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Forschungsarbeit, 2011
54 Seiten
0. Orientierende Vorworte: Die gegenwärtige Situation der wissenschaftlichen Pädagogik und das Anliegen und Programm der Abhandlung
I. Erster Hauptteil: Zur Problematik des Verhältnisses von Bildung und Gerechtigkeit am Beispiel Martin Luthers und ausgewählter Aspekte seiner Wirkungsgeschichte
0. Einleitung und Überblick
1. Akzentuierungen zum Verständnis von Bildung und von Gerechtigkeit in der Ära seit Luther
1.1 Politischer Akzent: Zusammenhänge zwischen Bildung und irdischer, äußerer Gerechtigkeit sowie Herrschaft
1.2 Kultureller Akzent: Entwicklung zur veräußerlichten Auffassung von Wissen und Bildung
2. Die »Zwei-Reiche-Lehre« Luthers im Zusammenhang der Frage von Bildung und Gerechtigkeit
3. Konsequenzen für eine Bildungstheorie mit Option auf skeptisch-kritische Bildung zur Ermöglichung eines problemerschlossenen Gerechtigkeitsverständnisses
II. Zweiter Hauptteil: Platon und das Problem von Bildung und Gerechtigkeit
1. Einführung
1.1 Verknüpfung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit am Ursprung des abendländischen Philosophierens
1.2 Der Übergang vom Vorrang der göttlichen Gerechtigkeit hin zur menschlichen Gerechtigkeit durch Platons »Rettung der Phänomene«
2. Bildung und Gerechtigkeit in Anlehnung an Platons Politeia
III. Schluss: Philosophische Skepsis und historische Forschung als wesentliche Momente systematisch-pädagogischer Reflexion
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Einhergehend mit der gegenwärtigen Ökonomisierung der Universitäten und der starken Orientierung der wissenschaftlichen Pädagogik an den Sozialwissenschaften und an der Empirie sind die philosophischen und historischen Züge innerhalb der Allgemeinen Pädagogik fraglich geworden. In meiner Abhandlung will ich plausibel machen, dass es für die Allgemeine bzw. die Systematische Pädagogik sehr sinnvoll ist, eine Einsicht zu berücksichtigen, die bezogen auf die Philosophie bereits Aristoteles gewonnen hatte, der hierdurch gewissermaßen zum Vater der Philosophiegeschichte geworden ist: Wollen wir ein Sachproblem verstehen — etwa eben das Verhältnis von Gerechtigkeit und Bildung —, so kann dies nur gelingen, wenn wir den Blick auf die Geschichte der Entdeckung dieses Sachproblems richten und uns mit den geschichtlichen Antworten auf dieses Sachproblem kritisch auseinandersetzen.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte eines Sachproblems ist ein Teil der Auseinandersetzung mit dem Sachproblem selbst, soll dieses geklärt und verstanden werden. Die systematische und die historische Dimension gehören untrennbar zusammen, auch wenn dieses Bewusstsein heute verloren zu gehen droht. Für die Philosophie etwa hat Hegel erkannt: Das Studium der Geschichte der Philosophie ist das Studium der Philosophie selbst. Zwar ist Hegel mit seinem nicht mehr steigerbaren metaphysischen Erkenntnisanspruch beileibe nicht als philosophischer Skeptiker zu bezeichnen, dennoch kommt sein Philosophieverständnis wie sein Philosophieren selbst nicht ohne spezifische philosophisch-skeptische Züge aus, auch wenn die Skepsis durch ihn in das Joch seines gigantischen metaphysisch-dialektischen Erkenntnisprogramms eingespannt wird. Ohne Geschichte und ohne skeptisch prüfendes Philosophieren kommt, so meine These, die Allgemeine bzw. die Systematische Pädagogik nicht aus — ebensowenig wie die wissenschaftliche Pädagogik ohne ihren philosophisch-systematischen Aspekt. Die wissenschaftliche Pädagogik bedarf historischer und philosophisch-skeptischer Züge zur Sacherschließung und zur Sachklärung. Was ich im Folgenden versuchen werde, ist daher eine philosophisch-skeptisch beeinflusste Annäherung an das Sachproblem des Verhältnisses von Bildung und Gerechtigkeit am Exempel von zwei prominenten Antworten, die in der Geschichte auf die Frage nach diesem Verhältnis gegeben wurden: von Martin Luther und von Platon.
In Auseinandersetzung mit Luther und seinen Wirkungen, meinem ersten Hauptteil , will ich einen zentralen Gesichtspunkt der Begründung aufzeigen, warum die wissenschaftliche Pädagogik historischer und philosophisch-skeptischer Züge bedarf: um unserer eigenen Stellung gewahr zu werden in ihrer historischen Gewordenheit und Vermitteltheit sowie der sachlichen Fragwürdigkeit und Bedingtheit zu bestimmten pädagogischen Sachfragen. Denn wir sind als wissenschaftliche Pädagoginnen und Pädagogen in unserem Denken immer schon, mag uns dies bewusst sein oder nicht, in traditionale Zusammenhänge und daraus sich ergebende Selbstverständlichkeitshorizonte verwoben. Diese bestimmen in unterschiedlichem Maß unsere Vorstellungen, Einstellungen und Haltungen, unser Handeln, Wollen und Fühlen sowie unser Denken mit. Unbemerkt bewegen wir uns oft in Bahnen, die früher gelegt wurden, und stehen als wissenschaftliche Pädagoginnen und Pädagogen häufiger als uns lieb sein kann im Banne impliziter Metaphysiken. Sie sind verbunden mit dem pädagogischen Zeitgeist, seinen Selbstverständlichkeiten und modischen Voreingenommenheiten. Kraft der Liaison zwischen impliziten Metaphysiken und Zeitgeist legen sich Visionen und Wege nahe, die sich letztlich als Umwege oder gar Irrwege herausstellen, als Illusionen oder Selbsttäuschungen. Bleibt diese Liaison unerkannt, kann sie sich als schwere Hypothek auswirken, nicht zuletzt für eine möglichst unverstellte Wahrnehmung und Klärung gegenwärtiger pädagogischer Sachprobleme — wie des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Bildung. Philosophisch-skeptische und historische Besinnung sind ein wirksames Gegenmittel für derartige Befangenheiten, insbesondere wenn es sich um pädagogische Fundamentalüberzeugungen handelt oder um implizite Fundamentalmetaphysiken, die das pädagogische Denken leiten oder gar gängeln. Gerade heute, nach Nietzsche, Neopositivismus, Heidegger und Habermas, also nachdem das Ende der Metaphysik und des metaphysischen Zeitalters wiederholt proklamiert wurde, bedürfen wir, so meine ich, dieses Gegenmittels ganz besonders, um uns im Zuge pädagogischer Erkenntnisgewinnung und Konzeptualisierung nicht unerkannt in Metaphysik zu verfangen. Denn die Metaphysik kann auch in paedagogicis und bei der Grundlagenreflexion empirischer pädagogischer Forschung niemals gänzlich verabschiedet werden. Sie tritt kostümiert, in rasch wechselndem modischen Outfit, also new-fashioned, stets wieder auf — quasi als ewige Wiederkehr dessen, was scheinbar längst obsolet geworden ist.
Philosophisch-pädagogische Skepsis und die Auseinandersetzung mit historischen, pädagogisch relevanten Autoren, die z.B. andere Horizonte hatten als wir, oder die an der Konstituierung heutiger Horizonte maßgeblich beteiligt waren, können in der systematisch-pädagogischen Reflexion dazu beitragen, dass uns eigene Selbstverständlichkeiten bewusst werden. So ist die Möglichkeit gegeben, dass sie uns gegenständlich werden und somit grundsätzlich hinterfragbar.
Im zweiten Hauptteil will ich in Anlehnung an Sokrates-Platon daher plausibel machen, dass durch die Auseinandersetzung mit historischen Autorinnen und Autoren unübliche Sichtweisen eröffnet, neue Aspekte des in Frage Stehenden wahrgenommen werden können, so dass systematisch-pädagogische Reflexion bis hin zu Neukonzeptualisierungen führen kann. Dabei werden vom Vergessen bedrohte Sacheinsichten und Problemaspekte wiederentdeckend erarbeitet und auf dem Hintergrund ihrer historischen Situiertheit wie sachlichen Bedingtheit kritisch gewürdigt, um sie als Hilfestellung für systematisch-pädagogisches Denken und Erkennen der Gegenwart fruchtbar zu machen. So skizziere ich am Beispiel der Frage nach Gerechtigkeit und Bildung, inwiefern im »sokratischen Erbe« Platons ein skeptisch-kritisches Potenzial antiken philosophischen Bildungsdenkens erschließbar ist, das durch traditionsgeschichtliche Einseitigkeit bis heute weit gehend verstellt wurde und das als sokratisch-problemerschlossene Bildung heute zu ergründen — wenigstens als Impuls und Anregung — wertvoll sein kann, um aktuellen Problemen der wissenschaftlichen Pädagogik wie dem des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Bildung heute besser »gerecht« werden zu können.
Philosophisch-skeptische und historische Besinnung, die sich von Gegenwartsglorifizierung frei macht — statt alles in narzisstischer Selbstbespiegelung über den Leisten der Gegenwart und der gegenwärtig als gültig angenommenen Wahrheiten zu brechen — und kritische Infragestellung zulässt, sich »etwas sagen lässt«, kann als Erinnerung an das pädagogisch Unverfügte — und vielleicht sogar Unverfüg bare — beitragen zur Relativierung von Wahrheitsbesitzansprüchlichkeiten, wie sie für jede Gegenwart in irgendeiner Form charakteristisch sind.
Dieser Beitrag zur Relativierung erschließt sich nur unter zwei Bedingungen :
- 1. Es muss — wenigstens methodisch — die Hypothese in Anschlag gebracht werden, dass Ansprüche auf Sachangemessenheit durch die wissenschaftliche Pädagogik der Gegenwart im Blick auf relevante pädagogische Sachprobleme nicht hinlänglich eingelöst sind, wenigstens noch nicht, und dass philosophisch-skeptische und historische Besinnung hier weiterführen kann .
- 2. Systematisch-pädagogische Reflexion wird sich in skeptischer und historischer Ausrichtung überwiegend auf Texte beziehen, bei denen sich erwiesen hat, dass es für das eigene pädagogische Denken und Konzeptualisieren fruchtbar ist, sich mit ihnen intensiv — und immer wieder — zu befassen.
Bezieht sich die systematisch-pädagogische Reflexion auf solche Texte, so tut sie dies — und das ist die zweite Bedingung — methodisch unter der Hypothese von deren Sachangemessenheit. Diese Hypothese beruht wiederum auf der Voraussetzung, dass die Texte in ihrer Geschichtlichkeit alleine nicht aufgehen und jedenfalls sachdifferent sind, d.h., wovon die Texte handeln, treffen sie entweder oder verfehlen es, werden ihm entweder gerecht oder nicht; wovon sie handeln, ist nicht bloß eine fiktionale Konstruktion des Textes selbst. Unter methodischer Ansetzung der Hypothese der Sachangemessenheit können historische Texte für die Klärung von pädagogischen Sachproblemen nutzbar gemacht werden — ein Verfahren, das bereits Platon und Aristoteles für philosophisch -systematische Fragestellungen anzuwenden wussten.
Diese Hypothese der Sachangemessenheit muss sich als Hypothese selbstverständlich bewähren , indem kritisch zu prüfen ist, ob der Anspruch von Sachangemessenheit mit dem Text legitimerweise verbunden ist, ob der Text also den intendierten pädagogisch einschlägigen Wirklichkeitsaspekt trifft oder nicht, bzw. inwiefern er ihm entspricht und inwiefern nicht, und auch, unter welchen Voraussetzungen er ihm gerecht wird und unter welchen Voraussetzungen nicht. Es gelten hier dieselben strengen Maßstäbe, die systematisch arbeitende Pädagoginnen und Pädagogen anlegen, wenn sie Behauptungen, die nicht in historischen Texten überliefert sind, auf Sachangemessenheit prüfen.
Es gibt eine Reihe von pädagogischen Texten der Vergangenheit, denen der Rang von klassischen Texten der Pädagogik zugesprochen wird.[i] Nichtsdestotrotz bieten selbst pädagogisch relevante Texte der Vergangenheit von klassischem Rang keine Gewähr dafür, gleichsam auf direktem Weg zur fraglichen »pädagogischen Sache selbst« zu gelangen. Auch sie sind zu prüfen unter dem Aspekt, ob sie dem jeweiligen Sachgemäßheitsanspruch ihrer Autorinnen und Autoren wirklich genügen und ob für diesen Anspruch hinreichend triftige Gründe vorliegen bzw. vorgebracht werden. Ist dies nicht der Fall, so kann es gerade bei klassischen Texten lohnend sein, nach Zusatzbedingungen zu suchen, unter denen der mit ihnen verbundene Anspruch eingelöst werden könnte, die der betreffende Autor/die betreffende Autorin selbst aber nicht explizit vorstellt. Niemals aber geht es um eine Heiligsprechung historischer Texte, selbst dann nicht, wenn sie zu den klassischen Texten zu zählen sind. Sogar aus klassischen Texten, die den Sachgemäßheitsanspruch nicht einlösen, lässt sich ein ganz erhebliches Maß an Einsichten gewinnen in die pädagogisch relevanten Themen und Sachverhalte, die in ihnen behandelt werden.[ii]
Einen sachte warnenden Hinweis will ich für die Auseinandersetzung mit historischen Texten, die pädagogisch einschlägig sind, noch geben: Man darf es sich nicht zu leicht machen! Am Beispiel der Texte Platons als pädagogisch-philosophische Klassiker ist zu lernen, dass auch die literarische Gestaltung als Dialog wesentlich der Darbietung des pädagogisch-philosophischen Gedankens dienstbar gemacht sein kann. Die deiktische Dimension der historischen Texte kann dazu gedacht sein, pädagogisch-philosophisch Gehaltvolles mitzuteilen.
Ganz und gar nicht leicht, sondern ein mühevolles und aufwändiges Geschäft ist es, die ursprünglichen Frage- und Problemzusammenhänge, auf die Autorinnen und Autoren bei der Textentstehung einzugehen versucht haben, zu rekonstruieren, zu verstehen und evtl. verständlich zu machen. Denn die Fragekontexte waren oft ganz anders gelagert als diejenigen der heutigen Interpretinnen und Interpreten. Was den historischen Autorinnen und Autoren ebenfalls wie ihren zeitgenössischen Leserinnen und Lesern vertraut und weithin selbstverständlich war, müssen sich systematisch-pädagogisch Reflektierende heute erst als historisches und sachliches Verständnis der Fragezusammenhänge erarbeiten.[iii]
In diesem ersten Hauptteil meiner Ausführungen gehe ich dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Bildung am Wendepunkt zur Neuzeit und zur Entstehung eines flächendeckenden Schulsystems nach — am konkreten Beispiel der Wirkungen von Martin Luthers reformatorischer Theologie.[iv] Dabei widme ich mich einem sowohl bildungshistorischen wie bildungssystematischen Problem, nämlich der Frage, inwiefern bestimmte Auffassungen von Gerechtigkeit den Möglichkeiten auf Bildung historisch wie sachlich entgegen standen bzw. stehen.
Bei meiner Darlegung gehe ich den zweiten Hauptteil antizipierend implizit davon aus, dass im »sokratischen Erbe« Platons ein skeptisch-kritisches Potenzial antiken Bildungsdenkens erschließbar ist, das durch traditionsgeschichtliche Einseitigkeit weit gehend behindert wurde, ein Potenzial, das ich als sokratisch-problemerschlossene Bildung bezeichne.
Am Beispiel der Wirkungen von Luthers Auffassung von Glaubensgerechtigkeit will ich erhellen, inwiefern das in diesem Kontext vorherrschende Gerechtigkeitsverständnis die Möglichkeiten auf »skeptisch-problematische« Bildung behindert oder gar ausschließt. Auf diesem Hintergrund frage ich, inwiefern Luther durch seine Theologie historisch wie systematisch ein Verständnis von Bildung und von Gerechtigkeit befördert, das sich prägnant formulieren lässt als »obrigkeitsstaatliche Herrschaft durch (vermeintliche) Bildung — und diese Herrschaft als (angebliche) Gerechtigkeit.«
Über das Beispiel Luther hinaus könnte es bis heute Auffassungen von Gerechtigkeit geben, die das Verhältnis von Gerechtigkeit und Bildung insofern problematisch oder gar »widerstreitend« erscheinen lassen, als eine bestimmte Definition von Gerechtigkeit durch ihre konkreten Auswirkungen Bildungschancen einengt, z.B. im Schulwesen, etwa durch die vermittelten Inhalte. Oder umgekehrt, wenn eine von Seiten der Politik und der Nationalökonomie vertretene Auffassung von Bildung dazu tendiert, ein bestimmtes Gerechtigkeitsverständnis in den Vordergrund zu rücken.
Luthers Theologie in ihren Wirkungen bietet sich als Exempel an, weil sie den Bildungsbereich im deutschsprachigen Raum (und weit darüber hinaus) stark beeinflusst hat. Durch sie wurden Auffassungszusammenhänge von Bildung, Wissen, Lehren und Lernen, sowie von Herrschaft, Gerechtigkeit und Bildung weit über den reformatorischen Rahmen hinaus befördert und gleichsam per Institutionalisierung festgeschrieben.[v] Diese Entwicklung konnte ihren Lauf nehmen, weil Luther dem pädagogischen Wirken, der Bildung und der Schule eine hohe Bedeutung beigemessen hat im Unterschied zu anderen reformatorischen Richtungen.
Die Reformation war für Luther Kirchenreform als Bildungsreform in Gesellschaft, Universitäten und Schulen.[vi][vii][viii] So stellt Luthers Theologie der Glaubensgerechtigkeit für die Bildungsthematik eine bis heute wirksame »Gelenkstelle« dar zwischen der geistesgeschichtlich-bildungstheoretischen, der bildungspraktischen und der bildungsinstitutionellen Ebene.[ix]
Die beiden Gerechtigkeitsbegriffe Luthers, die Glaubens gerechtigkeit zum einen und die von ihr beeinflusste irdisch-äußerliche Gerechtigkeit zum anderen, schränken — so meine These — obwohl sie zunächst bildungsförderliche Wirkungen zu entfalten scheinen, die Chancen auf skeptische Bildung ein.
Im ersten Teil zu Luther und seinen Wirkungen (1.) skizziere ich politische und kulturelle Folgen von Luthers reformatorischer Theologie des Wortes Gottes und untersuche sie auf ihre Kompatibilität mit sokratisch-problematischer Bildung. Als politisch relevant akzentuiere ich Luthers Bedeutung im Blick auf den Zusammenhang zwischen irdisch-äußerlicher Gerechtigkeit, Herrschaft und Bildung.
In kultureller Hinsicht akzentuiere ich Luthers Wirkung in Richtung einer veräußerlichten Auffassung von Wissen und Bildung, Lehren und Lernen.
Im zweiten Luther-Teil (2.) , der einen ausgewählten Aspekt der theologischen Position Luthers fokussiert, seine sogenannte »Zwei-Reiche-Lehre«,[x] widme ich mich der Frage, wie es zu den benannten Wirkungen kommen konnte.
Im Ausblick (3.) , der zugleich zum 2. Hauptteil überleitet, deute ich mögliche korrektive Konsequenzen an, die sich für die Bildungstheorie der Gegenwart aus der Bildungstradition, zu der Luther als prominenter Vertreter gehört, unter skeptisch-kritischer Perspektive ergeben, will sie den Zusammenhängen von Gerechtigkeit und Bildung in der sogenannten »modernen postindustriellen Wissensgesellschaft« besser »gerecht« werden als dies bisher der Fall zu sein scheint.
In der Tradition Luthers etabliert sich in weiten Teilen des deutschsprachigen Raumes und darüber hinaus ein Verhältnis, das sich pointiert benennen lässt als »obrigkeitsstaatliche Herrschaft durch (vermeintliche) Bildung — und diese Herrschaft als (angebliche) Gerechtigkeit«. Diese Herrschaft könnte jedoch durch obrigkeitsstaatlich funktionalisierte Bildung Ungerechtigkeitsverhältnisse stabilisieren.
Äußere, irdische Gerechtigkeit ist nach Luther zu verstehen als Erhalt der gottgewollten Ordnung. Um diese iustitia civilis zu gewährleisten, ist weltliche Herrschaft erforderlich. Deshalb ist die weltliche Herrschaft legitimiert durch göttliche Autorität.
Dieser Denkduktus fördert eine problembehaftete Verbindung zwischen Erziehung bzw. Bildung einerseits und irdisch-äußerer Gerechtigkeit wie weltlicher Herrschaft andererseits, als Zusammenhang von obrigkeitlicher Herrschaft durch Erziehung und »Bildung« — besonders deutlich erkennbar bezeichnenderweise in Luthers Schulpredigt.[xi] Gerechtigkeits- und obrigkeitshinterfragende Momente werden hierdurch ausgeschlossen oder wenigstens erschwert, sofern sie hinausgehen über die theologisch fundierte Gerechtigkeits- und Obrigkeitskritik, die vom Willen Gottes und vom Sinn des obrigkeitlichen Amtes her motiviert ist. Die Vorstellungen von irdischer Gerechtigkeit, einhergehend mit Luthers patriarchalischen Ordnungsvorstellungen, sind so im Grundsätzlichen kritikimmun, da sie als gute Ordnungen Gottes nicht in Frage gestellt werden dürfen. Weltliche Erziehung und Bildung tragen zu dieser Immunisierung bei.
Zwei kurze Aussagen Luthers zur Obrigkeit sollen die Problematik illustrieren:
- In einer Predigt stellt Luther von Skepsis allzu ungetrübt fest: »Und was Oberkeit nach Weltlichen Rechten alhie thut, urteilet und richtet, das hat Gott gethan und geurteilt(!)«[xii]
- Im Kleinen Katechismus — über Jahrhunderte äußerst einflussreich als didaktisches Hilfsmittel und als Lehrstoff — macht Luther die Aussage:[xiii] »Deñ es ist keine Oberkeit, on von Gott, Wo aber Oberkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nu wider die Oberkeit setzet, der widerstrebet Gottes Ordnung. Die aber widerstreben, werden ein vrteil vber sich empfahen [...].« Ebenfalls im Kleinen Katechismus wird das Elternehrgebot im Dekalog sogar auf die Landesherren und alle Obrigkeiten erweitert als Gehorsamspflicht ihnen gegenüber.
Eine grundsätzlich obrigkeitshinterfragende skeptisch-problematische Rationalität, die auf Prüfung der Legitimität zielt, ist für Luther per se widervernünftig, da sie die gottgewollten Ordnungen zu zerstören droht.[xiv] Denn die weltlichen Ordnungen sind, selbst wenn sie grundsätzlich auch Zwangsordnungen sind, als solche auf Gott selbst zurückzuführen, der durch sie regiert (vgl. Luthers sog. »Zwei-Reiche« bzw. »Zwei-Regimenten«-Lehre).
Luthersche »Ordnungstheologie« kann missbraucht werden zur Legitimierung und Konservierung bestehender Ordnungen sowie zur »Untertanen«-Disziplinierung. Gerade Erziehung und Bildung können im Zuge möglichst umfassender Indienstnahme für obrigkeitliche Zwecke nutzbar gemacht werden. Die verhängnisvollen Folgen, die möglich sind, seien stichwortartig angedeutet: (deutscher) Untertanengeist, Ansprechbarkeit auf herrschaftliche Gehorsams-forderungen, obrigkeitsstaatliches Denken, politischer Konservativismus, Rigorismus und Intoleranz. Allerdings darf Luther selbstverständlich nicht einseitig und allein dafür haftbar gemacht werden.
Politisch betrachtet hat Luther nolens volens beigetragen zu einer Freistellung des weltlichen Bereiches für die Regulierungs- und Durchgriffsintentionen des aufkommenden territorialen frühabsolutistischen Fürstenstaates bzw. frühneuzeitlicher Obrigkeiten wie auch zum neuzeitlichen Territorialstaat selbst.[xv] Als obrigkeitlich definiertes »allgemeines Bestes« bzw. »Gemeinwohl« konnte mit Luther eine möglichst weit reichende Expansion landesherrlicher Macht leichter ins Werk gesetzt werden als ohne Luther.[xvi][xvii]
Den Landesherren und Territorialgewalten kam es gelegen, dass Luther sie für das neue Kirchenwesen und dessen Schutz wie für das neu zu schaffende und zu organisierende Schulwesen beanspruchte, da ihnen damit ein zusätzliches Machtinstrument in die Hände gegeben wurde, das sie nutzen konnten, um ihre landesherrliche Gewalt zum frühabsolutistischen Staat auszubauen und zu festigen.[xviii][xix]
Setzt Luther sich noch dafür ein, dass die Erzieher die Jugend für die weltlichen Anforderungen ertüchtigen, und stand besonders dem frühen Luther die Freiheit in der evangelischen Kirchenverfassung klar vor Augen, so zielen die Kirchen- und Schulordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts deutlich anders auf Normierung, Disziplinierung[xx] und Versittlichung der »Untertanen« gemäß dem Willen der Obrigkeit.[xxi][xxii][xxiii]
Bildung im Sinne obrigkeitlicher Herrschaft steht im Verdacht, geradezu Ungerechtigkeitsverhältnisse zu legitimieren und zu festigen. Diese patriarchalische herrschaftskonservierende und kritikimmunisierende Funktionalisierung von Bildung war der Entwicklung von Chancen auf autoritätskritische skeptisch-problemerschlossene Bildung abträglich.
Luther arbeitet ungewollt einer Bildungstradition zu, die eine veräußerlichte Auffassung von »Wissen« begünstigt und eine Gleichbehandlung von Wissen und Information befördert. So trägt er in kultureller Hinsicht sowohl zu einer Positiv- als auch zu einer Negativseite bei, die der protestantischen »Kultur des Wortes« eignet.[xxiv] Die Negativseite hängt zusammen mit der »Tendenz zum Wissensobjektivismus«, d.h. zu einem veräußerlichten, gegenständlichen Wissensverständnis, was negative Konsequenzen für die Bildung impliziert. Positiv hat die protestantische »Kultur des Wortes«, durch die die Teilhabe aller an »Bildung« vorwärts getrieben wurde, eine breite Ausbildung des menschlichen Symbolisierungsvermögens gefördert — auch in den katholischen Raum hinein.[xxv]
[...]
[i] Stellvertretend für viele andere seien als Beispiele genannt: die Didactica Magna des Johann Amos Comenius, der Emile Jean-Jacques Rousseaus, Johann Heinrich Pestalozzis pädagogische Schriften, u.a. Lienhard und Gertrud , die pädagogischen Schriften Johann Friedrich Herbarts und Wilhelm von Humboldts, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen und Schleiermachers Vorlesungen über Pädagogik . Unter dem Blickwinkel der philosophisch-pädagogischen Skepsis gebührt vor allem Platons Dialogen und Kants Kritik der reinen Vernunft der Rang wegweisender und für pädagogisches Denken bleibend fruchtbarer Texte.
[ii] Der systematisch-pädagogisch Reflektierende in skeptischer und historischer Besinnung verknüpft mit der Auseinandersetzung mit historischen Texten, deren Autoren geschichtlich-situativ und unter Kontingenzbedingungen pädagogisch relevante Einsichten, die gültig sind, erstrebten, also die begründete Hoffnung, sich, selbst geschichtlich situiert und unter Kontingenzbedingungen stehend, hierdurch in paedagogicis etwas erarbeiten zu können, was nicht mehr nur geschichtlich ist.
[iii] Erst dann können sie die Antworten der historischen Autorinnen und Autoren prüfen auf deren erhobene Ansprüche der Sachangemessenheit hin und auf die Wahrheitsfrage hinsichtlich der intendierten pädagogischen Sachgehalte.
[iv] Ausführlich lege ich diese Zusammenhänge dar im zweiten Band meiner Habilitationsschrift, die im August 2007 in zwei Bänden erscheint: Mugerauer, R.: Wider das Vergessen des sokratischen Nichtwissens. Der Bildungsbeitrag Platons und seine Marginalisierung bei Plotin, Augustin, Eckhart und Luther sowie im reformatorischen Schulwesen. Eine historisch-systematische Untersuchung zur Grundlegung eines sokratisch-skeptischen Bildungskonzeptes. 2 Bände. Marburg 2007.
[v] Die Theologie Luthers hatte ganz erhebliche bildungsinstitutionelle Wirkungen bis heute, nicht zuletzt durch den Aufbau und die Institutionalisierung des reformatorischen Schulwesens. Es ist, um nur ein Beispiel zu nennen, zu einem Gutteil eine der Folgen der Reformation, dass die Schulen in Deutschland durch die politischen Obrigkeiten übernommen und zu einer Sache des Staates, zu einem »Etaticum«, nicht etwa zu einer Sache der Gesellschaft, zu einem »Societaticum« wurden. — der Staat nutzte die Möglichkeit zur Instrumentalisierung und Inbesitznahme der Schulen per Etatisierung (Schule als »Etaticum«) für seine Zwecke, und das Privatschulwesen wurde durch den Obrigkeitsstaat, der seine eigennützigen Interessen durchsetzen wollte, zugunsten der umfassenden Etablierung der Staatsschule marginalisiert. Die Möglichkeit, die Schule zu einem »Societaticum«, zu einer Sache der gesamten Gesellschaft, zu machen, wurde damit verspielt. S. Johann Peter Vogel in: Vogel 1996, S. 1327. Der Grundsatz der Staatlichkeit des Schulwesens hat auch in der Bundesrepublik heute noch Gültigkeit. Die Einflussmöglichkeit der Staatsbürgers bzw. der Staatsbürgerin bei der Gestaltung von Schule ist in hohem Grade indirekt und die Partizipationsmöglichkeiten sind äußerst gering.
[vi] In Differenz zu bildungsfeindlichen Kräften der »radikalen Reformation« besteht für Luther ausdrücklich kein Verzichtbarkeits- oder gar Exklusionsverhältnis zwischen Bildung und Glaube. Luthers reformatorisch-theologischer und reformatorisch-vernunftkritischer Standpunkt impliziert vielmehr eine Reformation der Bildung.
[vii] Diese »Implikation« von protestantischem Glauben und Bildung bzw. von Reformation der Kirche und Bildungsreform drückt sich u.a. darin aus, dass im 16. Jahrhundert die Schulordnungen als Bestandteil in die Kirchenordnungen aufgenommen wurden.
[viii] Luther hat sowohl literarisch, d.h. über schriftliche Äußerungen, Ermahnungen und Aufforderungen, als auch durch konkretes Handeln (Mitwirkung an den kursächsischen Visitationen etc.) entsprechend Einfluss zu nehmen versucht. Seine Auffassungen zu Bildung und Schule haben sich neben denen Melanchthons in den Kirchen- und Schulordnungen breitenwirksam einflussreich, ja maßgeblich niedergeschlagen. — Der Einfluss solcher kirchlicher Schulordnungen der Reformationszeit für das Schulwesen reicht schon deshalb sehr weit, weil sie, selbst wenn sie sich, wie etwa die kursächsische und die württembergische Schulordnung, direkt auf die Latein- oder Gelehrtenschulen beziehen, auch für die spätere Entwicklung der Volksschulen von zwar mittelbarem, aber gleichwohl großem Einfluss gewesen sind.
Die evangelisch-lutherischen Kirchen- und Schulordnungen der Reformationszeit, die als Resultat der Kirchenvisitationen von den Obrigkeiten erlassen wurden, gehören in den Zusammenhang der Herausbildung des sog. »landesherrlichen Kirchenregimentes«, denn mit ihm wurde nach und nach auch das Bildungs- und Schulwesen von der Elementarschule an bis zur Universität zu einer Obliegenheit der Obrigkeit und stand unter ihrer Aufsicht, und zwar nicht nur im Bereich des »Luthertums«, ja nicht einmal nur im Bereich des Protestantismus, sondern weit darüber hinaus.
Diese Einschränkung der Eigenständigkeit der Kirche dem Staat gegenüber hat neue Möglichkeiten staatlicher Einflussnahme eröffnet, besonders ausgeprägt im Bereich des deutschen Protestantismus durch das Kirchenregiment evangelischer Fürsten. Hierdurch wurde die obrigkeitliche Einflussnahme- und Formierungstendenz zur Ausweitung auf alle Lebensbereiche im Bildungswesen gestärkt.
Vorrangig die Kirchen- und Schulordnungen wie die Visitationen zur Beaufsichtigung des Kirchen- und Schulwesens im jeweiligen Land, die im Zuge der Herausbildung des landesherrlichen Kirchenregimentes schon früh durch eine ständige Behörde durchgeführt wurden, die als Organ des landesherrlichen Kirchenregimentes dieses vollends durchsetzte und festigte, das Konsistorium, dessen Aufgabe jene Beaufsichtigung war und das eigentlich keine kirchliche, sondern eine landesfürstliche Institution war, wurden dabei zu Instrumenten der Durchsetzung der Intention auf Einflussnahme und Kontrolle sowohl geistlicher wie vor allem weltlicher Herrschaft. Dies geschah u.a. durch Durchsetzung und Handhabung von »Kirchenzucht« und Bann durch das Konsistorium wie allgemein durch die »Gubernierung« und Überwachung des Staatswesens und seiner Kirche wie des Bildungs- und Schulwesens (im Blick auf die Beachtung und Wahrung der »Reinheit« der Lehre bzw. der Gemäßheit zu ihr z.B. durch Festlegung von Inhalten, Vorschriften, Grundsätzen und dergleichen in Schulordnungen und Universitätsstatuten) durch den Landesherrn im Verbund mit Gremien wie Konsistorium, Geheimem Rat und Kirchenversammlung. Vgl. Hammerstein 1996, S. 68f.
[ix] Der von Luther angestoßenen und auf den Weg gebrachten Reformation kommt eine hohe bildungsgeschichtliche, näherhin auch bildungsinstitutionelle wie bildungspraktische, insbesondere auch schulinstitutionelle wie schulpraktische Relevanz zu.
[x] Es zeigt sich, dass bei Martin Luther ein enger Zusammenhang besteht zwischen seiner Theologie des Wortes Gottes, die zum einen auf die Sicherung der Heilsgewissheit zielt und ihr Zentrum in seinem neuen Verständnis der Glaubens- bzw. Gottesgerechtigkeit hat, und zum anderen seinen Auffassungen über die irdische Gerechtigkeit als gottgewollte Ordnung und über die Bildung des Menschen.
[xi] S. e.g. WA 30 II, 554f.
[xii] WA 16, 356.
[xiii] WA 30 I, 399.
[xiv] So etwa Aufruhr und Empörung: s. e.g. in Eine treue Vermahnung an alle Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung (WA 8, 676-687): WA 8, 680.
[xv] Hierfür ist besonders Luthers Überzeugung vom »allgemeinen Priestertum aller Getauften bzw. Gläubigen« von Bedeutung.
[xvi] Im Zuge dessen wurde eine umfassende Formierung befördert, d.h. Disziplinierung und Normierung der landesherrlichen »Untertanen« zum gehorsamen und willigen Akzeptieren der bestehenden bzw. angestrebten staatlich-gesellschaftlichen Ordnung und zur Einfügung in sie. Diese Tendenz zeigt sich bereits in der sich entwickelnden lutherischen Orthodoxie. Sie führte mit ihrer entlebendigenden Verobjektivierung des Wortes Gottes als christliche Lehre zu einer Vergesetzlichung des protestantisch-lutherischen Christentums.
[xvii] Bereits die evangelisch-lutherischen Kirchenordnungen dieser Zeit lassen sich, vor allem was die Regelung von Armenversorgung und Schule anbelangt, als ein Ausdruck obrigkeitlicher Einflussnahme- und Formierungstendenz zur Ausweitung auf alle Lebensbereiche und des obrigkeitlichen Disziplinierungswillens verstehen, nämlich als Ausdruck der »Bemühungen der frühneuzeitlichen Obrigkeiten […], in das Leben der Untertanen normierend und disziplinierend einzugreifen« (S. Kreiker 1997, Zitat 18), nicht zuletzt über das Bildungswesen.
[xviii] Luthers Inpflichtnahme der obrigkeitlichen Gewalt, nämlich des Landesherrn als herausragendes Kirchenglied bzw. als vornehmstes Glied der Gemeinde für die Kirche und deren Belange zur Sicherung des durch die Reformation Erreichten hat im Verbund mit anderen Faktoren Folgen gezeitigt, die Luther so nicht gewollt hat.
Dies ist auch der Fall im Blick auf den Umbau, Aufbau wie Ausbau des Bildungs- und Schulwesens wie -systems, insofern es durch das landesherrliche Kirchenregiment, zu dem das »Schulregiment« als Bestandteil gehörte, im Zuge der landesherrlichen Schulpolitik zur Entwicklung von Bildungs- und Schulwesen grundsätzlich als »staatlicher Veranstaltung« gekommen ist. Es vollzog sich die Entwicklung des Schulwesens als staatliches und der deutschen Schule als »Staatsanstalt«. Es erfolgte eine »Etatisierung« von Bildung und Schule wie eigentlich auch Quasimonopolisierung derselben. Die Zuständigkeit für sie gelangte in Staatshand, und die Kirche wurde zur staats-, näherhin obrigkeitsloyalen und interessenkonkordanten »Staatskirche«, die eine ungute, aber überaus enge Allianz mit dem Staat wahrte, etwa mit dem monarchischen Staat des 19. Jahrhunderts, hier unter eindeutiger Vernachlässigung dessen, was man (auch und sogar) als ihre vorrangige »christliche Pflicht« hätte ansehen können (z.B. im Blick auf die »soziale Frage«), zugunsten eines verhängnisvollen Zusammenspieles von Kirche und Monarchie . Die Kirche leistete, bis sie abgelöst wurde, dem Staat »staatstragend« Subsidiärdienste (u.a. Schulleitungs- und Schulbeaufsichtigungsfunktionen). Luther gab dafür durch seine »Indienstnahme« des Staates einen wichtigen Impuls, der bis in die Gegenwart wirksam geblieben ist in Richtung einer problematischen Verknüpfung von (landesherrlich-) staatlicher Macht und (landesherrlich-) staatlichen Interessen mit Bildung und Schule, die nicht nur aus sokratisch-kritischer Perspektive problematisch ist.
Augenfällig werden die Gefahren dieser Verknüpfung, wenn man an die staatsideologischen Vereinnahmungsversuche gegenüber den Heranwachsenden über die Indienststellung, Funktionalisierung und Instrumentalisierung des öffentlichen Schulwesens durch den Staat denkt, wie sie besonders deutlich im 19. Jahrhundert durch die Obrigkeit in der preußischen Reaktionszeit und durch den wilhelminischen Obrigkeitsstaat sowie im 20. Jahrhundert durch den Nationalsozialismus und den real existierenden »Sozialismus« geschehen sind. Diese Verknüpfung birgt als solche stets schon die Gefahr in sich von indoktrinativer und manipulativer Vereinnahmung der »beschulten« Individuen in der Schule durch den Staat für den Staat und seine Zwecke (unter Missbrauch des Bildungsbegriffes und unter Restriktion von Bildungsfreiräumen).
Durch Luthers Wirken wird auch die Verweltlichung der Schule gefördert (vgl. u.a. Rupp (1996, S. 36f.) sowie die von ihm zitierten Referenzautoren Paulsen und Giese; vgl. auch Rupp 1999, S. 600). Allerdings ist für Luther selbst zu sagen, »daß er die Funktion der Schule in ihrer geistlichen und weltlichen Bestimmung sieht, er sich also gegen eine ausschließlich weltimmanente Interpretation von Schule wendet .« (Ebert 1998, S. 147).
Man kann für die Reformation geradezu sagen, dass der »Anfang für die Entwicklung eines staatlich-weltlichen Schulwesens, der Keim zur deutschen Staatsschule,[liegt] in der Reformation [liegt; R.M.]« und dass die »Schule auch im Jahrhundert der Reformation mittelbar schon Staatsanstalt« ist. (Rupp 1999, S. 600. Rupp bezieht sich hier auf Giese bzw. zitiert ihn.) Ansätze für eine Verweltlichung der Schule finden sich in Luthers Theologie selbst v.a. in seiner »Zwei-Reiche-Lehre« und deren Umkreis, allerdings nur dann, wenn sie nicht voll rezipiert sowie einer Transformation unterzogen wird, die Luthers Intentionen zuwiderläuft. Dies gilt auch für seine Äußerungen zu Erziehung, Bildung und Schule, insonderheit für deren »realistischen Zug« (Herausstellung der Funktion von Erziehung, Bildung und Schule für die weltlichen Aufgaben in Stand und Beruf). Für eine rein weltliche Sicht von Bildung und von Schule bietet Luther jedenfalls bedeutsame Ansatzpunkte, so in seiner Ratsherrenschrift : WA 15, 43ff; s. zum Gemeinnutz von Bildung und Schulen: WA 15, 34; vgl. zur Bedeutung der Bildung und der Schulen auch: WA 15, 35 und WA 15, 36. Zum Wert der Bildung im weltlich-irdischen Bereich s. Ringleben 2002, S. 102. Bei all dem aber ist nicht zu übersehen, dass im eigentlichen (d.h., nicht bloß auf das Hören des Wortes vorbereitenden, s.o.) Sinne das Entscheidende, nämlich das Seelenheil, für Luther nichts zu tun hat mit (menschlich-weltlicher) Bildung. Denn das Seelenheil ist durch die Rechtfertigung »in Christus allein gesichert« – und kann für Luther nur so wirklich gesichert sein —, ist daher »von der Bildung auf ewig unabhängig« (Ringleben 2002, S. 102).
Der Mensch ist in Bezug auf sein ewiges Heil auch von dem Werk, das die Bildung ist, unabhängig — und damit unabhängig auch von damit verbundener Heilsungewissheit. »Als Objekt der Rechtfertigung aus Gnaden allein kann der Mensch sich [aber gleichwohl] heilsam von sich als Subjekt des Werks seiner Bildung unterscheiden.« (Ringleben 2002, ebenda).
[xix] Durch die Reformation wurde die Übernahme des Schul- und Bildungswesens durch den Staat vollends auf den Weg gebracht. Es wurde zu einer obrigkeitlichen Obliegenheit, ja unfraglichen »Fürsorgepflicht«, die die staatliche Obrigkeit eo ipso für ihre Untertanen zu erfüllen hat. Insofern ist »die Reformation des 16. Jahrhunderts« in »dieser Entwicklung zur Übernahme des Bildungswesens durch den Staat […] ein markanter Meilenstein« (Scheible 1999, S. 238).
Luthers Einflussnahmen trugen dazu bei, dass die »deutsche Schule[blieb] als ein Reflex dieser Weichenstellungen bis in unser [gemeint ist das letzte Jahrhundert; R.M.] hinein eine »res mixta«, angesiedelt zwischen den Institutionen von Staat und Kirche« blieb (Rupp 1997, S. 70), und zwar, so ist zu präzisieren, in der angesprochenen Verquickung beider als Einvernahme von Geistlich-Kirchlichem durch den Staat, der die Schule als seinen Einfluss- und Gestaltungsbereich behauptet. Denn: »Zwar blieb der kirchliche Charakter der Bildung unverändert, aber durch das landesherrliche Kirchenregiment übernahm der Staat mit der Fürsorge für die Kirche, der cura religionis, auch die Verantwortung für die Bildung.« (Scheible 1999, S. 238f). Die kirchliche Schulaufsicht wurde durch die Weimarer Verfassung (1919) vollends abgeschafft. Was heute vom Einfluss der Kirche im Schulwesen noch geblieben ist, ist gleichsam nur noch eine Art »Reservatrecht«, nämlich die Fachaufsicht über den Religionsunterricht und den Inhalt desselben.
[xx] Vgl. Liedtke 1970, S. 146. Man wird allerdings nicht ohne alle Einschränkungen sagen können, dass es sich dabei um eine Disziplinierung handelte, »die dem pädagogischen Anliegen des Humanismus entspricht […].« (Ebenda).
[xxi] Kreiker 1997, S. 235. In einem allgemeineren Sinne hat D. Willoweit (1983, S. 66-143; insbes.: S. 133) die Tendenz zu fortschreitender Normierung und Disziplinierung des Lebens der eigenen Untertanen seit dem Spätmittelalter betont; die Erweiterung des staatlichen Kompetenzbereiches gegenüber dem Spätmittelalter erarbeitet hatten zuvor schon G. Oestreich (1969a und b) und H. J. Cohn (1971).
Die Disziplinierungs- und Homogenisierungsintentionen im Blick auf die Untertanen, die sich v.a. in den Schulordnungen niedergeschlagen haben und zu einer »Untertanengesellschaft« (Schilling 1981) führen sollten, haben H. Schilling (1981) und W. Reinhard (1983) betont.
[xxii] Auch wenn die unmittelbare administrative Wirksamkeit der das Schulwesen betreffenden Verordnungen deutlich begrenzt war, so ist unter einer längerfristigen Perspektive im Blick auf die Durchsetzung der in ihnen enthaltenen Vorstellungen doch von »Erfolgen« im Bildungswesen in institutioneller und in normativer Hinsicht zu sprechen.
[xxiii] Der Aspekt der Prägungswirkung der ausgehend von der Reformationszeit in den Schulordnungen über lange Zeit tradierten normativen Vorgaben auf für die weitere Herausbildung von staatlichen und kirchlichen Verwaltungseliten bedeutsame Schüler- und Lehrergenerationen, sowie des Einflusses des damit tradierten Normsystems für die Durchsetzung staatlicher Herrschaftsinteressen darf nicht unterschätzt werden. Gerade diese Faktoren aber haben sich negativ ausgewirkt auf die Chancen autoritätskritischer problemerschlossener Bildung. Zur Frage, welche bedeutende Rolle die obrigkeitlich regulierten Schulbücher in diesem Zusammenhang spielten, s. W. Müller (1977). Müller trägt dabei auch der Frage Rechnung, inwiefern es nicht nur um die Durchsetzung, Konsolidierung wie Erweiterung weltlich-obrigkeitlicher, sondern auch geistlicher Herrschaft ging.
[xxiv] Diese doppelseitigen Folgen hat Luther mit hervorgerufen ganz allgemein durch seine Rechtfertigungstheologie sowie konkret-praktisch v.a. durch seine beiden Katechismen, seine deutsche Bibel, durch das lutherische Gesangbuch, weiter über Konfirmandenunterricht, Gottesdienst und Hausandacht und nicht zuletzt durch die Förderung des reformatorischen Bildungs- und Schulwesens.
[xxv] Dies wegen des Verständnisses der Rechtfertigung als heilsentscheidendes sprachliches Wort Gottes, das über die Sprachen, über Wort und Schrift den Menschen begegnet, und wegen des Verständnisses des weltlichen »Regimentes« Gottes und seines Erhaltes. Ich nenne einige Stichworte: Vernunft als sprachlich verfasste Vernunft, Bildung v.a. als sprachliche Bildung, als Sprachvermögen, Lese-, und Schreibfähigkeit; grammatische, dialektische und rhetorische Fähigkeiten durch philologisch-sprachlichen Unterricht in Schule wie Universität; Erweiterung des Bereiches des Denkbaren und Einübung des Denkens durch Erweiterung des Sprachvermögens und Einübung von Sprechweisen, durch Begegnung mit anderen Welt- bzw. Wirklichkeitsansichten durch andere Sprachen, durch Aufhebung der natürlichen Unmittelbarkeit (und Befangenheit) zur Abständigkeit durch Vermittlung von Formen von (sprachlicher) Allgemeinheit etc.). — Zwar hat Luther durch seine Verlagerung der Frömmigkeit vom Sehen aufs Hören breitenwirksam zu einer »Kultur des Wortes« und zu einer wortgetragenen Reform von Bildungs- und Schulwesen maßgeblich beigetragen und damit zu einer Überwindung originärer menschlicher Bildgebundenheit und -befangenenheit wie zu einer die Bevölkerungsmehrheit betreffenden Ausweitung der Fähigkeiten zu geistiger Symbolisierung, ohne die umfassend und nachhaltig von vornherein auch keine Chance auf sokratisch-problematische Bildung besteht. Der Beitrag Luther zu dieser »Kultur des Wortes« ist als Ausweitung von Symbolisierungsmöglichkeiten wie -vermögen schon allein deshalb nicht gering zu veranschlagen. Doch die »Kultur des Wortes« und speziell die wortgetragene Reform des Bildungs- und Schulwesens waren niemals ausgerichtet auf »sokratisch-problematische Bildung« bzw. auf ein sie intendierendes Bildungs- und Schulwesen. Gründe hierfür lassen sich, wie dargelegt, bereits in der reformatorischen Theologie Luthers selbst aufweisen. Luther war zwar zusammen mit anderen, vor allem durch den Humanismus beeinflussten Schul- und Universitätsleuten, insbesondere Melanchthon, am Aufblühen eines evangelischen Schul-, Universitäts- und Bildungswesens beteiligt, hat so jedoch im Verbund mit Engführungen in der Folgezeit eher eine Restriktion von Chancen auf sokratisch-problemerschlossene Bildung befördert.
Indirekt ist Luther auch im katholischen Raum in Richtung dieser Beschränkung und Zurückschneidung einflussreich gewesen (bes. römisch-»katholische« »Einstellungs- und Gesinnungsbildung« im jesuitischen Schulwesen).
Luthers Beitrag war (auch) in dieser, zumeist übersehenen Richtung der Exklusion von Möglichkeiten auf sokratisch-problematische Bildung bedeutsam, obwohl für den lutherischen Protestantismus der Folgezeit zum ersten auch das gilt, was Thomas Nipperdey als »Prinzip der protestantischen Unruhe« bezeichnet hat, das auf dem »Zweifel an den Sicherheiten, die der Mensch sich bildet,« beruht (Nipperdey 1983, S. 22).