Magisterarbeit, 2001
159 Seiten, Note: 5.5 (Insigni cum laude)
1 Einleitung
2 Problematik und Fragestellungen
3 Das kulturhistorische Umfeld und die politische Situation
3.1 Die Grossstadt
3.1.1 Berlin – Die jüngste Metropole Europas
3.1.2 Die Moderne – Eine neue Erfahrung
3.1.3 Der Dandy – Eine spezifische Form des Stadtmenschen
3.1.4 Die Grossstadtnacht – Gegenwelt und Stadtkritik
3.1.5 Die Prostituierte – Hure Babylon und Gesellschaftskritik
3.2 Die Grossstadt in der Malerei
3.2.1 Der Futurismus
3.2.2 Der Grossstadtexpressionismus
3.3 Der Erste Weltkrieg und das Böse
3.3.1 Das Böse
4 George Grosz – Ein Lebenskünstler?
4.1 George Grosz – Von der Jugend bis 1918
5 George Grosz – Der Zeichner
5.1 Die Graphikmappen
5.1.1 „Erste George Grosz Mappe“ und „Kleine Grosz Mappe“ 1916/17
5.2 Die Skizzenbücher
6 Schwerpunkte im Werk von George Grosz
6.1 Der Lustmord
6.2 Selbstbildnisse
7 Die Metropole in der Malerei
7.1 „Metropolis“ – „The City“
7.2 „Widmung an Oskar Panizza“
7.2.1 Das tumultuarische Grossstadtleben (1)
7.2.2 Gesellschaftskritik im Kontext des Ersten Weltkriegs (2)
7.2.3 „Verkehrte Welt“ und „Triumph des Todes“ – Mittelalterliche Vorfahren (3)
8 Schlusswort
9 Bibliographie
Wie aus dem Titel meiner Arbeit ersichtlich wird, möchte ich mich mit dem Oeuvre des Künstlers George Grosz (1893-1959) zwischen 1915 und 1918 auseinandersetzen, das einen eigenen Werkkomplex im Lebenswerk des Künstlers darstellt. Der dazumal noch junge, unbekannte George Grosz hat in dieser kurzen Zeit einen ganz eigenen Stil gefunden, den er bald nach 1918 mehr oder minder wieder aufgegeben hat. Schlüsselthema der Arbeiten jener Jahre ist die „Grossstadt“, wobei sich das Augenmerk des Künstlers auf das Leben in den grossen Städten richtete. D.h. der Mensch und das Leben in der Grossstadt, mit all ihren Facetten und Folgen, stehen im Zentrum und bilden den Schwerpunkt dieser Arbeit.
Nach einer kurzen Aufzeichnung der Problematik und gewisser Fragestellungen, die sich im Verlauf der Lektüre und Bearbeitung des Forschungsobjekts ergeben haben, wende ich mich dem kulturhistorischen Umfeld zu. Dieses Kapitel dient sowohl als kultur- wie sozialgeschichtliche Rahmenbedingung dazu, Grosz‘ Werk in seine Zeit einordnen zu können, als auch als theoretische Grundlage zum besseren Verständnis seiner Bilder. Ich möchte hier also verschiedene Teilaspekte im Bezug zur Grossstadt abdecken, die in einem thematischen Zusammenhang zum Werk des Künstlers stehen.
In den weiteren Kapiteln befasse ich mich dann eingehend mit dem Künstler und seinem Werk, wobei der Schwerpunkt auf der Malerei liegt. Da George Grosz ein gelernter Zeichner war, als solcher auch bekannt wurde, möchte ich mich, nach einer kurzen biographischen Skizze seiner Jugend bis 1918, über seine Zeichnungen, Graphikmappen und seine Skizzenbücher seinem malerischen Werk nähern. Ich erhoffe mir dadurch ein besseres Verständnis für seine Ölmalerei, indem ich versuchen werde, sowohl Zusammenhänge, Parallelen, aber auch Gegensätze zu erfassen und aufzuweisen. Dieses graphische Oeuvre soll mir zu einer praktischen Erweiterung des theoretischen Spektrums verhelfen. Dann werde ich mich mit seinen Ölbildern auseinandersetzen, wobei ich mich vor allem auf zwei Gemälde konzentrieren möchte: „Metropolis“, auch „City“ genannt (Abb.41) und „Widmung an Oskar Panizza“ (Abb.42). Dabei werde ich auf einige seiner wenigen noch erhaltenen Gemälde zurückgreifen, um diese beiden Kunstwerke in ihrer spezifischen Eigenschaft besser abgrenzen und um eine mögliche Entwicklungslinie aufzeigen zu können.
Ich werde also versuchen, eine Bildanalyse der beiden genannten Hauptwerke zu erarbeiten, mittels einer theoretischen und einer praktischen Annäherung an sein Werk. Hierbei sei noch darauf aufmerksam gemacht, dass ich den Ersten Weltkrieg mit einbeziehen möchte, der eine wichtige Rolle in Grosz‘ Werk spielt. Ich verfolge in diesem Sinne aber keinen politischen, sondern einen moral- philosophisch geistigen Ansatz.
Eine zentrale Frage drängte sich mir im Verlauf der Lektüre immer mehr auf: warum hat George Grosz, der gelernte Zeichner, mit der Malerei begonnen? Gerade in der Zeit des Ersten Weltkriegs – in einer Zeit, in der sich, neben einer herrschenden Lebensmittelknappheit, die finanzielle Lage für viele Bürger drastisch verschlechterte und in der das Interesse für Kunst höchstwahrscheinlich nicht an erster Stelle stand; in einer Zeit, in der die Malerei als Luxusgut kaum einen hohen Absatz fand und ein Risikofaktor für den jungen Künstler selbst darstellte. Gerade diese Frage scheint bis anhin niemanden in der Forschung interessiert zu haben. Wahrscheinlich wird dieser Umstand, dass sich Grosz in der Malerei übte, als selbstverständlich betrachtet – als natürliche Laufbahn eines Künstlers. Ich werde versuchen, den möglichen Anstoss zu eruieren, der ihn zur Malerei verleitet haben mochte. Des weiteren bleibt der Vergleich zwischen der Malerei und seinen Zeichnungen, mit Ausnahmen, weitgehend unbeachtet. Beide Gattungen werden meist separat voneinander bearbeitet, so dass sich bisher keine befriedigenden Vergleichsstudien ergaben. Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, mögliche Vergleiche zwischen seinen Zeichnungen und Ölgemälden zu erörtern und zu erarbeiten, aber die Tatsache, dass Grosz Autodidakt in der Malerei war, drängt die Schlussfolgerung auf, dass seine Zeichnungen die primäre Grundlage für seine Ölgemälde dargestellt haben müssen. Deshalb möchte ich mich auch über die Graphikblätter seinen Ölbildern nähern.
Ein weiteres Problem ergab sich durch das Fehlen einer „Bildbeschreibung“. D.h., mit Ausnahme von Heusinger1, umgeht die Forschung elegant die Vielzahl an Informationen, die über die detailreiche kleinteilige Struktur seiner Bilder übermittelt wird. Meist beschränkt sie sich auf die interpretatorische Aussagekraft seiner Bilder mittels theoretischer Konzepte. Die Details werden dabei ausser Acht gelassen. Die Annäherung an seine Bilder bleibt entsprechend oberflächlich und beschränkt sich auf einen zeitkritischen Ansatz. Deshalb möchte ich mein Augenmerk verstärkt auf die bildimmanenten Details richten. Ich erhoffe mir davon eine bessere „Entschlüsselung“ seiner Arbeiten.
Hinzu kommt die künstlerische Vielfalt, die mich dazu gezwungen hat, eine notwendige Selektionierung vorzunehmen. Obwohl sein gesamtes Oeuvre während dieser Zeit eng zusammenhängt, werde ich mich auf seine Zeichnungen und seine Gemälde beschränken. Aquarelle, Gedichte, dadaistische Inszenierungen und Vorführungen werde ich weglassen müssen, da die Rücksichtnahme derselben nicht möglich ist im Rahmen dieser Arbeit.
Die nächste Frage stellt sich in der Thematik seiner Werke. Schlüsselthema der gesamten künstlerischen Produktion dieser Jahre ist die „Grossstadt“. Dazu gehören auch seine Kaffeehausszenen, „Lustmord“-Darstellungen, wie auch seine „Selbstportraits“. Während ich von vornherein das Motiv des Kaffeehauses ausschliessen möchte, bleibt noch offen, inwiefern ich die beiden letztgenannten Motive mit in seine Darstellungen der Grossstadt selber mit einbeziehen werde, kann und muss. Ich hoffe, dass sich im Verlauf der Arbeit diese Frage lösen wird.
Im letzten Punkt möchte ich noch auf die Problematik seiner eigenen Schriften aufmerksam machen, wie seine Briefe2 aus jener Zeit, mehrere Texte aus den 1920ern3 und letztlich seine Autobiographie aus dem Jahr 19464. Es ist mir bewusst, dass diese biographisch gefärbten Schriften mit Vorsicht zu geniessen sind, aufgrund ihrer Stilisierung im Kontext eines Künstlerkonzepts. Dennoch möchte ich darauf zurückgreifen, da diese schriftlichen Äusserungen eine wertvolle Quelle für seine Werke darstellen. Während die Autobiographie aus der räumlichen und zeitlichen Distanz geschrieben wurde, was einen vorsichtigeren Umgang damit impliziert, gestatten seine Briefe einen erweiterten Einblick in die damalige Schaffenszeit. Sie geben darüber Auskunft, in welcher (zumindest vermeintlichen) Verfassung der Künstler war, welche sogenannte Meinungen er vertrat und welche Gedanken, Ideen und Phantasien sich in seinem Kopf abspielten – letztendlich worauf er Wert legte zu kommunizieren. Sie sind bis zu einem gewissen Grad „authentischer“. Hier liegt ein spezieller Reiz in der ironisch satirischen Verspieltheit und Verschlüsselungstechnik des Briefeschreibers Grosz, was die Briefe schwer verständlich macht. Aber gerade diese Doppeldeutigkeiten macht sie so interessant für die Betrachtung seiner Bilder, die ebenfalls mit mehrdeutigen Anspielungen und Assoziationen versehen sind. Folglich möchte ich mich für eine erweiterte Analyse der Werke seiner Äusserungen bedienen – denn letztlich sind nicht nur die Briefe und Schriften einem Künstlerkonzept untergeordnet, sondern die Bilder selbst implizieren ein Künstlerkonzept. Am vorsichtigen Umgang mit diesen Texten soll es aber nicht fehlen.
Wie der Titel schon besagt, wuchs die Stadt Berlin zu Beginn des 20. Jhs. zur jüngsten Metropole Europas an. Während sich Mitte des 19. Jhs. die Industrialisierung in Berlin nur zögerlich vollzog, setzte in Berlin 1871 plötzlich ein rasanter Industrialisierungsprozess ein. Dieser hat seinen Ursprung in der Ernennung Berlins zur neuen Hauptstadt des Deutschen Reichs durch die Proklamation König Wilhelms I. von Preussen zum Deutschen Kaiser 1871 im Spiegelsaal zu Versailles5. Dieser neue Stellenwert Berlins hatte zahlreiche Umwandlungen zur Folge. Durch die Industrialisierung erfolgte ein gewaltiges Wachstum der Stadt und ihrer Bevölkerung. Während Berlin um 1870 noch eine Einwohnerzahl von 800 000 verzeichnete, wuchs es bis 1910 auf über 2 Mio. an und verdoppelte sich bis 1920 nochmals auf 4 Mio. Einwohner6. Die neue Hauptstadt entwickelte sich zu einer Industriemetropole, die in die Randbezirke expandierte und sich ganze Dörfer und Kleinstädte einverleibte. Es entstanden die für Berlin so charakteristisch werdenden Mietskasernenblöcke, die das Stadtbild prägen sollten. Berlin wurde zum wichtigsten Verkehrsknotenpunkt im nördlichen Mitteleuropa. Die Stadt erfuhr auch zahlreiche technische Neuerungen7. So entstand 1879 die erste elektrische Bahn der Welt; 1902 brachte die Eröffnung der ersten Hochbahn; die Entstehung der Untergrundbahn; das Aufkommen des Automobils. All diese Erneuerungen führten zu einer zunehmenden Mobilisierung des Verkehrs.
Des weiteren wurde Ende des 19. Jhs. die elektrische Bogenlampe eingesetzt, die die Gasbeleuchtung ersetzen sollte; es folgte 1910 die Erfindung der Glühbirne - bis hin zur Entwicklung Berlins zur Lichtstadt Europas, die 1912 zur wichtigsten Stätte der Elektrizität avancierte8. Weitere Sensationen boten schon 1880 die Fertigstellung des Anhalter-Bahnhofs als damals grösste Bahnhofshalle der Welt; 1906 die Erfindung des Luftschiffs, nach dem Modell des Zeppelin erbaut.
Während die Stadt einem grundlegenden Wandel unterworfen wurde, blieb die alte Klassenstruktur weiterhin bestehen. Mit dem Kaiser an ihrer Spitze bestand die Berliner Gesellschaft9 bis 1918 aus dem privilegierten Adel der höfischen Kreise, dem elitären Offizierskorps, gefolgt vom aufstrebenden konservativen Grossbürgertum, dem Kleinbürgertum, an dessen Spitze die Berliner Intelligenz als Gegner des Kaisertums vertreten war und als unterste Klasse das Industrieproletariat, das den Hauptteil der Bevölkerung ausmachte. Wie in jeder industrialisierten Stadt klafften auch hier die Unterschiede zwischen arm und reich immer weiter auseinander. Während sich die einen bereicherten, verarmte der Grossteil der Gesellschaft, nämlich das Industrieproletariat, dessen Lebensverhältnisse entsprechend katastrophale Ausmasse annahmen.
Neben der Industrialisierung und Technisierung avancierte die Reichshauptstadt zum Zentrum kulturellen Lebens, einer Kunstmetropole, welche die bisher führende Kunststadt München zu überholen drohte. In Berlin versammelte sich die führende künstlerische Avantgarde, was später näher ausgeführt wird.
Entsprechend der fundamentalen Veränderung des Stadtbildes, wurde auch die Gesellschaft und ihre Kultur einem Wandel unterzogen. Das Leben in der Grossstadt leitete eine neue Ära ein, die Ära der Moderne. Diese wird hauptsächlich von einer neuartigen Spannung zwischen dem Individuum und der äusseren Wirklichkeit, dem Individuum und der Gesellschaft und dem Individuum und seiner Identität geprägt. Wie kam es dazu?10. Das Leben in der Grossstadt forderte den Menschen dazu heraus, seine Umwelt neu zu erfahren und sich entsprechend neu zu orientieren. Die veränderten Lebensumstände in der Grossstadt mit ihrer zunehmenden Motorisierung des Strassenverkehrs, der sich steigernden Hektik, dem Leben in der Anonymität in der erzeugten Massengesellschaft und der Entstehung eines weithin gesichtslosen riesigen Stadtraums mit der Überbauung der Umwelt auf Kosten der Natur, führten zu einer massiv veränderten Wirklichkeit. Entfremdung und Ich-Dissoziation waren gängige Begriffe zur Definition ihrer psychischen Wirkungen. Es stellte sich eine Entfremdung von der Umwelt ein, durch die widersprüchliche Erfahrung der Realität: durch die visuelle Fragmentierung, sowohl durch die Aufhebung der zeitlichen und räumlichen Kontinuität11, als auch die Aufhebung der traditionellen Perspektive12, was eine Undurchschaubarkeit zur Folge hatte. Die Erfahrung der Stadt zeichnete sich durch eine Agglomeration von Details und Sinneseindrücken aus, die sich nicht mehr in ein traditionelles Bild einer einheitlichen Struktur integrieren liessen. Es fand eine sinnliche Zersplitterung der Umwelt statt. Diese neue Wahrnehmungsweise hatte und hat synthetischen Charakter und zugleich eine Entsubjektivierung des visuellen Wahrnehmungsfeldes zur Folge, d.h. der Mensch kann sich nicht mehr mit seiner Umwelt identifizieren. Es findet eine Entfremdung zur äusseren Wirklichkeit statt. Die sichtbare Welt bietet keinen Halt und kein Vertrauen mehr. Der Schock wird zur Grundform dieser neuen Erfahrung der Grossstadt.
Zahlreiche zeitgenössische wissenschaftliche Diskurse setzten sich mit dieser neuen Grossstadterfahrung auseinander, so unter anderem auch die Wissenschaft der Soziologie: Georg Simmel ist einer der ersten, der sich in seinem Werk „Grossstädte und das Geistesleben“ (1903) damit beschäftigt hat. Er konstatiert eine zunehmende Verselbständigung der Dingwelt gegenüber dem Menschen, was eine Dichotomie zwischen der Kultur der Dinge und der Kultur der Menschen nach sich zog. Auf dieser Erfahrung gründet die schon erwähnte Entsubjektivierung, die den Menschen dazu zwingt, sich von seiner Umwelt zu distanzieren. Aber nicht nur die zur Abstraktion gewordene Stadtwelt distanziert den Grossstadtmenschen, sondern auch das nervöse, pulsierende Leben in der Stadt selbst mit all ihren Sinneseindrücken treibt ihn dazu, diese mit Hilfe der Rationierung zu bewältigen:
„Es ist eine der grossartigsten Einsichten der immer noch massgebenden Studie Simmels über die Grossstadt und das Geistesleben, die abstrakte, kalte Verstandesmässigkeit des Grossstädters als Technik der Rationierung von Datenflüssen erkannt zu haben: Intellektualismus als Präservativ des Subjekts. Cool, berechnend, sachlich und gleichgültig – so betritt der Grossstadtbewohner seinen Schauplatz (...) Blasiertheit gegenüber den Reizen, Reserviertheit gegenüber den anderen und Selbsterhaltung um den Preis der Weltentwertung sind keine Symptome einer entfremdeten Welt, sondern schlichte Überlebensnotwendigkeiten in grossen Städten.“13
D.h. der Grossstadtmensch passt sich insofern seiner Umwelt an, als dass er sein Verhalten seiner rationalisierten Lebenswelt angleicht. Abstraktes Denken ist die Folge davon. Es findet eine innere Urbanisierung statt. Man kann diesen subjektiven Abgrenzungsversuch gegenüber einer objektivierten Welt aber auch als Gegenangriff deuten, als ein Sich-zur-Wehr setzen gegenüber einer wachsenden Subjektwerdung der Dinge und einer allmählichen Eliminierung des Menschen im Zeitalter der Technik und der Massengesellschaft. Der Kampf mit der „Natur“ findet hier auf einer anderen Ebene seine Fortsetzung. Diese Abgrenzungsmechanismen gegenüber einer artifiziellen abstraktifizierten Umwelt kommen auch gegenüber einer anonym werdenden Massengesellschaft zur Geltung, die einen wachsenden Verlust der Individualität und der eigenen Identität zur Folge hat. Diese Anonymität ist die Kehrseite der subjektiven Freiheit in einer grossstädtischen Lebenswelt, die eine wachsende Einsamkeit und Isolierung des Einzelnen zur Folge hat. Aus diesem Grund versucht sich der Grossstadtmensch von der Masse abzuheben, indem er seine Individualität kultiviert und zur Schau trägt. Dies geschieht vor allem über das äussere Erscheinungsbild, wie Kleidung, Verhalten etc. - die einzige Möglichkeit zur Realisierung seines Vorhabens in einer Welt, deren wichtigstes Sinnesorgan das Auge geworden ist. Dieses Verhalten der Individualisierung verwandelt sich jedoch wiederum in einen spezifischen Typus, der sich, auf ein paar Merkmale reduziert, in einer objektivierten Kategorie wiederfindet. Des weiteren kam man zu der Erkenntnis, dass der Mensch sich nicht nur über seine Subjektivität definiert, sondern einem über-individuellen sozialen Normverhalten unterworfen ist. Darauf gründet auch das „Konzept der sozialen Person“:
„Das in einen Ich-Kern und eine in der Welt agierende Person geteilte Individuum tritt mit verschiedenen Segmenten der sozialen Welt in Wechselwirkung, durch die es verschiedene Handlungsmuster annimmt.“14
Wie die Stadt in ihrer Wahrnehmung erfährt auch der Grossstadtmensch durch seine Fremdbestimmtheit eine Zersplitterung seines Ichs in verschiedene Schichten. D.h. es besteht sowohl ein Kontrast zwischen dem Ich und seiner Umwelt, zwischen Individuum und (Massen-) Gesellschaft und letztendlich eine Aufsplittung des individuellen Wesens in eine komplexe Persönlichkeitsstruktur:
„der multisektoralen Vielfalt der sozialen Welt entspricht die Vielschichtigkeit der sozialen Person.“15 Neben der Grossstadterfahrung veränderten auch die wissenschaftlichen Neuerungen zu Beginn des 20. Jhs. (Relativitätstheorie und die Quantentheorie) die Stellung des Menschen in der Welt. In diesem Zusammenhang kann man Freuds Untersuchungen des menschlichen Unterbewusstseins um 1900 als symptomatisch betrachten. Er hat als logische Konsequenz das menschliche Selbstbewusstsein in Frage gestellt und damit die menschlichen Triebe ins „Bewusstsein“ gebracht – demzufolge ist der Mensch nicht mehr Herr/Frau seiner selbst. Sowohl in der äusseren Wirklichkeitsbestimmung durch die Umwelt als auch in der inneren Wirklichkeitsbestimmung im Selbstbewusstsein fand ein Verlust jeglicher Verbindlichkeit statt. Folge davon war eine Orientierungslosigkeit verbunden mit Angst und Verlassenheit, eine Entfremdung und Ich-Dissoziation als zentrale Erfahrung dieser neuen Umstände. Auch die kulturellen Normen und Massstäbe wurden in diesem Entfremdungsprozess überholt und fanden keine Entsprechung mehr in dieser neuen befremdenden industrialisierten und technisierten Umwelt. Dieser Normverlust und die daraus resultierende Orientierungslosigkeit läuteten eine kulturelle Krise ein, die eine Krise des Subjekts nach sich zog.
Der Dandy16 ist eine artifizielle Ausgeburt der künstlichen Welt der Grossstadt, der seinen Ursprung in England respektive London als verschrieener Modegeck hat und seine literarische Fortsetzung in Paris17 findet, wo sie auch als künstlerisches Konzept übernommen wurde. Ihren Höhepunkt erreicht diese städtische Erscheinung im Verlauf des 19. Jhs. Laut Schickedanz18 konnte sich der Dandyismus in Deutschland aufgrund fehlender höfischer und grossstädtischer Traditionen nicht etablieren. Der Dandyismus entstand in einer Zeit des Übergangs, in der die Macht der Aristokratie und die des Bürgertums sich noch die Waage hielten. Entwickelt hat er sich aus einer ästhetischen Opposition gegen eine zunehmende Nivellierung im grossstädtischen Lebensraum. Dem wollte der Dandy mit seinem Stil, seinem exklusiven Geschmack, der absoluten Erhabenheit seiner Individualisierung entgegenwirken, indem er mit der Kultivierung seines Ichs und seines Aussenseitertums und mit der Bildung einer geistigen Aristokratie ostentativ gegen das Bürgertum opponierte. Der praktizierende Dandy hat seinen Körper und sein Wesen selbst zum Kunstwerk erhoben und diese bis zur Perfektion kultiviert. Zahlreiche Literaten des 19. Jhs. nahmen sich dieses städtische Phänomen zum Vorbild und entwickelten daraus einen Stil, mit dem sich sowohl ihre literarischen Protagonisten, als auch die Schriftsteller selber identifizierten. Der Dandy strebt sowohl nach Unabhängigkeit wie nach Macht und Geltung, um jene realisieren zu können, als auch nach einem ästhetischen Dasein. Sein Hauptcharakteristikum liegt aber letztendlich in seiner Distanz zum Mitmenschen und zu der ihn umgebenden Welt. Das Verhalten des Dandys äussert sich analog zum Verhalten des Grossstadtmenschen: durch kühles reserviertes Verhalten, durch Ablehnung jeglicher Affekte und grosser Gefühle, durch seine Distanz, worauf auch seine scharfe Beobachtungsgabe gründet. Denn gerade in der Distanzierung liegt die Voraussetzung für die genaue Beobachtung der Umwelt und das Erkennen ihrer Mechanismen. Diese Beobachtungsgabe verbindet ihn auch mit dem Flaneur19 – ebenfalls eine städtische Kulturfigur des 19. Jhs., die auf der Suche nach sich selbst, durch die Strassen der Grossstadt als Revier flaniert und als Beobachter alle Eindrücke in sich aufnimmt und durch entsprechende Erfahrungen dazu befähigt ist, sich in verschiede Rollen zu versetzen. Der Dandy verherrlicht sein Aussenseitertum und züchtet es noch durch seinen Zynismus, mit welchem er seine Überlegenheit und Verachtung gegenüber der Gesellschaft artikuliert, in der er sich fremd fühlt.
Letztendlich dienen seine Selbststilisierung und Individualisierung auch als eine Art Schutzmaske, mit der er sowohl seine Angst vor einem Persönlichkeitsverlust zu bewältigen sucht, als auch seine romantischen, verletzlichen Gefühle verbirgt, die sich in seiner Vergötterung des Schönen äussern.
Der Dandy ist geprägt durch eine tiefe Sehnsucht nach Nähe und Intimität, die zugleich gepaart ist mit einer tiefen Angst, was sich in einem zwiespältigen Verhältnis zur Liebe äussert. Er liebt die Frauen, fürchtet sich aber zugleich vor ihnen, da sie den Verlust seiner körperlichen und seelischen Unabhängigkeit und letztendlich seinen daraus resultierenden Tod bedeuten. Darauf gründet denn auch seine widersprüchliche Abscheu gegenüber dem Weiblichen, das sich ihm in der Gleichsetzung mit der Natur völlig entgegenstellt. Daraus lässt sich schliessen, wie sehr der Dandy durch eine gespaltene Persönlichkeit gekennzeichnet ist. Immer auf der Suche nach sich selbst, setzt er sich stetig mit seinem Ich auseinander. Er sucht Zuflucht in artifiziellen Gegenwelten, um sich vor dieser ihm hässlich erscheinenden, dem Untergang geweihten Welt zu retten, in welcher er einem neuen Hedonismus frönt. Der Dandy hat die Nacht, insbesondere die Grossstadtnacht für sich entdeckt, als Gegenpol zur vernunftgesteuerten Betriebsamkeit des Bürgers am Tage. Die Dekadenz wird im Zeitalter des fin-de-siècle zum neuen Lebensstil erkoren:
„Baudelaire erhebt nun den historischen Begriff der Dekadenz zum Gegenwartsgefühl, zum Grundgefühl des Daseins und zur hinreichenden Umschreibung seiner individuellen Existenz; (...) (die Dekadenz wird jetzt) zum Signum der Moderne: Ästhetizismus, Exotismus, Perversion, Dandyismus, Satanismus und religiöse Mystik, Neurose und Melancholie, Subjektivismus und Künstlichkeit, Erotismus und Hedonismus; Begriffe, die allesamt auch die Erlebnisweise des Dandy ausmachen.20 “
Wie dieses Zitat schon erahnen lässt, ist der doppelgesichtige Dandy fasziniert vom Tod, vom Bösen und Satanischen und letztendlich vom Kriminellen, das ebenfalls in den Bereich dieser Gegenwelten gehört, die allesamt der bürgerlichen Moral zuwiderlaufen. So hat denn Baudelaire auch eine Ästhetik des Schrecklichen und des Schocks zu seinem künstlerischen Programm21 erhoben, das auch als ein Protest gegen die bürgerliche Scheinwelt zu verstehen ist. In diesem Aspekt des Schockierens stehen sich der Dandy und der Bohèmien22 sehr nahe. Es sind hier auch Machtphantasien im Spiel, die man nicht unterschätzen darf.
Das künstlerische Konzept des Dandys bot dem Künstler, als Verkleidungsform23, eine Möglichkeit, seinem zunehmenden Zweifel an seiner Besonderheit und damit auch seiner existentiellen Berechtigung als Künstler entgegenzuwirken. Wie der Flaneur ist auch der Dandy ein künstliches Produkt der Stadt. Der Dandy als „Inkarnation der komplexen Innerlichkeit des modernen Menschen“24, widerspiegelt beispielhaft sozial- und geistesgeschichtliche Strömungen.
Die rationalisierte und von Technologien durchsetzte Tageswelt der Stadt, die der Mensch als widersprüchlich empfindet, findet ihren eigentlichen Gegensatz in der nächtlichen Welt der Grossstadt. Wie Joachim Schlör25 die Entstehung des nächtlichen Grossstadtlebens und dessen Wesen an den Beispielen Paris, London und Berlin eindrücklich umfangreich schildert, entwickelte sich mit der Industrialisierung gleichzeitig ein drängendes Bedürfnis nach Erholung in den grossen Städten, das sich in einer neuen Freizeitindustrie äusserte. In Form von Cafés, Kabaretts, Varietés und anderen Unterhaltungseinrichtungen entstanden Orte des öffentlichen Gesellschaftslebens, die sich hauptsächlich auf die Abend- und die Nachtstunden beschränkten. Vor allem in Berlin entwickelte sich um 1900 ein turbulentes Nachtleben, das dieser Stadt in ganz Europa den weitverbreiteten Ruhm einbrachte, das grösste Durchhaltevermögen zu haben. Die Berliner waren bekannt für ihre Vergnügungssucht, die bis in die frühen Morgenstunden gereicht haben soll. Bis in die 1930er, inklusive der wilden 20er Jahre, bildete Berlin ein Mekka für vergnügungssüchtige Nachtmenschen26. Laut Strohmeyer27 ist die Herausbildung nächtlicher Vergnügungsorte auf den wachsenden Naturentzug in den immer grösser werdenden Städten zurückzuführen. Als Antwort auf diesen Naturverlust entfalteten sich in Form dieser Vergnügungsstätten sogenannte Subkulturen und Gegenwelten, die dazu dienen sollten, mittels künstlichem Stimulationsersatz die verlorene Sinnlichkeit wiederzubeleben. Sie bildeten einen Zufluchtsort vor dem rationalisierten Alltag, in welchem das grossstädtische Subjekt versucht, dem zunehmenden Identitätsverlust in der technisierten Grossstadtwelt entgegenzuwirken.
„Doch da Herz und Seele angesichts des mechanistischen Realitätsprinzips keine tragfähigen Begriffe für eine ‚konkrete Utopie‘ sind, werden Alkohol und Drogen als Stimulantien zur künstlichen Reproduktion der verlorenen bürgerlichen Identitätssubstanz verwendet – als Mittel, dem illusionslosen Alltag zu entfliehen, als Mittel aber auch, Identität in einer bohèmehaften Subkultur zu bewahren. () Gegenwelten, die sich als Schattenzone gegen den strukturellen Kern der Entfremdung herausgebildet haben, die sich als ‚Nachtseite‘ vergleichbar dem ‚Unbewussten‘ gegenüber der simultanen Tageshektik einer objektiven Denkautomatik in den grossen Städten ansiedelt.“28
Folgerichtig lässt sich die Grossstadtnacht als eine sinnliche Gegenwelt zur technisierten Tageswelt definieren, in der der Mensch erst sein wahres Antlitz zum Vorschein bringt und in der seine Wünsche und Ängste, seine Triebe und sein Unbewusstes zum Ausdruck kommen. Wie in der Konfrontation mit dem Grossstadtleben selbst, war auch das „nächtliche“ städtische Subjekt dazu herausgefordert, sich mit seinen eigenen widersprüchlichen Bedürfnissen auseinanderzusetzen. Insbesondere das Café erlangte einen zentralen Stellenwert im nächtlichen Grossstadtleben. Aus dem Café als Ort der gesellschaftlichen Begegnung, wo man sich dem Spiel und der Trinklust hingab, entwickelte sich ein Treffpunkt der Bohème, wo sich eine neue Subkultur herausbildete. Das Café avancierte sowohl zu einem Ort des Austausches zwischen den Künstlern, als auch zu einem Ort der öffentlichen Provokation. D.h. das Café diente als öffentliche Bühne, um auf sich aufmerksam zu machen und zugleich die Möglichkeit zu haben, Beobachtungen jeglicher Art anzustellen. Es lässt sich eine völlig neue Einstellung zur Nacht konstatieren, wobei die Stadtbeleuchtung von zentraler Bedeutung ist. Sie machte die Nacht zum Tag. Vor allem die elektrische Beleuchtung, die um ein x-faches stärker war, als die Gasbeleuchtung29, trug zu dieser Taghelle der Nacht bei. Einen weiteren wichtigen Bestandteil des nächtlichen Grossstadtvergnügens stellte die Prostitution dar. Da in Berlin die offiziellen Bordelle verboten worden waren, ersetzte die Strassenprostitution diese Institutionen. Ganze Scharen von Dirnen bevölkerten die Strassen der städtischen Vergnügungszentren, so dass sich diese Vergnügungsstätten – die Friedrichstrasse, Leipziger Strasse und der Potsdamer Platz – zu riesigen Prostitutionsmärkten entwickelten. In diesem Zusammenhang lässt sich die Grossstadtnacht auch als eine Zeit der Konfrontation zwischen Mann und Frau respektive Prostituierten auf der Ebene der Sexualität deuten. Gerade an diesem Punkt lässt sich erkennen, wie sehr die Grossstadtnacht von der Männerwelt dominiert war, in der die Frau höchstens in männlicher Begleitung Zutritt erlangte, im Alleingang aber automatisch zur Prostituierten deklassiert wurde. Da es den Prostituierten nicht erlaubt war, sich unsittlich zu kleiden, um keine öffentliche Erregung zu erzeugen, wurde die Unterscheidung zwischen Prostituierten und einer bürgerlichen Frau fliessend und die Frau ohne Begleitung kriminalisiert. Auch im Bereiche des sexuellen Vergnügens spielte die Sinnlichkeit auf der Suche nach der eigenen Identität durch die Konfrontation mit normwidrigen und widersprüchlichen Bedürfnissen eine bedeutende Rolle.
Neben dieser „vergnüglichen“ Seite der nächtlichen Grossstadtwelt existierte eine weitere Gegenwelt, die sogenannte Unterwelt oder auch Verbrecherwelt, die in Verbindung mit Gefahr gebracht, als Schrecken der Grossstadtnacht definiert wurde. Diese Unterwelt bestand aus den beiden Protagonisten Verbrecher und Prostituierten. Die Prostituierte stellte in diesem Sinne einen Grenzbereich zwischen Vergnügen und Gefahr dar, indem sie einerseits – im Gegensatz zu ihrer männlichen Kundschaft - selber Opfer ihrer Kriminalisierung wurde und indem sie andererseits als amoralisches und unsittliches Wesen deklassiert und somit nicht als integeres Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft akzeptiert wurde. Mit dem Wachstum der Städte wuchs auch die potentielle Gefahr der Armut, der Kriminalität und der Prostitution. Sie wurden zu einem kaum zu bewältigenden Problem, das per se die Gefährdung der Stadt symbolisierte. An diesem Punkt kommt wieder die nächtliche Beleuchtung mit ins Spiel, deren ursprüngliche Funktion in der Beleuchtung der dunklen Strassen als mögliche Orte des Verbrechens lag. Sie sollte als präventives Mittel für Ruhe und Ordnung sorgen, wodurch die Grossstadtlaterne z.T. auch den Status eines Hoheitssymbols30 erlangte. In diesem Zusammenhang erwies sich die Strasse als Austragungsort von Konflikten und als Ort der Konfrontation überhaupt in der Stadt. D.h. der Strasse in der Stadt kam eine völlig neue Bedeutung und Funktion zu. Sie war nicht mehr blosse Verbindungsstrecke, sondern als strukturierendes Element der Stadt verband sie Innen und Aussen. Die Strasse kann sowohl als innerer Kern der Stadt verstanden werden, in der sich das pulsierende Leben vollzieht, wie auch als ein Aussen im Gegensatz zum Interieur. Sie war der Ort, an dem sich aufzeigen liess, ob Ordnung, Sitte und Sicherheit in einer Stadt herrschten. Aus diesem Grund konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Obrigkeit auf die Strasse – insbesondere auf die Strasse der Nacht. Dies um so mehr, als dass sich die Stätten des Vergnügens immer weiter auf die Strasse hin öffneten. Wie die Nacht schon seit jeher eine Zeit des Schreckens, der drohenden Gefahr und der Angst symbolisierte, fand diese altertümliche Vorstellung auch hier in der Grossstadt ihre Fortsetzung. Die Einteilung in Tag und Nacht, Licht und Dunkel, Gut und Böse und die daraus resultierende geistig-moralische Zweiteilung der Welt in Licht und Finsternis, Vernunft und Emotion, Ordnung und Chaos, Geist und Körper und letztendlich männlich und weiblich blieb in dieser sogenannten fortschrittlichen Gesellschaft weiterhin bestehen. Die Nacht bot auch hier ein riesiges Projektionsfeld jeglicher Art, derer man sich für die verschiedensten Zwecke bediente. So zeigt Schlör in seiner Studie auf, wie sehr wir von den Vorstellungen über die Nacht in der Grossstadt geprägt sind, die uns über die verschiedensten Medien vermittelt werden:
„Verbrechen, Kriminalität, Unterwelt – das sind Themen, Gedankenverbindungen, die sich unweigerlich aufdrängen, wenn von der Grossstadtnacht die Rede ist. Auch hier, und hier vielleicht mehr als bei irgendeinem anderen Aspekt unserer Geschichte, sind wir mit Bildern, mit Imaginationen konfrontiert, die den Blick auf die Realität der Stadtnacht verstellen. Kein anderes Thema führt uns so weit in den Grenzbereich zwischen Imagination und Realität, denn in der Regel findet die Konfrontation mit dem Verbrechen doch über die Vermittlung von Medien statt. (...) Literatur und Film, Zeitungsreportage und Polizeibericht haben aus der Grossstadtnacht das setting der gefährlichen Situation gemacht.“31
Das faszinierende Vergnügungsleben und die gefährliche Verbrecherwelt – die ebenfalls eine sehr grosse Anziehungskraft ausübte - bildeten zusammen die Welt der Stadtnacht. Ihr Wesen war, in Verbindung der Nacht mit Gewalt, Sexualität, Vergnügen und Einsamkeit, gekennzeichnet durch die Ambivalenz zwischen Faszination und Schrecken. Es war eine von Männern dominierte Welt, in der die Frauen nur als Sexualobjekte Einlass fanden. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die Stadtkritik gerade dieser Entwicklung der Grossstadtnacht bediente, um ihren ideologischen Kampf gegen den Zerfall der Sitten im grossstädtischen Raum auszufechten. So setzten seit 1880 vermehrt öffentliche Debatten ein, in der sowohl Gefahren, als auch Fragen über Sittlichkeit, Gesetzlosigkeit und Unsicherheit in der nächtlichen Grossstadt thematisiert wurden. Insbesondere in der Frage nach Sittlichkeit löste die wachsende Anzahl von Prostituierten Besorgnis aus. Die Prostituierte wurde zum Signum der Unsittlichkeit degradiert. Die Zivilisationskritiker prangerten die Grossstadtgesellschaft an, indem sie die Stadtnacht als verkörperte Kehrseite der herrschenden Moral und Normen bezichtigten, so dass Ende des 19. Jhs. die sogenannte Lasterhöhle Berlin in ihren Augen zu einem Synonym für Grossstadtfeindlichkeit verkam. Die Thematik der Verrohung der menschlichen Sitten in den Städten ist nicht neu. Sie ist uns allen schon bekannt durch die alten biblischen Mythen von der Hure Babylon wie von Sodom und Gomorrha. Insbesondere die Hure Babylon erfuhr sowohl im Bereich der Stadtkritik, als auch in der künstlerischen Motivwelt eine Wiederbelebung: die Mutter Natur, seit dem 18. Jh. durch menschliche Profitgier verwüstet und in Gestalt der Stadt zur Hure verkommen, die ihren Körper prostituiert und trotz innerer Verwesung die Fassaden zum Strahlen bringt32. Gerade in Berlin fand das Interesse für die Zustände der „modernen“ Gesellschaft grosses Interesse. Der Schritt vom nächtlichen Grossstadtmenschen zur Auseinandersetzung mit den Nachtseiten der menschlichen Psyche und des menschlichen Verhaltens drängt sich auf und führt z.B. zu Freuds Studie über das Unbewusste. Schlör weist zum Schluss noch darauf hin, dass trotz des stetigen Wandels der städtischen Lebensbedingungen die Vorstellungen von der Unterwelt merkwürdig statisch blieben.33 Dasselbe gilt auch für die widersprüchliche „Natur“ der Frau als Hure oder Heilige.
Zwischen der Grossstadt und der Prostituierten besteht eine enge Verbindung. Als ein kulturelles Produkt wurden beide als das Andere im Gegensatz zur patriarchalen Norm eingestuft, dienten beide als Projektionsflächen für diverse Debatten, standen beide für Extreme und Widersprüchlichkeiten, erfuhren beide eine Sexualisierung und konsequenterweise wurden beide in Analogie zueinander gesetzt34. In ihrer doppeldeutigen Bewertung stand die Stadt einerseits für die moderne Gesellschaft und deren Fortschritt. Gleichzeitig wurde sie aber in ihrer Gleichsetzung mit Chaos, Geistlosigkeit, Tod und dem Bösen und Triebhaften auch dem weiblichen Prinzip unterstellt: als Ort der Verführung und des Selbstverlusts. In diesem Zusammenhang erfuhr die Stadt eine Sexualisierung in Gestalt der Hure Babylon, die analog zur Prostituierten verantwortlich gemacht wurde für den sittlichen Zerfall der Gesellschaft im grossstädtischen Lebensraum. Demzufolge fand auch ein Vergleich zwischen der vernichtenden Technik und der entfesselten weiblichen Sexualität in Form der Prostituierten statt.
Beide stellten ein Wunschterritorium dar, das sowohl faszinierte und beängstigte, das zu erobern und zu zähmen galt – natürlich vom männlichen Subjekt. Insofern fand die nächtliche Grossstadt ihre komprimierte Form in der Prostituierten. Wie auch die Grossstadt als Projektionsfeld dazu diente, diverse Ideologien auszufechten, wurden auch auf dem Rücken der Prostituierten etliche aktuelle Themen ausgetragen. Der stetig wachsende Anstieg von Prostituierten35 brachte soziale, moralische und medizinische Probleme mit sich. Armut, Sittlichkeit und Geschlechtskrankheiten wurden zu einem zunehmenden Problem. Insbesondere die neu aufkommende Sexualwissenschaft gegen Ende des 19. Jhs. setzte sich mit Fragen über die moralische und nationale Degeneration in den Städten auseinander. Die Sexualität wurde zu einer immer öffentlicher werdenden Thematik. Die Prostituierte erfuhr infolge dieser sexuellen Aufklärung eine weitere Deklassierung als Todbringerin, nicht nur durch ihre Verführungskraft über Männer, sondern auch als Trägerin von Geschlechtskrankheiten, wodurch eine Analogie zwischen Tod und Sexualität hergestellt wurde. Die Prostituierte als Symbol nicht nur für Unsittlichkeit, sondern auch für Degeneration und Korruption in Form der käuflichen Liebe, wurde als ein Produkt der städtischen Kultur betrachtet, die nur dazu befähigt ist, kranke Sexualität, wie Laster und Perversion, zu erzeugen. Die Stadt, wie die Prostitution sind Quellen der Verunreinigung.
Parallel zur Problematik der Prostitution fand in den 1850er die Frauenbewegung36 ihren Anfang, in welcher die Prostituierte eine zentrale Stellung einnahm. Diese Bewegung verlangte nach einer sexuellen Gleichstellung von Mann und Frau, worauf eine intensivierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Wesen der Weiblichkeit in der Medizin, der Sexual- und Kulturwissenschaft und der Psychologie einsetzte. Die wissenschaftlichen Erörterungen37 endeten Ende des 19. Jhs. letztendlich in einer„Hysterisierung des Weiblichen und Dämonisierung der Sinnlichkeit“38, deren Thesen auf die Reduktion der Frau auf ihr sexuelles Wesen hinausliefen, in der die sogenannte Dirnennatur physiologisch und psychologisch angelegt sei. Vor allem das Werk von Otto Weininger erlangte eine weite Verbreitung. Indem die Frau ihrer Individualität beraubt und auf die Funktionen ihrer Sexualität – nämlich Erotik und Fortpflanzung - reduziert wurde, versuchte man der emanzipierten Frau ihre Forderungen streitig zu machen, indem man sie bezichtigte, hauptsächlich eine Emanzipation der sexuellen Freiheit anzustreben39. Wie die Prostituierte war die Frau schon seit jeher ein Opfer männlicher Projektion, der sich nun sowohl die emanzipierte Frau durch ihre Forderungen der Gleichstellung als auch die Prostituierte durch die Professionalisierung ihrer Sexualität allmählich zu entziehen schienen. Darin gründet letztendlich auch die als Bedrohung empfundene weibliche Sexualität und die daraus resultierende Angst vor der Frau, welche sich in zahlreichen misogynen Schriften40 äusserte. Doch gerade in diesem Versuch der Erfassung des weiblichen Wesens blieb die Frau / Prostituierte Opfer männlicher Projektion.
Das Motiv des Geschlechterkampfes fand auch Eingang in Kunst und Literatur. Obwohl die Prostituierte dort41 für kurze Zeit eine oberflächliche Verherrlichung erfuhr, wurde auch dort die vorherrschende Ansicht über das sexuelle Wesen der Frau aufrechterhalten. Dies zeigt sich sehr gut am Beispiel von Frank Wedekind‘s erfolgreichem Theaterstück „Die Büchse der Pandora“ (1901), in welchem der Autor die heuchlerische Bürgermoral entlarven will und für eine freie Sexualmoral plädiert. Doch gerade an diesem Beispiel zeigt sich, wie nahe diese sogenannte sexuelle Freiheit im Zusammenhang mit deren Bestrafung steht:
„(Lulu) dies at the hands of a notorious killer of prostitutes. What is remarkable about Lulu, beyond her irresistible allure, is the degree to which she becomes endowed with a subversive power that threatens not only the integrity of the masculine subject but also the stability of the entire social order (...) her disruptive reign of transgressive sexuality destabilizes the social order (...) Wedekind may have believed himself to be liberating eros from bourgeois constraints, but he also established a social rationale for controlling female sexuality by punishing transgressive behavior.“42
Neben der Thematik des Mörders, der durch seine Tat zum Wohltäter der Gesellschaft avanciert, indem er die soziale Ordnung wiederherstellt, wird hier ein weiteres Motiv angedeutet, das für uns im Fall Grosz von grosser Bedeutung sein wird: der Lustmord. In der Verbindung der Bedeutungen von Frau, Tod und Stadt43 stellt sich der Lustmord als eine typische Grossstadterscheinung respektive ein städtisches und vor allem männliches Verbrechen dar, in der sich sowohl die sogenannte Kastrationsangst44, wie auch die Lust und die daraus resultierende Befriedigung am Töten paaren.
Parallel zu diesem wachsenden Interesse an fiktiven Sexualmorden45, liess sich eine steigende Anzahl realer Morde und Sexualmorde an Frauen in den Städten konstatieren46, die für reges Interesse in der Bevölkerung sorgten.
All diese Aspekte - Frauenbewegung, Prostitution, misogyne Schriften, wissenschaftliche und kulturelle Sexualisierung der Frau, Motiv des Lustmordes, inkl. der Verherrlichung der Prostituierten – deuten auf eine Krise des männlichen Subjekts und dessen Selbstbewusstsein hin, dessen Verunsicherung auf verschiedene Art und Weise kompensiert wurde: von der Degradierung der Frau auf ein Sexualobjekt bis hin zur Eliminierung derer bedrohlichen Sexualität durch Lustmord. Es ist ein Machtkampf des Mannes um seine Vorherrschaft in der Gesellschaft – ein Kampf gegen das Andere, verkörpert in der Umwelt, der Natur respektive der Grossstadtwelt und der Frau, das eine Eigendynamik zu entwickeln begann.
Zusammenfassend lässt sich über die Grossstadt sagen, dass sie als Ort der Entfremdung wahrgenommen wurde, als Ort des Naturverlusts, des Identitätsverlusts, des Orientierungsverlusts, der Moderne als Teil der gesellschaftlichen Modernisierung, als Ort der Bewusstwerdung des Menschen, als Ort von Verbrechen und Prostitution, des Todes, der Angst, als Ursprung aller menschlichen Pathologien, der Degeneration, des Widerspruchs, als Ort der Projektion, und letztendlich als die Hölle selbst, wo das Böse vorherrscht – die Grossstadt als eine alte Menschenfresserin – die zugleich faszinierte.
In diesem Abschnitt befasse ich mich mit dem italienischen Futurismus und dem Berliner Grossstadtexpressionismus, die beide einen Einfluss auf Grosz hatten.
Ich beschränke mich hier auf die theoretischen Konzepte des italienischen Futurismus, ohne näher auf das Bildmaterial einzugehen.
Der Futurismus47 gehört zu den ersten Kunstrichtungen, die für sich die Grossstadt entdeckt haben. Ihren Anfang nimmt sie in Italien, wo ihre Anhänger zwischen 1909 und 1913 diverse Manifeste48 veröffentlichten. Es handelt sich hierbei um ein Konzept, das ursprünglich für die Dichtung gedacht war, sich aber bald auf die Malerei ausgebreitet hat. Maler wie Carrà, Boccioni (Abb.149 ), Severini und Balla gehörten zu den wichtigsten Vertretern dieser „Malerei der Zukunft“. Ihr zentrales Anliegen bestand in der Zerstörung der alten Moral, die sie in der zerstörerischen Gewalt der modernen Technik verwirklicht sahen. Ihr Streben nach einer totalen Veränderung der Welt und der Gesellschaft, die sich nach der neuen, technisierten Zeit richten sollte, setzte eine Veränderung des Menschen und dessen Bewusstsein voraus. Den Bruch mit der alten Moral sahen sie in der technisierten Grossstadtwelt vollzogen, in der der Mensch mit der Maschine eine homogene Verbindung eingehen sollte. In diesem Konzept rückte die Verherrlichung der Technik den Menschen, der sich den neuen Verhältnissen anzupassen hatte, in den Hintergrund. In ihren Manifesten feierten sie neben der Technik die Dynamik der Grossstädte und die darin freigesetzten Energien, die sie in die Malerei umsetzen wollten. Sie entwickelten eine neue Bildstruktur, um die energetischen Zustände in der Stadt erfassen zu können, indem sie den Versuch machten, Zeit und Bewegung mittels gleichnishafter Darstellung in die zweidimensionale, raumorientierte Bildwelt einzuführen. Dies erforderte eine neue Art des Sehens, die sich nicht mehr mit der traditionellen Perspektive deckte. Angeregt durch den Kubismus, vollzog sich ein Bruch mit der überlieferten Perspektive, die durch die sogenannte Simultaneität als einem neuen maltheoretischen Begriff ersetzt wurde: d.h. die Gleichzeitigkeit aller Bewegungsabläufe und zeitlicher Ereignisse trat an die Stelle der Darstellung eines einheitlichen Zustandes in der Bildfläche. Indem sie das moderne Leben erfassen wollten, bedienten sie sich der Motive dieser Lebenswelt – der Stadt: Strassen, Häuser, Verkehrsmittel, Menschenmassen, aber auch akustische Elemente wie Lärm, wurden mittels Zersplitterung, Verdoppelung und Reihung des Gegenstandes in dynamische Kraftlinien und –felder verwandelt. Bewegung im Bild wurde durch die rhythmische Darstellung statischer Gegenstände erfasst, in der sowohl vermeintlich lebende wie tote Dinge in eine dynamische Beziehung zueinander gesetzt wurden. Es entstand eine bewegte Perspektive, in der sich Fern- und Nahsicht gegenseitig durchkreuzten und einander abwechselten. Letztendlich sollte die Bewegung durch das Auge erzeugt werden, das durch die Zersplitterung des Raumes und der Raumperspektive keinen Halt mehr finden kann und so gezwungen ist, von einem Punkt zum nächsten zu springen. Die Wiedererkennung sollte erschwert werden. Der feste Standpunkt wurde aufgehoben und der Betrachter mitten ins Bild gesetzt, mit einbezogen in das dynamische Geschehen der Grossstadtwelt. Die Bildkomposition wurde z.T. bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, erzeugt durch die erfasste Geschwindigkeit im Bild. Aber nicht nur die Formen, sondern auch die Farben und die Lichtwerte dienten zur Erzeugung von Bewegung mittels Vibration und Reflexion. Die naturalistische Wiedergabe von Farbe und Licht wurde dadurch ebenso aufgegeben wie die Darstellung eines illusionistischen Bildraumes. Diese Dynamik ging sogar soweit, dass sich Aussen wie Innen gegenseitig durchdrangen, d.h. die Strasse drang in die Wohnung ein50 – das Fenster ist hier von zentraler Bedeutung in Bezug auf seine traditionelle Funktion als Grenzlinie zwischen Innen und Aussen. D.h. es gibt kein Zurückziehen mehr. Die Stadt hat eine Eigendynamik entwickelt, derer sich der Mensch nicht mehr bemächtigen kann. Ein weiteres Stilmerkmal ist die Durchsichtigkeit, die durch die Darstellung von „Unsichtbarem“ (wie Bewegungsabläufe) notwendig wurde. Ein Nacheinander und ein sich gegenseitiges Durchdringen wie die Überschneidung von Gegenständen ist die Folge davon.
Ihre Glorifizierung der Technik führte letztendlich zur Verherrlichung des Krieges, den sie als einen Akt der Hygiene begriffen. Der Krieg sollte das Alte zerstören, um darauf Neues erschaffen zu können.
Das wahre Zentrum der Grossstadtmalerei hingegen bildete Berlin, Sammelpunkt der europäischen Avantgarde, im Zeitraum zwischen 1910 bis in die 20er Jahre hinein. Während sich bis ins 19. Jh. die Veduten ähnliche Stadtdarstellung51 als repräsentatives Stadtbild ohne kritischen Inhalt behauptete, veränderte sich mit der Entstehung der Grossstadt im Zusammenhang mit der Industrialisierung sowohl die Funktion, als auch die Thematik der Stadtansicht. Auch der Status Berlins als führende deutsche Kunstmetropole führte zu einem wachsenden Interesse an der Darstellung dieser Grossstadt. Zwischen 1900 und 1910 widmeten sich hauptsächlich die Naturalisten und Impressionisten, deutlich beeinflusst von Frankreich, noch relativ kritiklos diesem Thema. 1911 entwickelte sich (u.a.) mit Ludwig Meidner eine neue Sicht der Grossstadt, die sich sowohl in der Thematik, wie auch in der malerischen Technik deutlich von der früheren Sichtweise unterschied. Es begann eine kritische Auseinandersetzung mit der Grossstadt, in der der Mensch ins Zentrum des Geschehens gerückt wurde. Grob geschätzt lässt sich die expressionistische Grossstadtmalerei in zwei Phasen einteilen: eine erste Phase von 1910-1915, der Meidner und Ernst Ludwig Kirchner zuzuordnen wären, und eine zweite Phase von 1915-1920, in welche George Grosz einzureihen wäre – auch betitelt als zweite Generation der Expressionisten52. Diese Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg war eine sehr bewegte Zeit. Die Künstler, die praktisch allesamt aus der Provinz stammend nach Berlin kamen, sahen sich mit einer Vielfalt kultureller Bewegungen konfrontiert, von denen sie sich inspirieren liessen. 1910 gründete Herwarth Walden die Wochenzeitschrift „Der Sturm“ und 1911 brachte Franz Pfemfert seine Kunstzeitschrift „Die Aktion“ auf den Markt. Beide Zeitschriften, die in gegenseitiger Konkurrenz zueinander standen, boten den jungen, noch unbekannten Künstlern der Avantgarde zum ersten Mal die Möglichkeit, ihre Arbeiten zu veröffentlichen. Seit Anfang 1912 führte Walden zusätzlich eine Kunstgalerie, die ebenfalls „Der Sturm“ genannt wurde, in der allmonatlich wechselnde Ausstellungen stattfanden. Die ganze Bandbreite der europäischen Vorkriegsavantgarde wurden hier aus- und vorgestellt: im März eröffneten die Blauen Reiter zusammen mit Kokoschka die Ausstellungsräume der Galerie, im April wurden die Futuristen erstmals in Deutschland gezeigt, im August konnte man die Fauves sehen, im September den Belgier James Ensor und im November 1912 die junge Gruppe „Die Pathetiker“, „die sich am ausdrücklichsten zur Grossstadt als künstlerischem Sujet bekannte“53. Richard Janthur, Jakob Steinhardt und Ludwig Meidner schlossen sich zu dieser Gruppe zusammen, wobei Meidner in der Herausarbeitung einer expressionistischen Grossstadtmalerei eine zentrale Rolle zukommt. 1914 veröffentlichte er, deutlich von den Futuristen beeinflusst, eine „Anleitung zum Malen von Grossstadtbildern“, in der er die Maler dazu aufforderte, das Nächstliegende zu malen: die Grossstadtwelt mit all ihren Facetten und Eindrücken. Des weiteren war es sein Verdienst, in Berlin eine neue Art des kulturellen Austausches gegründet zu haben, indem er allwöchentlich sein Atelier zur Verfügung stellte, wo sich die künstlerische Avantgarde der Literatur und der Bildenden Künste treffen und sich austauschen konnte. Diese fruchtbaren Begegnungen, an denen auch Grosz seit 1915 teilnahm54, führten zu einer gegenseitigen Beeinflussung der Malerei und der expressionistischen Lyrik, die sich ebenfalls mit der Grossstadt auseinanderzusetzen begann. Auf der Grundlage dieser gegenseitigen Beeinflussung der verschiedenen Kunstgattungen und –richtungen avancierte Berlin respektive das Phänomen Grossstadt zum zentralen Motiv der Malerei und Literatur in Berlin. Daraus resultiert letztendlich auch der synthetische Charakter des Grossstadtexpressionismus, der sich verschiedener Stile bediente, um seinen Ideen Ausdruck zu verleihen. Es entwickelte sich ein kubistisch55 -analytisch-futuristischer-Grossstadt-Expressionismus, der sich jedoch in seiner künstlerischen Aussage grundsätzlich von denen der genannten Kunstrichtungen unterscheidet.
Insbesondere der ursprünglich in den Provinzen entstandene Expressionismus56, dessen Motivwelt in der Natur als Zufluchtsort vor der zivilisierten Welt angesiedelt ist, steht in einem absoluten Gegensatz zum Grossstadtexpressionismus. In der Grossstadt verliert diese Kunstrichtung ihre ursprüngliche Unschuld, indem sie sich mit der Grossstadthektik mit all ihren Merkmalen verbindet57. Die Brechung tritt als wesentliches Kriterium in Erscheinung: die Brechung der Linie, der Maltechnik, der Perspektive, des Bildaufbaus. Allen Kunstrichtungen gemeinsam bleibt der Bruch mit der traditionellen Naturnachahmung, die im Zusammenhang mit dem Bruch mit der Vätergeneration, der alten Moral des Bürgertums steht. In der Abkehr von der Mimesis treffen sich der (Natur-) Expressionismus und der Grossstadtexpressionismus auf der Ebene der Emotionalisierung der objektiven Wirklichkeit, die sich in der Entwicklung einer sogenannten Seelenlandschaft äussert, die auf der subjektiv erfahrenen und wahrgenommenen Wirklichkeit gründet. Die Landschafts- respektive Stadtdarstellung wird hier in eine Darstellung der inneren Befindlichkeit des Künstlers umfunktioniert, mittels Verzerrung der äusseren Realität; der Bezug zur visuellen Wirklichkeit wird zweitrangig; die Empfindungswelt des Künstlers tritt an deren Stelle. Genau aus diesem Grund sind die Grossstadtdarstellungen jener Zeit für die Forschung58 so wichtig, die sich mit der Analyse dieser neuen, im vorigen Kapitel beschriebenen Realitätserfahrung auseinandersetzen. Die Kunstwerke gelten in diesem Sinn als „Diagnostika des Generations- und Epochenbewusstseins“59. Sie geben Auskunft darüber, wie die künstlerische Intelligenz auf ihr neues Umfeld reagierte und dieses wahrgenommen hat. Im Gegensatz zu den Futuristen begegneten die Berliner Grossstadtexpressionisten der zunehmenden Technisierung der Grossstadtwelt mit Angst und Beunruhigung, die sich aber zugleich mit einer ambivalenten Faszination paarten60.
Die expressionistische Grossstadtkunst lässt sich folglich auf die in den vorangehenden Kapiteln dargestellte kulturelle Auseinandersetzung mit der neuen Grossstadtwirklichkeit zurückführen61. Sie reagierte auf die neue Herausforderung der modernen Zivilisation mit einem intensivierten Subjektivismus und einer Abkehr von der traditionellen Naturnachahmung – beides Ausdruck für den wachsenden Sinnverlust im Zusammenhang mit der Modernisierung der grossstädtischen Gesellschaft, den sie damit zu kompensieren suchte. Es handelt sich hierbei um eine existentielle Reaktion, in der die Künstler versuchten, mittels einer neuen Darstellungsform ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit herzustellen. Dieses Verhältnis basiert auf der Ambivalenz zwischen Faszination und Schrecken, zwischen Verherrlichung und Verdammung, die sehr nahe beieinander liegen. Nicht zufällig hat sich der urbane Expressionismus auf die Darstellung der Grossstadtnächte konzentriert – die nächtliche Stadt als Ort der Suche nach dem eigenen Ich. Als Ort, wo diese Ambivalenz offen „zu Tage“ tritt, als Ort einer veränderten Wahrnehmung, als Ort des gesellschaftlichen Widerspruchs.
Ich möchte hier auf zwei schon genannte Künstler kurz eingehen, um diese theoretischen Konzepte kurz anschaulich machen zu können: Ludwig Meidner (Abb.2+3) und Jakob Steinhardt (Abb.4). Die Farbe spielt bei allen Expressionisten eine wichtige Rolle. Sie gewinnt an Eigenwert und ersetzt das Beleuchtungslicht, das jetzt durch eine intensive Farbigkeit ausgedrückt wird. Analog zum anders gearteten Farb- und Lichtverhältnis in der Grossstadtnacht, sprich zur künstlichen Helligkeit der Nacht, wird der Gebrauch von Farbe in den Bildern zunehmend artifizieller. Sie beschreibt nicht mehr die natürlichen Verhältnisse optischer Wirklichkeit, sondern wird selber Ausdruck eines emotionalen Wertes. D.h. die subjektive Gefühlshaltung äussert sich unter anderem in der emotional übersteigerten Farbigkeit: Farbkontraste, als Ausdruck von Disharmonie, die visuelle und psychische Spannungen erzeugen soll; Einfarbigkeit als provozierendes Stilmittel; irreale Farbigkeit, die zu einer Entmaterialisierung des Gegenstandes führt; kräftige Farben auch als Ausdruck einer unnatürlichen Vitalität oder eines gesteigerten Lebensgefühls in den Grossstädten. Sie entwickelten eine ganz eigene Farbmetaphorik, um ihren Ideen respektive Stimmungen weiteren Ausdruck zu verleihen. Die Farbe wird selber zu einem Faktor der Irrealität. Auch die Linie oder Kontur gewinnt durch den Expressionismus, im Gegensatz zum Impressionismus, wo sie vollends aufgehoben wurde, wieder an Bedeutung. Analog zur Farbe hat auch die Linie weniger die Funktion der Beschreibung, vielmehr soll sie die innere Gefühlswelt und die äussere Hektik zum Ausdruck bringen. Auch sie gewinnt infolgedessen an Eigenwert. Vor allem als Ausdruck des hektischen Grossstadtlebens sollen die geraden, krummen und spitzwinkligen Linien die chaotische Gefühlserregung des Künstlers in seiner Reaktion auf dasselbe wiedergeben. Es findet eine Dynamisierung der Linie statt. Die Linie selber ist ihrem Wesen nach schon ein Faktor der Irrealität. In diesem Zusammenhang sei noch auf die dominierende Rolle der Diagonalen hinzuweisen, die als scharf abgesetzte Linie im urbanen Expressionismus zu einem bedeutenden Stilmittel wird. Auch die Form als Mittel zum Zweck wird so verformt und aufgesplittert, dass sie zu einer Deformation des Gegenstandes führt. Es lässt sich also feststellen, dass Farbe, Form und Linie als emotionale Komponenten des Bildes fungieren, die sich nicht mehr der objektiven Wirklichkeit unterordnen lassen. Als letztes und wichtigstes Stilmittel sei hier noch auf die Perspektive hingewiesen, die in der Entstehung des expressionistischen Grossstadtbildes einen Bruch erfahren hat. Sie wird nicht mehr in ihrer ursprünglichen Gesetzlichkeit als raumstrukturierendes Bildelement benutzt, sondern sie dient nunmehr dazu, das Gegenteil, die dissonante Raumverzerrung, darzustellen. Insbesondere Meidner plädiert in seiner Anleitung für eine simultane Perspektive, die deutlich unter dem Einfluss der Futuristen steht. Dadurch zerfällt der Raum in eine Vielschichtigkeit von verschiedenen Perspektiven und Ereignissen. Die durch die fehlende Tiefenperspektive resultierende Flächigkeit evoziert auch eine räumliche Enge. Des weiteren wurden alle vier Bildränder angeschnitten, um dem Bild den Charakter eines Ausschnitts, auch einer Momentaufnahme zu verleihen, in deren Zentrum der Betrachter gesetzt wurde. Dieser Charakter des Ausschnitts verlangte nach einer Allgemeingültigkeit der Grossstadtsituation, die als „pars pro toto“ Geltung finden sollte. Dafür sprechen Titel wie „Die Stadt“ von Steinhardt, die fehlende Beschreibung einer topographischen Situation, sowie der häufig erhöht angesetzte Blickpunkt, mit seiner panorama- artigen Sicht auf die Stadt. In der Verbindung mit futuristischen Merkmalen von Tempo, Dynamik und Simultaneität entwickelten diese beiden Künstler verschiedene Typen von expressionistischen Grossstadtbildern. „Die Stadt“ (Abb.462 ) von Steinhardt 63 bringt ein Novum in die Bildgeschichte der Grossstadtnacht. Dieses besteht in der Umsetzung des futuristischen Prinzips der Simultaneität in eine gleichzeitige Darstellung von Innen und Aussen. Indem er das hektische nächtliche Treiben auf den Strassen der Grossstadtnacht, eingeengt zwischen schwankenden Häuserfassaden, mit dem Einblick in die Privatsphären städtischer Interieurs verbindet, entsteht eine weitere bildimmanente Spannung. Sie äussert sich in der Konfrontation einer getriebenen gesichtslosen Menschenmenge auf der Strasse mit der Isolation des einzelnen Grossstadtbewohners in seinen eigenen vier Wänden. Beide scheinen eingeengt in den grossstädtischen Lebensraum – sei es durch die enge Behausung oder durch die engen Strassenschluchten – und trotzdem von ihren Mitmenschen distanziert, ihrer Einsamkeit und Isolation ausgesetzt.64 Die Dynamik des Grossstadtlebens zeigt sich auch hier im hektischen Strassenverkehr und in den kantigen, instabilen Häuserfronten – ein weiteres Indiz für die menschenfeindliche und trostlose Lebensweise in der Grossstadt. 65 Meidner 66 (Abb.2+3), auf den ich schon hingewiesen habe, entwickelte, als sein Markenzeichen unter den Grossstadtmalern, apokalyptische Grossstadtvisionen. Er legt seinen Schwerpunkt auf die Darstellung der Grossstadt selber, in der die Menschen zu anonymen Statisten verkommen. Er visualisiert seine apokalyptischen Visionen in Darstellungen durch äussere Kräfte zerstörter Städte. Aus seiner „Anleitung zum Malen von Grossstadtbildern“ lässt sich erkennen, wie Meidner diese Welt erfährt:
„Sind nicht unsere Grossstadtlandschaften alle Schlachten von Mathematik! Was für Dreiecke, Vierecke, Vielecke und Kreise stürmen auf den Strassen auf uns ein. Lineale sausen nach allen Seiten. Viel Spitzes sticht uns.“67 (und weiter) „Eine Strasse besteht nicht aus Tonwerten, sondern ist ein Bombardement von zischenden Fensterreihen, sausenden Lichtkegeln zwischen Fuhrwerken aller Art und tausend hüpfenden Kugeln, Menschenfetzen, Reklameschildern und dröhnenden, gestaltlosen Farbmassen.“68
Inspiriert durch die Futuristen, setzt er deren Prinzip von Dynamik in seinen Bildern um, indem er seine Häuser durch Verdoppelung und Verwischung der Objekte zum Schwanken bringt und dieselben in geometrische Formen zerfallen lässt. Die aggressive Hektik der Grossstadtwelt avanciert hier zum künstlerischen Thema, das mittels neuer Darstellungsformen die veränderte Wahrnehmung zum Ausdruck bringen soll.
All die oben genannten Stilelemente dienten den Künstlern als Mittel zur Deformierung der Bildstruktur, die auf eine Psychologisierung und Emotionalisierung des Bildraumes zielte, als Ausdruck des Chaos der Grossstadtwelt, sowie des Chaos der eigenen Seele. In dieser absichtlichen Verfremdung der Wirklichkeit wollten die Künstler nicht nur Tabus und Konventionen verletzen, sondern den Betrachter respektive den Bürger schockieren. Für den Betrachter bedeutete der Schock eine ihm zuwider laufende Erfahrung. Er kann sie nicht kontrollieren und fühlt sich entsprechend gedemütigt. Wichtigstes Stilmittel des Schockeffekts ist die Groteske, die sich hier in der Verzerrung von Raum und Körper, sowie in der Simultanschachtelung des Raumgefüges als Darstellungsmittel alles Widernatürlichen in der Stadt äussert. Das Verhältnis zur äusseren Umwelt sprich zur „Natur“ äussert sich in dieser neuen Kunst in ihrer Vergewaltigung69 - analog zur vom Menschen gebauten Grossstadt, die ebenfalls als zerstörerischer Eingriff in die Natur zu deuten wäre. Darin drückt sich letztendlich die Kritik am Zivilisationsprozess und dementsprechend die Kritik an der bürgerlichen Moral und Gesellschaft aus, die die Expressionisten dem Untergang geweiht sahen. Meidners Apokalypsen spiegeln am deutlichsten diese Untergangsstimmung der expressionistischen Künstler vor dem 1.WK, die geprägt waren durch eine pessimistische und nihilistische Lebenserfahrung. Die Grossstadtdarstellung versteht sich als Gleichnis des drohenden Zusammenbruchs der Gesellschaftsordnung70. Gerade um diesem drohenden Zivilisationszerfall entgegenzuwirken, der auf eine Selbstvernichtung der Menschheit zuzusteuern schien, versuchten die „Pathetiker“ den bürgerlichen Wertvorstellungen einen brüderlichen Humanismus entgegenzustellen, mit dem sie die Menschheit retten wollten. Genau in diesem brüderlichen Humanismus sieht Brockhaus71 einen unauflösbaren Widerspruch zum individualistischen Selbstverständnis des expressionistischen Künstlers, das sich in dem schon erwähnten gesteigerten Subjektivismus äusserte. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, wie sehr diese Grossstadtkunst von inneren und äusseren Widersprüchen durchzogen ist. Selber im Widerspruch zur gesellschaftlichen Entwicklung entstanden, die selbst einen Widerspruch in sich darstellt, entwickelte sie den Widerspruch zu einem Stilmittel72. Selbst die Untergangsvorstellungen gründen auf einem Widerspruch:
„Die Phantasien vom Untergang grosser Städte sind immer ein Zeichen dafür, dass es einer Gesellschaft nicht gelungen ist, das Verhältnis zu ihren gewaltigen technischen Mitteln zu beherrschen."73
Es ist eine Kunst des Widerspruchs in einer widersprüchlichen Zeit in einem widersprüchlichen Umfeld. Daraus lässt sich auch die ambivalente Haltung zur Grossstadt in Form von Angst und Faszination erklären, die eine verdeckte Lust am Untergang impliziert, folglich eine Todessehnsucht beinhaltet. Auf dieser Todessehnsucht schliesslich gründet die Sehnsucht nach der Zerstörung der zerstörenden Stadt, die letztlich zu einer Sehnsucht nach dem Krieg74 führte, dem sich die meisten expressionistischen Künstlern angeschlossen haben. Gerade dieser kommende Weltkrieg aber brachte den Bruch mit dem Expressionismus, dem die Grundlage durch diesen Krieg entzogen wurde:
„Der Expressionismus wird zu einer leeren Formel, denn seine Radikalität vollzog sich in der Verneinung der empirischen Wirklichkeit zugunsten persönlicher Bekenntnisse, die ihre Wirkung nach der Kriegsernüchterung verloren haben.“75
D.h. der von ihnen beanspruchte Subjektivismus ist mit dem Beginn der Moderne seit dem 1.WK nicht mehr kompatibel, weil eben dieser Subjektivismus, basierend auf dem seit dem 18. Jh. existierenden „Geniegedanken“76, nun als überholt und konservativ keine Geltung mehr finden kann.
„Innovative in terms of it’s stylistic and formal qualities, Expressionism remained conservative in it’s ideals in large part because of an overriding concern with the individual and the individual’s subjective, emotional or „spiritual“ existence. This concern with the molding of an individual’s emotional state by means of art, a concern giving birth to Freud’s practice of psychiatry at the same time as Expressionism appeared in the arts, was essentially a resurrection of German Romantic desires, and in it’s urban images and solutions Expressionism likewise remained tied to the 19th century’s disgust with it’s own metropolitan creations“77
So kommen auch die in Meixner/Vietta78 vorgestellten Forscher darin überein, dass letztlich das Erbe des Expressionismus in der kritischen Darstellung sozialer und psychischer Deformationsprozesse liegt, und nicht im überkommenen „Oh-Mensch-Pathos“ der Pathetiker.
In diesem Kapitel möchte ich mich weniger mit politischen als mit sozialpsychologischen und kulturellen Folgen des Ersten Weltkrieges auseinandersetzen. Wie schon erwähnt, wurde der schon lange vorbereitete Krieg von einer breiten Bevölkerungsmasse herbeigesehnt. Vom Krieg erhoffte sie sich eine reinigende Auswirkung, die die wahre Kraft des Volkes zu Tage bringen und sie von ihrem Unbehagen gegenüber allem Materiellen, gegenüber der Zivilisation und der Technik befreien sollte79. Dass der 1.WK sich zu einer derartigen Katastrophe grausamsten Ausmasses entwickeln sollte, war praktisch von niemandem vorhersehbar. Die Entwicklung hin zu einem totalen Krieg, in dem die zivile Bevölkerung ebenfalls mit einbezogen wurde, beinhaltete nicht nur eine blosse Überraschung, sondern hatte schockierenden Charakter, wodurch die Grundlagen der gesamten Gesellschaft erschüttert und grundsätzlich in Frage gestellt wurden. Die Ursache lag letztendlich in der Diskrepanz zwischen Vorstellung und Ausführung des Krieges, d.h. der Krieg basierte auf bürgerlichen Idealen und Werten des 19. Jhs.80, wurde aber mit den technischen Mitteln des 20. Jhs. ausgefochten81. Es war kein Krieg mehr zwischen den Völkern der Nationen, sondern ein Krieg zwischen Mensch und Maschine - ein technischer Krieg, dessen Führung sich hauptsächlich auf Materialschlachten beschränkte. 60 Mio.
Soldaten wurden insgesamt mobilisiert, was sowohl einen sozialen Zusammenhalt, als auch einen tiefen Respekt und ein starkes Pflichtbewusstsein gegenüber dem Staat voraussetzt – insbesondere im deutschen Volk, das einer militärdiktatorischen Erziehung unterzogen wurde. Von diesen 60 Mio. starben zwischen 9 und 13 Mio. Menschen im Krieg, wobei allein in der Schlacht bei Verdun 1 Mio. Menschen ihr Leben lassen mussten für einen sinnlosen und absurden Krieg. Gerade an der Westfront zeigte sich diese Absurdität in ihrem vollen Umfang. Es kam zu einem Stellungskrieg, einem Materialkrieg, in dem nur noch in Schützengräben82 gekämpft wurde und der die Landschaft selbst zu einem feindlichen Raum verkommen liess.83 Eine bipolare gespaltene Sicht auf die Welt84 zwischen den Fronten war die Folge dieser Kriegführung. In diesem Krieg starb der Mann absurde Tode: von Detonationen zerfetzt, von menschlichen abgerissenen Gliedern erschlagen, im Schlamm der Schützengräben ertrunken. Es war ein Krieg der Massen, ein Krieg der Grausamkeit, in der sich die Westfront zu einer „Blutmühle“ verwandelte, die eine Eigendynamik entwickelte, und die Millionen Menschen das Leben kostete. Die Erfahrung des 1.WKs löste sowohl eine moralische Krise aus, in der die Zivilisation ihrer Glaubwürdigkeit beraubt wurde, als auch eine Krise des männlichen Subjekts, das sich mit seiner eigenen körperlichen und seelischen Verwundbarkeit und Verletzlichkeit konfrontiert sah. Gerade dieser Materialkrieg brachte eine neue, bisher unbekannte „Kriegsverletzung“ mit sich: die Nerven- und Geisteserkrankung von Soldaten85, die unvorstellbare Dimensionen annahm. Wahrscheinlich lässt sich gerade durch diese fehlende Erfahrung mit diesem neuen Phänomen die Einschätzung solcher nervenkranker Soldaten als Simulanten durch Lazarettärzte erklären, weshalb laut Hirschfeld86 die Folter im 1.WK wiedereingeführt wurde, um die Soldaten dazu zu zwingen, wieder in den Krieg zu ziehen. Hirschfeld führt weiter aus, dass der menschenfeindliche Soldatendrill87 das militärische Heer zu einer willen- und wesenlosen Materie umfunktionierte, indem jegliche menschliche Regungen abgetötet wurden, damit der einzelne Soldat im Dienste des Vaterlandes nur noch rein mechanisch funktionierte. Der Soldat wurde jedoch nicht in eine Maschine sondern in ein urtümliches Tier verwandelt, indem der Drill die Urtriebe des Menschen hervorzurufen wusste, die seines Erachtens sexueller Natur sind. Gerade an diesem Drill lässt sich ablesen, wie sehr die Entindividualisierung der Massengesellschaft im Militär einen Höhepunkt erreichte. Dieser Soldatendrill führte letztlich zu einer Verrohung und Verwilderung im Krieg. Der Krieg löste eine wahre Massenpsychose aus. Der 1.WK erst leitete das neue moderne Zeitalter ein.
„Fussell sah im Grossen Krieg den Anlass für eine klare Wende in unserer Ästhetik und damit einhergehend in unseren Lebensanschauungen. Der Grosse Krieg wurde zu einem Paradigma unseres mörderischen und absurden Jahrhunderts. (...) das Jahr 1914 (leitete) eine neue Ära der Brutalität und Zerstörung (ein...), ein Zeitalter (...) gesteigerter Gewalttätigkeit.“88
Eine weitere Folge des Kriegserlebnisses an der Front war die Entfremdung der Soldaten von der zivilen Bevölkerung an der Heimatfront. Diese brachte ihnen Verständnislosigkeit und bald schon Desinteresse am Krieg entgegen. Ursache dafür war unter anderem eine tiefe Sehnsucht nach Frieden, die auf der immer prekärer werdenden Lebensmittelfrage89 gründete, die im sogenannten „Kohlrübenwinter“ 1916/17 kulminierte, in dem insbesondere die Berliner Bevölkerung zu verhungern drohte90. Die Sterblichkeitsrate stieg im Jahr 1916 um 14% und erreichte eine Höchstzahl von mehr als 30% im Sommer 1917. Diese sich verschlimmernde Situation hatte immer mehr Ausschreitungen zur Folge, in die sich Krawalle, Tumulte, Plünderungen und Raubzüge mischten. Im Januarstreik der Berliner Arbeiterschaft von 1918 wandelten sich diese in wahre Strassenschlachten um, die auf der Kippe zu einem drohenden Bürgerkrieg standen. Diese Ausschreitungen jeglicher Art in Berlin deuten darauf hin, dass die Bevölkerung mit wachsendem Unmut gegenüber der Staatspolitik auf eigene Mittel zurückgriff: den Mitteln der gewalttätigen Selbsthilfe. Neben diesen Krawallen war, nach Berliner Polizeiberichten zu schliessen, eine ansteigende Kriminalität und die Verwahrlosung der Sitten der jungen Bevölkerung Berlins zu beklagen, die sich einem wachsenden nächtlichen Vergnügungsleben hingab.91 Die Ursache für diesen Zustand der Verwilderung sah man vor allem im Krieg verankert.92 Die wachsende Anzahl von Prostituierten lässt sich ebenfalls auf die wirtschaftliche Not zurückführen, in der viele Frauen dazu gezwungen waren, weiteres Geld durch die Prostitution zu verdienen. Trotzdem wird in einem Polizeibericht davor gewarnt, Berlin und dessen nächtliches Treiben völlig lahmzulegen. Dies könnte nicht nur negative Auswirkungen auf die Bevölkerung haben, sondern auch einen schlechten Eindruck auf das Ausland hinterlassen, das paradoxerweise gerade in diesem nächtlichen Vergnügungsleben ein Zeichen für deutsche Stärke und Vertrauen sah.
Insbesondere Roters93 weist auf das nächtliche Berliner Vergnügungsleben während des 1.WKs hin. So wurde die sofortige Schliessung aller Bühnenbetriebe94 gleich zu Beginn des Krieges bald wieder aufgehoben (Ende 1914). Kabaretts und Varietés wurden 1915 gleich reihenweise neu eröffnet und erfuhren einen riesigen Besucheransturm. Insbesondere in den Nachtcabarets mit ihren gewagten Darbietungen frönte man exzessiven Ausschweifungen. 1916 brach ein wahrer Zerstreuungstaumel aus, in der die Lust zu einer Sucht wurde. Roters sieht darin einen Ausdruck für ein kompensierendes Verhalten, in dem die durch den Krieg um sich greifende Verzweiflung betäubt wurde. Das Phänomen der Strohwitwe, die im nächtlichen Treiben auf Männerjagd geht, tritt in Erscheinung. Sowohl Hirschfeld, als auch zeitgenössische Polizeirapporte berichten davon. Hier muss nochmals näher auf die Stellung der Frau eingegangen werden, die zur Zeit des 1.WKs einen Wandel erlebt. Durch die fehlenden männlichen Arbeitskräfte, die in den Krieg gezogen sind, kam es zu einem wachsenden Einsatz der Frauen in der Industrie, insbesondere in der Rüstungsindustrie. Dadurch verdienten sie Geld und erlangten eine gewisse Unabhängigkeit95. Gerade dieser Umstand, zusammen mit der Angst vor einer drohenden Invasion männlicher Arbeitsstätten durch Frauen, war für viele Männer ein Dorn im Auge. Will man Hirschfeld96 Glauben schenken, förderte gerade die neu erlangte wirtschaftliche Unabhängigkeit und der durch den Krieg erzeugte Frauenüberschuss an der Heimatfront die erotische Freiheit der Frau. Diese erotische Befreiung führte seines Erachtens und auch nach Ansicht der breiten männlichen Bevölkerung zu häufigerem ausserehelichen Verkehr. Gerade diese sogenannte Männerjagd bedeuteten für die patriarchale Norm ein bedrohliches Potential, da sie durch eine sexuelle Umkehr von aktiv und passiv einen Bruch mit der traditionellen Geschlechterbeziehung darstellte97. Hirschfeld zufolge hatte der Krieg eine sittliche Anarchie in der Erotik zur Folge, die sich durch die Abwesenheit der Männer ergab. Fakt ist, dass im Krieg die Geschlechtskrankheiten, insbesondere die Syphilis, grassierten. Dieser Umstand zog eine weit verbreitete Aufklärung über deren Ursachen nach sich, die letztlich zu einer Enttabuisierung der Sexualität im Krieg führte. Die Folge davon war jedoch kein lockererer Umgang mit der Sexualität, sondern eine erhöhte Angst vor der Sexualität. Davon zeugen sowohl Hirschfelds Interpretation, als auch die medizinischen Bücher.
Mit der Aufklärung ging auch eine Säkularisierung des Bösen98 im 18. Jh. einher, die den Untergang des Teufelsglaubens mit sich brachte. Die biblische Topographie von Babel und Sodom und Gomorrha, die pagane Topographie von der Büchse der Pandora, sowie die Hölle im Christentum verloren ihre Existenzberechtigung als Orte des Bösen99. Eine neue Ortsbestimmung des Bösen wurde mit dem Beginn der Moderne erforderlich. Die Philosophie und die Wissenschaften lokalisierten von nun an den Ursprung alles Bösen im Menschen selber: im Körper, in seiner Vernunft und in seiner Seele. Die Gefahr von Aussen wurde in den Menschen hinein projiziert. Als Böse wurden alle menschlichen Charaktereigenschaften definiert, die als anormal galten, d.h. die sich gegen die Norm, die herrschenden Werte und gegen das Gesetz richteten – Aggressivität, Grausamkeit, Zerstörungswut, Hass, also all die niedrigen Instinkte, die der menschlichen Triebhaftigkeit innewohnten. In der moralischen Welt wurden sie als psychische Degeneration gedeutet, die es aus der zivilisierten Gesellschaft zu eliminieren galt. Der Verbrecher als Inbegriff der Gesetzlosigkeit war von nun an die Zielscheibe im Kampf der Ideologien gegen das Böse. Insbesondere in der Literatur wurde die Gestalt des Satans verdrängt und durch eine neue Personifikation des Bösen ersetzt: den Sexualmörder. Im Gegensatz dazu blieb die Vorstellung von der weiblichen Inkarnation des Bösen weiterhin bestehen.
Sie gewann sogar noch an Bedeutung in Form der Femme Fatale und der Domina, die durch Verbindung von Sexualität und Macht die Männer beherrschten. Im Kampf gegen das Verbrechen als Totalität des Bösen wurde die Kriminalistik ins Leben gerufen. Seit dem 19. Jh. sollte die Kriminologie die Bannung des Bösen übernehmen. Ihre Aufgabe bestand darin, den Verbrecher zu erkennen und aufzuspüren. Zusammen mit den Anthropologen erstellten sie eine Reihe äusserer Erscheinungsmerkmale, an Hand derer sie das innere Wesen des Verbrechers festzumachen glaubten. Mimik, Gebärde, Physiognomie und der Körper sollten als Zeichen gelesen und entziffert werden, um den Verbrecher erkennen und überführen zu können. So wurde der degenerierte Charakter des Verbrechers mittels Stigmata festgelegt: eine schräge Stirn, grosse Nase, vorspringender Kiefer, kleine Augen, dunkle Visage etc. sollten für dessen Bösartigkeit zeugen100. Als Ort des Verbrechens galt insbesondere die nächtliche Grossstadt. Der Verbrecher wurde nicht nur als ein städtisches Produkt angesehen, sondern auch dessen psychische Anomalien wurden als städtische Degeneration abgetan, wie die Stadt überhaupt als Geburtsstätte von Geisteskrankheiten eingestuft wurde.101 Mord, Selbstmord und Wahnsinn wurden als psychische Störungen definiert, die auf jeden Fall häufiger in der Stadt anzutreffen waren. Das wachsende Interesse an der menschlichen Psyche seit Ende des 19.
Jhs. löste eine psychologische Erforschung des Verbrechers, der Masse, der Geisteskranken etc. aus. In diesem Zusammenhang wurde seit Anfang des 20. Jhs. das Wesen des Menschen immer mehr in Frage gestellt. Mit dem 1.WK wurde die Illusion von einer zivilisierten Menschheit dann vollständig zerstört. Er demaskierte den Menschen als noch hässlicher und schamloser und zeigte den wahren Charakter der menschlichen Zivilisation. Plötzlich stellte nicht mehr nur der Verbrecher eine Anomalie menschlichen Verhaltens dar, sondern die gesamte „zivilisierte Menschheit“ verwandelte sich in eine Mörderbande. Durch die vom Staat legitimierte Gewalttätigkeit und den angeordneten Massenmord regredierte der Mensch zu einem „animalischen“ Triebwesen, in dem die Grausamkeit zum Vorschein trat. Der Mensch hat im 1.WK nicht nur versagt, sondern auch noch furchtbare Eigenschaften offenbart. Freud kommt in seinem Essay „Zeitgemässes über Krieg und Tod“102 von 1915 zum Schluss, dass es keine Ausrottung des Bösen geben kann, da es gar kein Böses gibt. Denn wie der WK gezeigt hat, besteht der Mensch hauptsächlich aus Triebregungen, die von der Gesellschaft je nach Norm als gut oder böse klassifiziert und entsprechend von der Kultur unterdrückt werden, aber wie im Fall des 1.WKs wieder zum Vorschein kommen können. Dies steht vor allem in einem Zusammenhang mit dem Phänomen der Masse, die sowohl von der Grossstadt als auch vom Krieg erzeugt wird. Denn gerade in der Masse, die eine Eigendynamik entwickelt, kommt es zu Triebdurchbrüchen des Einzelnen durch eine Steigerung der Affektivität, einer Verminderung des Denkvermögens und natürlich auch durch die Suggestion der Massenzugehörigkeit.
„Bei allen Verzichten und Einschränkungen, die dem Ich auferlegt werden, ist der periodische Durchbruch der Verbote Regel, wie ja die Institution der Feste zeigt (...) Der Krieg wäre demnach ein grausames Äquivalent (zum Karneval), das heisst ein Triebdurchbruch in sanktionierter Form.“103
Der 1.WK brachte die menschliche Grausamkeit in grossem Umfang zum Vorschein, die Freud zumindest bis 1919 in den Kontext von Sexualität, männlicher Aggressivität und Perversion stellte104. Hirschfeld, der die männliche Vaterlandsliebe als unbändige Mordlust deklassiert, geht noch einen Schritt weiter, indem er Rückwirkungen des Krieges auf das Sexualleben konstatiert, die sich in einer Verbindung von Sexualität und Grausamkeit äussert. Verrohung der Seele und Verwilderung der Sitten sind die nachhaltigen Folgen dieses Krieges. Der Respekt gegenüber menschlichem Leben wurde und wird aufs Minimum reduziert, sowie der Mensch als Mensch überhaupt im technischen Zeitalter reduziert wird. Die Menschheit verwandelt sich in eine Rotte von Mördern – eine Umkehrung der Normen hat im Krieg als menschliche Extrem- und Ausnahmesituation stattgefunden. Es ist eine verkehrte Welt, in der die Gewalt an der Tagesordnung steht.
Mein Anliegen ist es vor allem festzuhalten, dass starke Parallelen zwischen den sittlichen Auswirkungen der Grossstadt und des Krieges bestehen: Parallelen zwischen kriminalitätsfördernder Wirkung der Stadt und staatlich legitimiertem Verbrechen im Krieg, zwischen Verwilderung von Sitten in der Stadt und im Krieg, zwischen Anonymität in der Stadt und der Reduktion des Menschen auf eine Nummer im Krieg, zwischen psychischer Degeneration in der Stadt und im Krieg. Die Stadt und der Krieg basieren beide auf den Werten des Bürgertums. So verwundert es mich nicht, dass sich die von Hirschfeld beschriebenen Folgen des Krieges anhören wie Simmels Beschreibung des Grossstadtlebens:
„Die Fieberstimmung in den vom Kriege betroffenen Völkern erhöht die Reizbarkeit, sie steigert die Nervenempfindlichkeit bis zur Psychose und zerstört die Hemmungen, sie macht empfänglicher für alle von aussen zuströmenden Eindrücke; sie erzeugt eine sexuelle Hypersensibilität (...) Es ist die Ungewissheit der Zukunft, die Aufhebung der Lebenssicherheit, die Fragwürdigkeit aller Dinge und der Schatten des Todes, der alles verdüstert, diese panikartige Angst vor dem drohenden Unbekannten, was jene Seelenstimmung erzeugt (...) Jener verzweifelten ‚Après nous le deluge‘ – Stimmung entsprang ein gebieterisches Genussverlangen, als ob die bedrohten Lebenskräfte des Individuums sich in seiner Sinnlichkeit konzentriert hätten und stürmisch nach Befriedigung drängten.“105
Dieser Weltkrieg hat die Künstler der damaligen Zeit stark beeinflusst. Er wurde vor allem für die jüngere Generation, zu der auch Grosz gehörte, zum zentralen Erlebnis. Eine starke Kriegsverbitterung machte sich breit in Form von Enttäuschung, Wut, Hass, Aggressivität, Ironie, Zynismus, Bissigkeit, Trauer, Hohn, Spott und Verzweiflung, die Eingang in die Kunst fand. Es fand ein Bruch mit den alten Wertmassstäben statt, die nach dem Einsetzen des 1.WKs ihre Existenzberechtigung verloren. Als Folge einer ungeheuren moralischen Krise, die durch den Krieg ausgelöst wurde, erfolgte eine kritische Auseinandersetzung mit der Zeit in Form von künstlerischen Dokumenten des Schocks. Mit zunehmend realistischen Stilmitteln entstanden Werke der Angst, der Trauer und der Apokalypse106.
Die Dekonstruktion und Fragmentierung der Wirklichkeit, die bereits vor dem 1.WK durch die Grossstadtwirklichkeit vorbereitet und vom Krieg vollendet wurde, waren die daraus resultierenden Neuerungen in der Kunst des 20. Jhs.
„Es ist eine Kultur, nicht zwei, doch sie wird gequält von einer binären Vision, einer gespaltenen Persönlichkeit, von zwei oder noch mehr Seelen in ihrer Brust (...) Diese gespaltene oder sogar vielfach geteilte Persönlichkeit des Modernismus, der sowohl Phantasie als auch Realismus betont, ist in allen grösseren Richtungen der Kunst dieses Jahrhunderts erkennbar, vom Kubismus über den Futurismus bis zum Post-Modernismus. Diese Zersplitterung ist eingefangen in den Collagen (...).“107
Insbesondere in der Grossstadtmalerei fand ein Wandel respektive ein Bruch statt, was ich im folgenden am Werk von George Grosz darlegen möchte. Die Grossstadt, die nach dem 1.WK als noch bedrohlicher empfunden wurde, und die selber eine Demontage der Wirklichkeitserfahrung darstellte.
Gerade in diese verworrene und grauenvolle Zeit des Ersten Weltkrieges fällt auch der Werkkomplex des jungen und als Künstler noch nicht etablierten George Grosz, mit dem ich mich auseinandersetzen möchte. Dieser Werkkomplex bildet in seiner Eigenart einen in sich geschlossenen Bereich innerhalb seines Lebenswerks108, der sich sowohl in seinem Inhalt, seiner Aussage, in seinem Stil und in der eigentlichen Grundbefindlichkeit des Künstlers innerhalb seiner Zeit von den darauffolgenden Schaffensphasen unterscheidet. Diese Schaffensperiode ist geprägt von einer äussersten Produktivität, was sowohl die Quantität als auch die unglaubliche Vielfalt seiner künstlerischen Produktion anbelangt. Intensiv, ja geradezu exzessiv hat sich der Künstler in seine Arbeit gestürzt, die ihm als eine Art „Ventil“109 diente, um seine angestauten Emotionen auszudrücken. Die Vielfalt seiner künstlerischen Arbeit äussert sich insbesondere in seiner Experimentierfreudigkeit im Umgang mit anderen Kunstgattungen und Genres. So umfasst sein Werk zahlreiche Zeichnungen, Radierungen, Lithographien, Aquarelle110, Reproduktionen von Zeichnungen und Aquarellen in Graphikmappen111, Buchillustrationen und Titelzeichnungen im Zusammenhang mit der aktiven gestalterischen Mitarbeit an der Zeitschrift „Neue Jugend“112 und Ölmalerei, die den Schwerpunkt meiner Auseinandersetzung mit Grosz bilden wird. Neben diesen öffentlichen Arbeiten füllte er unzählige Skizzenbücher113 mit Eindrücken von seiner Umwelt. Auch die Auseinandersetzung mit dem neuen Medium Film114 und die Arbeit als Bühnenbildner, die erst in den 1920ern einsetzte, darf nicht vergessen werden. Neben dieser bildnerischen Arbeit bewährte sich Grosz auch als exzellenter Rhetoriker, der die Begabung besass, seine Gedanken und Gefühle in treffende Worte zu fassen. Er war ein systematischer Briefeschreiber, was ihm als eine Art Tagebuchersatz diente115. Er verfasste satirische Texte für die Zeitschrift „Neue Jugend“, schrieb und veröffentlichte im Malik-Verlag116 Gedichte im expressionistischen Stil, die er öffentlich vortrug. Er schloss sich der Bewegung des Berliner Dadaismus117 an und nahm aktiv an deren provokativen und schockierenden Auftritten teil. An diesem Punkt zeigt sich Grosz‘ Hang und Freude am Schauspielern. Die Rolle des öffentlich provozierenden Künstlerakteurs, die er schon seit 1912 inszenierte, ist ein wichtiger Aspekt in seinem Selbstverständnis als Kunstschaffender und als individualistische Persönlichkeit. Er war ein hervorragender Unterhaltungskünstler. Neben dem öffentlichen Raum als Bühne für provokative Auftritte, diente ihm auch sein Atelier als Plattform, um seinen Gästen seine Schauspielkunst vorzuführen. Sein Atelier als seine private innerste Welt118 schmückte er als eine Art „Jahrmarktsbude“ aus, tapezierte es mit Kitsch, Ramsch, und Partikeln aus der ihn umgebenden Welt. Er stilisierte es zu einer Art Schaubuden-Museum zu seinem künstlerischen und künstlichen Lebensbereich, abseits und zugleich mittendrin im pulsierenden Leben der Grossstadt Berlin. Hier sind wir an einem Punkt angelangt, an dem sich die öffentliche und private Rolle des Künstlers überschneiden. Ich gehe hier deshalb gleich zu seinen für mich bedeutenden persönlichen Lebensdaten über.
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1 HEUSINGER VON WALDEGG, Joachim: George Grosz „Leichenbegängnis. Widmung an Oskar Panizza“. Gesellschaftskritische Allegorie als Selbstprojektion, in: Pantheon, Jg. XLIV, München 1986, pp. 111-125.
2 KNUST, Herbert (Hg.): George Grosz. Briefe 1913-1959, Reinbek b. Hamburg 1979.
3 Siehe Bibliographie.
4 GROSZ, George: Ein kleines Ja und ein grosses Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt, Hamburg 1974. Wurde 1946 erstmals in englischer Sprache veröffentlicht, unter dem Titel: „A little Yes and a big No“. Dt. Fassung folgte erst 1955.
5 Reise in die Geschichte. Schauplätze der Vergangenheit. Berlin, Kartographischer Verlag Busche, Dortmund 1991.
6 MEIXNER / VIETTA (Hg.): Expressionismus - sozialer Wandel und künstlerische Erfahrung, München 1982, p. 53.
7 Reise in die Geschichte, Dortmund 1991.
8 SCHLÖR, Joachim: Nachts in der grossen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, München 1991, pp. 68-69.
9 ROTERS, Eberhard (Hg.): Berlin 1910-1933. Die visuellen Künste, Fribourg 1983.
10 Folgende Ausführungen stützen sich hauptsächlich auf MEIXNER/VIETTA, 1982, SMUDA, Manfred (Hg): Die Grossstadt als “Text”, München 1992, STROHMEYER, Klaus: Zur Ästhetik der Krise. Die Konstitution des bürgerlichen Subjekts in der Aufklärung und seine Krise im Expressionismus. Frankfurt a.M. 1984.
11 Zeitliche: durch die mobilisierte Fortbewegung; räumliche: durch die Fortbewegung über die U-Bahn, die kein einheitliches Erfahren der Stadt mehr erlaubte.
12 Durch die Stadtstruktur, die die Sicht in die Tiefe verstellt.
13 Norbert Bolz: Theologie der Grossstadt, in: SMUDA, 1992, pp. 86-87.
14 Ilja Srubar: Zur Formierung des soziologischen Blickes, in: SMUDA, 1992, pp. 46-47.
15 Dies. p. 50.
16 Folgende Ausführungen dienen vor allem dem Verständnis von Grosz und seinem künstlerischen Konzept des Dandyismus, das er sich angeeignet hat.
17 Hier sei neben Baudelaire auf Poe, Wilde, Strindberg hinzuweisen, die sich in ihren Schriften damit auseinandersetzten, sich selber aber auch damit identifizierten.
18 SCHICKEDANZ, Hans-Joachim: Ästhetische Rebellion und rebellische Ästheten. Eine kulturgeschichtliche Studie über den europäischen Dandyismus, Bd. 66, Frankfurt a.M. 2000, p. 15.
19 Diese beiden Grossstadttypen kommen sich überhaupt sehr nahe.
20 Ders. p. 23.
21 Ders. p. 109.
22 Unter Bohèmien versteht man einen unbürgerlichen Künstler, bzw. einen Mensch ohne Bindung an das bürgerliche Leben.
23 WUTHENOW, Ralph-Rainer: Muse, Maske, Meduse. Europäischer Ästhetizismus, Frankfurt a.M 1978, p. 185.
24 SCHICKEDANZ, 2000, p. 134.
25 SCHLÖR, Joachim: Nachts in der grossen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, München 1991.
26 SCHLÖR weist auf die Hochkonjunktur zahlreicher Stadtführer für das Berliner Nachtleben in diesen Jahren hin: p. 248.
27 STROHMEYER, 1984, pp. 153-154.
28 Ders.
29 Wobei hier zu unterscheiden ist zwischen Stadt- resp. Vergnügungszentrum und der Stadtperipherie, deren Beleuchtung sich nur allmählich und langsam durchsetzte.
30 Stephanie Rosenthal: Grossstadtnächte grell geschminkt, in: Ausstellungskatalog: Die Nacht, München 1998, p. 136.
31 Ders. p. 116.
32 Auch der Stadtbrand als Strafe Gottes gehört hier in den Bereich der Stadtkritik.
33 Ders. p. 141.
34 Siehe: WEIGEL, Sigrid: „Die Städte sind weiblich und nur dem Sieger hold“. Zur Funktion des Weiblichen in Gründungsmythen und Städtedarstellungen, in: ANSELM, Sigrun / BECK, Barbara (Hg): Triumph und Scheitern in der Metropole. Zur Rolle der Weiblichkeit in der Geschichte Berlins, Berlin 1987, pp. 207-227.
35 LEWIS, Beth Irwin: Lustmord: Inside the Windows of the Metropolis, in: HAXTHAUSEN, Charles W. / SUHR, Heidrun
(Hg): Berlin. Culture and Metropolis, Minneapolis 1990, p. 119: Berlin 1897: 3000 von der Polizei registrierte Prostituierte, aber geschätzt wurden ca. 40-50'000 Unregistrierte; um 1900 Schätzung zw. 100 und 200'000; 1914 bis zu 330'000.
36 Siehe: TÄUBER, Rita E.: Der hässliche Eros. Darstellung zur Prostitution in der Malerei und Grafik 1855-1930, Berlin 1997, p. 68.
37 „Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte“ von Cesare Lombroso (dt. Fassung 1887-90) und „Geschlecht und Charakter“ von Otto Weininger (1903).
38 TÄUBER, 1997, p. 69.
39 So wurden neben dem Sozialismus auch der Feminismus für den wachsenden Geburtenrückgang und die wachsende Anzahl Abtreibungen als Zeichen der Degeneration der Gesellschaft verantwortlich gemacht. In: LEWIS, 1990, p. 120.
40 Zu nennen wären hier u.a. Nietzsche, Schopenhauer, Strindberg.
41 Insbesondere im Naturalismus, TÄUBER, 1997 p. 61: sie nennt es „Vulgäridealismus der Naturalisten“. Aber auch in der expressionist. Literatur, wo sie als Stellvertreterin des Expressionismus zum Prototyp des Weiblichen avancierte.
42 TATAR, Maria: Lustmord. Sexual Murder in Weimar Germany, Princeton/New Jersey 1995, p. 11.
43 Siehe SCHLÖR, 1991, p. 138: er zitiert hier W. Benjamin, der im Motiv des Lustmordes eine modernisierte Wiederaufnahme der Jack the Ripper- Geschichte in Kunst, Literatur, Film u.a. erkennt.
44 THEWELEIT, Klaus: Männerphantasien, Bd. 1 und 2, Diss. Freiburg i.Br. 1978, p. 242.
45 Diese äusserten sich in zahlreichen Formen, von der höheren Literatur bis hin zu billigen Schauerromanen, der sog. Kolportage.
46 Siehe: LEWIS, 1990, p. 119: sie führt hier Zahlen von Berlin auf, die praktisch auf eine Verdoppelung (von 191-365) solcher Sexualmorde von 1900-1914 deuten.
47 Der Futurismus war eine kurzlebige Erscheinung, die, neben gewissen Anregungen auf andere moderne Kunstrichtungen, die ital. Grenzen nicht überschritten hat.
48 EBERLE, Matthias: Der Weltkrieg und die Künstler der Weimarer Republik. Dix, Grosz, Beckmann, Schlemmer, Stuttgart 1989, p. 13. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Futurismus siehe: EIMERT, Dorothea: Der Einfluss des Futurismus auf die deutsche Malerei, Diss. Köln 1974.
49 P.-K. Schuster (Hg): George Grosz, Berlin-N ew York, Nationalgalerie Berlin 1994, p. 42: Andres Lepik meint hier, dass Grosz Bildkompositionen wie diese in seinen Arbeiten wie „Widmung an Oskar Panizza“ deutlich verarbeitet hätte – diese Betonung auf ‚deutlich‘ scheint mir ein bisschen übertrieben.
50 Nach einem Gemälde Boccionis: „Die Strasse dringt ins Haus“.
51 Rolf Bothe (Hg): Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17.Jh. bis zur Gegenwart, Berlin Museum 1987.
52 Stephanie Barron (Hg): Expressionismus. Die zweite Generation 1915-1925, München 1988. Dominik Bartmann, in: Bothe, Stadtbilder, 1987, p. 243, unterteilt die erste Phase 1910-15 in drei weitere Phasen: 1) 1910-1913, ‚topographische Situation‘; 2)1912-1913, aggressivere Kompositionen mit futurist. Einflüssen; 3) ab 1913, ‚apokalyptische Bildvisionen‘.
53 Eberhard Roters (Hg): Ich und die Stadt. Mensch und Grossstadt in der deutschen Kunst des 20. Jhs., Berlinische Galerie Martin-Gropius-Bau 1987, p. 26.
54 Dazu gibt es eine bekannte Anekdote, auf die ich später nochmals zurückkommen möchte.
55 Der kubistische Einfluss bleibt hingegen eher oberflächlich, weshalb ich mich nicht näher damit auseinandersetzen möchte.
56 Gemeint ist hier der Brücke Expressionismus in Dresden.
57 ROTERS, 1983, p. 64. Kirchner, selber ein früheres Mitglieder des Brücke-Expressionsimus, stellt zwischen 1910 und 1914 ein Musterbeispiel für diese Entwicklung dar.
58 MEIXNER/VIETTA, 1982, p. 8.
59 Roters: Ich und die Stadt, 1987, p. 36.
60 EBERLE, 1989, p. 16, erklärt sich diese unterschiedliche Haltung zur Grossstadt durch die noch nicht so weit fortgeschrittene Industrialisierung Italiens im Vergleich zu Deutschland. Während also die Technik in Italien noch nicht so weit um sich gegriffen hat wie in Deutschland, bot sie hier noch Anlass zu deren Verherrlichung, im Gegensatz zu Deutschland, wo sie schon als wesensfremd empfunden wurde. Roters: Ich und die Stadt, 1987, pp. 35-36, erklärt sich die ambivalente Haltung in Berlin durch deren Mangel an grossstädtischer Erfahrung als jüngste Metropole Europas.
61 Ich werde mich deshalb zurückhalten, mich hier nochmals zu wiederholen.
62 Grosz‘ Gemälde: „Die Strasse“ 1915 (Abb.5) bezieht sich direkt auf dieses Bild, worauf ich später zurückkommen werde.
63 Die Nacht, 1998, p. 534; EIMERT, 1974, pp. 131-132; Dominik Bartmann, in: Stadtbilder, 1987, p. 256.
64 Dieser voyeurhafte Blick ins intime Leben des Grossstadtmenschen kann auch auf ein Fehlen jeglicher Privatsphäre in der Stadt hindeuten, wo die Wände so dünn sind, dass man auch hier keine Ruhe vor der hektischen Aussenwelt mehr finden kann – als Ausdruck der gesteigerten und noch viel schlimmer empfundenen Isolierung inmitten einer kollektiven Einsamkeit.
65 Hier sei noch darauf hinzuweisen, dass James Ensor (Abb.6) als einer der Ersten auf die Entindividualisierung des Grossstadtmenschen hindeutete, indem er ihnen Masken aufsetzte. In: Roters, Ich und die Stadt, 1987, p. 27.
66 Die Nacht, 1998, pp. 138-141; LEISTNER, Gerhard: Idee und Wirklichkeit. Gehalt und Bedeutung des urbanen Expressionismus in Deutschland, dargestellt am Werk Ludwig Meidners, Frankfurt 1986; EIMERT, 1974, pp. 125-131.
67 Meidner: Anleitung zum Malen von Grossstadtbildern, in: Roters: Ich und die Stadt, 1987, p. 104.
68 Ders. in: EIMERT, 1974, p. 129.
69 STROHMEYER, 1984, p. 194.
70 In diesem Zusammenhang sei hier nochmals auf das Motiv der Hure Babylon hingewiesen, das v.a. als Zeichen einer Endzeit verstanden wurde.
71 Christoph Brockhaus: Die ambivalente Faszination der Grossstadterfahrung in der deutschen Kunst des Expressionismus, in: MEIXNER/VIETTA, 1982, p. 90.
72 ROTERS, 1983, p. 10: hier geht er eingehend auf die Thematik des Widerspruchs ein, die seines Erachtens letztendlich zur Montage in den 20er Jahren führt.
73 Norbert Bolz, in: SMUDA, 1992, p. 81.
74 STROHMEYER, 1984, pp. 265-266.
75 LEISTNER, 1986, p. 54.
76 Siehe LEISTNER, 1986, p. 41.
77 HELLER, Reinhold: „The City is Dark“: Conceptions of Urban Landscape and Life in Expressionist Painting and
Architecture, in: BAUER PICKAR, Gertrud / WEBB, Karl Eugene (Hg): Expressionism Reconsidered. Relationships and Affinities, München 1979, pp. 52-53.
78 MEIXNER/VIETTA, 1982, p. 14.
79 EBERLE, 1989, p. 12.
80 Insbesondere der Mittelklasse, deren Ziel es war, etwas erreichen zu können.
81 Rainer Rother (Hg): Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges, Deutsches Historisches Museum Berlin 1994, p. 16. Folgende Ausführungen über den 1.WK: pp. 13-21, 25-34.
82 Der Stellungskrieg ergab sich durch die Erstarrung der Front im November 1914, in dem die militär. Mächte gezwungen waren, in Schützengräben Zuflucht zu suchen. Dieser Stellungskrieg dauerte bis zum März 1918 an.
83 Man denke auch im übertragenen Sinn, an all die Mio. Militärgräber!
84 Rother (Hg), 1994, p. 25.
85 ROTERS (Hg): Der Traum von einer neuen Welt. Berlin 1910-1933. Internationale Tage Ingelheim, Mainz 1989, p. 60. 86 HIRSCHFELD/ GASPAR (Hg): Sittengeschichte des ersten Weltkrieges, Hanau 1929, p. 360. Trotz oder gerade wegen seiner sexistischen Ansichten über die Frau, ist dies ein sehr aufschlussreiches Werk, das einen Überblick über die Gesellschaft, deren Ansichten und deren Kriegserfahrung zur Zeit des 1.WKs bietet.
87 HIRSCHFELD, 1929, pp. 427-448 (‚Drill und Manneszucht‘). „Die Bestialität des Krieges beginnt in der Kaserne, beim Drill. Der Soldatendrill ist keineswegs eine immer dagewesene, natürliche Erziehungsmethode zum Massenmorden; er ist ein historisches Produkt.“(p. 427).
88 Rother (Hg), 1994, p. 15; Paul Fussell: The Great War and Modern Memory, 1975.
89 Folgende Ausführungen basieren auf SCHOLZ, Robert: Ein unruhiges Jahrzehnt: Lebensmittelunruhen, Massenstreiks und Arbeitslosenkrawalle in Berlin 1914-1923, in: GAILUS, Manfred (Hg): Pöbelexzesse und Volkstumulte in Berlin. Zur Sozialgeschichte der Strasse (1830-1980), Berlin 1984, pp. 79-123.
90 Ursache waren ein strenger Winter und eine vorangehende Missernte.
91 Kaiser Wilhelm II. sah sich dazu aufgefordert in einem Schreiben vom 16.Juli 1916 an den Berliner Polizeipräsidenten gegen dieses schamlose Treiben und die lockeren Sitten der Berliner Bevölkerung zu intervenieren, die seines Erachtens nicht dem Ernst der Zeit angemessen waren. Dessen Antwort darauf, dass v.a. die ‚Feldgrauen‘ die Schuld an diesem nächtlichen Treiben mit trugen, war vielleicht auch der Grund dafür, dass sich der Kaiser nicht mehr weiter dazu äusserte. In: SCHOLZ, 1984, pp. 88, 90.
92 Durch eine fehlende Aufsicht sowohl vom Vater an der Front als auch von der Mutter, die jetzt dazu gezwungen war, sich
und ihren Kindern das Brot zu verdienen und letztlich auch in der Verherrlichung des Krieges durch die Medien, die zu Tatenzwang anregte.
93 ROTERS, 1989, pp. 88-90.
94 Auch die schon erwähnte grelle Stadtbeleuchtung nahm mit dem 1.WK ein jähes Ende.
95 1918 sprach man den Frauen das Stimmrecht zu - notgedrungen durch diesen Umstand ihres wachsenden Arbeitseinsatzes.
96 HIRSCHFELD, 1929, pp. 39-40.
97 Während des 1.WKs erschienen sogar mehrere medizinische Bücher über das sog. Problem sexhungriger Frauen, die eine grosse Popularität erlangten: Hans Menzel: „The Rape of Men by Women“, Dr.E.H.Kisch: „The Sexual Infidelity of Woman“ (1917) – diese Titel sprechen für sich! In: LEWIS, 1990, p. 122. HIRSCHFELD, 1929, pp. 53-54 bezichtigt sogar die Frauen einer sexuell aggressiven „Kriegsnymphomanie“, unter welcher er den weiblichen Patriotismus versteht.
98 KAPFERER, Norbert: Die Pathologisierung des Bösen. Über die problematische Umsetzung eines moralisch- theologischen Begriffs in den Sozialwissenschaften, in: SCHULLER (Hg): Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen, Berlin 1993, pp. 95-115.
99 RAHDEN, Wolfert von: Orte des Bösen. Aufstieg und Fall des dämonologischen Dispositivs, in: SCHULLER (Hg): Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen, Berlin 1993, pp. 26-54.
100 LEWIS, 1990, p. 127.
101 Darauf gründet letztlich auch die alt bekannte Dichotomie zwischen dem kranken verruchten Stadtleben und dem gesunden unschuldigen Leben auf dem Lande.
102 KAPFERER, 1993, p. 104.
103 HIRSCHFELD, 1929, p. 60.
104 REEMTSMA, Jan Philipp: Versuche, die menschliche Grausamkeit psychoanalytisch zu verstehen, in: ders.: u.a. Falun. Reden & Aufsätze, Edition Tiamat, Berlin, pp. 237-263. Grausamkeit und Sexualtrieb, in engem Zusammenhang zueinander, gründen beide auf einem Selbsterhaltungstrieb. Angst und Hass spielen dabei eine wichtige Rolle, das Ich zu erhalten, indem das Ich auf eine befürchtete Zerstörung des Selbst von einem äusseren Aggressor mit Angst und Hass reagiert und den Angsterreger zuerst eliminiert, sprich zum Aggressor selber wird, um nicht selbst Opfer zu werden.
105 HIRSCHFELD, 1929, p. 311.
106 MAASS, Max Peter: Das Apokalyptische in der modernen Kunst, München 1965.
107 Rother (Hg), 1994, p. 19.
108 Der Ausstellungskatalog „ George Grosz, Berlin-N ew York“, Nationalgalerie Berlin 1994, bietet einen umfangreichen Überblick über sein gesamtes Oeuvre. Folgende Angaben entnehme ich davon.
109 In: GROSZ, George: Ein kleines Ja und ein grosses Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt, Hamburg 1974, p. 113.
110 Die Aquarelle möchte ich hier ganz weglassen.
111 Die Mehrzahl der bis ca. 1918 publizierten Blätter kann als Umdrucklithographie gelten, bei der die Gefahr der nahezu vollständigen Zerstörung der Zeichnung besteht, in: George Grosz. Das druckgraphische Werk, San Francisco 1996, Alexander Dückers (Hg).
112 Im Frühjahr 1916 vom Schriftsteller Wieland Herzfelde und dessen Bruder, dem Graphiker John Heartfield übernommen, die bald darauf die Gründung des Malik Verlag nach sich zog. Zusammen mit Grosz als Zeichner und Texter bildeten sie ein Dreigespann, das bis Ende 1920er zusammenarbeitete. In diesem Malik Verlag veröffentliche Grosz auch seine Graphik- Mappen. Siehe Grosz: Berlin-NY 1994, pp. 242-255.
113 Auf die Skizzenbücher werde ich später nochmals zurückkommen.
114 Grosz hat sich vier Mal mit diesem Medium auseinandergesetzt. Das erste Mal 1917/18, als ihn John Heartfield, seit 1917 Filmausstatter im Atelier Grünbaum, zum Film brachte. Siehe Grosz: Berlin-NY 1994, pp. 211-218.
115 Systematisch insofern, als dass er sein Leben lang Briefe schrieb und jeweils ein Duplikat davon sorgfältig aufbewahrte. Viele seiner Briefe sind veröffentlicht worden in: KNUST, Herbert (Hg.): George Grosz. Briefe 1913-1959, Reinbek b. Hamburg 1979. In einem Brief an Otto Schmalhausen (sein Freund und Schwager) datiert den 29.4.1918 schreibt er: „ich führe kein Tagebuch; erscheint mir ein Erlebnis aufzeichnungswürdig, schreib ich’s meinen Kumpanen!“ p. 66.
116 Siehe Fussnote 112.
117 Diese von Zürich herrührende Bewegung nahm in Berlin bereits im Frühjahr 1917 ihren Anfang mit Richard Hülsenbeck, mündete in einem dadaistischen Manifest 1918 und kulminierte in der „Erste Internationale Dada-Messe“ in Berlin 1920, in der Grosz ebenfalls ausstellte. Nach dieser Messe löste sich diese Bewegung wieder auf. Durch den 1.WK war der Dadaismus in Berlin von vornherein politisch gefärbt. Es war eine Art Anti-Kulturpropaganda gegen das Bürgertum und v.a.
118 Siehe GROSZ, 1974, pp. 288-290.
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