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Examensarbeit, 2010
53 Seiten, Note: 1,0
1 Einleitung
2 Sachtheoretische Grundlagen
2.1 Das Unterrichtsprinzip „Differenzierung“
2.1.1 Wissenschaftliche Begründungen
2.1.1.1 Pädagogische Begründung
2.1.1.2 Psychologische Begründung
2.1.1.3 Anthropologische Begründung
2.1.3 Grenzen und Probleme innerer Differenzierung
2.2 Jahrgangsübergreifendes Lernen
2.2.1 Ursprünge der Forderung nach heterogenen Lerngruppen
2.2.2 Das Selbstkonzept
2.2.3 Aktuelle Forschungslagen
2.2.4 Bewertungen des jahrgangsübergreifenden Lernens
2.3 Binnendifferenzierungen in JüL-Klassen
2.4 „Sinne“ im Sachunterricht
2.5 Handlungsorientierter Zugang
3 Unterrichtsvoraussetzungen
3.1 Institutionelle Voraussetzungen
3.2 Allgemeine Voraussetzungen
3.3 Spezielle Voraussetzungen der Lerngruppe
3.4 Sachstruktureller Entwicklungsstand
4 Planung des Unterrichtsvorhabens
4.1 Vorgaben des Rahmenlehrplanes
4.2 Übersicht über den Verlauf des Unterrichtsvorhabens
4.3 Didaktische Reduktionen
5 Darstellung und Analyse ausgewählter Unterrichtsstunden
5.1 Erstes Unterrichtsbeispiel: Mit den Augen sehen
5.2 Zweites Unterrichtsbeispiel: Mit den Ohren hören
5.3 Drittes Unterrichtsbeispiel: Mit der Haut tasten
6 Gesamtreflexion
7 Fazit
8 Literaturverzeichnis
Während meines Referendariates lernte ich das Unterrichtsprinzip des jahrgangsübergreifenden Lernens (JüL) in der Schulanfangsphase (SAPH) kennen. Die Schulanfangsphase wird an der X-Grundschule dreizügig organisiert. In den SAPH-Klassen lernen Erst-, Zweit- und Drittklässler gemeinsam. Auf eine ausgewogene Mischung der Jahrgangsstufen wird dabei geachtet. Diese Organisationsform erschien mir anfangs sehr ungewöhnlich. Im Laufe der Zeit wurden mir aber die Vorzüge des Lernens in jahrgangsgemischten Gruppen, wie z. B. die Stärkung der sozialen und kommunikativen Kompetenzen der Kinder, ersichtlich. Die Studie „Jahrgangsübergreifende Lerngruppen im Schulanfang (JüLiSA)“ ist eine der wenigen ersten empirischen Untersuchungen zur Effektivität der Jahrgangsmischung an Berliner Grundschulen und bildet den wissenschaftlichen Bezug meiner Arbeit. Die Idee des jahrgangsübergreifenden Lernens ist nicht neu. Sie wurde durch Pädagogen wie Maria Montessori oder Peter Petersen schon früh verwirklicht.
Das Unterrichtsprinzip „Differenzierung“ als Basis der individuellen Förderung von Schülern in jahrgangsgemischten Lerngruppen erfährt in diesem Zusammenhang eine neue Dimension. Die Unterrichtseinheit „Sinne“ im Rahmen des Sachunterrichts bietet gute Möglichkeiten, mit jahrgangsgemischten Lerngruppen zu arbeiten. Die Schüler[1] der drei Klassenstufen arbeiten auf unterschiedlichen Niveaustufen. Dabei erhalten sie verschiedene Aufgabenstellungen und können differenziert gefördert werden.
Ziel meiner Arbeit ist es, den Begriff „Differenzierung“ in Bezug auf den Grundschulunterricht zu erläutern und wissenschaftliche Begründungen dafür darzustellen. Das „jahrgangsübergreifende Lernen“ innerhalb der Schulanfangsphase soll dabei theoretisch hinterfragt und die Adaption durch den Vergleich mit aktuellen Forschungsergebnissen bewertet werden. Möglichkeiten der inneren Differenzierung im jahrgangsgemischten Sachunterricht sollen dargestellt und ihre Effektivität analysiert werden. Eine Unterrichtseinheit zum Thema „Sinne“ erschien mir günstig, da für die Kinder in Zeiten der Multimedien und der zunehmenden Reizüberflutungen eine Sensibilisierung der Sinne immer wichtiger wird. Das Kennenlernen der eigenen physischen Wahrnehmung durch die fünf menschlichen Sinne soll die Schüler ansprechen und das Interesse am Erfassen verschiedener Reize der Umwelt wecken. Ausgewählte Experimente und Gruppenspiele sollen die Kinder der Jahrgangsstufen motivieren und sie dabei differenziert fördern. Handlungsorientierung soll in dieser Einheit die Grundlage für das Arbeiten der Kinder sein. Dabei sollen unterschiedliche Materialien und Aufgabenstellungen den differenzierten Lernprozess in der jahrgangsgemischten Lerngruppe fördern.
Entsprechend meiner Zielsetzung sollen in der vorliegenden Arbeit folgende Fragestellungen geklärt werden:
1. Inwieweit kann das Unterrichtsprinzip „Differenzierung“ auch im jahrgangsübergreifenden Lernen der Schulanfangsphase umgesetzt werden? Ist dies unter den gegebenen Bedingungen realisierbar?
2. Fördert das Lernen in JüL-Gruppen die in der Fachliteratur erwähnte Kommunikation zwischen den Altersstufen und lernen die Kinder wirklich voneinander?
3. Wo zeigen sich in der Sachunterrichtseinheit „Sinne“ Grenzen und mögliche Probleme, die mit der Differenzierung im jahrgangsgemischten Lernen einhergehen?
Im zweiten Kapitel werden das Unterrichtsprinzip „Differenzierung“ und das „jahrgangsübergreifende Lernen“ dargestellt. Eine Verknüpfung beider Komponenten und das Thema meiner Einheit werden im Anschluss erörtert. Im dritten Kapitel werden die Voraussetzungen für den Unterricht aufgezeigt Im vierten Kapitel soll auf Basis der Erkenntnisse der vorangegangenen Abschnitte die Planung der Sachunterrichtseinheit „Sinne“ vorgenommen werden. Geeignete Unterrichtsphasen werden im fünften Kapitel dokumentiert und analysiert, um meine Fragestellungen anhand ausgewählter Beispiele in einer Gesamtreflexion im sechsten Kapitel zu beantworten. Im siebenten Kapitel wird ein abschließendes Fazit gezogen.
„Es gibt nichts Ungerechteres als die gleiche Behandlung von Ungleichem!“
(Johann Friedrich Herbart, 1776 – 1841)
Die Aufgabe der Grundschule ist es, jedes Kind nach seinen individuellen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu fördern. Begabungen sollen dabei erkannt und Defizite ausgeglichen werden. Ebenso sollen verborgene oder nicht entwickelte positive Fähigkeiten und Eigenschaften durch geeignete stützende und fördernde Maßnahmen entfaltet werden (vgl. Rahmenlehrplan Grundschule, Berlin 2009, S. 7 ff.). Die Schule nimmt sich der Verschiedenheit der Kinder an und versucht eine individuelle Förderung in der Lernentwicklung zu erzielen (ebd.)[2].
Die Schülerinnen und Schüler sind dabei in einem Altersjahrgang, in ihrem Klassenverband oder einer Lerngruppe heterogen. Die Gründe für diese Unterschiede sind in ihrer biografischen Entwicklung, ihren Bedürfnissen, ihrer körperlichen und psychischen Verfassung, ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten, ihren Lernvoraussetzungen und Lernweisen, ihren Kompetenzen und Leistungsbereitschaften begründet (vgl. Werner Wiater 2008, S. 28).
Aufgrund dieser Bedingungen muss der Unterricht differenziert gestaltet werden. Didaktische und pädagogische Maßnahmen der Lehrkräfte orientieren sich dabei an diesen Voraussetzungen und passen sich ihnen an. Dabei versteht sich die Differenzierung als kein Selbstzweck, sondern als Mittel zur individuellen Förderung und Integration aller Schüler (vgl. Hilbert Meyer 2002, S. 137). Ziele sämtlicher Differenzierungsmaßnahmen sind das Schließen der Vorkenntnislücken der Kinder, die Zielerreichung und das individuelle Vermitteln der Grundlagen für das weiterführende Lernen sowie die bestmögliche individuelle Förderung (vgl. Reinhold Christiani 2004, S. 15).
Werden Differenzierungen schulorganisatorisch gestaltet, spricht man von äußerer Differenzierung. Unterrichtsorganisatorische Maßnahmen hingegen werden als innere Differenzierung bezeichnet. In der Fachliteratur wird die Individualisierung als eine weitere Differenzierungsmöglichkeit dargestellt. Maßnahmen, die einem einzelnen Kind gelten, werden dabei realisiert und sind Bestandteil von Unterrichtsstunden.
Da es bei der vorliegenden Arbeit um Differenzierungs-möglichkeiten innerhalb jahrgangsgemischter Lerngruppen geht, liegt der inhaltliche Schwerpunkt bei der inneren Differenzierung, auch Binnendifferenzierung genannt. Der Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Differenzierung soll im Folgenden kurz erläutert werden.
Die längerfristige Auflösung des Klassenverbands oder Jahrgangs und das getrennte Unterrichten von Gruppen ist Grundlage der äußeren Differenzierung. Die Selektion erfolgt dabei zum Zweck größtmöglicher Homogenität der Lerngruppen (vgl. Wiater 2008, S. 28 ff.). Die Einteilung der Schulen in die unterschiedlichen Formen, Grund-, Haupt-, Real- oder Gesamtschule bzw. Gymnasium[3], geschieht interschulisch. Analog dazu verhalten sich anschließende Berufsschulen, Fachoberschulen als auch Berufsförderschulen.
Die für die Grundschule relevante Einteilung der Kinder innerhalb der Schule erfolgt intraschulisch. Dabei unterscheidet man verschiedene Kriterien. Im Förderunterricht beispielsweise erhalten kleinere Gruppen spezifische Unterstützung in einem Fach. In Arbeitsgemeinschaften und freiwilligen Unterrichtsstunden erfolgt die Gruppierung nach Interesse, unter anderem im Religions- oder Sportunterricht.
Der Erhalt des Klassenverbandes und eine Gliederung der Lerngruppe nach didaktischen Überlegungen des Lehrkörpers bildet die Basis der inneren Differenzierung. Die vorhandene Heterogenität wird didaktisch reflektiert und speziell im jahrgangsübergreifenden Unterricht genutzt. Altersgemischte Lerngruppen bieten den Schülern die Möglichkeit des Voneinander-Lernens. „Gelerntes an Andere weiterzugeben, bedeutet für das vermittelnde Kind Wiederholung, Übung und Anwendung der Lerninhalte, was eine sehr hohe Anforderung darstellt.“ (Sabine Herzig und Anke Lange 2006, S. 12) Auf diesen Aspekt wird aber zu einem späteren Zeitpunkt der Arbeit eingegangen. Innere Differenzierung ist ebenso in einer Lerngruppe möglich, die durch äußere Differenzierungsmaßnahmen entstanden ist, da dort nur eine relative Homogenität bestehen dürfte.
„Die Formel aus der pädagogischen Alltagswelt finde ich sehr gut die Schüler da abholen, wo sie stehen, sie dann aber an die Hand nehmen, sie locken und zu einer Entwicklung bringen, die sie sich selbst vielleicht so niemals hätten erschließen können. Das ist die Aufgabe der Schule als eines pädagogischen Anregungs-, Anleitungs- und Anerkennungssystems.“ (Prof. Klaus Hurrelmann zu Reformen im Bildungssystem, in: www.bildungspolitik.suite101.de /article.cfm/reformen im_bildungssystem , 24. Oktober 2009)
Das Unterrichtsprinzip „Differenzierung“ erscheint im Schulalltag von großem Nutzen. Organisatorisch wird dies über die Ebenen des Schulsystems, der Schule und der individuellen Gestaltung des Unterrichts durch den Lehrer realisiert.
Wie aber lässt sich die Forderung nach Differenzierung aus wissenschaftlicher Sicht rechtfertigen? Unterschiedliche Begründungen liefern dabei vier Wissenschaftsbereiche.
Im Gegensatz zu den relativ oberflächlich verfassten Modellen innerer Differenzierung[4] stellten Wolfgang Klafki und Hermann Stöcker im Jahre 1976 ein komplexes Modell dieses Unterrichtsprinzips auf. Sie gehen grundsätzlich von zwei Grundformen innerer Differenzierung aus, die einander nicht ausschließen. Beide können miteinander kombiniert werden: Differenzierung von Methoden und Medien bei gleichen Lernzielen und gleichen Lerninhalten sowie Differenzierung im Bereich der Lernziele und der Lerninhalte (vgl. Klafki und Stöcker 1976, S. 497 ff.). Nicht alle Lernziele und Lerninhalte können dabei auf gleiche Weise für sämtliche Kinder einer Lerngruppe verbindlich gemacht werden. Die Autoren sehen es als bestmöglich an, wenn eine Differenzierung von Methoden und Medien ausreichen würde. Dieser Gedanke sei allerdings weder realisierbar noch ausreichend. Differenzierungsmaßnahmen von Lernzielen und Lerninhalten auf der gleichen Altersstufe seien daher unvermeidlich (ebd.). Aus diesem Grund müsse mindestens eine zweifache Aufgliederung der Ziele und Inhalte eines Faches oder des Lehrplanes erfolgen. Dabei werden zwischen einer für alle verbindlichen Basis, dem Fundamentum, und zusätzlichen Zielen bzw. erweiterten Inhalten, dem Additum, unterschieden. Die Unterteilung in Fundamentum und Additum muss aber flexibel gestaltet sein und ist daher nur unter einer spezifischen Bedingung akzeptabel: Diese Einteilung muss für jede einzelne Sequenz oder jede einzelne Unterrichtseinheit bzw. Lerneinheit vorgenommen werden. Sie darf nicht im Sinne der äußeren Differenzierung über einen längeren Zeitraum stattfinden, da jede solche Differenzierung wieder die Gefahr von Verfestigung mit sich bringt. Um die entsprechenden Kriterien zur Unterrichtsgestaltung sinnvoll einzuarbeiten und deren Gewichtung zu unterscheiden, entwarfen beide Autoren ein Kriterienraster.
Das Raster stellt eine Ordnungshilfe dar, ist aber individuell variabel. Der Lernprozess selbst findet in einzelnen Unterrichtsphasen statt. In welcher der Phase eine innere Differenzierung erfolgen soll, muss im Vorfeld durchdacht werden. Dabei erfolgt eine Gliederung in die Einführungsphase (Aufgabenstellung oder Aufgabenentwicklung), den Erarbeitungsprozess, die Festigungsphase (Wiederholungen, Übungen, Trainieren) und die Anwendung bzw. Transferleistung. Verschiedene Aspekte zur Differenzierung werden von Klafki und Stöcker ebenfalls in das Raster integriert, erscheinen aber als schwierig und problematisch. In jedem Fall setzen schülerbezogene Überlegungen zur inneren Differenzierung eine genaue Analyse der Bedingungen voraus. Sowohl die Stärken und Potentiale der einzelnen Lerngruppen oder Kinder als auch ihre Schwächen und Schwierigkeiten im Lernprozess müssen im Vorfeld festgestellt werden. Der „Stoffumfang“ bezieht sich auf den Zeitaufwand, der zur Bewältigung unterschiedlicher Aufgaben notwendig ist. Die Kinder dürften deshalb eine individuelle Stoffmenge bewältigen, da sich die benötigte Arbeitszeit innerhalb der Schülergruppe unterscheidet.
Abbildung 1: Kriterienraster zur inneren Differenzierung nach Klafki und Stöcker (1976)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Klafki und Stöcker 1976, S. 497
Der „Komplexitätsgrad“ unterteilt die Aufgaben in Niveaustufen, die entsprechend dem Leistungslevel von der Klasse unterschiedlich gelöst werden können. Eine Korrespondenz zwischen diesen ersten beiden Aspekten ist ersichtlich, da mit zunehmendem Komplexitätsgrad möglicherweise auch ein größerer Zeitaufwand verbunden ist. Die Anzahl der „Durchgänge“ bezieht sich auf die Fähigkeit, sich neue Erkenntnisse nach kurzer Zeit zu erschließen oder zu diesem Schluss erst nach einigen Erarbeitungsdurchgängen zu gelangen. Gibt es Kinder, die auf die direkte Hilfe des Lehrers angewiesen sind, so weist der Aspekt „Hilfen“ auf diese Möglichkeit hin. Andere Gruppen arbeiten dagegen selbstständiger und gerade in einer Jahrgangsmischung erfolgt die Hilfe durch ältere Gruppenleiter oft gruppenintern. Ist bei den Schülern ein Vorwissen zur Thematik abrufbar, so sind die „Zugänge“ zur Unterrichtsstunde gegeben. Inhaltliche Zugänge müssen sonst, etwa durch den Einsatz von Medien, geschaffen werden. Der letzte Aspekt zielt auf Sozialformen, die in der geplanten Unterrichtsstunde zum Einsatz kommen und auf die Zusammensetzung einer möglichen Lerngruppe. Zwischen allen sechs Differenzierungsaspekten besteht dabei eine direkte Korrespondenz.
Die Auseinandersetzung mit unterrichtlichen Themen und deren Aneignung erfolgt auf verschiedenen Ebenen. Klafki und Stöcker merken an, dass in diesem Zusammenhang die drei Ebenen des Aneignungsniveaus nicht ausreichen und diese abhängig vom Unterrichtsfach erweitert werden müssen (s. Abbildung 1). Gerade in JüL-Gruppen sind unterschiedliche Lernvoraussetzungen gegeben, die einen Einsatz von nur drei Aneignungsebenen erschweren würden. Arbeiten die Schüler der ersten Jahrgangsstufe noch mit konkreten Anschauungsmaterialien, so werden diese in späteren Jahrgängen immer weiter abstrahiert[5]. Ein Grundgerüst bilden dabei jedoch in allen Fächern die in Abbildung 1 dargestellten Hauptebenen. Die „konkrete Handlungsebene“ beschreibt den Umgang des Kindes mit Materialien oder Dingen, die einen Unterrichtsgegenstand repräsentieren. Der sprachliche Aspekt spielt keine Rolle und wird nicht bewusst verwendet. Ein Abstraktionsschritt wird in der „sprachlichen Ebene“ vollzogen, auf der Unterrichtsinhalte durch sprachlichen Einsatz angeeignet werden. In den ersten Klassenstufen liegt dabei der Schwerpunkt auf der mündlichen Ebene, im späteren Verlauf werden diese Gedanken auch schriftlich niedergelegt. In einer „gedanklichen Ebene“ kann Wissen schließlich vollkommen abstrakt angeeignet werden.
Entwicklungsunterschiede von Schulkindern sind aus entwicklungs-psychologischer Sicht durch viele Einflussfaktoren begründet. Erbliche Veranlagungen, Beeinträchtigungen bei der Geburt oder das soziale Umfeld spielen bei der Entwicklung eines Individuums eine große Rolle. Persönliche Besonderheiten werden oftmals nicht erkannt und führen möglicherweise zu Einschränkungen beim schulischen Lernen (vgl. Leo Montada 2002, S. 14). Die entwicklungspsychologischen Unterschiede sind dabei nicht vollständig festgelegt, sondern beeinflussbar und gestaltbar (ebd.). Speziell in der Schulanfangsphase sind mangelhafte basale Fähigkeiten durch gezielte Förderung kompensierbar. Sie sind Voraussetzung für den weiteren Entwicklungsprozess des Schülers. Ferner unterscheiden sich Kinder in unterschiedlichen Mustern der Informationsaufnahme und -verarbeitung. Hier spielt die individuelle Spezialisierung der Gehirnhälften eine wichtige Rolle. Beide wirken zusammen, die Dominanz einer Hemisphäre akzentuiert jedoch die Informationsaufnahme. Dabei unterscheidet die linke Hälfte analytisch verschiedene Stimulusmerkmale, während die rechte für das visuelle und akustische Gestalten, die Raumorientierung, Stimulusbeziehungen und die Unterscheidung von vertraut bzw. nicht vertraut zuständig ist (vgl. Hellgard Rauh 2002 in: Montada 2002, S. 167).
Abbildung 2: Arbeitsweisen des Gehirns
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Mogens Kirckhoff 2003, S. 104
Daraus resultieren unterschiedliche Lerntypen, die nach Frederic Vester in vier Kategorien unterteilt werden:
- Lerntyp 1 lernt auditiv (durch Hören und Sprechen),
- Lerntyp 2 lernt optisch bzw. visuell (durch das Auge, durch Beobachtung),
- Lerntyp 3 lernt haptisch (durch Anfassen und Fühlen),
- Lerntyp 4 lernt durch den Intellekt (vgl. Vester 1998, S. 49 ff.).
Diese unterschiedlichen Ausprägungen von Mustern der Informationsaufnahme sind durch den Einsatz neuer Lernweisen veränderbar. Seitens des Lehrers ist jedoch eine Differenzierung des Informationsangebotes im Unterricht notwendig, um alle Lerntypen anzusprechen.
Die menschliche Persönlichkeit wird aus anthropologischer Sicht als eine Entfaltung in mehreren Phasen definiert (vgl. Wiater 2008, S. 30 f.). Dabei interagieren die drei Strukturfaktoren „Erbanlagen“, „Umwelteinflüsse“ und „Selbststeuerungskräfte“ und bilden so das Persönlichkeitsprofil des Individuums aus.
Zu den genetischen Faktoren zählen die genetischen Anlagen und die Altersreifung des Menschen. Als „Umwelteinflüsse“ werden soziokulturelle Faktoren bezeichnet, die den Menschen umgeben und prägen. Dazu gehören neben der Schule auch der individuelle Freundeskreis und die Familie. Selbststeuernde Faktoren sind dem Menschen bewusst oder unbewusst. Motivation, Selbstdisziplin oder Arbeitshaltungen entwickeln sich im Schulleben und passen sich im Laufe der Zeit an die Umwelt an. Diese Faktoren können durch den Lehrer positiv beeinflusst werden. Das Kind soll durch differenzierende Unterrichtsmaßnahmen motiviert werden, sein Lernverhalten zu verändern oder eine erhöhte Leistungsbereitschaft entwickeln.
Der individuelle Anspruch jedes Menschen, entsprechend seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten eine Ausbildung zu erhalten, ist in Deutschland sowohl im Grundgesetz[6] als auch in den einzelnen Länderverfassungen[7] manifestiert. Hier wird deutlich, dass die Individualität der Bürger berücksichtigt wird und dieser Grundgedanke im Bildungswesen beachtet wird. Die im Abschnitt 2.1 erwähnten Aspekte äußerer und innerer Differenzierung durch inter- und intraschulische Maßnahmen sorgen für die notwendigen Differenzierungsmaßnahmen, um Schüler, ihren individuellen Fähigkeiten und Leistungen gemäß, bestmöglich auf das spätere Berufsleben vorzubereiten.
Maßnahmen zur äußeren und inneren Differenzierung als Unterrichts-prinzip bezwecken kompensatorische, remediale und Kompetenz verstärkende Ziele. Dabei ist die Gestaltung der das Kind umgebenden Lernumgebung von großer Bedeutung (vgl. Rahmenlehrpläne Grundschule, Pädagogische Begriffe, Berlin 2009, S. 6). Sie soll den Schüler anregen und ihm zum selbstständigen Lernen verhelfen. Neben der Bildung homogener Gruppen (äußere Differenzierung) bezieht sich die innere Differenzierung auf vier unterschiedliche Ebenen: Ziele, Inhalte, Methodenwahl und Medien (ebd.). Sie geben der Differenzierung das individuelle Profil. Eine Differenzierung bei gleichen Zielen und Unterrichtsinhalten muss die unterschiedlichen Lernausgangslagen der Kinder berücksichtigen. Dabei müssen Aufgabenstellungen unterschiedliche Komplexitätsstufen aufweisen bzw. ein mehr oder weniger selbstständiges Lernen erforderlich machen und sich auf den jeweiligen Lernstand des Kindes beziehen.
Abbildung 3: Differenzierung bei gleichen Zielen und Inhalten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Christoph Städeli und Willy Obrist 2008, S. 98
Die Standards der jahrgangsgemischten Lerngruppen der Klassenstufen 1 und 2 beziehen sich zwar auf den gleichen Inhalt des Rahmenlehr-plans, müssen jedoch auf Grund alters- und entwicklungsrelevanter Gegebenheiten differenziert unterrichtet werden. Differenziert wird dabei durch einen individuellen Einsatz passender Methoden oder Medien.
Eine Jahrgangsmischung der Klassenstufen 1 bis 3 hingegen integriert die Inhalte des Rahmenlehrplans der Klassenstufen 1 und 2 sowie 3 und 4. Hierbei müssen die Ziele der Unterrichtsstunde oder -einheit zusätzlich nach der Verbindlichkeit des Lehrplans aufgegliedert werden.
Abbildung 4: Differenzierung bei unterschiedlichen Zielen und Inhalten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Christoph Städeli und Willy Obrist 2008, S. 98
Die Inhalte einzelner Themenfelder können dabei nach Interesse der jeweiligen Lerngruppe variiert werden. Aktuelle Gegebenheiten wie die vorliegende Jahreszeit sind planungsrelevant für die Themenwahl im Sachunterricht. Gemeinsam wird im Klassenverband eine Basis erarbeitet, auf der die älteren Kinder aufbauen (Additum) und am Ende der Stunde einen erweiterten Standard erreichen. Es ergeben sich Differenzierungsmöglichkeiten in qualitativer Hinsicht, dem Anfor-derungsniveau entsprechend. Quantitative Gesichtspunkte spiegeln sich im unterschiedlichen Umfang des Lerninhalts wieder. Leistungsstärkere oder ältere Schüler können zusätzliche Aufgaben erhalten. Das Aufgabenniveau lässt sich variieren, Umfang und Bearbeitungszeit können unterschiedlich sein. Vertiefungsaufgaben, abhängig vom Leistungsniveau der Kinder, bieten weitere Differenzierungs-möglichkeiten. Auch dabei können Unterrichtsmedien, den Lernprozess unterstützend, differenzierend eingesetzt werden.
Methodisch kann zwischen Unterrichtsformen und Arbeitsweisen sowie variierenden Zeitstrukturen unterschieden werden. Unterschiedliche Sozialformen[8] bieten im Zusammenhang mit Stufen selbstständigen Arbeitens Möglichkeiten zur Differenzierung. Nach Meinung Wiaters ist dabei die oftmals in jahrgangsgemischten Lerngruppen eingesetzte Gruppenarbeit die günstigste Sozialform (vgl. Wiater 2008, S. 36 f.). Ausgehend von einem defizitorientierten Ansatz der Unterrichts-differenzierung kompensiert der Lehrer so die Heterogenität der Kinder beim Lernen. Geht man hingegen von einem kompetenzorientierten Ansatz aus, nutzt man besondere Befähigungen der Schüler beim Agieren in den Gruppen. Kompetentere Dritt- oder Zweitklässler sind so in der Lage, den Erstklässlern gewisse Inhalte zu vermitteln. Ein Gruppenleiter übernimmt dabei neben der leitenden auch eine lehrende Funktion.
Neben der möglichen Partnerarbeit, bei der sich die Partner einander ergänzend ein Thema erschließen, bietet die Einzelarbeit durch Individualisierung eine konsequente Form der Differenzierung. Voraussetzung ist in dieser Sozialform eine adressatengerechte Aufgabenstellung für den Schüler, um die Motivation zum Arbeiten aufrecht zu erhalten. In diesem Zusammenhang ist die Wichtigkeit der so genannten „dosierten Diskrepanz“ zu erwähnen. Hierbei werden Aufgaben gewählt, deren Schwierigkeitsgrad das Niveau des Kindes übersteigt, was dem Kind zu Beginn der Übung ersichtlich ist. Wird die Aufgabe dennoch erfolgreich gelöst, verstärkt der Erfolg das persönliche Vertrauen in die eigene Denkfähigkeit, was eine höhere Leistungs-motivation zur Folge hat (vgl. Walter Edelmann 2000, S. 247). Die jeweilige Sozialform setzt dabei eine variable Zeitstruktur voraus, da einzelne Aufgaben und Inhalte individuell bearbeitet werden. Die in der Schule festgesetzten Stundenrhythmen sollen als Orientierung und nicht als Richtlinie gelten.
Alle beschriebenen Aspekte der inneren Differenzierung sind umsetzbar und unabdingbar. Die praktische Umsetzung aber ist oftmals mit Problemen verbunden. Hartwig Schröder nennt vier Problemfelder, die im Folgenden erläutert werden sollen.
Die Planung und Durchführung unterrichtsdifferenzierender Maßnahmen erfordert mehr Arbeit und Zeitinvestition seitens des Lehrkörpers und eine fachliche Kompetenz.
„Denn wie es in jedem Klassenraum eine Vielfalt unterschiedlicher Schülerpersönlichkeiten gibt, so gibt es in jedem Kollegium auch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Lehrerpersönlichkeiten: Einige Kollegen möchten ihren Unterricht lieber zentral organisieren und die Fäden in der Hand halten, andere sind dagegen willens und in der Lage, die Leine etwas länger zu lassen, den Schülern auch über größere Zeiträume hinweg individuelle Freiräume zu gestatten. Beide Grundformen von Unterrichtsorganisation eignen sich für Binnendifferenzierung.“ (Ingrid Ahlring 2000, S. 9)
Zusätzlich erschweren die teilweise eingeschränkten räumlichen Gegebenheiten der Schule und das Fehlen von Unterrichtsmedien die Umsetzung von Differenzierung (vgl. Hartwig Schröder 1999, S. 159 ff.).
Ferner verweist Schröder auf den Wegfall des „Zugpferd-Effektes“ und die Zunahme des „Scheren-Effektes“, was durch ein zu starkes Entfernen im Bereich des von Städeli und Obrist in 2.1.2 beschriebenen Additums von leistungsstärkeren Schülern begründet ist. Sie fungieren nicht mehr als Motivationsfaktor („Zugpferd“) für leistungsschwächere Kinder, was eine Diskrepanz in dem erreichten Leistungslevel zur Folge hat („Schere“). Die Transparenz zwischen den Gruppen wird so gering, dass ein Aufsteigen vom Regelstandard in den erweiterten Standard der geplanten Unterrichtsstunden nicht mehr möglich ist. Kinder in jahrgangsgemischten Lerngruppen hingegen sind den Leistungsabstand zu den älteren Kindern gewohnt, wodurch die Motivation, den Level der Zweit- oder Drittklässler zu erreichen, konstant bleibt.
Die abschließende, individuelle Leistungsbeurteilung seitens des Lehrers erscheint schwierig. Wendet man identische Beurteilungskriterien auf alle Kinder an, so wird die Bewertung von Einzelleistungen in Gruppenarbeiten etwa kompliziert. Erschwerend kommt hinzu, dass alle Kinder unterschiedliche Fertigkeiten in den Klassenverband mit einbringen und leistungsschwächere Schüler selbst durch differenzierte Fördermaßnahmen selten die erweiterten Standards erreichen können. Der Vergleich mit der Vorleistung und die daraus resultierende Beurteilung als sogenannte „pädagogische Benotung“ ist eine Möglichkeit, diesem Problem zu begegnen[9].
Abschließend gestaltet sich nach Schröder die Persönlichkeitsbildung der einzelnen Kinder im differenziert gestalteten Unterricht schwieriger als in einer heterogenen und leistungsmäßig gemischten Lerngruppe. Das Anpassen an die Gemeinschaft, Konkurrenzdenken zurück-zunehmen und Schwächeren zu helfen, „vollzieht sich am besten dort, wo nicht nur der einzelne in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit gefördert und berücksichtigt wird (…).“ (ebd.) In diesem Zusammenhang erwähnt auch Wiater die Problematik homogener Lerngruppen (vgl. Wiater 2008, S. 30 f.). Neben der Schwierigkeit, zu differenzieren und wenn, dann nur eine Quasi-Homogenität zu erreichen, steigt ein möglicher Konkurrenzdruck der Schüler untereinander. Versagensängste und soziale Abgrenzungen sind die Folge und wirken der angestrebten Förderung des Kindes entgegen.
Bezog sich die meiner Arbeit vorliegende Literatur auf die Theorie und Problematik der Differenzierung in jahrgangshomogenen Klassen-verbänden, so soll ein Ausblick über Differenzierungsmöglichkeiten in jahrgangsgemischten Lerngruppen im Abschnitt 2.3 erläutert werden. Praktische Beispiele dazu folgen im zweiten Teil dieser Arbeit.
[...]
[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird zur Bezeichnung aller Schüler und Schülerinnen durchgängig die männliche Form gewählt. Dies gilt auch für die Berufsgruppe der Lehrer.
[2] Die Kultusministerkonferenz empfahl in diesem Zusammenhang bereits 1970 den Vorrang von Differenzierungsformen in der Grundschule, die den „leistungsstärkeren und schneller lernenden Kindern angemessene Aufgaben stellen, ohne dass diese von allen abgesondert werden; (…) die durch zusätzliche Lernangebote die Interessen wecken und das Lernverhalten individuell motivieren; die durch entsprechende Organisation des Lernprozesses die Eigenaktivität des Schülers stärken (…).“ (vgl. www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_ beschluesse).
[3] Berlin führt als eines der ersten Bundesländer zum Schuljahr 2010/2011 ein zweigliedriges Schulsystem ein. Darin ersetzt die „Integrierte Sekundarschule“ die Haupt-, Real- oder Gesamtschule (vgl. http://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/ integrierte_sekundarschule.html, 10. April 2011).
[4] Manfred Bönsch unterscheidet innere Differenzierung ausschließlich nach dem stofflichen Umfang, unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und Arbeitsweisen, aus sozialen und methodischen Motiven, nach dem Lern- und Arbeitstempo und aus sachlichen Gründen (vgl. Bönsch 2009, S. 24 ff.).
[5] Exemplarisch beschreibt Josef Lauter in diesem Zusammenhang die pränumerische Phase im Mathematikunterricht der ersten Klassenstufe als Einstieg zum Erwerb des Mengenbegriffs. „Dieser (…) ist, wie alle mathematischen Begriffe, ein abstrakter Begriff, der nur als Ergebnis eines längeren Lernprozesses gebildet werden kann.“ (Lauter 2001, S. 13).
[6] „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ (Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 2, Absatz 1, Stand: 19. März 2009)
[7] Exemplarisch für das Land Berlin: „Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. Das Land ermöglicht und fördert nach Maßgabe der Gesetze den Zugang eines jeden Menschen zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen, insbesondere ist die berufliche Erstausbildung zu fördern.“ (Verfassung von Berlin, Artikel 20, Absatz 1, Stand: 24. Oktober 2009).
[8] Sozialformen beschreiben, in welcher Form im Unterricht kommuniziert und interagiert wird. Hilbert Meyer unterscheidet dabei die vier Sozialformen Einzelarbeit, Partnerarbeit, Gruppenunterricht und Frontalunterricht (vgl. Meyer 2002, S. 139 f.). Alle weiteren in der Literatur als Sozialformen bezeichneten Arbeitsweisen sind für den Autoren Mischformen.
[9] „Eine pädagogische Benotung liegt dann vor, wenn der Schüler eine ziffernmäßige Note oder eine verbale Bewertung erhält, welche sich nicht nach einem normierten Maßstab, sondern nach der erhofften erzieherischen Wirkung einer Benotung richtet. (…) Die pädagogische Benotung berücksichtig (…) den individuellen Leistungsfortschritt.“ (Schröder 2001, S. 267).