand motivating students und dealing with individual differences (vgl. ebd., p. 154):
Tabelle 4: Die bedeutendsten Beanspruchungen beim Berufseinstieg nach Veenman 1984 (Quelle: ebd., p. 154)
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Die Studie von Zingg & Grob (2002)
Zingg & Grob (2002) eruieren in einer Faktorenanalyse fünf Dimensionen der Beanspruchungswahrnehmung mit jeweils drei bis sechs Items. Die Autoren betrachten die Unterschiede zwischen der erwarteten Beanspruchung vor dem Berufseinstieg und den tatsächlichen Beanspruchungen beim Eintritt in den Beruf. Sie kommen zum Schluss, dass – mit Ausnahme der Dimension Klassenführung – alle Dimensionen als beanspruchender erwartet werden, als sie schliesslich erlebt werden. Demzufolge könnte also nicht von einem Praxisschock ausgegangen werden, wenn damit Beanspruchungen gemeint sind. Die Autoren betrachten aber nicht nur die Dimensionen, sondern auch einzelne Beanspruchungsaspekte (Items). Die Lehrerinnen und Lehrer konnten ankreuzen, ob sie eine bestimmte Belastung beansprucht (stimmt), eher beansprucht (stimmt eher) eher nicht beansprucht (stimmt eher nicht) oder nicht beansprucht (stimmt nicht). Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die drei stärksten Beanspruchungen:
Tabelle 5: Die bedeutendsten Beanspruchungen beim Berufseinstieg nach Zingg & Grob 2004 (Quelle: ebd., p. 221)
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Die Studie von Lipowsky (2003)
Lipowsky (2003, p. 181f.) eruiert die zentralsten Beanspruchungen anhand von zehn Items. Die drei Items mit den höchsten Mittelwerten sind in der Tabelle ersichtlich. Der Autor erhebt zusätzlich zu den Beanspruchungen auch die Arbeitsüberforderung und -zufriedenheit. Die statistischen Daten lassen Lipowksy (ebd., p. 182) zum Schluss kommen, dass „das Gefühl der Arbeitsüberforderung […] für die Berufseinsteiger also vor allem aus den zeitlichen Beanspruchungen [resultiert, P.G.]“ (ebd.).
Tabelle 6: Die bedeutendsten Beanspruchungen beim Berufseinstieg nach Lipowsky 2003 (Quelle: ebd., p. 181)
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Die Studie von Keller-Schneider (2010)
In der aktuellen Studie von Keller-Schneider (2010) werden Beanspruchungen anhand des Konzepts der Entwicklungsaufgaben betrachtet. Dieses Konzept ist auch die Grundlage für die hier vorliegende Arbeit (vgl. Kapitel 2.4). Die Autorin eruiert auf die vier Entwicklungsaufgaben verteilt fünf Items, die deutlich über dem Mittelwert der Beanspruchung liegen:
Tabelle 7: Die bedeutendsten Beanspruchungen beim Berufseinstieg nach Keller-Schneider 2010 (Quelle: ebd., p. 200)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wichtigste Erkenntnisse für die eigene Arbeit
Vergleicht man diese vier Studien zu Beanspruchungen beim Berufseinstieg von Lehrerinnen und Lehrern, so fällt zweierlei auf: Einerseits handelt es sich ausschliesslich um quantitative Untersuchungen. Im Gegensatz dazu sollen in dieser Arbeit Beanspruchungen im Berufseinstieg denn auch qualitativ untersucht werden. Andererseits eruieren die zitierten Studien sehr unterschiedliche Beanspruchungen und die empirische Erkenntnis muss als ernüchternd bezeichnet werden. Obwohl die Forschungsergebnisse zu den Beanspruchungen beim Berufseinstieg äusserst heterogen sind, werden Disziplinar- und Führungsprobleme in dieser Arbeit stärker gewichtet, da nur für diesen Beanspruchungsbereich Bewältigungsstrategien erfragt werden. Es stellt sich demnach zu Recht die Frage, wie diese Gewichtung legitimiert werden kann. Folgende Punkte sprechen dafür:
Erstens gelten Unterrichts- und Klassenführung neben der Schülerorientierung und der kognitiven Aktivierung als eine der drei „… unverzichtbare[n] Grundbedingungen schulischen Lernens“ (Hericks 2006, p. 96). Die Ausübung von Kontrolle und das Sicherstellen von Ruhe und Disziplin werden gemäss Lipowsky (2003, p. 58) als wesentliche Berufsanforderungen an Lehrende betrachtet.
Zweitens finden sich in der Literatur Hinweise dafür, dass Klassenführungs- und Disziplinprobleme im Lehrberuf generell zu den beanspruchendsten Faktoren gehören (vgl. Forneck & Schriever 2001, p. 95). In einer gross angelegten Studie konnten auch Schaarschmidt & Fischer (1999, p. 257ff.) belegen, dass das ‚Verhalten schwieriger Schüler‘ von den Lehrpersonen als der am stärksten beanspruchende Faktor empfunden wird. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass Berufsanfängerinnen und -anfänger ebenfalls mit solchen Beanspruchungen konfrontiert werden.
Drittens scheint die Metaanalyse von Veenman (1984) wenig von ihrer Aktualität verloren zu haben. In der Literatur wird trotz divergierenden Befunden davon ausgegangen, dass „der Umgang mit Disziplinproblemen und Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten […] als belastendste Faktoren im Berufseinstieg genannt [werden, P.G.]“ (Böhmann & Hoffmann 2002, p. 25). Auch Bräm (1994, p. 107) und Anderson (2003, p. 145) zeigen auf, dass junge Lehrerinnen und Lehrer solche Schwierigkeiten als besonders beanspruchend empfinden.
Viertens schliesslich zeigt die Studie von Zingg & Grob (2002, p. 222), dass die Absolventinnen und Absolventen zum Ende ihres Studiums auf sie zukommende Beanspruchungen im Zusammenhang mit Führungsaufgaben unterschätzen. Dies führt dazu, dass gemäss Stichwortprotokollen von Supervisionsprozessen in den ersten beiden Berufsjahren Problemfelder im Zusammenhang mit Führungsaufgaben von Junglehrpersonen denn auch mit Abstand am meisten genannt werden (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 150).
In diesem Kapitel erläutere ich das theoretische Gerüst für die erste Fragestellung. Anhand des Konzepts der Entwicklungsaufgaben werden Teil A des Erhebungsinstruments entwickelt und die Antworten der Lehrpersonen geordnet. Zur Erinnerung die erste Fragestellung:
Welche Aspekte ihrer beruflichen Tätigkeit beanspruchen junge Lehrerinnen während ihres ersten Berufsjahres?
Der US-amerikanische Erziehungswissenschaftler und Soziologe Robert James Havighurst gilt als Begründer des Konzepts der Entwicklungsaufgaben (vgl. Hericks 2009, p. 34; Keller-Schneider 2010, p. 102). Entwicklungsaufgabe ist die deutsche Übersetzung des englischen Wortes developmental task, welches in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA Eingang in den pädagogischen Sprachgebrauch fand (vgl. Trautmann 2004, p. 19). Das Konzept wurde 1948 eingeführt. Als Ausgangspunkt dient also die US-Gesellschaft der 1940er Jahre und die damit einher gehenden Marksteine menschlicher Entwicklung. Bei genauerer Betrachtung hat das Konzept aber wenig an Aktualität verloren, denn es macht deutlich, „… dass Entwicklung stets im Wechselspiel von anlagebedingten Möglichkeiten und umweltbedingten, gesellschaftlichen Anforderungen zu sehen ist“ (Gruber, Prenzel & Schiefele 2001, p. 120). Demzufolge sind Biographien von Menschen zwar einmalig, sie verlaufen jedoch keinesfalls beliebig. Vielmehr entfalten sie sich in einem bestimmten Rahmen, der durch gesellschaftliche Anforderungen abgesteckt und zumindest für Angehörige einer ähnlichen Zivilisation in vergleichbaren Lebenssituationen verbindlich ist (vgl. Hericks 2009, p. 34).
Das Konzept geht also davon aus, dass sich ein Individuum im Laufe seines Lebens zu bestimmten Zeitpunkten mit bestimmten Problemen und Themen auseinander zu setzen hat. So lernen Menschen im frühen und mittleren Erwachsenenalter beispielsweise, mit einem festen Partner zu leben oder gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen (vgl. Gruber, Prenzel & Schiefele 2001, p. 120f.). Zentral ist dabei die Annahme, dass nicht gelöste Entwicklungsaufgaben zu Unzufriedenheit, sozialer Missbilligung und Problemen bei der Bewältigung späterer Aufgaben führen (vgl. Trautmann 2004, p. 23).
Der Berufseinstieg wird bei Havighurst als eine besonders herausfordernde Entwicklungsaufgabe des frühen Erwachsenenalters aufgefasst: „This task takes an enormous amount of he young man’s time and energy […]. Often he becomes so engrossed in this particular task that he neglects others“ (Havighurst 1972, p. 90.). Havighurst (ebd.) betont zwar die Bedeutung des Berufseinstiegs, geht aber nicht näher darauf ein. Er erwähnt allerdings noch, dass diese Entwicklungsaufgabe „… is much more difficult for middle-class than for upper- or lower-class men“ (ebd.). Wenn als Indikator die Klassenposition des Vaters herangezogen wird, stammen (angehende) Primarlehrerinnen und Primarlehrer tendenziell aus dem mittleren Bildungsmilieu (vgl. Kühne 2006, p. 623; Lipowsky 2003, p. 198). Demnach wäre diese Entwicklungsaufgabe für junge Lehrerinnen und Lehrer also besonders schwierig.
Gemäss dem aktuellen Forschungsstand stellt der Berufseinstieg ohne Zweifel eine wichtige Entwicklungsaufgabe dar (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 310). Er muss erfolgreich bewältigt werden, um sozial anerkannt und ökonomisch unabhängig zu werden (vgl. ebd., p. 106). Deshalb untersuchen neuere Studien und Beiträge zur Berufseinstiegsphase von Lehrpersonen diese sensible Phase denn auch teilweise anhand des Konzepts der Entwicklungsaufgaben (vgl. Hericks 2006, 2009; Keller-Schneider 2010).
Angewandt auf die Berufseinstiegsphase von Lehrkräften auf der Sekundarstufe II nennen Hericks & Kunze (2002, p. 401) vier Entwicklungsaufgaben. Für die Formulierung der beruflichen Entwicklungsaufgaben gehen die Autoren vom didaktischen Dreieck Lehrer – Schüler – Stoff aus (vgl. ebd., p. 405). So beziehen sich Entwicklungsaufgaben auf die eigene Kompetenz, die V ermittlung, die Anerkennung[8] und die Institution (vgl. Hericks 2004, p. 120f.). Gemäss Hericks (2009, p. 34) erweisen sich diese vier beruflichen Entwicklungsaufgaben für die Rekonstruktion der subjektiven Professionalisierungsprozesse der Berufseinsteigenden als tragfähig:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Entwicklungsaufgaben im Professionalisierungskreis (Quelle: Hericks 2009, p. 35)
Wie bereits erwähnt, gehen diese vier Entwicklungsaufgaben auf eine Untersuchung von Fachlehrpersonen auf der Sekundarstufe II zurück (vgl. Hericks 2006, p. 148ff.). Sie lassen sich nicht vollumfänglich auf die Primarstufe übertragen, da auf dieser Schulstufe die Berufsanforderungen nicht vorwiegend die Vermittlung von Fachinhalten in einem zeitlich begrenzten Rahmen von Einzelstunden fokussieren. Wie die Abbildung aufzeigt, sind Aspekte der Klassenführung beispielsweise nicht berücksichtigt.
Für ihre Untersuchung auf der Ebene der Volksschule hat Keller-Schneider (2010, p. 111f.) das Modell von Hericks (2006, 2009) adaptiert und die vier Entwicklungsaufgaben Identitätsfindende Rollenfindung, adressatenbezogene Vermittlung, anerkennende Führung und mitgestaltende Kooperation heraus kristallisiert. Die Autorin lehnt sich explizit an Hericks (2006, 2009) an, auch wenn sie einige Entwicklungsaufgaben etwas umformuliert oder neu den Aspekt der Führung berücksichtigt. Auf Basis dieses Konzepts von Keller-Schneider (2010) möchte ich für die Befragung verschiedene Beanspruchungsbereiche eruieren.
Die von Keller-Schneider (2010) zusammen getragenen Beanspruchungsbereiche übernehme ich nur in Teilen und ergänze sie teilweise.[9] Zu den vier Beanspruchungsbereichen füge ich schliesslich den zeitlichen Aspekt hinzu, womit ich in der vorliegenden Untersuchung von fünf Beanspruchungsdimensionen beim Berufseinstieg ausgehe.
Die folgenden Abbildungen sind jeweils identisch mit den Orientierungshilfen, welche die befragten Lehrpersonen im ersten Teil des Gesprächs vor sich haben (vgl. Erhebungsinstrument Teil A). Mithilfe dieses ‚Leitfadens‘ können die Aussagen der Lehrpersonen schliesslich auch in der Auswertungsphase besser strukturiert und miteinander verglichen werden.
Wie bereits angesprochen, handelt es sich bei der Führung um einen Beanspruchungsbereich, dem beim Berufseinstieg ein besonders hohes Mass an Beanspruchung attestiert wird. Diesen Bereich betrachte ich in der vorliegenden Arbeit auch genauer, da ich untersuche, ob solche Beanspruchungen mit klassen- oder persönlichkeitsspezifischen Faktoren erklärt werden können und welche Bewältigungsstrategien bei Beanspruchungen im Bereich der Führung angewendet werden.
Keller-Schneider (2010, p. 192) nennt zwei Aspekte von Führungsaufgaben: direkte Führung und Aufbau bzw. Pflege von Lernklima, Arbeits- und Klassenkultur[10] . Der zweite hier erwähnte Aspekt ist sehr breit gefasst. Weil in der vorliegenden Arbeit aber auch betrachtet wird, wie Beanspruchungen bewältigt werden, interessiert im Folgenden ausschliesslich der Aspekt der direkten Führung.[11]
Interessant ist, dass die pädagogische Aufgabe der Führung gemäss Apel (2002, p. 9) als Begriff „… geradezu ängstlich vermieden oder mit ‚Erziehung‘ vermengt [wird, P.G.]“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Dies soll hier nicht geschehen. Vielmehr interessieren diejenigen direkten Führungsaufgaben, die die Lehrpersonen in den folgenden drei Bereichen übernehmen:
Tabelle 8: Aspekte des Beanspruchungsbereichs ‚Führung' (in Anlehnung an Keller-Schneider 2010, p. 112, 192)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ich möchte also dahin gehend unterscheiden, ob die direkte Lenkung und Führung von Schülerinnen und Schülern, von bestimmten Klassenfraktionen oder das Führen der ganzen Klasse als beanspruchend wahrgenommen wird.[12]
Lehrerinnen und Lehrer interagieren in erster Linie mit ihren Schülerinnen und Schülern. Sie kommen aber nicht darum herum, auch innerhalb des Kollegiums, mit der Schulleitung, Eltern und Schulaufsicht zu kooperieren (vgl. Böhmann & Hoffmann 2002, p. 7). Im Berufsauftrag des Kantons Luzern wird zudem noch die Zusammenarbeit mit Schulischen Diensten erwähnt (vgl. Fachstelle für Schulevaluation 2010, p. 1). Die Forderung nach Kooperation beruht auf der Leitidee, „… dass der Bildungs- und Erziehungsauftrag gemeinsam mit allen Beteiligten wahrgenommen werden muss“ (Küng 2007, p. 82).
Wenn diese Kooperation aber nicht wunschgemäss verläuft, so kann es sein, dass sich Lehrpersonen von den Eltern bevormundet fühlen, Angst vor der Schulleitung haben oder in ihrem Kollegium Rivalinnen und Rivalen sehen (vgl. Ulich 1996, p. 206). Deshalb kann die Kooperation auch als beanspruchend wahrgenommen werden und Unzufriedenheit auslösen (vgl. Herzog et al. 2007, p. 339). Gemäss Rudow (2004, p. 62) berichtet annähernd die Hälfte aller Lehrerinnen und Lehrern von Schwierigkeiten in der Kooperation mit diesen Akteurinnen und Akteuren. Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die fünf Interessensvertretern. Auch dieser Beanspruchungsbereich wurde modifiziert.[13]
Tabelle 9: Aspekte des Beanspruchungsbereichs ‚Kooperation' (in Anlehnung an Keller-Schneider 2010, p. 112, 192; Fachstelle für Schulevaluation 2010; Böhmann & Hoffmann 2002, p. 7)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Mit dem Beanspruchungsbereich Rolle ist die Dimension des „… Sich-oft-selbst-das-grösste-Problem-Sein“ (Larcher Klee 2005, p. 17) gemeint. Darin zeichnet sich ein spannungsreiches Moment voller Konflikte ab, welches das Selbstverständnis und die Selbstwahrnehmung einer jungen Lehrperson betrifft. Lehrende sind im Berufseinstieg stark mit sich selbst beschäftigt und können durch hohe Ansprüche an sich selber oder durch ein zu starkes persönliches Engagement in Einzelfällen beansprucht sein (vgl. ebd.). Der Bereich Rolle umfasst demnach die folgenden drei Aspekte:
Tabelle 10: Aspekte des Beanspruchungsbereichs ‚Rolle ‘ (in Anlehnung an Keller-Schneider 2010, p. 111, 190)
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Mit der ersten in der Tabelle aufgeführten Ausprägung wird der Aspekt abgedeckt, ob sich eine Lehrperson aufgrund hoher Ansprüche, die sie an sich selbst stellt, beansprucht fühlt. Keller-Schneider (2010, p. 15) konstatiert, dass sich insbesondere neu in den Beruf einsteigende Lehrerinnen und Lehrer häufig aufgrund (zu) hoher Ansprüche und Qualitätsmassstäbe unter Druck setzen. Dieser Druck kann schnell beanspruchende Auswirkungen auf ein Individuum haben, da leistungsmotivierte Lehrerinnen und Lehrer dazu neigen, sich zu verausgaben (vgl. Lipowsky 2003, p. 94). Rudow (2004, p. 57) versteht unter diesem Aspekt die Selbstbelastung, welche durch „… unrealistische Zielsetzungen [und, P.G.] irrationale Einstellungen und Handlungsstile [verursacht wird, P.G.]“ (ebd.).
Mit der zweiten Ausprägung innerhalb der Rollenfindung ist die Klarheit über die eigene Rolle gemeint. Mögliche Beanspruchungen durch die Rollenfindung ergeben sich aus der Tatsache, „… dass der Berufseinstieg nicht lediglich eine Berufsphase, sondern vor allem ein Übergang ist“ (Herzog & Munz 2010, p. 79; Hervorhebung im Original). Dieser Übergang zeichnet sich unter anderem durch einen Rollenwechsel von der Studentin zur Lehrerin aus (vgl. ebd.). Beanspruchend im Zusammenhang mit der Rollenfindung können beispielsweise folgende Punkte sein: den Eltern entgegen treten, Verantwortung für eine Klasse übernehmen, die Einnahme einer der Berufsrolle entsprechenden Position zwischen Nähe und Distanz zu den Schülerinnen und Schülern oder die Klärung der eigenen Wert- und Erziehungsvorstellungen als Lehrperson (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 144f.). Anfängliche Unsicherheiten bei der Zusammenarbeit mit den Eltern werden ebenfalls dem Aspekt der Rollenklarheit zugeordnet (vgl. Ulich 1996, p. 141).
Die Fähigkeit, sich emotional schützen bzw. abgrenzen zu können, stellt den dritten Gesichtspunkt der Rollenfindung dar. Verantwortlich hierfür können zwei Aspekte sein: Einerseits kann die unklare Trennung von häuslicher Arbeitszeit und Freizeit das Gefühl auslösen, nie mit der Arbeit fertig zu sein (vgl. Ulich 1996, p. 45). Da Lehrpersonen in ihrem Beruf auch mit menschlichen Schicksalen konfrontiert sind, kann es andererseits beanspruchend sein, wenn Mitgefühl, Anteilnahme und Verantwortungsübernahme nicht abgelegt werden können (vgl. Thora 2004, p. 242). Aus diesen zwei Schwierigkeiten können Gefühle des Nicht-Abschalten-Könnens oder der emotionalen Ermüdung resultieren (vgl. Zingg & Grob 2002, p. 219ff.).
Der eigentliche Unterricht im Klassenverband macht insgesamt rund 50% der jährlichen Arbeitszeit aus und kann demzufolge als Haupttätigkeit einer Lehrperson bezeichnet werden (vgl. Herzog 2007, p. 94). Unter die Entwicklungsaufgabe Vermittlung subsumiert Keller-Schneider (2010, p. 111) neben der Vermittlung von fachspezifischen auch kulturelle Unterrichtsinhalte. Sie beruft sich hier auf Hericks (2006, p. 110), der unter ‚Vermittlung‘ die primäre Aufgabe von Lehrkräften versteht, fachliche und kulturelle Inhalte zu unterrichten.
Die Aspekte Heterogenität und Beurteilung sind auch bei Keller-Schneider (2010, p. 192) erwähnt und werden hier ebenfalls mit berücksichtigt, wie folgende Tabelle zeigt:
Tabelle 11: Aspekte des Beanspruchungsbereichs ,Vermittlung‘ (in Anlehnung an Keller-Schneider 2010, p. 111, 192)
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Die Freude an der Fachvermittlung ist ein wichtiges Berufsmotiv bei der Entscheidung für den Lehrberuf (vgl. Herzog et al. 2007, p. 69) und stellt eine der Hauptaufgaben von Lehrkräften dar (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 110). In der Forschungsliteratur finden sich keine Hinweise dafür, dass sich Lehrerinnen und Lehrer beim Berufseinstieg durch die fachliche Vermittlung beansprucht fühlen. Dieser Aspekt ist hier der Vollständigkeit halber aufgeführt, da es sich hierbei um eine ganz zentrale Aufgabe von Lehrkräften handelt. Es kann beispielsweise nicht ausgeschlossen werden, dass sich Berufseinsteigende in bestimmten Fächern unsicher fühlen oder ihre didaktischen Methoden anzweifeln.
Die Vermittlung von kulturellen und sozialen Werten hängt mit dem Erziehungsauftrag zusammen. Im Kanton Luzern ist im Berufsauftrag der Aspekt der Erziehung prominent vertreten (vgl. Fachstelle für Schulevaluation 2010, p. 1ff.). Der Erziehungsauftrag kann insbesondere deshalb beanspruchen, weil er sich weitgehend der Routinisierung entzieht und erst in der Praxis wirklich erprobt werden kann (vgl. Ulich 1996, p. 27).
Mit der Heterogenität sind die unterschiedlichen Voraussetzungen gemeint, welche die Kinder mitbringen. Im Kanton Luzern gilt der rechtlich gestützte Grundsatz, dass Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in erster Linie in den Regelklassen geschult werden (vgl. Riedweg 2008, p. 9). Wie in Kapitel 2.3.3 aufgezeigt werden konnte, haben solche heterogenen Voraussetzungen durchaus Beanspruchungspotential. In einigen Studien kommt dieser Beanspruchung gar die grösste Bedeutung zu (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 200; Zingg & Grob 2002, p. 221).
Dass die kontinuierliche Beurteilung insbesondere beim Berufseinstieg beansprucht, belegt die Untersuchung von Keller-Schneider (2010, p. 200). Gemäss Herzog (2007, p. 99) handelt es sich bei der Beurteilung um einen nicht zu vernachlässigenden Belastungsfaktor im Lehrberuf. Mit dem Aspekt der Beurteilung sind insbesondere der Zwang zur kontinuierlichen Notengebung oder der Selektionsdruck im Übertrittsverfahren gemeint.
Das Konzept der Entwicklungsaufgaben eignet sich grundsätzlich ausgezeichnet, um die Beanspruchungen beim Berufseinstieg von Lehrerinnen und Lehrern zu systematisieren, da „mit dieser Palette von Anforderungen […] das Aufgabenfeld der Lehrperson differenziert beschrieben werden [kann, P.G.]“ (Keller-Schneider 2010, p. 289).
Dennoch geht dem Konzept ein zentraler Punkt abhanden: Die zeitliche Belastung. Diese Beanspruchungsquelle lässt sich nicht in das Konzept der Entwicklungsaufgaben integrieren, weil es sich beim Umgang mit zeitlichen Belastungen nicht um eine Entwicklungsaufgabe handelt. Die bisher aufgeführten Beanspruchungsquellen decken gemäss Herzog (2007, p. 93) das persönliche Arbeitserleben ab und sind deshalb subjektiv-qualitativer Natur. Zeitliche Belastungen, welche sich beanspruchend auswirken können, sind zwar objektiv-quantitativer Natur, werden aber ebenfalls individuell unterschiedlich erlebt. Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Tätigkeitsfelder von Lehrpersonen ausserhalb der Unterrichtszeiten (vgl. Herzog 2007, p. 94). Die Arbeitszeiten pro Tätigkeitsbereich werden beispielsweise bei Forneck & Schriever (2001) erhoben.
Tabelle 12: Aspekte des Beanspruchungsbereichs ‚Zeit‘ (in Anlehnung an Herzog 2007, p. 94)
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Der Stoffdruck wird gemäss Rudow (2004, p. 58) in mehreren Studien als wesentlicher Belastungsfaktor genannt. Dies hat zur Folge, dass die langfristige Planung des Unterrichts beanspruchen kann.
Die kurzfristige Vor- und Nachbereitung nimmt mit 23% der Jahresarbeitszeit in quantitativer Hinsicht einen wichtigen Stellenwert ein (vgl. Herzog 2007, p. 94). Es kann auch davon ausgegangen werden, dass junge Lehrpersonen noch nicht gleich routiniert vor- und nachbereiten wie ihre älteren Kolleginnen und Kollegen oder aufgrund hoher Ansprüche an sich selber zu Perfektionismus neigen und daher mehr Zeit in die Vorbereitung investieren (vgl. Kapitel 2.4.3.3).
Für administrative Arbeiten und Sitzungen wird gemäss Herzog (2007, p. 94) verhältnismässig wenig Zeit aufgewendet. Rudow (2004, p. 58) kommt allerdings zum Schluss, dass administrative Arbeiten bezüglich der subjektiv empfundenen Beanspruchung oft das ‚Zünglein an der Waage‘ seien.
Im Kanton Luzern soll die Weiterbildung von Lehrpersonen im mehrjährigen Mittel 5% der Arbeitszeit umfassen und je nach Angebot während der Unterrichtszeit oder der unterrichtsfreien Zeit stattfinden. Lehrpersonen sind zur Rechenschaftsablegung über besuchte Weiterbildungen verpflichtet (vgl. SRL 2001, p. 2). Aufgrund dessen kann die Vermutung angestellt werden, dass dieser Aspekt durchaus zeitlich beanspruchen kann.
Die weiteren Aufgaben decken die übrigen Aufgaben von Lehrpersonen ab, wie beispielsweise Beratungsaufgaben, ‚Ämtli‘ im Lehrpersonenteam oder Mandate, die übernommen werden.
In diesem Kapitel wird in mehreren Arbeitsschritten ein Katalog von Bewältigungsstrategien erstellt. Anhand dessen können die Bewältigungsstrategien in der Auswertungsphase geordnet werden. Zur Erinnerung die zweite Fragestellung:
Wie bewältigen die junge Lehrerinnen Beanspruchungen durch Führungsaufgaben, das heisst, welche Copingstrategien wenden sie an?
Das transaktionale Stressmodell zeigt zunächst auf, wie der Bewältigungsprozess generell beschrieben werden kann (Kapitel 2.5.1). Mithilfe dieses Modells stelle ich in einem nächsten Schritt verschiedene Kataloge von Bewältigungsstrategien vor. Das Ergebnis besteht aus einem Katalog von 18 Copingstrategien, der aus verschiedenen Ansätzen zusammen getragen wird. Dieser Katalog bildet sodann auch ein Raster für die qualitative Auswertung der zweiten Fragestellung (Kapitel 2.5.2). Abschliessend gehe ich kurz auf die Forschungsergebnisse zu Copingstrategien von Lehrpersonen ein (Kapitel 2.5.3).
Das transaktionale Stressmodell von Lazarus (1966, 1995) dient seit Jahrzehnten als Ausgangsmodell zur Untersuchung von Lehrerbeanspruchung und -bewältigung, obgleich es einige Male modifiziert und an die sich verändernden schulischen Bedingungen angepasst worden ist (vgl. van Dick 2007, p. 37; Hedderich & Hecker 2009, p. 27). In der Zwischenzeit gibt es eine Vielzahl von Varianten dieses Stressmodells. Im Grunde beziehen sich die meisten neueren Forschungsarbeiten im deutschsprachigen Raum aber explizit auf die ursprünglichen Vorstellungen von Lazarus (1966, 1995) (vgl. Schmid 2003, p. 52).
Bei Lazarus (1966, 1995) wird Stress als Resultat einer Transaktion zwischen den Systemen Umwelt und Person verstanden (vgl. van Dick 1999, p. 25). Zentral ist dabei die Prämisse, wonach weniger die Stressoren, als vielmehr die kognitiven Einschätzungen und Bewältigungsstrategien bedeutsam für die Empfindung von Beanspruchung seien (vgl. Lazarus 1995, p. 226). Das Konzept fusst also auf dem Terminus der kognitiven Einschätzung, welche Lazarus (1995, p. 212ff.) in eine primäre und eine sekundäre Einschätzung differenziert. Bei der primären Einschätzung wird ein Ereignis als irrelevant, positiv oder stressreich bewertet. Sie ist gewissermassen die Antwort auf die Frage, ob überhaupt eine Beanspruchung vorliegt. Die sekundäre Einschätzung erfolgt dann, wenn ein Ereignis als stressreich bewertet wird. Hier beginnt der adaptive Prozess der Bewältigung (vgl. ebd., p. 212ff.).
Lazarus (ebd., p. 218ff.) unterscheidet vier Bewältigungsformen: Informationssuche, Handlung, Aktionshemmung und intrapsychische Bewältigung. An die Sichtung und Auswahl der Bewältigungsmöglichkeiten schliesst eine Neubewertung der Situation an (vgl. Hedderich & Hecker 2009, p. 27).
In der neueren Forschung wurde das Modell um Persönlichkeitsmerkmale, welche den Prozess moderieren, erweitert (vgl. ebd.). Persönlichkeitsmerkmale werden in dieser Arbeit nur am Rande mit berücksichtigt. Langfristige Reaktionen wie chronischer Stress und überdauernde Stressfolgen wären ebenfalls Bestandteil des Modells, sind hier aber bewusst weggelassen, da sie mit dem vorliegenden Instrument nicht erhoben werden können. Auf zusätzliche ausserberufliche Belastungen gehe ich ebenfalls nicht ein (vgl. Hedderich & Hecker 2009, p. 28). Bei dem der Arbeit zu Grunde liegenden Modell handelt es sich folglich um eine Adaption des transaktionalen Stressmodells. Es präsentiert sich folgendermassen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 7: Das transaktionale Stressmodell (in Anlehnung an Hedderich & Hecker 2009, p. 27; Lazarus 1995, p. 212ff.; Müller 2010. Eigene Adaption)
Ein anderer Begriff für Bewältigung ist Coping.[14] Coping bezeichnet die Art und Weise, mit der Menschen versuchen, Stresssituationen zu bewältigen (vgl. Ondracek, Romanenkova & Rückert 2006, p.55) und dient der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung des Wohlbefindens (vgl. Herzog 2007, p. 21). Der Begriff umfasst „… alle Anstrengungen einer Person, stressrelevante Situationen zu meistern. Diese Anstrengungen können je nachdem zwei Funktionen erfüllen: eine positive Veränderung der Problemlage oder eine Verbesserung der emotionalen Befindlichkeit“ (Kramis-Aebischer 1995, p. 89; Hervorhebung im Original).
Je nach Funktion können Coping- bzw. Bewältigungsstrategien demnach in zwei grosse Gruppen unterteilt werden: Mithilfe palliativ-emotionsorientierter Strategien wird die emotionale Befindlichkeit verbessert. Instrumentell-problemorientierte Strategien richten sich hingegen auf die Quelle auftretender Belastungen und zielen auf eine positive Veränderung der Problemlage (vgl. Krause & Dorsemagen 2007, p. 66.). Auch in der transaktionalen Stresstheorie von Lazarus (1995) wird ursprünglich zwischen diesen zwei Bewältigungsprozessen unterschieden, wie Keller-Schneider (2010, p. 99) in Erinnerung ruft.
[...]
[1] Wie später ersichtlich wird, handelt es sich um eine rein weibliche Stichprobe.
[2] Die Studie aus dem Jahr 2002 untersuchte noch Berufseinsteigende, welche die seminaristische Ausbildung absolviert hatten. Die Pädagogische Hochschule Zürich wurde im Herbst 2002 gegründet.
[3] Der Begriff geht auf eine Forschergruppe der Universität Konstanz zurück (vgl. Herzog et al. 2007, p. 52).
[4] Beim Internet-Marktführer für Bücher werden bei der Eingabe der Begriffe „burnout lehrer“ 95 Bücher angezeigt (vgl. www.amazon.de; Stand 09.11.2010).
[5] Beim Durchsehen des Katalogs wird deutlich, dass das anschliessend in Kapitel 2.4 vorgestellte Konzept der Entwicklungsaufgaben und die Ergänzung um zeitliche Belastungen diese Beanspruchungen abdecken.
[6] Wie sich später noch zeigen wird, wurden schlussendlich ausschliesslich weibliche Lehrpersonen befragt.
[7] In eine ähnliche Richtung geht die Studie von Larcher Klee (2005). Sie wird hier aber nicht weiter ausgeführt, da es in dieser Studie um die Identitätsentwicklung geht und Beanspruchungen eher am Rande thematisiert werden.
[8] Hericks (2004, p. 121) spricht anstelle von der Anerkennung teilweise auch von der pädagogischen Fremdwahrnehmung der Schüler.
[9] Für die ursprünglichen Unteraspekte pro Entwicklungsaufgabe sei auf Keller-Schneider (2010, p. 200) verwiesen.
[10] Mit dem Aufbau von Arbeits- und Klassenkultur werden indirekte Führungsaufgaben verstanden (vgl. Keller-Schneider 2010, p. 192). Darunter sind unter anderem die von der Lehrperson vorgegebenen Strukturen, die Erwartungshaltung und die Organisation des Unterrichtsgeschehens – also organisatorische Führungsaufgaben – gemeint. Solche organisatorischen Führungsaufgaben werden ausführlich bei Eichhorn (2009) behandelt und umfassen sämtliche Massnahmen, die eine Lehrperson trifft, um für ein angenehmes Klassenklima und klare Abläufe zu sorgen (Pultordnung, Klassenregeln, klare Abläufe,…). Diese Vorkehrungen sind so zu verstehen, dass sie Massnahmen in der direkten Führung zu vermeiden versuchen.
[11] Indirekte Führungsaufgaben interessieren nur insofern, als sie in dieser Arbeit teilweise als Bewältigungsstrategien aufgefasst werden (z.B. Klassenregeln).
[12] Keller-Schneider (2010, p. 192) hat den Umgang mit schwierigen Schülerinnen und Schülern ursprünglich unter die Entwicklungsaufgabe der adressatenbezogenen Vermittlung und die Führung der Klasse unter die anerkennende Führung subsumiert . Diese beiden Aspekte sollen im Folgenden aber zur Entwicklungsaufgabe Führung gezählt werden.
[13] Unter anderem werden die bei Hericks (2009, p. 35) erwähnte „Erkennung, Nutzung und Mitgestaltung von Möglichkeiten und Grenzen der institutionellen Rahmenbedingungen“ nicht berücksichtigt. Hingegen wird die bei Keller-Schneider (2010, p. 191) nicht erwähnte „Zusammenarbeit mit den Eltern“ in den Katalog aufgenommen.
[14] Der Begriff geht auf den englischen Ausdruck ‚to cope‘ zurück und bedeutet fertig werden, gewachsen sein oder (die Lage) meistern (vgl. Ondracek et al. 2006, p. 55).
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