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Diplomarbeit, 2009
107 Seiten, Note: 1,0
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Krankheit AIDS
2.1 Historischer Rückblick
2.2 Medizinische Grundlagen
2.3 Epidemiologie
3. Medikamentencompliance in der HIV- und AIDS-Therapie
3.1 Die antiretrovirale Therapie (ART) − Erfolg versus Folgen
3.2 Verständnisse von Compliance und Adhärenz
4. Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Medikamentencompliance bei HIV- und AIDS-Patienten
4.1 Messung und Erfassung der Compliance
4.2 Aktuelle Studienergebnisse
4.3 Compliance aus Sicht der Patienten und der Ärzte
4.4 Einflussfaktoren auf die Medikamentencompliance
4.5 Zusammenfassung und Diskussion
5. Maßnahmen zur Förderung der Medikamentencompliance im Krankenhaus
6. Leitlinie zur Förderung der Compliance im Krankenhaus
6.1 Theoretischer Bezugsrahmen
6.2 Die Patientenschulung auf der Station
6.3 Die Therapiesprechstunde
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildung 1: Eindringen in die Wirtszelle, Vermehrung und Ausbreitung von Viren
Abbildung 2: Zusammenhang zwischen erreichter Compliance und Virussuppression
Abbildung 3: Einflussfaktoren der Compliance nach Kategorien
Abbildung 4: Kommunikationsquadrat mit vier Schnäbeln und Ohren
Tabelle 1: Direkte und indirekte Messmethoden der Compliance
Tabelle 2: Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der Schulung für die antiretrovirale Therapie
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Kaum eine andere Erkrankung hat in so schneller Zeit eine derart rasante Entwicklung in der medizinischen und pharmazeutischen Forschung erlebt wie die Infektionskrankheit AIDS. Seit ihrer Entdeckung Mitte der 80er Jahre hat sie sich heute von einer akuten Krankheit zu einer chronischen Erkrankung mit progredientem Krankheitsverlauf entwickelt. Auslöser dafür war die Entwicklung bestimmter Arzneimittel, die in den Vermehrungszyklus der HI-Viren eingreifen und damit die weitere Ausbreitung der Infektion stark verlangsamen. Mittlerweile sind die namhaften antiretroviralen Medikamente aus der HIV- und AIDS- Behandlung nicht mehr wegzudenken. Dank ihres Einsatzes ist die Lebenserwartung der Betroffenen deutlich gestiegen. HIV-Infizierte Patienten1 leben heute durchschnittlich 14 Jahre länger als vor 10 Jahren.2
Obwohl antiretrovirale Therapien (ART) ein großer Erfolg für die Behandlung der Immunschwächekrankheit sind, tritt durch ihren Einsatz ein weiteres großes Problem in den Vordergrund:
Die regelmäßige korrekte und lebenslange Medikamenteneinnahme, die hinsichtlich der Tablettenanzahl und der Notwendigkeit mehrfacher täglicher Einnahmen sehr komplex sein kann.
Insbesondere für HIV und AIDS stellt die sogenannte Medikamentencompliance inzwischen einen als zentral anerkannten Faktor für den langfristigen Therapieerfolg dar. Bereits einzelne fehlende Dosierungen lassen die Wirkstoffkonzentration im Blut soweit absinken, dass das Virus nicht mehr ausreichend „in Schach“ gehalten werden kann und sich weiter ausbreitet. Die Folgen sind eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes und ein schnelleres Voranschreiten zu AIDS.
Generell lässt die Interpretation der Recherchenergebnisse AIDS als Krankheit erscheinen, die allein aufgrund ihrer Charakteristika ungünstige Voraussetzungen für eine dauerhafte Compliance aufweist. Der chronische Verlauf mit den verschiedenen unvorhersehbaren Krankheitsphasen und das Wissen über den tödlichen Ausgang lässt die Betroffenen weniger zu einer Therapiemitarbeit motivieren. Dass die Krankheit weiterhin mit Vorurteilen behaftet ist und HIV-positive auch heute noch oft diskriminiert werden, erschwert die Situation zusätzlich. Viele scheuen sich vor einer öffentlichen Medikamenteneinnahme, weil sie ihre Erkrankung verheimlichen.
Patienten, die unter HIV oder AIDS leiden, haben demnach besonders schwierige Voraussetzungen für eine dauerhafte und erfolgreiche Therapieumsetzung.
Die Autorin dieser Arbeit ist durch die Tätigkeit als Krankenschwester in der stationären HIV- und AIDS-Pflege auf diese Problematik aufmerksam geworden. Viele Patienteneinweisungen mit einem schlechteren Allgemeinzustand sind auf die mangelnde Medikamentencompliance zurückzuführen. HIV-Infizierte berichten, dass sie sich der Folgen einer nachlässigen Einnahme nicht bewusst waren und sie über die Notwendigkeit der exakten Therapieeinhaltung nicht informiert wurden. Laut einiger Patientenaussagen erklären Ärzte, dass die Medikamententherapie bei einer Verbesserung der Laborwerte wahrscheinlich auch mal pausiert werden kann.
Obwohl Ärzten und Pflegekräften das Problem der Medikamenten- compliance bewusst ist, erfolgt die Erklärung der HIV-Therapie und die Information über die Notwendigkeit einer hohen Compliance auf dieser Station immer noch unstrukturiert, eher beiläufig und nach eigenem Ermessen der Ärzte. Die Situation im Krankenhaus scheint zudem wegen ihrer kurativen Ausrichtung und der vorherrschenden bio-medizinischen Sichtweise ein eher ungeeignetes Setting zur Förderung der Compliance von chronisch Kranken darzustellen. Paradoxerweise ist es aber gerade hier von besonderer Relevanz, HIV-infizierte Patienten im Umgang mit den Medikamenten zu schulen und zu unterstützen. Denn
1. findet im Krankenhaus häufig die Einleitung oder Umstellung der medikamentösen HIV-Therapie statt und
2. werden hier viele Patienten versorgt, die durch eine nachlässige Compliance eine Verschlechterung ihres Allgemeinzustandes erleben.
Dies unterstreicht die Notwendigkeit, Programme fürs Krankenhaus zu entwickeln und umzusetzen, die die Medikamentencompliance positiv fördern und beeinflussen.
Aufgrund dieser Forderung ergibt sich folgende Frage, die im Rahmen dieser Arbeit beantwortet werden soll:
- Wie können HIV- und AIDS-Patienten im Krankenhaus verständlich und umfassend über die antiretrovirale Therapie und die Notwendigkeit der hohen Compliance informiert werden?
Die heute kürzere Patientenverweildauer und die knappen zeitlichen Ressourcen des Personals im Krankenhaus lassen vermuten, dass HIVInfizierte tatsächlich unzureichend über den Zusammenhang zwischen hoher Compliance und Therapieerfolg aufgeklärt werden. Die notwendige Wissensvermittlung muss standardisiert werden und zum festen Bestandteil des Stationsablaufs werden. Die Literaturanalysen zeigen des Weiteren, dass es den Patienten an Erkenntnissen fehlt, wie das Medikamentenregime dauerhaft umzusetzen ist und wie es zur Routine werden kann.3 Daraus leitet sich eine weitere Frage für diese Arbeit ab:
- Wie können HIV- und AIDS-Patienten im Krankenhaus unterstützt werden, die antiretrovirale Therapie langfristig in ihren Alltag zu integrieren?
Es ist anzunehmen, dass hierfür vielfältige und länger andauernde Interventionen erforderlich sind. In der Literatur wird die Medikamentencompliance als ein komplexes, variables Verhalten oder Phänomen beschrieben, welches mehreren verschiedenen Einflussfaktoren unterliegt.4 Ziel der Arbeit ist es, aufzuzeigen, wie die Versorgung und Behandlung HIV-Infizierter im Krankenhaus im Hinblick auf eine verbesserte Medikamentencompliance optimiert werden kann. Für eine individuell angepasste Förderung der Patienten sind nicht nur Kenntnisse über die Erkrankung und ihrer Therapie wichtig, sondern auch Kenntnisse über Faktoren, die die Compliance beeinflussen. Vorrausetzungen sind ferner die Fähigkeit, gute Gespräche führen zu können und das Wissen über das Bewältigungshandeln chronisch Erkrankter.
Folglich gliedert sich die Arbeit nach dieser Einleitung in sechs Kapitel. Das zweite Kapitel beschäftigt sich im Anschluss an einen kurzen historischen Rückblick über die Entdeckung von AIDS mit den medizinischen Aspekten der Erkrankung. Thematisiert werden die Pathophysiologie und die Diagnostik, die Übertragungswege von HIV und vor allem der Krankheitsverlauf. Abschließend werden epidemiologische Daten dargelegt. Kapitel drei stellt die antiretrovirale Therapie vor und diskutiert ihre Vor- und Nachteile. Außerdem werden Verständnisse von Compliance und dem oft synonym gebrauchten Begriff Adhärenz beschrieben.
Das vierte Kapitel liefert aktuelle Studienergebnisse zur Thematik. Neben den Methoden zur Erfassung und Messung werden die verschiedenen Sichtweisen von Patienten und Ärzten zur Compliance erläutert. Ein großer Abschnitt widmet sich den Einflussfaktoren der Medikamentencompliance. Die Ergebnisse werden zum Ende des Kapitels zusammengefasst und diskutiert.
Mit den Maßnahmen zur Förderung der Compliance, speziell für die Institution Krankenhaus, beschäftigt sich Kapitel fünf.
Aufbauend und schlussfolgernd aus den vorangegangen Ausführungen umfasst das sechste Kapitel Leitlinien für den stationären Bereich, um die Medikamentencompliance zu fördern. Sie beinhalten die Beschreibung einer standardisierten Patientenschulung und die Themenbereiche für die sich anschließenden Therapiesprechstunden. Das von Schulz von Thun entwickelte Kommunikationsquadrat und das Phasenmodell zum Bewältigungshandeln chronisch Erkrankter von Schaeffer und Moers werden ergänzend als theoretischer Handlungsrahmen hinzugezogen.
Zwischen 1980 und 1981 erkrankten in den USA Patienten mit diffusen und zahlreichen Symptomen, die es in dieser Kombination bislang noch nicht gegeben hatte. Die Betroffenen litten unter Schmerzen, Schweißausbrüchen, Brennen im Mund, in der Speise- und Luftröhre und Hautausschlägen. Hinzu kamen allgemeine grippeähnliche Symptome, wie Fieber, Husten, Müdigkeit und Abgeschlagenheit, Durchfälle und Lymphknoten- schwellungen.5
Im Mai 1981 registrierte das „Center of Disease Control“ (CDC)6 in Los Angeles fünf Fälle, die alle nach fulminanten Krankheitsverläufen zum Tode geführt hatten. Ursächlich dafür waren sogenannte opportunistische Infektionen (vgl. Kapitel 2.2), wie z.B. die Lungenentzündung PCP oder das Kaposi-Sarkom. Bis dato waren diese schweren Krankheiten nur bei stark immungeschwächten Krebspatienten infolge von Chemotherapien aufgetreten. Diese Patienten waren jedoch alle jung und zuvor gesund gewesen. Auffällig schien allerdings, dass die Betroffenen der Gruppe der homosexuellen Männer zugehörig waren.7 Dies erklärt wohl auch noch heute das schwierig auszurottende Vorurteil, dass AIDS die „Krankheit der Schwulen“ sei.
Forscher und Ärzte arbeiteten inzwischen fieberhaft an der Ursache der neuen Erkrankung. Gelang es ihnen doch, einige Patienten zeitweise zu stabilisieren, so geriet der Erfolg durch immer wieder neu auftretende Krankheiten mit komplexen Symptomen ins Wanken. Mittlerweile manifestierte sich die Erkrankung auch bei Heterosexuellen, i.v.- Drogenabhängigen und Blutern. Frühzeitig erkannt wurde damals bereits eine massive Minderung der T4 Helferzellen im Blut und dementsprechend ein drastisch reduzierter Immunstatus. Harmlosen Infektionen folgten tödliche Ausgänge.8
Im Herbst 1982 verkündete das CDC einen Namen für die Neuerkrankung: „acquired immune deficiency syndrome“. Ins Deutsche übersetzt: Syndrom der erworbenen Abwehrschwäche.9
Die Krankheit AIDS war damit als selbständige Krankheit entdeckt. Schlagartig wurde sie zugleich Gegenstand vieler medizinischer Forschungen.
Erwähnenswert sind an dieser Stelle die Arbeitsgruppen von Luc Montagnier und Robert Charles Gallo.10 Anfang der 80er Jahre und damit zum Beginn der Aidsausbreitung, führten sie an einem Pariser Institut Forschungsarbeiten über Retroviren11 durch. 1983 gelang den Forschungsteams etwa zeitgleich die Isolierung des Erregers von Aids. Von Montagnier als „lymphadenopathie-assoziiertes Virus“ (LAV) bezeichnet, nannte Gallo den neuen Virus „humanes T-Zell lymphotropes Virus III“ (HTLV-III). Es folgte ein langer Rechtsstreit, weil beide Forscher die Entdeckung für sich beanspruchten. 1986 erhielt der Krankheitserreger vom „International Committee on Taxonomy of Viruses“ den Namen HIV 1 (humanes Immundefizienzvirus Typ 1). Die Entdeckung wurde schließlich Montagnier zugesprochen, weshalb er auch den Medizin Nobelpreis 2008 gewann.12 1985 wurde HIV-2, eine etwas andere Form des Retrovirus, entdeckt.
Das Auftreten komplexer Krankheitssymptome infolge einer Infektion mit HIV manifestierte sich zunehmend auch in den westeuropäischen Ländern, wobei wieder überwiegend schwule Männer erkrankten. Dies führte auch dazu, dass sich Homosexuelle stärker solidarisierten und erste AIDS-Hilfen in Berlin und München gründeten. Bereits im Jahr 1985 wurde die Deutsche AIDS-Hilfe (D.A.H.) zum Dachverband der inzwischen 30 anderen regionalen Einrichtungen der AIDS -Aufklärung und -Prävention institutionalisiert.13
Zeitgleich wurde auch die erste von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) entwickelte Informationsbroschüre zum Thema AIDS an alle deutschen Haushalte versandt. In Atlanta fand erstmalig eine internationale AIDS-Konferenz statt.
Des Weiteren gilt seit 1985 ein Blutspendetestverfahren. Alle Blutprodukte werden seitdem auf HIV getestet, um eine erregerhaltige Transfusion zu vermeiden. 14
Herrschte inzwischen Klarheit darüber, dass das HI Virus zur Familie der Retroviren gehört und ursächlich für einen folgenschweren Immundefekt ist, so tappten Forscher lange Zeit im Dunklen, wo das Virus seinen Ursprung hatte.
Im Jahre 1999 schließlich kamen Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die Virusträger Schimpansen sind. Die Übertragung erfolgte vermutlich bereits im frühen 20. Jahrhundert in Afrika (Kamerun), bei der Jagd auf wilde Affen. Die Affen hätten sich zuvor bei anderen Affenarten infiziert. Forscher sind sich einig, dass HIV somit zweimal die Artengrenze übersprungen hat. Zunächst vom Affen zum Menschenaffen, dann vom Menschenaffen zum Menschen.15
Dieses Kapitel beschränkt sich auf eine grobe Zusammenfassung der folgenden Bereiche:
- Pathophysiologie und Diagnostik der Infektionskrankheit AIDS,
- Übertragungswege von HIV und
- Verlauf der Krankheit mit der Einteilung gemäß der CDC- Klassifikation von 1993.
Auf eine detaillierte Darstellung der Pathophysiologie von HIV und AIDS wird für diese Arbeit bewusst verzichtet. Der Fokus der Arbeit liegt auf der Förderung der Medikamentencompliance im Krankenhaus und dazu sind medizinische Grundkenntnisse ausreichend. Den Übertragungswegen von HIV wird hier Beachtung geschenkt, weil immer noch - sowohl unter Laien als auch, noch viel dramatischer, unter professionell Tätigen des Gesundheitswesens - Unklarheit bzw. Halbwissen über Infektionsquellen und -wege herrscht. Eine Befragung der BZgA zu AIDS ergab zwar, dass der allgemeine Kenntnisstand zu den Ansteckungswegen insbesondere bei Jugendlichen ein hohes Niveau erreicht hat und dieses auch hält,16 dennoch zeigen eigene Erfahrungen aus dem Krankenhaus, dass die Unsicherheit diesbezüglich bei vielen weiterhin groß ist. Aufgrund dessen bestehen Berührungsängste, die teils sogar Meidung und Ausgrenzung nach sich ziehen. Daher scheint es sinnvoll, die Infektionswege hier erneut darzulegen. Um fördernde Maßnahmen für die Medikamentencompliance zu entwickeln bzw. durchzuführen, ist es des Weiteren wichtig, den Krankheitsverlauf zu kennen. Nicht zuletzt auch deswegen, um mehr Verständnis und Empathie für das Verhalten der Betroffenen aufbringen zu können.
Pathophysiologie und Diagnostik der Infektionskrankheit AIDS
Durch eine Infektion mit dem HI-Virus wird eine bestimmte Form der weißen Blutkörperchen zerstört: die T-Lymphozyten, überwiegend CD4 Helferzellen genannt. Die Erbinformation der Wirtszelle wird nach dem Eindringen des gefährlichen Virus mit Hilfe von Enzymen so umgeschrieben, dass die Helferzelle neue HI-Viren produziert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 veranschaulicht vereinfacht diesen Vorgang.
Abbildung 1: Eindringen in die Wirtszelle, Vermehrung und Ausbreitung von Viren. [Quelle Schäffler; Menche 1999, S. 96]
CD4 Helferzellen sind im Körper für die Bekämpfung von Krankheitserregern zuständig. Durch die Vernichtung der für die Krankheitsabwehr wichtigen Zellen entwickelt sich eine folgenschwere Abwehrschwäche. Die verbliebenen Helferzellen sind langfristig nicht mehr in der Lage, Erreger abzuwehren. Sonst ungefährliche Krankheitserreger verursachen nun infolge des schwachen Immunstatus komplikationsreiche und gefährliche Krankheiten. In solchen Fällen spricht man von opportunistischen Infektionen. Sie charakterisieren die Person als aidskrank. Die meisten HIV-Patienten sterben letztlich an derartigen Infektionen.17 Je niedriger die CD4 Helferanzahl, desto größer also die Gefahr, eine AIDS- definierende Erkrankung zu bekommen. Insbesondere bei Werten von <200 Helferzellen pro µl Blut sind Personen besonders anfällig für Begleitinfektionen.
Zum Nachweis einer HIV-Infektion stehen zwei Labortestverfahren zur Verfügung. Beim ELISA handelt es sich um einen Antikörpersuchtest im Serum. Sind Antikörper nachgewiesen, ist der Betroffene HIV-positiv. Um fälschliche Diagnosestellungen zu vermeiden, sind in den USA und in Deutschland nach einem positiven ELISA Test Bestätigungstests, sogenannte „Westernblots“, durchzuführen.18
Zu beachten ist, dass HIV-Antikörper erst einige Wochen nach einer Ansteckung gebildet werden und somit auch erst dann nachweisbar sind. Man spricht hier vom „diagnostischen Fenster“ oder der „diagnostischen Lücke“. Die Infektion besteht zwar, kann aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt werden. Die Suchtests können Antikörper sechs Wochen nach Neuinfektion zu ca. 80% und ab der zwölften Woche zu fast 100% nachweisen.19
Übertragungswege von HIV
Die Infektion mit HIV erfolgt über stark virushaltige Körperflüssigkeiten. Zu denen zählen insbesondere Sperma, Blut und Vaginalsekret. Die Übertragung von der Mutter auf das Kind während einer Schwangerschaft, unter der Geburt oder durch das Stillen wird als „vertikale Transmission“ bezeichnet. Sie ist heute dank antiretroviraler Transmissionsprophylaxe und geplanter Sectio selten.20 HIV-infizierten Müttern wird vom Stillen abgeraten. Die häufigste Ansteckung erfolgt weltweit über sexuelle Kontakte durch Schleimhautkontakte bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr.21
Zu den Risikogruppen zählen demnach vor allem Personen mit häufig wechselnden Sexualpartnern und ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Das Verzichten auf Safer Sex stellt insbesondere für Homosexuelle eine große Ansteckungsgefahr dar, weil bei Analverkehr das Übertragungsrisiko von HIV erhöht ist. Die Darmschleimhaut ist äußerst empfindlich und kann das Virus direkt aufnehmen.
-Eine Übertragung durch Oralverkehr ist möglich, wenn Sperma oder Menstruationsblut in den Mund gelangt. Mögliche Eintrittspforten sind dabei Verletzungen in der Mundhöhle.
Weitere Infektionsquellen sind infizierte Injektionskanülen, z.B. im Rahmen des Drogenkonsums bei gemeinsamer Nutzung von Spritzenbestecken oder durch versehentliche Nadelstichverletzungen im medizinisch-pflegerischen Bereich. Das Risiko einer Übertragung des Virus durch einen Stich mit einer virusmaterialhaltigen Kanüle ist jedoch sehr gering. Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung liegt bei 1-2%.22
An AIDS erkrankt man nicht durch die Benutzung der gleichen Toilette oder des gleichen Geschirrs. Der alltägliche Umgang mit HIV-Infizierten birgt keine Infektionsgefahr, weder durch ein Händeschütteln noch durch Anhusten oder Anniesen. Ebenso im Schwimmbad oder in der Sauna ist ein Zusammentreffen mit AIDS Kranken unbedenklich.23
Verlauf der Krankheit
Der Krankheitsverlauf von HIV und AIDS ist sehr unterschiedlich. Die Infektionskrankheit hat sich in den vergangenen fast dreißig Jahren von einer akut letalen zu einer behandelbaren langwierigen Krankheit entwickelt. Trotz des medizinischen Fortschrittes ist AIDS bis heute unheilbar. Kennzeichnend ist heute ihr chronisch progredienter Verlauf. Das bedeutet, dass sich binnen kürzester Zeit symptomfreie Abschnitte mit schweren Krankheitsphasen abwechseln können. Chronische Krankheiten haben mindestens eins der folgenden Merkmale.24 Sie
- sind andauernd,
- hinterlassen Behinderungen,
- sind durch nicht reversible pathologische Veränderungen verursacht,
- verlangen den Patienten für ihre Rehabilitation spezielle Trainingsprogramme ab,
- oder sie benötigen über einen längeren Zeitraum Betreuung, Überwachung oder Pflege.25
Für HIV und AIDS sind alle Bereiche zutreffend. Somit kann die Gruppe der Erkrankten, den chronisch kranken Menschen zugeordnet werden. Gelingt es HIV-Infizierten anfänglich die schlechten Phasen meist gänzlich zu kompensieren, werden in der Folge beschwerdefreie Zeiten immer kürzer und sie erliegen schließlich ihren Begleitinfektionen. Dieser Prozess kann Jahre dauern. Dank der antiretroviralen Therapie (ART) ist die Lebenserwartung der heute lebenden infizierten Menschen stark angestiegen und Patienten können durch eine korrekte Medikamenteneinnahme lange Zeit symptomfrei leben26.
Nach wie vor bleibt AIDS jedoch unheilbar und auch der jüngste Erfolg der AIDS Therapie, bei dem ein Betroffener nach einer Knochenmarkstransplantation HIV-negativ wurde, sollte nicht voreilig als Durchbruch in der Therapie bewertet werden. Experten vermuten, dass die Virenvermehrung nicht langfristig gestoppt ist.27
Unmittelbar nach einer HIV-Infektion vermehrt sich HIV sehr stark und der Körper antwortet darauf mit einer heftigen Gegenreaktion. Bei einigen Patienten äußert sich dies in Symptomen z.B. in Form von Fieber, Husten und Lymphknotenschwellungen. Die Beschwerden werden fälschlich oft als Grippesymptome bewertet. Man spricht hier von einer akuten HIV- Infektion. Bei mehr als zwei Dritteln der Erkrankten verläuft diese Phase jedoch unbemerkt.28
Im weiteren Infektionsverlauf treten Krankheiten auf, die auf Störungen in der zellulären Immunabwehr beruhen. Irgendwann nehmen opportunistische Infektionen als Folge der langsam fortschreitenden Schwächung des Immunsystems überhand. Auch harmlose Erreger können nicht mehr abgewehrt werden.29 Die Betroffenen sind aidskrank und in der Regel auf Hilfe und Unterstützung im Alltag angewiesen. Eine opportunistische Infektion muss nicht zwangsweise in einer späteren Phase der Krankheit auftreten. Häufig erfolgt die Diagnosestellung AIDS erst infolge des Auftretens einer opportunistischen Infektion. Sie kann somit also auch Erstsymptom der Krankheit sein. Wie schnell dieser Prozess verläuft, ist demnach von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich und ist vermutlich von vielen Faktoren abhängig. Eine ausführliche Erklärung alle aidsdefinierenden Erkrankungen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die im stationären Alltag häufiger auftretenden sind z.B. die PCP, das Kaposi-Sarkom, das Wasting-Syndrom, Lymphome, Kandidosen, Toxoplasmose, und Enzephalopathien.
Das amerikanische Center of Disease Control hat 1993 eine Klassifikation der HIV-Infektion herausgebracht. Die Einteilung der Patienten erfolgt nach der Anzahl der Helferzellen (Gruppe 1-3) und nach Symptomen bzw. Krankheitsbildern (Gruppe A-C). Die zwei Kategorien zusammengefasst ergeben die jeweiligen Stadien I-III. Patienten, die definitionsgemäß aidskrank sind und unter opportunistischen Infektionen leiden, zählen zum dritten Stadium.30
Die CDC-Klassifikation hat sich in der Forschung, bei der epidemiologischen und statistischen Erfassung sowie im klinischen Alltag bewährt und wird dort eingesetzt.
HIV und AIDS ist und bleibt eine globale Katastrophe. Im Jahr 2007 waren weltweit ca. 33 Millionen Menschen HIV-infiziert, die meisten in Südafrika.31
Das Robert-Koch-Institut veröffentlicht für Deutschland jährlich Berichte zu den aktuellen Fallzahlen der an HIV und AIDS Erkrankten. Gemäß der Laborberichtsverordnung (LabVo) sind Ärzte seit dem Jahr 1987 dazu verpflichtet, dem Institut einen positiven HIV-Antikörpertest mitzuteilen. Die AIDS-Erkrankungen und -Todesfälle werden in einem zentralen Register zusammengetragen und ausgewertet.
Bis zum Ende des Jahres 2008 lebten ca. 63.500 Personen mit HIV oder AIDS in Deutschland. Ungefähr 650 Personen starben an den Folgen ihrer HIV-Infektion. 3.000 Neuinfektionen und 1.100 neue AIDS-Erkrankungen wurden dem Robert-Koch-Institut im Jahr 2008 gemeldet. Rückblickend auf das Jahr 2007 scheinen sich die Zahlen zu stabilisieren. Dennoch handelt es sich gegenüber dem Jahr 2006 um eine Zunahme von ca. 4%.Die größte Betroffenengruppe bildet nach wie vor die der Männer, die Sex mit Männern haben (MSM). Bei den meisten Neuinfektionen sind die Ansteckungswege bekannt. Schätzungen zufolge entfallen demnach ca.:32
- 72% auf Männer, die Sex mit Männern haben,
- 20% auf heterosexuelle Kontakte,
- 8% auf i.v. Drogenkonsumenten,
- weniger als 1% auf eine Mutter-Kind-Übertragung.
Die vorgelegten epidemiologischen Daten des Robert-Koch-Institutes sprechen für sich. HIV und AIDS ist nach wie vor ein Problem, nicht nur in Afrika, sondern auch in Deutschland. Einer Verharmlosung der Krankheit muss gegengesteuert werden. Sowohl politische als auch gesellschaftliche Strategien und Präventionsmaßnahmen zur Eindämmung der Erkrankung müssen langfristig etabliert werden.
HIV und AIDS haben in der medikamentösen Behandlung eine sehr schnelle Entwicklung durchlaufen. Von Mitte der 80er bis zum Anfang der 90er Jahre wurden zunächst Monotherapien als antiretrovirale Maßnahmen eingesetzt, d.h. Tabletten einer Substanzklasse. Nach anfänglichem Stillstand der Infektion wurde der Erfolg durch das Auftreten von Resistenzen gegen die Wirkstoffe und somit einer weiteren Virusvermehrung und -ausbreitung recht früh getrübt.
Ein Meilenstein in der Entwicklung der HIV- und AIDS-Therapie wurde schließlich durch die Erkenntnis gesetzt, dass eine Kombination aus verschiedenen Substanzklassen mit unterschiedlichen Angriffspunkten im Vermehrungszyklus der Viren die Infektion nachhaltig unterdrücken kann. Es wurden Kombinationspräparate auf den Markt gebracht, die drei Substanzklassen vereinten. Die neuen Dreifachkombinationstherapien waren fortan in den Mündern aller, die in irgendeiner Weise von der Erkrankung betroffen waren. Sie bildeten das Hauptthema der Welt-Aids- Konferenz in Vancouver im Jahr 1996. Eine ART, auch „highly active antiretroviral therapy“ (HAART) genannt, war fortan aus der HIV- Behandlung nicht mehr weg zu denken.33
Heute existieren über 20 antiretrovirale Medikamente, die in sieben verschiedene Substanzklassen eingeteilt sind. Die korrekte Auswahl einer Kombinationstherapie wird dadurch für behandelnde Ärzte zur Herausforderung und erfordert ein hohes Maß an Fachwissen und Erfahrung im Umgang mit HIV-infizierten Patienten. Experten von verschiedenen Fachgesellschaften entwickeln dazu Leitlinien, die bei der ersten Auswahl der Therapiekombination helfen soll.34 Die ART muss in der Regel lebenslang eingenommen werden und umfasst meist morgens und abends mehrere Tabletten aus zwei bis drei verschiedenen Substanzenklassen. Um die Wirksamkeit der ausgewählten Therapie zu überprüfen, werden vor allem in regelmäßigen Abständen, etwa alle paar Monate, Laboruntersuchungen durchgeführt. Beurteilungsgrößen durch die behandelnden Ärzte sind die Anzahl der Helferzellen und die Viruslast. Die Viruslast zeigt die Anzahl der vorhandenen Viruskopien pro ml Blut. Eine wichtige Entscheidung stellt auch der Beginn der Medikamenteneinnahme dar. Zu beachten sind dafür neben den zwei erwähnten Laborparametern auch die HIV-bezogenen Symptome des Patienten. Der richtige Zeitpunkt für den Therapiebeginn wird von Fachleuten noch kontrovers diskutiert. Dennoch herrscht in den hiesigen Empfehlungen Einigkeit darüber, eine Therapie bei einer Helferzellanzahl unter 350 pro µl Blut oder beim Auftreten von HIV-bezogenen Beschwerden des Patienten einzuleiten.35 Zu wenig Beachtung bei der Verordnung des Tablettenregimes findet die Compliance und die Bereitschaft des Betroffenen, sich für eine Behandlung zu entscheiden. Die bewusste Entscheidung für die ART ist der erste Ansatzpunkt für eine wirksame Therapie.36
Hauptziel der medikamentösen HIV-Therapie ist es, die Virusvermehrung und -ausbreitung soweit zu unterdrücken, dass die Viruslast unter der labortechnischen Nachweisgrenze liegt. Die Nachweisgrenze liegt je nach Labor meist um die 50 Kopien pro ml Blut. Als hoch gilt eine Viruslast zwischen 50.000 und 100.000. Sind die Viren unter der Nachweisgrenze, wird das Immunsystem entlastet und es kann sich wieder besser gegen Krankheitserreger zur Wehr setzen. Dadurch treten sehr viel seltener aids- definierende Erkrankungen auf. Durch den Einsatz von antiretroviralen Therapien soll somit eine Verbesserung der Lebensqualität und eine höhere Lebenserwartung bei möglichst guter Gesundheit erreicht werden.
Die Entdeckung der Kombinationstherapie hat dazu geführt, dass sehr viel weniger Menschen unter opportunistischen Erkrankungen leiden und dass die Lebenserwartung von HIV-positiven und AIDS-Kranken von 1996 bis zum Jahr 2005 um fast 14 Jahre angestiegen ist. Forschern zufolge hat ein 20 jähriger Patient, der in den vergangen Jahren mit einer ART behandelt worden ist, heute noch durchschnittlich 49,4 Jahre zu leben. Es gibt Unterschiede in den verschieden Gruppen der Kranken. Frauen wiesen in der Studie z.B. eine höhere Lebenserwartung auf als Männer.37
Ohne den Erfolg abwerten zu wollen, sei kritisch bemerkt, dass es immer zwei Seiten der Medaille gibt. Mit den mittlerweile gängigen Medikamentenregimen ergeben sich für Patienten durch Langzeittherapien mit ART neue große Problemfelder, die die Lebensqualität eher herabsetzen als steigern:
- das Auftreten schwerer Nebenwirkungen und deren Bewältigung,
- die disziplinierte regelmäßige Medikamenteneinnahme unter Beachtung der Einnahmevorschriften und
- veränderte Krankheitsbilder aufgrund der langen Überlebenszeit.
Neben allgemeinen leichter zu lindernden Nebenwirkungen, wie z.B. Magen-Darm-Beschwerden, Kopfschmerzen, Schwindel und Schwäche kommen substanzspezifische Unverträglichkeiten dazu.
Eine der schwerwiegendsten ist wohl die Lipodystrophie. Dabei handelt es sich um eine Fettumverteilung mit metabolischen Störungen. Die Umverteilung des Fettgewebes kann in zwei Richtungen gehen:38
- in eine Fettgewebsansammlung (Lipohyptertrophie); vor allem an Brust, Bauch, Taille, Nacken und Schultern
- oder in einem Fettgewebsschwund (Lipoatrophie); vorrangig im Gesicht, an Armen, Beinen und Gesäß.
Die Folge sind sichtbare körperliche Veränderungen, die sich meist nachhaltig auf das Selbstwertgefühl auswirken. Es ist anzunehmen, dass diese sich auch negativ auf die Regelmäßigkeit der Tabletteneinnahme auswirken und Patienten eher geneigt sind, die Therapie dann abzusetzen. Andere Langzeitfolgen sind Hypertonie, Neuropathien und medikamentös- toxische Hepatitiden. Des Weiteren üben bestimmte antiretrovirale Substanzen starken Einfluss auf die Psyche aus und können diese negativ beeinträchtigen. Stimmungsschwankungen, schlechte Träume und Depressionen sind bei HIV- und AIDS-Patienten mit Kombinations- therapien keine Seltenheit.39
Die Therapie ist, wie bereits erwähnt, eine Kombination aus verschiedenen Substanzen und besteht daher aus mehreren Medikamenteneinnahmen täglich.
Patienten müssen lernen, das Therapieregime in ihren Alltag zu integrieren. Die lebenslange Einnahme muss regelmäßig und streng nach Angaben des behandelnden Arztes und des Beipackzettels erfolgen, um die Krankheitsprogression zu verlangsamen.
Einer hohen Compliance bekommt deshalb besondere Bedeutung zu, weil durch das einmalige Auslassen einer Dosis die Wirkstoffkonzentration im Blut bereits schnell absinkt. Dadurch besteht zum einen die Gefahr, dass sich das Virus weiter ausbreitet, zum anderen können die Viren durch Mutationen unempfindlich gegen das Medikament werden. Der Körper entwickelt Resistenzen und das HI-Virus spricht auf den Wirkstoff nicht mehr an. Für die Betroffenen bedeutet das unter Umständen ein schnelleres Fortschreiten der HIV-Infektion mit dem Auftreten neuer Beschwerden und ggf. eine Therapieumstellung. Je wirksamer also die Virusunterdrückung durch die regelmäßige Medikamenteneinnahme ist, desto geringer ist die Gefahr der Resistenzen40 und des Ausbruchs von AIDS.
Eine geringe Wirkstoffkonzentration im Blut kann zeitgleich Resistenzen gegen mehrere Medikamente hervorrufen. So genannte Kreuzresistenzen erschweren den nachhaltigen Therapieerfolg neu verordneter Kombinationstherapien.
Eine Verbesserung für die HIV-Behandlung brachte das Ende 2007 zugelassene Medikament Atripla®. Es ist ein Dreifachpräparat, welches nur einmal täglich eingenommen werden muss. Damit gibt es erstmalig die Möglichkeit, die Infektionskrankheit mit nur einer Tablette zu behandeln. Für Europa gelten für die Anwendung zurzeit noch gewisse Vorgaben, so dass das Medikament nicht für alle HIV-Infizierten geeignet ist. So darf z.B. vor einer Behandlung mit Atripla®, kein virologisches Versagen aufgetreten sein.41
Dadurch, dass HIV- und AIDS-Patienten immer älter werden, kommen in Zukunft auch die klassischen Alterskrankheiten auf die Betroffenen zu. Osteoporose, Alzheimer und Diabetes mellitus stellen Patienten und Betreuer vor neue Krankheiten, die in Einklang mit der HIV-Therapie gebracht werden müssen. Dies erfordert modifizierte Versorgungsstrukturen auf medizinisch-pflegerischer Seite, aber auch auf politischer Seite. Nach wie vor ist unser hiesiges Gesundheitssystem zu wenig auf chronische und multimorbide Patienten ausgerichtet.
Opportunistische Infektionen scheinen sich unter den Tablettenregimen ebenfalls zu wandeln. Durch die lange Immunsuppression zeigen sich eher Krankheiten wie Lymphome, Enzephalopathien oder Progressiv multifokale Leukoenzephalopathien (PML) als bei HIV- und AIDS-Patienten ohne Behandlung.42 Offensichtlich leidet vor allem das Gehirn unter der medikamentösen Therapie. Dementielle Symptome, aber auch Paresen oder Aphasien, können die Folge sein.
Es existiert keine einheitliche Definition von Compliance oder Adhärenz in den einschlägigen Literaturen. Compliance ist ein englischer Begriff. Im „Pschyrembel“ wird er mit Einwilligung und Bereitschaft übersetzt.43 Viele Autoren orientieren sich bei der Erklärung des Phänomens an den Ausführungen von Haynes, Taylor und Sackett (1982). Ihr Compliance- Handbuch gilt als Standardwerk für diese Thematik. Nach ihnen versteht man unter dem Begriff Compliance, „[…] den Grad, in dem das Verhalten einer Person in Bezug auf die Einnahme eines Medikamentes, das Befolgen einer Diät oder die Veränderung des Lebensstils mit dem ärztlichen oder gesundheitlichen Rat korrespondiert. Auch der Begriff „konsequentes Befolgen“ könnte gleichbedeutend an die Stelle des Begriffes „Compliance“ treten.“44 Da es sich in dieser Arbeit um die Medikamentencompliance handelt, ist eine weitere Definition von Heuer, Heuer und Lennecke (1999) erwähnens- wert:
„Compliance in der Arzneitherapie ist das Ausmaß, in dem das Verhalten des Patienten bezüglich der Einnahme seiner Medikamente mit dem medizinischen Rat übereinstimmt. […].“45
Kritik der Definitionen ist, dass in beiden allein der Patient bzw. das Patientenverhalten für das Ausmaß der Compliance verantwortlich gemacht wird. Das Verständnis entspricht der traditionellen Denkweise, dass Patienten passiv abhängig sind und den Anweisungen der Ärzte Folge leisten müssen. In gewisser Weise spiegelt es das hierarchische ArztPatienten-Verhältnis wider. Ein Verschulden seitens der Therapeuten wird in diesen Betrachtungsweisen ausgeklammert.
Da sich zunehmend vor allem die in der Pflegewissenschaft geforderte Ideologie durchsetzt, Patienten aktiv in den Behandlungsprozess einzubeziehen, wird Compliance heute daher oft durch den Begriff „Adhärenz“ ersetzt. Der Begriff Adhärenz stellt eine patienten- 21 mitbestimmende, gleichberechtigte Interaktion in den Vordergrund. Adhärenz meint ein reflektiertes therapie- und gesundheitsbewusstes Verhalten.46 Durch dieses Verständnis distanziert man sich von dem ärztlich festgelegten idealen Patientenverhalten Das Ausmaß der Adhärenz ist somit als Ergebnis der Zusammenarbeit beider Parteien zu betrachten. Der Patient wird partizipativ in Therapiemaßnahmen einbezogen. Meichenbaum und Turk (1994) übersetzen Compliance mit „Therapiebefolgung“ und Adhärenz mit „Therapiemotivation“. Die Therapiemotivation betont eine aktive Patientenrolle und umfasst folgende sechs Aspekte47 :
(1) Beginn einer Therapie und eine kontinuierliche Teilnahme
(2) Einhaltung von therapeutischen Terminen und Nachuntersuchungen
(3) korrekte Medikamenteneinnahme
(4) den aktiven Versuch einer Lebensstiländerung (Diät, mehr Bewegung, Stressreduktion)
(5) engagierte Durchführung von therapeutischen Hausaufgaben
(6) Vermeidung von gesundheitsschädigendem Risikoverhalten (Rauchen, Alkohol und Drogenmissbrauch).
Meichenbaum und Turk (1994) beschreiben die Adhärenz damit als ein komplexes, dynamisches Phänomen.48 Es gilt, Interventionen zu entwickeln und durchzuführen, die die aufgezählten Aufgaben der Patienten unterstützen bzw. die die Patienten dauerhaft in ihrer Therapieeinhaltung motivieren. Um diese Interventionen geht es im späteren Verlauf der Arbeit. Dabei wird das Hauptaugenmerk auf die Förderung der Compliance während einer stationären Krankenhausbehandlung gelegt.
Die Literaturanalyse zeigt, dass eine aktivere Rolle des Patienten innerhalb der Arzt-Patienten-Interaktion in jedem Fall gewünscht wird. Sie wird zumindest in der Theorie gefordert. Deshalb wird in der aktuelleren, wissenschaftlichen Literatur meistens das Konzept bzw. der Begriff Adhärenz favorisiert. Dennoch bleiben die wesentlichen Unterschiede zwischen Compliance und Adhärenz, nämlich der gemeinsame, gleichberechtigte Handlungsprozess und die aktive Patientenrolle bei der Adhärenz, in empirischen Forschungsprojekten weitestgehend unbeachtet. Ebenso wenig existieren spezifische Messmethoden für beide Konzepte. Vielmehr werden Compliance und Adhärenz synonym verwendet. Deutschsprachige Studien verwenden zusätzlich die Begriffe „Therapietreue“, „Therapieeinhaltung“ und „Therapiemotivation“ für die Beschreibung des Phänomens.
Für diese Arbeit werden die Begriffe Compliance, Adhärenz und Therapietreue ebenfalls gleichbedeutend verwendet. Zum einen aufgrund der teils unklaren Bedeutungsabgrenzung in vielen Studien, zum anderen aber auch wegen der besseren Lesbarkeit dieser Abhandlung. Sie wurden zudem als Schlüsselwörter für die Recherche verwendet Es wird ausdrücklich betont, dass sich die Bedeutung der Begrifflichkeiten an dem Verständnis des gemeinsam ausgerichteten Therapiebündnisses orientiert. Vor dem Hintergrund der vorangegangen Auslegungen leitet sich für die Autorin dieser Arbeit eine eigene, neue Definition ab:
Die Compliance, die Adhärenz oder die Therapietreue beschreiben hier somit das Ausmaß der erfolgreich eingenommenen medikamentösen Therapie, welches auf von Arzt und Patient gemeinsam gesetzten Zielen basiert und somit Resultat eines partizipativen Entscheidungsprozesses ist.
Dieses Verständnis beruht auf dem Ansatz des Shared-decision-making- Konzepts. In diesem Modell werden Patienten in Entscheidungsprozesse eingebunden und alle Entscheidungen von der Diagnose bis zur Therapie in gleichberechtigter, partnerschaftlicher Zusammenarbeit, also partizipativ, getroffen.49
[...]
1 Geschlechtsspezifische Formulierungen schließen in dieser Arbeit immer das andere Geschlecht mit ein.
2 Vgl. Ärzte Zeitung 2008
3 Vgl. Müller-Mundt; Schaeffer; Haslbeck 2008, S. 41
4 Vgl. Heuer; Heuer; Lennecke 1999, S. 8 / WHO 2003, S. XIV / Kuhlmann; Liess 2004, S. 7
5 Vgl. Bavastro 1989, S. 132ff
6 Zentralbehörde in Altlanta, USA. Entspricht in Deutschland dem Bundesgesundheitsamt.
7 Vgl. Wierz, Kuhlenkamp 1997, S. 51
8 Vgl. ebd. S. 52
9 Vgl. ebd. S. 52; Bavastro 1989, S. 133
10 Vgl. Wikipedia.de 2008, Stichwort:Robert Gallo
11 Retroviren sind kugelförmige, umhüllte RNA-Viren. Vgl. Pschyrembel 1990
12 Vgl. Pressemitteilung der Nobelstiftung 2008
13 Vgl. Lühmann 1995, S. 47
14 Vgl. Aids - Ein Rückblick 2008
15 Vgl. Where did HIV come from? 2007 / NIH News 1999 / Stuttgarter Zeitung online 2006
16 Vgl. BzgA 2008
17 Vgl. Schäffler; Menche 1999, S. 97
18 Vgl. Wierz; Kuhlenkamp 1997, S. 74
19 Vgl. Preiser; Korsmann 2008, S. 50
20 Vgl. Vocks-Haucks 2008, S. 359ff
21 Vgl. Marcus; Starker 2006
22 Vgl. Postel 2008
23 Deutsche AIDS-Hilfe e.V. 2009
24 WHO 2003, S. 4
25 Freie Übersetzung der Autorin.
26 Vgl. Lancet 2008
27 Vgl. Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 14.11.2008
28 Vgl. Wierz; Kuhlenkamp 1997, S. 79
29 Vgl. Kamps 2008, S. 32f
30 Vgl. ebd., S. 78
31 Vgl. UNAIDS 2008
32 Vgl. dazu RKI 2008a; RKI 2008b
33 Vgl. Deutsche AIDS-Hilfe e.V. 2007 / Hoffmann 2008a, S. 97ff
34 Vgl. z.B. AWMF 2005
35 Vgl. Hoffmann 2008a, S. 185
36 Vgl. Nicca et. al 2005
37 Vgl. Lancet 2008
38 Vgl. Hartmann 2007 / Behrens; Schmidt 2008, S. 305ff
39 Vgl. Marcus; Starker 2006, S.24
40 Vgl. ebd., S. 29
41 Vgl. HIV & More 2008
42 Vgl. Wierz 2008
43 Vgl. Pschyrembel 1990
44 Haynes; Taylor; Sackett 1982, S. 12
45 Heuer; Heuer; Lennecke 1999, S. 5
46 Vgl. Weiland; Schüler; Rockstroh 2003
47 Vgl. Meichenbaum; Turk 1994, S. 14f
48 Vgl. ebd., S. 19
49 Vgl. Scheibler 2006, S. 35