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Diplomarbeit, 2003
172 Seiten, Note: 1,3
Einleitung
1. Interkulturalität
1.1 Zum Begriff der InterKULTURalität
1.2 Diskussion in Deutschland
1.3 MigrantInnen in Deutschland
2. Jungenarbeit
2.1 Konstruktionen von Männlichkeiten
2.2 Jungenarbeit in Deutschland
3. Experteninterviews
4. Zur Lebenssituation von Jungen mit Migrationshintergrund
4.1 In der Schule
4.2 In der Freizeit
4.3 In der Familie
5. Interkulturelle Jungenarbeit
5.1 Grundlagen der interkulturellen Jungenarbeit
5.1.1 Zur Rahmenkonzeption interkultureller Jungenarbeit
5.1.2 Methoden der interkulturellen Jungenarbeit
5.1.3 Die Rolle des interkulturellen Jungenarbeiters
5.1.4 Ziele der interkulturellen Jungenarbeit
5.2 Praxisbeispiele aus der Jungenarbeit
5.2.1 "ànimo" – Geschlechtsspezifische Arbeit mit Jungen an Schulen
5.2.2 Sexualpädagogisches Arbeiten von „Pro Familia“ München
5.2.3 Interkulturelle Jungengruppe „MULTI - KULTI“
6. Schlüsselqualifikation „interkulturelle Kompetenz“
6.1 Was ist interkulturelle Kompetenz?
6.2 Interkulturelle Kompetenz in der Sozialen Arbeit
6.3 Schlüsselqualifikation in der interkulturellen Jungenarbeit
7. Auswertung der Experteninterviews
8. Schlussbetrachtung und Ausblick
Anhang
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Fotos
Leitfragen zum Leitfadengestützten Interview
Informationsbogen
Leitfragen
Interview 1
Interview 2
Interview 3
Interview 4
Interview 5
Das Thema der vorliegenden Diplomarbeit ist „interkulturelle Jungenarbeit“. Ein hochaktuelles Thema, könnte man meinen, wenn man die derzeitigen Diskussionen über Zuwanderung in Deutschland und die Migrations- und Integrationspolitik betrachtet. Die PISA- und Jugendstudien haben wiederum ihren Teil dazu beigetragen, Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund als besondere Gruppe in den Blick zu nehmen. Zusätzlich befinden wir uns in einem Prozess der zunehmenden Europäisierung und Globalisierung, der mehr und mehr nationale Grenzen durchlässiger erscheinen lässt. Diese Diskussionen haben meist eines gemeinsam: es geht um die MigrantInnen, die türkischen Jugendlichen, die kriminellen „Ausländer“, die nicht integrierten Aussiedler. Erfahrungsgemäß werden der geschlechtsbewusste Blick und die Vielfalt der ethnischen Gruppen, auch innerhalb eines Kulturkreises, wenig berücksichtigt. Nicht zuletzt wird viel über „die Fremden“ diskutiert, und die eigenen Ängste, Gefühle, und Selbsterfahrungen, die damit zusammenhängen, werden (unbewusst) ausgeblendet.
Jungen, mit und ohne Migrationshintergrund, wachsen in einer Gesellschaft auf, die widersprüchliche oder wirklichkeitsferne Bilder von Männlichkeit konstruiert. Es wird verlangt, dass Jungen diese Männlichkeit ohne authentische Vorbilder entwickeln. Festzustellen ist daher, dass dieses Thema brisant ist und bleibt.
Ich selbst habe Erfahrungen im Bereich der Bildungsarbeit mit Jungen durch den Verein „ànimo“ e.V. gemacht. Außerdem habe ich im letzten Jahr durch ein sechsmonatiges Auslandspraktikum in Namibia, Afrika, eigene Fremdheitserfahrungen machen dürfen. Kurz nach meiner Rückkehr habe ich an der Katholischen Fachhochschule an einer Tagung zu „Migration und Gender“ teilgenommen, in der auch der Begriff „interkulturelle Kompetenz“ auftauchte. Dies weckte mein Interesse und es entsprang die Idee, die Themen „Jungenarbeit“ und „Migration“ zum Gegenstand meiner Diplomarbeit zu machen. Der zweite Anstoß kam aus der Praxis, da sich durch den Verein die Gelegenheit bot, eine interkulturelle Jungengruppe über mehrere Monate zu leiten. Für mich ergab sich daraus eine besonderen Situation und Chance, Theorieforschung zu betreiben und diese parallel mit der Praxis zu verknüpfen. Nach den ersten Versuchen konkrete Literatur zu finden, merkte ich schnell, auf „pädagogisches Neuland“ gestoßen zu sein. Diese Tatsache stellte eine Herausforderung dar.
Ich möchte einen Überblick darüber geben, um was genau es sich bei interkultureller Jungenarbeit handelt und die Sicht auf den Professionellen lenken, der sich in das Feld begeben will oder bereits dort arbeitet. Der Focus soll nicht ausschließlich auf einer Umschreibung des Theoriekonzeptes liegen, sondern die angrenzenden Aspekte von Interkulturalität miteinbeziehen.
Es sollen einige Grundüberlegungen vorangestellt werden, die unabdingbar mit diesem Thema verknüpft sind. Die Arbeit soll für die Jungen sensibilisieren und gleichzeitig über ihre Lebensbedingungen informieren. Sie soll einen Überblick über ein komplexes und wichtiges Feld der Sozialen Arbeit liefern.
Olaf Jantz ist einer der wenigen Autoren, die eine Position dazu vertreten und öffentlich publizieren. Viele Recherchen und Telefongespräche mit Organisationen und Einrichtungen verhalfen mir, Reader und Dokumentationen von Fachtagungen und Arbeitskreisen zusammenzutragen. Ein Großteil der verwendeten Literatur berührt den Bereich interkulturelle, geschlechtsbewusste Jungenarbeit im Allgemeinen.
Ich werde einzelne Aspekte von Interkulturalität, Fremdheit, Geschlechterforschung, interkulturelle und geschlechtsbewusste Pädagogik miteinander verknüpfen. Des weiteren habe ich fünf leitfragengestützte Interviews mit Experten der Jungenarbeit zu diesem Thema durchgeführt. Sie werden mir als weitere Quelle dienen und durch sie wird ein differenzierteres Bild von interkultureller Jungenarbeit erstellt. Außerdem werde ich versuchen zu klären, in welchem Prozess sich die interkulturelle Jungenarbeit befindet.
Ich habe mich gefragt, ob der Bedarf der Zielgruppe steigt und das Thema zunehmend Raum einnehmen wird. Viele Aspekte von Sozialer Arbeit der Gegenwart und der Zukunft sind in diesem Themenfeld enthalten und bieten die Möglichkeit, das Sichtfeld des Professionellen zu erweitern. Doch inwieweit dieses Sichtfeld erweitert werden kann und welche Gefahren dabei entstehen, soll mit Hilfe der interkulturellen Kompetenz ein wenig durchsichtiger werden.
Ich werde die Diplomarbeit inhaltlich so aufbauen, dass ich im ersten Teil die Leser mit dem Thema Interkulturalität ein wenig vertraut mache. Zum einen werde ich ein paar Aspekte des Theoriekonzeptes von Interkulturalität skizzieren. Zum anderen werde ich die aktuellen Ereignisse und Diskussionen zum Thema Zuwanderung in Deutschland mit einbinden, die die Bedeutung von Fremdheitsaspekten implizieren. Der dritte Abschnitt wird einen Überblick über die Bevölkerungsstruktur geben. Ich werde verdeutlichen, was sich hinter dem Begriff „MigrantIn“ verbirgt. Zudem soll Klarheit in die Vielfalt der Ethnien in Deutschland gebracht werden. Dies wird vor allem durch eine Aufschlüsselung rechtlicher Aspekte geschehen.
Das darauf folgende Kapitel wird so konstruiert sein, dass der Leser sich systematisch dem eigentlichen Gegenstand nähern kann. Grundlegendes über Formen der Männlichkeit in unserer Gesellschaft und die geschlechtsbewusste Jungenarbeit werde ich kurz zusammenfassen. Im dritten Kapitel werden die Vorgehensweise und Methode der Experteninterviews erläutert, die ab diesem Zeitpunkt in die Arbeit einfließen werden.
Ich werde im vierten Kapitel die Lebenssituation von „Migrantenjungen“ beleuchten, um Klarheit darüber zu schaffen, mit welchen Jungen wir es denn zu tun haben könnten. Darauf aufbauend wird dann die interkulturelle Jungenarbeit in Theorie und Praxis ausgeführt, um im letzten Abschnitt den Focus auf die Jungenarbeiter zu richten. Mit welchen Fähigkeiten und Kompetenzen muss er „gewappnet“ sein, um den Jungen und sich selbst gerecht zu werden?
Zum Schluss wird es im siebten Kapitel eine kurze, zusammenfassende Auswertung und Reflexion der Experteninterviews geben. Daran anschließend werde ich eine Schlussbetrachtung mit perspektivischem Ausblick geben.
Interkulturalität ist ein vielschichtiger und dynamischer Begriff. Versucht man diesen näher zu erklären, kann das Ergebnis je nach Fachgebiet oder sozialem Zusammenhang sehr unterschiedlich aussehen. Eine Definition ist im Duden oder Fremdwörterlexikon nicht zu finden und somit auch kein universell gebräuchlicher Begriff. In dieser Diplomarbeit möchte ich mich an der Erklärung von Albrecht orientieren. Er beschreibt Interkulturalität als einen „Bewusstseins- oder Erkenntnisprozess, der aus der selbstreflexiven Wahrnehmung und Erfahrung kultureller Pluralität erwächst“. (Albrecht 1997a, S.119 zit. nach Gemende, Schroer, Sting 1999, S.12)
Möchte man sich über die Bedeutung von Interkulturalität und ihrer Definition nach Albrecht klar werden, ist erst mal erkennbar, dass der Begriff „Kultur“ darin steckt. „Kultur ist die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäußerung einer Gemeinschaft oder Volkes“.(Duden 2001) Dieses Verständnis von Kultur geht noch auf J.- G. Herder (*1744 - †1803) zurück, ist aber aus heutigen und systemischen Gesichtspunkten unvollständig. „Mit Kultur kann ein System [in diesem Fall die Gesellschaft oder z. B. die Mitbürger eines Landes] seine Selbstbeschreibung reflektieren, denn sie liefert ihm historische o. regionale Vergleichsmöglichkeiten. [...] Indem sie aber Vergleichsmöglichkeiten bietet, schafft sie Sicherheiten und Unsicherheiten zugleich.“ (Bardmann/ Lamprecht, 1999 Definition Kultur)
Kultur ist demnach, je nach der ethnischen Gruppierung, unterschiedlich konstruiert. Sie ist außerdem dafür verantwortlich, wie sich ein Bild vom ‚Gegenüber’ zusammensetzt. In Bezug auf den Kulturbegriff und die damit verbundenen Zusammenhänge ist das Bewusstsein und die eigene Reflexion im Umgang mit der Fremde oder fremden Kulturen für das Verhalten einer Person, des Sozialarbeiters, ausschlaggebend[1].
Die Sozialisation und Faktoren wie der soziale Habitus prägen zusätzlich und unbewusst das Verhalten einer Person.
Zum einen entwickelt sich eine „homogene medial inszenierte Weltkultur“ (Gemende, Schroer, Sting 1999, S.11) und zum anderen bietet das Aufeinandertreffen von vielen verschiedenen ethnischen Gruppen großes Konfliktpotential. „Wenn man also die Kulturgebundenheit ernst nimmt, dann kann man sich nicht jenseits der Kulturen bewegen...[und durch diese Polarität ist] die Definition von Interkulturalität... Zustand und [gleichzeitig] Prozess zwischen verschiedenen Kulturen.“ (ebd. S.13)
Niemand vermag seine eigene Kultur abzuschütteln und eine neue zu assimilieren. Lediglich Teile einer neuen Kultur können wahrgenommen und integriert werden. (vgl. Gemende, Schroer, Sting, 1999, S.7 ff.)
Moderne Standpunkte der Diskussion über die Integration oder Identifikation eines Menschen mit Migrationshintergrund sind, dass sich „Migranten [...] weniger auf ihre nationale Herkunftskultur als vielmehr auf eine eigenständige Einwandererkultur beziehen.“ (ebd. S.13) Es entsteht etwas „Neues“, das von allen Beteiligten wahrgenommen und verstanden werden muss.
Geiger und Lösche (1999) beschreiben, dass Kulturen, Teil – und Subkulturen als dynamische Systeme zu sehen sind. Die Jugendlichen beispielsweise eignen sich diese an und können, je nach Erfordernis, ihre Kultur wieder verändern. Festgelegte Identitäten einer bestimmten Herkunft können nicht helfen, Veränderungen adäquat zu verstehen. „Eine an ethnisch-kultureller Herkunftskultur orientierte Pädagogik [...] kann sogar Zuschreibungen erzeugen, die Individuen gerade abstreifen wollen.“ (Geiger, Lösche 1999, S.110)
Ich möchte nun einen Blick auf Deutschland und den gegenwärtigen Diskurs über die „Multikulturelle Gesellschaft“ werfen. Daraus ergeben sich eine Reihe von Begrifflichkeiten, die grundlegend erläutert werden müssen. In der BRD lebten im Jahre 2000 über 7,3 Mio. MigrantInnen[2]. Insgesamt geht man von über 12 Mio. Menschen mit einem Migrationshintergrund aus. Diese Gruppe ist keine Minderheit, sondern umfasst ca. 14 % der Gesamtbevölkerung! (vgl. Hasenjürgen 2002)
In der Diskussion stellen sich dazu häufig dieselben Fragen: Ist Deutschland ein Einwanderungsland? Sind wir eine Multikulturelle Gesellschaft? Miteinander oder Nebeneinader leben? Soll eine Assimilation an die „deutsche Leitkultur“[3] oder eine ganzheitliche Integration der MigrantInnen erreicht werden?
Antworten auf diese Fragen sind in der Öffentlichkeit vielfach erörtert worden, und besonders gut lässt sich das am folgenden Beispiel festmachen:
Ab dem 1.1.2003 sollte das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft treten. Das Bundesverfassungsgericht hat aber am 18.12.2002 entschieden, dass die Abstimmung im Bundesrat über die Novellierung des Gesetzes nicht rechtmäßig abgelaufen sei. Somit muss der Entwurf erneut im Bundestag vorgelegt werden. Die Politik und Gesellschaft bereiten sich auf eine wiederkehrende Debatte vor. Die Parteien und Organisationen müssen Stellung beziehen, denn der Umgang mit MigrantInnen soll besser „organisiert und gesteuert“ werden. Die CDU hat in 137 Punkten Änderungsanträge gestellt. Die FDP hat einen komplett neuen Gesetzesentwurf vorgelegt. Die Chance um eine breite gesellschaftliche Diskussion auf der Basis der Süssmuth - Kommission ist vertan worden. In der gesellschaftlichen Diskussion herrschen viele Vorurteile und Fehlinformationen vor.
Diese Diskussion ist nach meiner Erfahrung häufig mit Emotionen, Klischees und Vorurteilen gegenüber diesen Menschen belastet. Gerade die Massenmedien sind daran beteiligt und tragen erheblich zur Ethnisierung sozialer Konflikte bei.[4] (vgl. Bukow, 1996) In den Schlagzeilen werden negativ besetzte Bilder benutzt, und lediglich transnationale Eliten- und Expertenmigrationen genießen den Status „Willkommener Gast“.[5] Kritiker der Zuwanderung reden häufig von (Angst vor) Überfremdung der Deutschen und einer verschärften Konkurrenz um Wohnungen, Ausbildung und Arbeitsmarkt, außerdem von hohen Kosten für die Sozialsysteme und Kommunen. Jaschke (2001) schreibt ferner, dass meistens die Unterschicht der Bevölkerung die Schattenseiten der multikulturellen Gesellschaft erfahren muss. Darauf gehe ich im Kapitel Lebenswelten noch genauer ein.
Die politisch Linken hingegen appellieren an die moralische Mitverantwortung der Industrieländer mit Blick auf das Elend in den Armutsländern der Erde und verkünden das ‚Finish’ des Nationalstaatdenkens. Sie sind überzeugt von einem System internationaler Verantwortlichkeiten (vgl. Jaschke, 2001, S.85 ff ).
MigrantInnen, die bereits in Deutschland leben, sind oft Gegenstand der Zuwanderungsdiskussion. Hier werden die unterschiedlichen Standpunkte der Diskussionspartner deutlich: Integration dieser Menschen soll durch Assimilation, also durch die völlige Angleichung an die vorherrschenden Wertvorstellungen und Normen der (deutschen) Gesellschaft erreicht werden. In diesem Zusammenhang ist auch von führenden Politikern der CDU der Begriff der „Deutschen Leitkultur“ eingeführt worden. Kritiker dieses Prinzips plädieren für die multikulturelle Vielfalt. Die Frankfurter Rundschau schrieb in einem ihrer Artikel: „Auf dem Hintergrund des immer noch völkisch geprägten nationalen Selbstverständnisses der Deutschen und ihrer daraus erwachsenden Ängste vor Überfremdung „ihrer“ Kultur wird die Forderung nach Integration der Ausländer in die deutsche Gesellschaft von den meisten als Assimilation an die Deutschen und ihre kulturellen Überlieferungen verstanden“. (Oberndörfer 2000)
Das Modell der multikulturellen Gesellschaft bedient sich sehr unterschiedlicher Annahmen. Die Spannweite der Diskussion liegt zwischen Aspekten wie Angst vor dem Fremden und kultureller Öffnung. Sie bilden damit ein „Pulverfass“. Ob und wie ein Deutscher, auf diese Frage der Zuwanderung reagiert, hängt damit zusammen, welches Bild er von der eigenen und der fremden Kultur hat. Die Erfahrungen in der Sozialisation eines Menschen sind bestimmend dafür, wie diese „Fremdheitskompetenz“ ausgeprägt ist. Fremdheitskompetenz meint, einen bewussten Umgang mit Unterschieden – also z. B. Uneinheitliches nicht als Feindliches zu betrachten. Zusätzlich sollen bewusst die bi- oder multikulturellen Seiten in der eigenen Person wahrgenommen werden.
Diese Wahrnehmungen zu reflektieren und diese Vorgänge als reizvoll anzusehen, stellt eine Erweiterung des gesamten Blickfeldes dar. (vgl. Jakubeit/ Schattenhöfer 1996)
Die Stimmungen in Deutschland sind momentan gekennzeichnet von polarisierenden Haltungen gegenüber der „Multikulturellen Gesellschaft“. Einerseits sind sie kritisch gegenüber den Fremden. Die durchdringenden Ängste, wie Arbeits- und Wohnplatzverlust bis hin zur mitschwingenden Werteverschiebung, schaffen ein ambivalentes Verhältnis zu Fremden. Andererseits zeigt sich eine Haltung, die für eine offensive Integration aller MigrantInnen und die damit verbundene Vermischung der Kulturen steht.
Durch die Pluralisierung von verschiedenen kulturellen (sub)Gruppen einer Stadtgesellschaft kommt es häufig zu Konflikten. Helmuth Schweitzer (2002) nennt notwenige Bestandteile von interkultureller Arbeit die zu einer Öffnung einer Kommune führen können. Er stellt klar, dass durch die Globalisierung die kulturelle Vielfalt zunehmend als Ressource gesehen werden muss. Aus kommunaler Sicht müssen die marginalisierten Gruppen, unabhängig ihrer Ethnie, unterstützt werden. Dies erfordert eine „freiwillige Abgrenzung und eigenethnische Organisationsstruktur[en], als Vorraussetzung für einen interkulturellen Dialog [...]“ (Schweitzer 2002, S .20) In einer Kommune muss somit durch Personalentwicklung und Fortbildung der Verwaltung eine Mainstreaming - Strategie entwickelt werden. Weniger Konflikte und mehr Integration könnten durch ein „interkulturelles Stadtmanagement“ erreicht werden. (ebd. S.20)
Derzeitige Diskussionen zur Migration geben allen Grund zur Annahme, dass die Menschen der Mehrheitsgesellschaft sehr wenig über die Migrationsgeschichte ihrer Mitmenschen in der Nachbarschaft oder näheren Umgebung wissen. Migration ist ein komplexer Bereich. Trotzdem möchte ich die MigrantInnen im nächsten Kapitel anhand der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Deutschland differenziert darstellen..
Wie viele MigrantInnen leben heutzutage in Deutschland? Um welche Minderheiten handelt es sich genau? Im folgenden Abschnitt soll ein kurzer, differenzierter Einblick darüber verschafft werden, welche Zuwanderungsgruppen sich nach rechtlichen Formen in Deutschland befinden[6]:
Spätaussiedler sind Deutsche im Sinne des Art. 116 Grundgesetz und müssen ihren Wohnsitz in einem Aussiedlungsgebiet haben. Aussiedlungsgebiete sind die osteuropäischen Staaten und die ehemalige Sowjetunion. Die Aufnahme von Aussiedlern oder deren nichtdeutschen Ehegatten und Abkömmlingen ist auf ca. 100.000 Menschen pro Jahr begrenzt. Familiäre Bestätigungsmerkmale wie (deutsche) Sprache, Kultur oder Erziehung müssen ihnen vermittelt worden sein. Nach einer Aufnahme in Deutschland wird den meisten Aussiedlern ein Wohnort zugewiesen, sofern sie nicht irgendwo ein gesichertes Einkommen nachweisen können. Eingliederungs- oder Sozialhilfe erhalten sie nur am zugewiesenen Wohnort. Von 1990 bis 2000 kamen mehr als zwei Millionen Spätsaussiedler nach Deutschland.
Politisch verfolgte Menschen, die einen Antrag auf Asyl in Deutschland stellen, sind sogen. Asylberechtigte. Gesetzliche Grundlage ist Art. 16a Grundgesetz. Es gibt aus rechtlicher Sicht unterschiedliche Flüchtlingsgruppen: Konventionsflüchtlinge sind die Menschen, „die aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ (Artikel 1 A Nr.2 Genfer Konventionen) berechtigt sind, einen Antrag zu stellen. Hinzu kommen die Kontingentflüchtlinge, die im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommen wurden. Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge erhalten die Möglichkeit zur vorübergehenden Aufnahme ohne Einzelfallprüfung. Das waren bisher maßgeblich die Kosovo- Albaner, die durch eine politische Entscheidung nach dem § 32a Ausländer Gesetz aufgenommen worden sind.
De-facto Flüchtlinge sind Menschen, für die eine Rückkehr in ihr Heimatland aus humanitären oder politischen Gründen nicht zumutbar ist. Im Jahre 2000 hielten sich ca. 370.000 dieser Flüchtlinge in Deutschland auf. Sie bilden die Mehrheit der Flüchtlinge und haben keinen Asylantrag gestellt oder eine Ablehnung erhalten. Der rechtliche Status ist dem eines Asylbewerbers ähnlich. Sobald die Voraussetzungen, wie z. B. ein Bürgerkrieg wegfallen, sind sie zur Ausreise verpflichtet. Hauptsächlich besteht diese Gruppe aus Flüchtlingen aus dem Kosovo (gegenwärtig 110.000 Personen). In den Kriegsjahren 1994 – 1996 stammte der Großteil der Flüchtlinge aus Bosnien- Herzegowina (Höchststand 1996: 345.000 Personen), aber die Rückführung kann heute zum größten Teil als abgeschlossen angesehen werden. Lediglich schwer Traumatisierte und Personen, die sich bereits seit sechs Jahren in Deutschland aufhalten und sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, dürfen länger bleiben. Heimatlose AusländerInnen sind Personen, die während des zweiten Weltkrieges verschleppt wurden sowie deren Nachkommen (im Jahr 2000: 13.000 Personen).
Die Prüfung und die Zuständigkeit für die Asylanträge liegt im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl). Von 1990 bis Ende 2000 haben in Deutschland fast 2 Millionen (1.958.153) Menschen einen Asylantrag gestellt[7]. Aus der ersten Tabelle ist ersichtlich, dass die Antragszahlen sinken. (Tabelle 1) Gründe dafür sind lt. Bundesamt die Stabilisierung der Lage im Balkan und die demokratischen und rechtsstaatlichen Konsolidierungsprozesse in den Ländern Rumänien und Bulgarien[8].
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1 Entwicklung der monatlichen Asylantragszahlen seit Januar 2002 in der Bundesrepublik Deutschland[9]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Zahl der Asylanträge in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2002 nach Nationalitäten[10]
Tabelle 2 gibt zu erkennen, dass die größte ethnische Gruppe Menschen mit irakischer Nationalität darstellen. Gerade in den Herkunftsländern des nahen Ostens sind unterschiedliche Ethnien, wie z. B. die Kurden vertreten. Es wird deutlich, dass es sich bei den MigrantInnen um keine homogene Gruppe handelt, sondern um viele verschiedene Ethnien, selbst wenn sie aus dem gleichen Herkunftsland kommen.
Diese Gegebenheit hat Auswirkungen auf die soziale und psychosoziale Situation von Asylbewerbern, auf die kurz eingegangen werden soll:
Unabhängig davon, wie lange ein Asylverfahren dauert[11], werden die Flüchtlinge in Sammelunterkünften, sogenannten Landeszentraleinrichtungen, untergebracht. Schon bei dieser Unterbringung sind auf engstem Raum Menschen unterschiedlichster Herkunft und Religion einquartiert. Erst wenn eine Person vom Bundesamt als Flüchtling anerkannt wird, erhält sie eine Aufenthaltsgenehmigung. Aus ihrer Sicht als AntragstellerIn wird ihr willkürlich eine Stadt in Deutschland als Wohnort zugewiesen.
Gekürzte Sozialhilfe und Arbeitsverbot beeinträchtigen die ökonomische Situation dieser Menschen. Weiterhin dürfen sie die Kreisgrenzen der jeweiligen Städte nicht verlassen, es sei denn, es liegt eine Genehmigung mit wichtigen Gründen vor[12]. Fehlende Sprachkenntnisse und keine Schulpflicht für die Kinder erschweren jegliche Integration. Aus meiner Sicht befinden sich die Menschen, die einen Antrag auf Asyl gestellt haben oder bereits anerkannte Asylberechtigte sind, in einer besonderen psychosozialen Situation oder Krise. Diese Situation ist gekennzeichnet durch Entwurzelung aus Vertrautem, Entfremdung von Bindungen und eine äußerst unsichere Zukunftsperspektive. Schließlich kann zu jeder Zeit der Asylberechtigte aufgefordert werden, das Land zu verlassen. (vgl. Simon 2000, S.59 ff. ) Dies unterscheidet sie von Menschen, die in Deutschland aus ökonomischen Gründen einwandern (möchten).
Seit 1990 bis zum Jahre 2000 sind insgesamt 137.054 jüdische EmigrantInnen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland zugewandert. Eine Einreise wird möglich, wenn ein entsprechender Antrag an eine deutsche Botschaft gestellt wird. Ein Nachweis der Abstammung genügt, um einen positiven Entscheid zu erhalten. „Die Emigrationsmotive [...] [für eine Auswanderung sind] Angst vor Antisemitismus und [...] die prekäre ökonomische Situation, [...].“ (Rüßler 2001, S.268 zit. aus Migrationsbericht der Ausländerbeauftragten 2001, S.34) Interessanterweise gilt in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion „Jüdisch“ als Nationalität. In diesem Fall wird die unterschiedliche Auffassung von Ethnie, Religion und Nationalität anderer Staaten deutlich.
Innerhalb der Europäischen Union ist es Bürgern gestattet, in einzelne Länder zu – und abzuwandern. Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien befreien die MigrantInnen von der Aufenthaltserlaubnispflicht. In Deutschland sind 1999 insgesamt 874.023 Zuzüge zu verzeichnen. Vergleicht man die Anzahl der Zuzüge mit der der Fortzüge, lässt sich statistisch nachweisen, dass es einen Rückgang der Zuzüge gibt. Eine Ursache dafür ist wahrscheinlich die anhaltende Konjunkturkrise. Ehegatten- und Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen sind in diese Statistik miteinbezogen. Nachzugsberechtigt sind Ehegatten und Kinder, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Im Jahre 2000 waren das 75.800 Personen. Die größte ethnische Gruppe stellen Menschen aus der Türkei dar (21.447).
Eine weitere Gruppe von MigrantInnen sind die Werkvertrags-, Saison-, Gast-, und GrenzarbeitnehmerInnen sowie Menschen, die eine zeitlich begrenzte Arbeitsmigration aus Nicht-EU- Staaten eingehen. Genaue Zahlen sind leider nicht bekannt, da sich die Aufenthaltsdauer der einzelnen ArbeitnehmerInnen unterscheidet. Es handelt sich um Menschen, die in Deutschland arbeiten und häufig ihren Lebensmittelpunkt noch im Ausland haben. Die gewohnte Umgebung bleibt erhalten. Der Vollständigkeit halber sollen die IT- Fachkräfte genannt werden, die durch eine Green Card Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt haben und bis zu fünf Jahre in Deutschland arbeiten und leben dürfen (insgesamt 7.704 Personen für 2000/2001). Außerdem halten sich die Ausländischen Studierenden, die man wiederum in zwei Gruppen einteilen kann, in Deutschland auf. Einerseits studieren hier diejenigen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und eine andere Staatsangehörigkeit besitzen. Zum anderen befinden sich die StudentInnen in Deutschland, die im Rahmen ihres Studiums ein oder mehrere Auslandssemester einlegen. Insgesamt waren es im Wintersemester 1999/2000 175.140 StudentInnen.
Ein Problem in dieser Diskussion um Daten und Zahlen von MigrantInnen ist die Gruppe der Personen, die sich unkontrolliert in Deutschland aufhalten. Dafür gibt es verschiedenen Motive, z. B.die Arbeitsaufnahme und Verbesserung der ökonomischen Situation oder familiäre und verwandtschaftliche Motive nicht nachzugsberechtigter Personen. Außerdem gibt es die Personen, die sich nach gewährter Aufenthaltsfrist
(z. B. als Touristen oder Saisonarbeiter) weiterhin in Deutschland aufhalten. Dies geschieht manchmal auch unter kriminellen Einflüssen durch kommerzielle oder organisierte Kriminalität (z. B. Transport, gefälschte Pässe).
„Die unerlaubt in Deutschland lebenden MigrantInnen entziehen sich somit weitgehend der statistischen Erfassung.“ (Statistisches Bundesamt 2001, S.68) Die Anzahl der an der Grenze Aufgegriffenen liegt im Jahr 2000 bei 31.485, es ist aber von einer höheren unbekannten Dunkelziffer auszugehen.(ebd. 2001)
Im weiteren Verlauf meiner Betrachtungen möchte ich die Gruppe der Flüchtlinge ausklammern. Sie stecken in einer belastenden, zeitlich begrenzten, unsicheren Situation. Außerdem ist das Zuwanderungsgesetz wieder stärker in die Diskussion gerückt[13], welches Auswirkungen auf die Anzahl und Struktur der Asylberechtigten haben wird. Das soll nicht heißen, dass die Jungen in der Praxis ausgegrenzt werden sollen, sondern sie erfordern zumindest theoretisch einige Überlegungen aus Sicht der Krisenintervention, die ich in diesem Rahmen nicht leisten kann.
In den Blick geraten die MigrantInnen, die vornehmlich einen längeren Aufenthalt in Deutschland hatten und haben. Aus Tabelle 3 wird ersichtlich, dass die größte ethnische Gruppe die Menschen aus der Türkei und Jugoslawien bilden. Insgesamt sind laut Bundesministerium des Innern bisher (zwischen 1950 und 2001) 4.222.966 Aussiedler nach Deutschland eingewandert. (BMI 2002).
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Klientel in der Jungenarbeit unterschiedlich strukturiert sein kann. Es sind sowohl neu eingewanderte Migrantenfamilien, als auch Familien der zweiten und dritten Generation. Hinzu kommt, dass die Soziale Arbeit mit einer Vielfalt von Ethnien und Nationalitäten zu tun hat. Es ist also festzuhalten, dass es sich in der Praxis selten um völlig homogene Gruppen handelt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3 Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland nach der Häufigkeit der Staatsangehörigkeiten am 31. Dezember 2000, Quelle: Statistisches Bundesamt
„Männerforschung in Bewegung“ heißt es im Vorwort des Buches „Der gemachte Mann“ von Robert W. Connell (2000). Nach einer langen Diskussion über Frauenthemen (sexuelle Gewalt, Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt, Lohnungleichheit, u.s.w.), resultierend aus dem Feminismus der 70er Jahre, sind in den Sozial- und Kulturwissenschaften auch Männerthemen (viele Männer fühlen sich nicht privilegiert und sind verunsichert darüber, was Männlichkeit bedeutet) in das Blickfeld der Wissenschaftler - und somit in Bewegung- geraten. R. Connell entwickelt das Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“ und veröffentlicht dies erstmalig 1987 in einem breit angelegten theoretischen Kontext. Seitdem findet es Eingang in empirische Untersuchungen, pädagogische Anwendungen und auch in wissenschaftliche Abschlussarbeiten wie diese. (vgl. Müller 2000) Er erarbeitete das Modell der hegemonialen Männlichkeit, dessen Theorie m.E. das Basiswissen in der geschlechtsbewussten Arbeit mitbegründet und dort Berücksichtigung finden muss. Connell (2002) betont aber immer wieder, dass seine Begrifflichkeiten keine festen Charaktertypen bezeichnen, sondern bestimmte Handlungsmuster in einem Beziehungsgefüge beschreiben.
In der Auseinandersetzung um das Geschlecht sind viele weitere Konzepte entstanden. Einer von diesen Ansätzen ist die Trennung zwischen dem biologischen und dem kulturellen Geschlecht. Die Begrifflichkeiten dafür nennt man Sex (bio.) und Gender (kult.). Es soll damit verdeutlicht werden, „dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen, die Frauen und Männer haben, keine Konsequenz einer natürlichen Geschlechterdifferenz, sondern Resultat kultureller und gesellschaftlicher Organisation sind.“ (Huschke 2002, S.58)
Auch bei Connell findet sich dieser Gedanke. Er beschreibt „das soziale Geschlecht als eine Art und Weise, in der soziale Praxis geordnet ist.“ (Connell 2000, S.92) Es ist vergleichbar mit dem Gender/Sex- Ansatz, denn er sieht den alltäglichen Lebensvollzug der Geschlechterprozesse in Relation zu dem Reproduktionsbereich (reproductive arena). Stellt man sich das am Beispiel der „Familie“ vor, ist die Rolle der Frau und des Mannes in zwei Bereiche eingeteilt: zum einen in den der Reproduktion, die sich auf die Sexualität, das Gebären und Aufziehen von Kindern, insgesamt auf die körperlichen Geschlechtsunterschiede und -gemeinsamkeiten bezieht; zum anderen in den Bereich der sozialen Praxis, die auf bestimmte Situationen reagiert und innerhalb fester Strukturen von sozialen Beziehungen entsteht. Sie ist in einem historischen Kontext zu sehen. Die Handlungen der Mutter und des Vaters haben sich verändert, außer in Sachen der körperlichen Handlungsweisen. (vgl. Connell 2002, S.87 ff.)
Für die Analyse von Männlichkeiten ist wichtig, dass sie unterschiedlichen historischen Entwicklungslinien folgen können. Was Männlichkeit bedeutet, ist nicht festgelegt und „internen Widersprüchen und historischen Brüchen ausgesetzt.“ (Connell 2000, S.94).
Connell beschreibt ein dreistufiges Modell für die Struktur des sozialen Geschlechts. Er unterscheidet in Macht, Produktion und emotionale Bindungsstruktur (Kathexis):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 Das Drei- Stufen Modell der Sozialen Praxis nach Connell 2002
Connell hat vier Formen der Männlichkeit unterschieden. Um überhaupt über Männlichkeit sprechen zu können, muss festgestellt werden, dass wir Geschlecht kulturspezifisch herstellen . Diese Form der Auseinandersetzung ist historisch gesehen neu. Die Unterscheidungen helfen die Konstruktionen und die Krise von Männlichkeiten im sozialen Wandel der Geschlechterverhältnisse besser zu verstehen. Männlichkeit ist vielfach dynamisch und keineswegs eine festgelegte Form der Persönlichkeit. Sie ist nicht starr und kann jederzeit in Frage gestellt sein. Connell macht deutlich, dass einerseits die verschiedenen Formen existieren, andererseits verlangt er, dass zunehmend auch die Beziehungen zwischen den vier Formen der Männlichkeiten in den Blick der Wissenschaft genommen werden.
Hegemoniale Männlichkeit ist die „[...] momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimationsproblem des Patriarchats“. (Connell, 2000, S.98) Vorbilder wie Filmschauspieler oder Filmhelden spiegeln diese Männlichkeitsform wider. Auch „die Führungsebenen von Wirtschaft, Militär und Politik stellen eine recht korporative Inszenierung von [hegemonialer] Männlichkeit dar.“ (ebd. S.98) Es ist eine Strategie bzw. gesellschaftliche Vormachtsstellung, die als normal und selbstverständlich gilt. Zusätzlich ist zu bedenken, dass z. B. eine neue Gruppe oder Generation die Art und Weise einer Männlichkeitsform in Frage stellen kann und eine neue Hegemonie konstruiert wird.
Während die Hegemonie eine machtvolle Form darstellt, gibt es zwangsläufig auch eine untergeordnete Männlichkeit. Connell meint die homosexuellen Männer in der europäisch- amerikanischen Kultur. Der politische und kulturelle Ausschluss, die Gewalt und Diskriminierung umfassen einen Teil der Alltagserfahrungen homosexueller Männer. „Alles, was die patriarchale Ideologie aus der hegemonialen Männlichkeit ausschließt, wird [durch diese hegemonialen Gruppen] dem Schwulsein zugeordnet.“ (ebd. S.99) Auch heterosexuelle Männer und Jungen können diesem zugeordnet werden, wenn sie nicht dem Bild der Hegemonie entsprechen. Im Alltag kann sich das durch Beschimpfungen (wie z. B. Schlappschwanz, Muttersöhnchen, usw.) und Andeutungen zur Disziplinierung oder in Konkurrenzsituationen zeigen. Der Jungenarbeiter kann beispielsweise schnell Verunsicherungen (durch sein nicht-hegemoniales männliches Erscheinen) auf Seiten der Jungen hervorrufen. Er kann in die Situation katapultiert werden, „irgendwie“ reagieren zu müssen. Praktisch bedeutet das, die verspürte Verunsicherung in der Gruppe anzusprechen, bewusst auszuklammern oder gar zu verdrängen.
Connell beschreibt die symbolische Nähe zum Weiblichen, die bei dieser Art von Ausgrenzung seiner Ansicht nach offensichtlich ist.
Komplizenhafte Männlichkeit wird von Connell als eine Form des Verhältnisses zwischen der Komplizenschaft und der hegemonialen Männlichkeit beschrieben. Sie beinhaltet die Gruppe von Männern, die von der hegemonialen Männlichkeit profitieren und Auseinandersetzungen eher aus dem Weg gehen. Sie haben keine Streitigkeiten mit (Ehe-) Frauen in Bezug auf Kompromisse im Alltagsleben und möchten auch nicht in eine konflikthafte Konfrontation geraten. Das Komplizenhafte drückt sich dadurch aus, dass sie in ihrem sozialen Umfeld eher unauffällig bleiben. Sie bilden die Mehrheit derer, die Hegemonie letztendlich weiter stützen.
Hegemonie, Unterordnung und Komplizenschaft stehen in Beziehung zueinander. Eine weitere Form, die Ethnizität mit berücksichtigt, nennt Connell Marginalisierte Männlichkeit. Sie schließt sog. Rassenaspekte mit ein. Sozial benachteiligte Schichten oder ethnische Minderheiten genießen in einem Kontext der westlich- kapitalistischen Welt wenig gesellschaftliche Autorität und profitieren kaum von der Dividende des Patriarchats. Als Beispiel führt Connell an, dass es in den USA berühmte schwarze Sportler gibt, aber dieser Ruhm und Reichtum nicht auf die breite Schicht der Schwarzen ausstrahlt. Sie gewinnen kein größeres Maß an Autorität. (vgl. Connell 2000)
Ein weiteres, aktuelles Beispiel sind die derzeitigen politischen- militärischen Konflikte in der Welt. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht verteidigen die USA ihre hegemoniale Männlichkeit gegen eine marginalisierte Männlichkeit, die von der islamischen männlichen Kultur dargestellt wird. Wirtschaftliche und politische Gründe stehen m.E. bei dem derzeitigen Blitzkrieg im Vordergrund, aber der Nebeneffekt dieses wirtschaftlichen Krieges ist eine Polarisierung beider Kulturen und die Diskriminierung beider Ethnien. Bei einem Blick auf die westlichen Medien wird klar, dass Soldaten als heroische Kämpfer dargestellt werden. Durch die Medienberichterstattung vieler Fernsehsender gewinnen die einzelnen Schicksale an Bedeutung. Wenn ein tapferer alliierter Soldat „gefallen“ ist, kommt es vor, dass sein Portrait veröffentlicht wird und die Trauernden (Familie, Kameraden) interviewt werden.
Ausgeblendet werden aber die erlebten extremen Ängste, Gefahren und Tode, die bei beiden Kriegsparteien täglich in den eigenen Reihen vorherrschen. Connell beschreibt, dass die industrialisierten Kriege mit Heroismus nichts mehr gemein haben. Aber durch die Schaffung von Vorbildern wird diese hegemoniale Männlichkeit „gehegt und gepflegt“. (vgl. Connell 2000, S.233 ff.) M. E. zeigt sich das auch in der aktuellen politischen Krisensituation. Die Hegemonie wird auf beiden Seiten durch den Heroismus gelebt, aber es kann plötzlich eine Situation entstehen, in der die Soldaten den extremen Ängsten nicht ausweichen können.
Ein erweiterter Gedanke zur hegemonialen Männlichkeit in Verbindung mit Interkulturalität wird in einem Beitrag von Michael Meuser (2000) deutlich. Er stellt ein Beispiel vor, in dem es um eine Gruppe türkischer Männer geht. Sie äußern sich über deutsche Männer mit Unverständnis über ihre Ehre und Männlichkeit. Deutsche Männer wirken in ihren Augen schwach. Es wird offensichtlich, dass die ethnische Zugehörigkeit genutzt wird, um die Vorstellungen von Geschlechterrollen durchzusetzen. Gleichzeitig wird „[...] die Geschlechterdifferenz genutzt, um die ethnische Differenz zu akzentuieren [...] Doing Gender und doing ethnicity sind gewissermaßen wechselseitig genutzte Ressourcen.“ (Meuser 2000, S.64) Zentrale Elemente hegemonialer Männlichkeit haben diese türkischen Männer für sich unbewusst beansprucht. Es verhilft ihnen aber wenig dazu, von der „patriarchalen Dividende“ unserer deutschen Gesellschaft zu profitieren, da hier die Hegemonialität von Männlichkeit auf anderen Vorstellungen von sozialem Habitus basiert. Durch diesen Ethnisierungsprozess werden sie von der hegemonialen Welt untergeordnet oder marginalisiert. Dieses Beispiel macht die Verschränkung von geschlechtlichen und ethnischem Habitus deutlich.
Im folgenden Kapitel geht es darum, die Diskussion um die Ansätze der Jungenarbeit in Deutschland kurz zu skizzieren. Schließlich gibt es zahlreiche Etikettierungen für Jungenarbeit, und es entsteht der Eindruck, dass es so viele Ansätze von Jungenarbeit gibt wie Autorinnen und Autoren. (vgl. Tiemann 1999)
Die in der Fachwelt bekanntesten Ansätze sind m. E. die der antisexistischen Jungenarbeit, die identitätsorientierte und die reflektierte Jungenarbeit. Sie haben durch zahlreiche Publikationen, die die Verknüpfung von Theorie und Praxis zum Gegenstand hatten, an besonderem Profil gewonnen.
Es wird über diese Ansätze eine kurze Zusammenfassung geben. Dann wird es einen Überblick über die Ziele, Inhalte und Methoden geben, die alle Ansätze m.E. gemeinsam haben.
Die antisexistische Jungenarbeit ist im Bildungshaus „Alte Molkerei Frille“ entstanden und von Franz Gerd Ottemeier- Glücks und seinem Team in den achtziger Jahren maßgeblich entwickelt worden. Sie bildet die Grundlage für die heutige Arbeit mit Jungengruppen im Bereich der Bildungsarbeit[14].
Verständnis und Ziel dieser Jungenarbeit ist, „[...] dass es dem Mann im Patriarchat trotz aller Privilegien nicht nur gut geht, [sondern] dass es ihm in einer gleichberechtigten Gesellschaft besser gehen würde.“ (HVHS Frille 1988, S.74) Als ein wichtiger Aspekt und besonderes gesellschaftliches Problem ist vor allem zu bemerken, dass es nicht „männlich“ ist, Probleme haben zu dürfen. Dieser Konflikt kann und soll mit der Bildungsarbeit aufgeweicht werden. Ein „Ziel muss es sein, den Jungen bewusst zu machen, welche Auswirkungen das hierarchische Verhältnis der Geschlechter für Frauen und Männer hat.“ (vgl. HVHS Frille 1988)
Die identitätsorientierte Jungenarbeit ist hauptsächlich durch Reinhard Winter entwickelt worden. Ein Ansatzpunkt ist, dass „Männlichkeitsideologien [...] wesentliche Teile männlicher Lebenswirklichkeiten [unterschlagen oder abspalten] [...] Sie tendieren dazu, Bezüge zur Realität zu verlieren.“(Winter,1996, S.123) Statt diesen Ideologien - oder besser formuliert - diesen herkömmlichen Definitionen von Männlichkeit weiterhin Raum zu geben, sollte ein neues Leitbild entwickelt werden. Es soll den Jungen ermöglichen bestimmte Seiten, wie z. B. Weichheit, Verletzsein, Angst, Scham, Trauer, Unterlegen sein, usw. zu entdecken und ins Selbstbild zu integrieren. (vgl. Winter 1996)
Reinhard Winter beschreibt auch ein „Magisches Dreieck“, indem sich die Jungenarbeit permanent bewegt. Die Eckpunkte dieses Systems sind die Jungen, die Struktur/Institution und die Jungenarbeiter. Gerade die männlichen Pädagogen gelten als wichtigstes Medium. Das wird gleichzeitig durch die männlichen Pädagogen und Lehrer selbst ausgeblendet. Sie haben für die Jungen eine Vorbildfunktion, sind männliches Gegenüber und Identifikationsfigur und gehen mit ihnen eine Beziehung ein, die durch eine besondere Qualität gekennzeichnet ist. Merkmale dieser Qualität sind z. B. Authentizität und der kritische Reflex mit der eigenen Männlichkeit.(vgl Winter 1996)
Jungen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2 Magisches Dreieck der Jungenarbeit nach Winter (1996)
Ein wesentlicher Aspekt des Konzeptes ist das Prinzip der Externalisierung, dass als Bestandteil männlicher Sozialisation angesehen wird. Es meint die Orientierung nach Außen. Die Wahrnehmungen und das Handeln wird nach Außen verlagert und ein Mangel an Bindung zu dem inneren Selbst bzw. zur eigenen Person ist das Resultat. Dies ruft nach Winter mangelnde Empathie und eine relativ schwache Beziehungs- und Gruppenfähigkeit hervor. (vgl. Winter 1997, S.119 ff.) Auf die Soziale Arbeit übertragen könnte man spitz formulieren: Nicht die Jugendarbeit, also die Institutionen und ihre MitarbeiterInnen, Verbände, Gremien usw. selbst haben ein Problem, sondern die Jungen, die eher mit ihren defizitären Eigenschaften gesehen werden. Eine Schuldzuweisung oder ein Erklärungsansatz vieler (Pädagogen) ist dann, dass die Probleme an der Männergesellschaft, dem Patriarchat, dem Sexismus usw. liegen. „Jugendarbeit ist aber Teil dieser sozialen Realität [in der sich die soziale Profession und die Jungen befinden] – und nicht automatisch eine heile geschlechtsneutrale oder positive Welt.“(Winter 1996, S.127)
Eine weitere zentrale These ist, dass die Jungensozialisation durch den Mangel an Männern im Erziehungssektor und die abwesenden Väter bestimmt ist. Winter stützt sich hier auf die Erkenntnisse von Carol Hagemann – White (1984), die über die Geschlechtersozialisation schreibt, dass eine Identitätsbildung somit nur „durch eine Praxis der doppelten Negation der Mutter [möglich ist].“ (Hagemann – White 1984, S.92) Jungenarbeit zielt bei Winter darauf ab, die Aneignung und Entwicklung des Junge- bzw. Mannseins im Sinne der erweiterten Handlungskompetenz zu fördern[15].
( vgl. Winter 1997)
Reflektierte Jungenarbeit nennt der Autor Uwe Sielert (1993) in seinem „Praxishandbuch der Jugendarbeit Teil 2“ seine Vorstellungen von der pädagogischen Arbeit mit Jungen. Er betont, dass ein erklärtes Ziel seines Konzeptes die Erweiterung der Verhaltensmöglichkeiten von Jungen sei[16].
Er ist der Ansicht, dass die anderen Modelle der Jungenpädagogik, wie z. B. die antisexistische oder die antichauvinistische Jungenarbeit voraussetzen, dass die Jungen sexistische oder chauvinistische Anteile haben. Viele Persönlichkeitsbeschreibungen haben ihre Berechtigung in der Kennzeichnung männlichen Verhaltens, aber fördern nicht eine Bereitschaft der Zielgruppe, in Lern- und Gruppenprozesse einzusteigen[17].
Sielert meint, dass die „[...] reflektierte Jungenarbeit sich nicht um die Frage der Machtverteilung herumdrücken [kann...und] eine notwendige Anstrengung auf dem Weg zu einem gewandelten Geschlechterverhältnis [beitragen muss].“ (Sielert, 1993)
In Bezug auf Tiemann (1997) werden im folgenden die grundlegenden Gemeinsamkeiten der Ansätze der Jungenarbeit kurz dargestellt:
- Die Rolle des Vaters ist ein Schlüsselproblem für die Sozialisation von Jungen.
Es wird immer wieder von abwesenden bis hin zu distanzierten Vätern geschrieben, die für die Jungen wenig bzw. mangelnde Identifikationsmöglichkeiten bieten.
- Jungenarbeiter sollen die Jungen „akzeptieren“ wie sie sind, mit ihren Stärken und Schwächen - denn auf der individuellen Ebene werden Jungen als Opfer und Täter herrschender Lebensrealitäten gesehen[18].
- Ein wesentliches Ziel ist es, die sozialen Kompetenzen der Jungen zu erweitern.
- Es geht um eine Demokratisierung des Geschlechterverhältnisses.
- Die Stärkung, Erweiterung und Modernisierung der männlichen Identität wirkt sich positiv auf die Entwicklung der Jungen aus.
- Die meisten Ansätze reflektieren Klassenverhältnisse, Ethnizität und die Existenz untergeordneter Männlichkeiten.
Die Rolle des Jungenarbeiters wird in allen Ansätzen ähnlich thematisiert. Der männliche Pädagoge ist nicht nur als pädagogische Fachkraft, sondern vor allem als Mann gefragt. Er hat eine wichtige Vorbildfunktion und sollte bestimmte Sichtweisen und Haltungen, reflektiert bzw. verinnerlicht haben. Er muss sich mit seinen Entwicklungen und Einstellungen als Mann auseinandergesetzt haben, und kann gerade bei den jungen Menschen die „familiäre und gesellschaftliche Armut an Vätern und Väterlichkeit teilweise auffangen.[19] “ (Winter 1993, S.163 )
Im Aufnehmen von Beziehungen und im Kontakt mit der Gruppe, vor allem aber auch mit dem Einzelnen, können Jungen ihr Gegenüber in Alltagssituationen[20] erleben und sich mit dem Jungenarbeiter als Mann identifizieren. „So werden [...] Männer als Ganzes erlebbar.“ (Winter 1993) Diese Beziehungsebene ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass Jungen neue Facetten des Mannseins erleben. Sie erfahren, dass ein Mann seine Gefühle zeigen kann, Stärken und Schwächen hat, verletzbar und verlässlich ist. Er soll anstreben, dass Jungen und Männer als eigenständige Personen ohne Abwertung von Mädchen und Frauen aus ihrem Selbst heraus leben und handeln können. Der Lernprozess soll sozusagen einen Kontrast zur Externalisierung bilden. (vgl. Winter 1993)
Ein Jungenarbeiter zeichnet sich dadurch aus, sein Verhalten und das der Jungen zu hinterfragen. Diese Eigenschaft unterscheidet sich nicht von den pädagogischen Professionellen anderer Arbeitsfelder, bekommt aber in der Jungenarbeit einen besonderen Stellenwert. Er muss in der Lage sein, auf dem Hintergrund der patriarchalen Strukturen und der hegemonialen Männlichkeiten unserer Gesellschaft sein eigenes und das Verhalten der Jungen zu reflektieren.
Ich halte den Begriff der „ geschlechtsbewussten Jungenarbeit “ für sinnvoll, weil er genau widerspiegelt, was im Prinzip in jedem institutionellen Rahmen und mit jedem Ansatz von Jungenarbeit vereinbar ist. Ich habe den Begriff selbst gewählt. Damit möchte ich nicht einen „Labelstreit[21] “ provozieren, sondern deutlich machen, welchen Begriff ich mir für Jungenarbeit aus meiner persönlichen Erfahrung vorstellen kann. Ich arbeite in der Praxis mit Menschen, - also Jungen, jungen Männern und Frauen - und meine persönliche Haltung soll in meinem ganzen „geschlechtsbewussten Handeln“ deutlich werden. Ich bin selbstverständlich nicht vollständig von herrschenden Geschlechterverhältnissen befreit und ein unabhängiges, gleichberechtigtes Individuum ohne jede Konstruktionsvorstellung von den Geschlechtern dieser Gesellschaft, aber ich versuche dennoch diese Haltung weiterzutragen und mein Handeln bewusst zu reflektieren. Wichtig ist m.E. außerdem, dass man sich (nicht nur) in diesem Feld der Soziale Arbeit in einem ständigen Lernprozess befindet, der niemals abgeschlossen sein wird. Sich das zu vergegenwärtigen ist nicht nur sinnvoll, sondern macht die „Unvollkommenheit“ deutlich, die trotz des hohen Anspruches nach außen hin vertreten werden darf.
Ergänzend sei noch erwähnt, dass alle Ansätze grundsätzlich als dynamisch, und nicht als starre Dogmen, zu verstehen sind. Veränderungen in einer Gesellschaft oder Gruppe müssen auch zur Veränderung eines Konzeptes führen.
Es gibt viele Methoden und Möglichkeiten, die sich für die Jungenarbeit anbieten. Die Methoden und Inhalte müssen auf die Zielgruppe und den jeweiligen institutionellen Rahmen abgestimmt sein. Außerdem sind sie abhängig von Alter, Bildungsgrad, Gruppengröße und Motivation der Jungen. Die nötige Sensibilität für die unterschiedlichen Bedürfnisse und Rahmenbedingungen steht im Vordergrund, um auf die Jungen angemessen und professionell eingehen zu können.
Einige praktische Themen, die ich für die Eckpunkte der Jungenarbeit halte, möchte ich nach Krabel (1998) und Lohscheller (2002) im folgenden kurz benennen. Sie ergeben den Rahmen für die praktische Arbeit mit Jungen:
- Gefühle wahrnehmen und erkennen, ganz gleich ob fremde oder eigene;
- sich über Leitbilder der Gesellschaft auseinander setzen, vom Filmstar bis zum eigenen Vater;
- die eigene Körperlichkeit spüren, erleben - ohne eine reine Funktionalisierung des eigenen Körpers;
- Konflikte konstruktiv lösen lernen;
- seine eigenen und fremde Grenzen erkennen und wahrnehmen;
- Kooperationsfähigkeit fördern, statt herkömmlich als Einzelkämpfer durch die Welt zu ziehen;
- die Auseinandersetzung mit dem eigenen und anderen Geschlecht;
- die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität;
- die Auseinandersetzung mit der eigenen geschlechtlichen Geschichte;
- die Auseinandersetzung mit eigenen Wünschen, Vorstellungen von der Zukunft
Die Inhalte sind beliebig ausbaubar und können sicherlich noch ausdifferenziert werden.
Die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten trägt maßgeblich zur Gewinnung von neuen Erfahrungen bei, die Ziel der geschlechtsbewussten Jungenarbeit ist. Bestandteile können auch in anderen Feldern der Sozialen Arbeit aufgearbeitet werden (z. B. Erlebnispädagogik), aber eine umfassende Auseinandersetzung mit der geschlechtlichen Identität ist in diesem Rahmen am sinnvollsten.
Die Aspekte von Interkulturalität als Bestandteil von Jungenarbeit sollen im weiteren Verlauf dieser Diplomarbeit ausgearbeitet werden.
Das Thema dieser Diplomarbeit ist durch die Verbindung der Querschnittsthemen Interkulturalität und Jungenarbeit, wie schon erwähnt, auf dem pädagogischen Sektor wenig erschlossen. Um ein umfassendes Bild zu erhalten, habe ich mich dazu entschieden, Experteninterviews durchzuführen. Ich habe ein leitfadengestütztes Interview erstellt, mit dem insgesamt fünf Personen befragt wurden. Alle Personen sind Experten zum Thema „Jungenarbeit“ und haben ebenfalls mit interkulturellen Jungengruppen gearbeitet oder sich mit dem Thema der Interkulturalität auseinandergesetzt.
Beim Experteninterview ist nicht die Gesamtperson Gegenstand der Analyse, sondern alles, was im organisatorischen und institutionellen Zusammenhang steht. Experten sind in diesem Fall die Menschen, die selbst Teil des Handlungsfeldes sind. Sie sollen „in irgendeiner Weise Verantwortung tragen für den Entwurf [...] einer Problemlösung [...] [und] über einen privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen [...] verfügen.“(Meuser/ Nagel 1991, S.443)
Es gibt zwei typische Untersuchungsanlagen: in der ersten werden Experten selbst als Zielgruppe der Untersuchung befragt. Die zweite ermöglicht ihnen, eine Auskunft über ihr eigenes Handlungsfeld zu geben.
Die ExpertInnen repräsentieren eine sogenannte „komplementäre Handlungseinheit“. Die Interviews sollen die Informationen über die Kontextbedingungen des Handelns einer Zielgruppe liefern. Dies wird auch Kontextwissen genannt. (ebd.)
Ich habe ein Leitfadeninterview ausgewählt, damit ich den Experten ein Themengebiet vorgeben kann, dass nicht zu stark eingegrenzt ist. Außerdem soll dadurch die Offenheit im Interviewverlauf gewährleistet werden.
Die Experten sind mit einem Aufnahmegerät interviewt worden, so dass keine Informationen verloren gehen konnten. Die Interviews wurden dann in den wichtigsten Aussagen transkribiert und im Anhang angefügt. Die Originalaufnahmen werden von mir aufbewahrt und es kann jederzeit auf sie zugegriffen werden.
Die Fragen des Leitfadens sind in vier Themenbereiche gegliedert, die ich in einzelne Fragen unterteilt habe:
I. Das „Warming up”
- Aus welchem Praxisfeld kommen Sie?
- Was wissen Sie über die Lebenssituation von Jungen mit
Migrationshintergrund?
II. Die interkulturelle Jungenarbeit
- Was ist interkulturelle Jungenarbeit?
- Ergibt sich ein Bedarf nach einer speziellen interkulturellen Pädagogik?
- Wie ist die Entwicklung von interkultureller Jungenarbeit?
III. Die Anforderungen an die Profession
- Welches Anforderungsprofil stellt sich dem „interkulturellen
Jungenarbeiter“?
IV. Das Verhältnis der Profession zur interkulturellen Jungenarbeit
- Was für Inhalte und Kompetenzen fehlen/sind vorhanden in der
Ausbildung/ Praxis/ Forschung?
Je nachdem, wie der Interviewte antwortete, konnten weitere Unterfragen gestellt oder Anhaltspunkte gegeben werden.
Zur Auswertung gehört, dass „die Äußerungen der Experten von Anfang an im Kontext ihrer institutionellen-organisatorischen Handlungsbedingungen verortet“ werden. (Meuser/Nagel 1991, S.453) Ziel ist es im Vergleich mit den unterschiedlichen Pädagogen, gemeinsame Aussagen über Repräsentatives und Wirklichkeitskonstruktionen, Interpretationen und Deutungsmuster, zu treffen. Die Schwierigkeit liegt nach Meuser/Nagel bei der Auswertung darin, dass in jedem Interviewtext eine Individualität liegt, die unverwechselbar und einmalig in Inhalt und Form ist.
Die Experten sind männliche Pädagogen. Hinzu kommt, dass vom allgemeinen Verständnis her die Jungenarbeit nur begrenzt von Frauen durchgeführt werden kann.
Beate Littig (2002) hält die Geschlechterverteilung in Experteninterviews für bedeutsam und stellt die Frage, ob geschlechtsspezifische Deutungs- und Handlungsmuster entsprechend interpretiert werden müssen. Nach dem Doing - Gender Ansatz muss bedacht werden, dass in der Interaktion zwischen Interviewer und Interviewpartner Geschlechterzugehörigkeiten hergestellt werden. Einige Gedanken dazu werde ich im
Kapitel 7 erläutern.
Im folgenden Abschnitt werden die Experten in der Reihenfolge, in der sie interviewt wurden, kurz vorgestellt:
v Frank Bonczek, Diplom Pädagoge, Mitarbeiter des Jungenkrisenhauses „Zoff“ in Münster und Vorstandsmitglied im Verein „ánimo e.V., Verein für geschlechterbewusste Pädagogik und Gewaltprävention“. Er leitet für den Verein regelmäßig Jungenkurse in den Klassen 4 bis 8.
v Frank Lohscheller, Staatlich- anerkannter Erzieher, ist Geschäftsführer und Gründungsmitglied des Vereins „ánimo e.V.“ in Münster. Er arbeitet zur Zeit in drei Projekten zur „Lebensplanung und Berufswahlorientierung“ in der 7.Klasse mit Jungen aus fünf verschiedenen Herkunftsländern. Außerdem führt er ein Kommunikations- und Konflikttraining in einer 7. Klasse einer Hauptschule und in einer 8. Klasse einer Schule für Lernbehinderte mit Jungen aus vier verschiedenen Herkunftsländern durch.
v Rudolf Rossel, Diplom Sozialpädagoge, Mitarbeiter der Stadt Münster und Koordinator eines Integrationsprojektes „Privjet“ im Stadtteil- und Jugendzentrum Lorenz Süd. Seine Arbeit basiert auf vier Schwerpunkten: Die aufsuchende Arbeit, erlebnispädagogische Angebote, Gruppenangebote und offenen Treffs sowie Angebote der kulturellen Orientierung und Jugendberufshilfe. Er ist selbst Aussiedler aus Kasachstan und Anfang der neunziger Jahre nach Deutschland eingewandert.
v Dr. Christoph Blomberg, Diplom Theologe und Diplom Sozialpädagoge, geschäftsführender Bildungsreferent der Fachstelle für Jungenarbeit der LAG Nordrhein Westfalen, Hauptaufgaben sind Referentenvermittlung und -tätigkeit, Kontakt zu und Vernetzung von regionalen Arbeitskreisen, Mitarbeit an der Sammlung und Dokumentation von Praxisprojekten, inhaltliche Weiterentwicklung von Jungenarbeit, Mitarbeit in Gremien der Jugendhilfe, Beratung in fachlichen und finanziellen Fragen zur Jungenarbeit.
v Olaf Jantz ist Diplom Pädagoge / Medienpädagoge. Er ist Jungenbildungs-referent bei „mannigfaltig e.V. – Verein und Institut für Jungen- und Männerarbeit“ (Aus-, Fort- und Weiterbildung und Projekte zu Jungenarbeit). Außerdem ist er Lehrbeauftragter an der FH Hannover (Sozialpädagogik) und Lehrbeauftragter der Universität Hannover (Erwachsenenbildung und außerschulische Jugendbildung).
Die Aussagen aus den Interviews werden nun in die weiteren Kapitel einfließen. Sie sind durch eine kursive Schrift und direkte Rede gekennzeichnet. Zudem erscheinen sie in einem grauen Rahmen. Sie sollen einige Aussagen der Literatur unterstützen, ergänzen und vertiefen.
In dem Kapitel „Auswertung der Experteninterviews“ möchte ich kurz die wesentlichen gemeinsamen Standpunkte und Widersprüche aller Teilnehmer zusammenfassen, sofern sie etwas Neues beitragen oder ausdrücklich betonen.
Von der Gruppe der Jungen mit Migrationshintergrund kann nicht gesprochen werden, weil alle Jungen einen unterschiedlichen (Migrations-)Hintergrund haben und sich ihre Lebenswelten somit nicht kongruent gestalten[22]. Die hiesige Literatur beschäftigt sich überwiegend mit Jugendlichen türkischer Herkunft und den Aussiedlerjugendlichen. Aus diesem Grund richtet sich im Schwerpunkt der Blick auf diese ethnischen Gruppen. Letztendlich ist es auch nur eine Hilfskonstruktion, um eine Vorstellung von dem zu entwickeln, mit welchen Jungen wir es zu tun haben könnten.
Zudem möchte ich hier einige Aspekte der Lebenssituation aufgreifen und mit den Interviews verknüpfen, möglicherweise einige Aussagen bestätigen und untermauern und andere widerlegen oder kritisieren.
Laut dem Statistischen Bundesamt sind im Schuljahr 1999/2000 ca. 946.300 ausländische SchülerInnen an allgemeinbildenden Schulen gewesen. Die größte Gruppe bilden die türkischen SchülerInnen mit bundesweit 43,6 %. (416.595 SchülerInnen) Die zweite große Gruppe hingegen besteht mit „nur“ 7,2 % (69.096 SchülerInnen) aus SchülerInnen des ehemaligen Jugoslawien.
Der Anteil an Aussiedlerschülern ist im Zahlenmaterial des statistischen Bundesamtes nicht impliziert. Mit der Anerkennung ihrer deutschen Staatsangehörigkeit findet kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland eine Einstufung statt, die dazu führt, dass ein(e) SchülerIn einem jeweiligen Schulzweig zugewiesen wird. Dies entspricht nicht dem Schulsystem der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten. Die Kinder und Jugendlichen werden oft niedriger eingestuft, als sie es in ihrem bisherigen Schulsystem waren.
Die Angaben zum besuchten Schultyp der Aussiedlerjugendlichen[23] lassen den Schluss zu, dass schulpflichtige Aussiedler in Deutschland zunächst die Grund- und Hauptschule besuchen werden. Die Konzentration an Hauptschulen ist aus zweierlei Gründen zu erklären:
Zum einen sind die Sprachkenntnisse sehr gering, da in den Herkunftsländern in den wenigsten Familien deutsch gesprochen wurde. Die deutsche Sprache ist in der Nachkriegszeit verboten worden und gilt heute als eine „Großelternsprache“, d. h. die Jugendlichen kennen die Sprache nur von ihren Großeltern. (vgl. Dietz 1997) Diese Erkenntnis lässt sich durch die PISA Studie aus dem Jahre 2000 zusätzlich stützen. Die Datenerhebungen weisen eindeutig darauf hin, dass sich die sprachlichen Defizite kumulativ in Sachfächern auswirken und der Kompetenzbereich in allen Fächern beeinträchtigt wird. Daraus ergibt sich, dass viele Jugendliche mit geringen Sprachkenntnissen nicht die gleichen Leistungen erbringen können, wie die sprachkompetenten MitschülerInnen. (vgl. PISA, 2000)
Zum anderen liegt das Interesse der Jugendliche vielmehr darin, so schnell wie möglich Geld zu verdienen, um die Lage der Familien zu verbessern oder sich bestimmte Konsumgüter leisten zu können. (Vgl. Baldaser/ Dittmar 2002)
Die Erfahrungen mit dem Schulsystem in den ehemaligen Ländern der Sowjetunion können einige Unsicherheiten oder Probleme mit dem Schulsystem in Deutschland auslösen. Das Schulsystem dort war und ist durch eine hohe Schuldisziplin und Strukturierung gekennzeichnet[24]. Die Schulformen in Deutschland sind durch einen pädagogisch offenen Unterricht geprägt. Die tägliche Bewältigung des Lernstoffes und die Erledigung der Hausaufgaben fordern ein hohes Maß an selbstständigem Arbeiten.
Angesichts hoher Arbeitslosenzahlen und mangelnder Ausbildungsmöglichkeiten wird der Einstieg vom Schul- in das Berufsleben erschwert. Dadurch sind die Chancen der „Integration in die neue Heimat“ geringer. „Die Jugendlichen haben es schwer, sich für eine berufliche und schulische Laufbahn zu entscheiden, da sie das Schulsystem nur unzureichend kennen und können berufliche Perspektiven kaum abschätzen.“(Dietz 1997, S.54)
Die türkischen Jungen und Mädchen scheinen diese Konflikte weniger zu haben, da sie in der Regel mittlerweile in der zweiten und dritten Generation in Deutschland leben. Dies ist aber ein „Trugschluss“. Die Studie von Gomolla und Radtke zum Thema „Institutionalisierte Diskriminierung – Untersuchung zur Herstellung ethnischer Differenz in der Schule“ belegt dies. Die dort dargestellten Ergebnisse lassen besonders für die Migrantenkinder mit türkischer Herkunft darauf schließen, dass in der Schule „Kultur und Ethnizität [...] zu Kriterien des Ausschlusses [...] werden.“ (Gomolla 2000, S.50)
Ein zeitgeschichtlicher Exkurs in die siebziger Jahre zeigt, dass für die Ausländerpädagogik eine Ambivalenz von Förderung und Stigmatisierung charakteristisch war. Ziel der Handlungsansätze war in der assimilatorischen Erziehung begründet. Durch ausgrenzende Fördermaßnahmen (damit ist zusätzlicher Unterricht gemeint) sind die Anforderungen an die Kinder an das deutsche Schulsystem angeglichen worden. In der Programmatik der achtziger Jahre war die interkulturelle Erziehung dafür verantwortlich, den M uttersprachlichen E rgänzungs u nterricht zu erweitern. Zusätzlich wurden die Konzepte der Kulturbegegnung ausgebaut.[25] Bis heute sind lt. o.a. Studie direkte und indirekte institutionalisierte Diskriminierungen seitens der LehrerInnen, DirektorInnen und der Schulämter festzustellen.
Direkte institutionelle Diskriminierung bedeutet z. B. schulzeitverlängernde Fördermaßnahmen für Lernende einer Zweitsprache oder die Zurückstellung in den Schulkindergarten zum Deutschlernen.
Indirekte institutionelle Diskriminierung ist den Akteuren meist nicht bewusst. Die Anwendung von gleichen Regeln und Normen hat bei unterschiedlichen Gruppen grundsätzlich ungleiche Chancen ihrer Erfüllung zur Folge. Ein Beispiel dafür ist, dass die Deutschkenntnisse als Maßstab zur Bewertung sprachlicher Leistungen benutzt werden.
Die geringen Deutschkenntnisse und die kulturelle Differenz[26] zwischen den Eingewanderten und der Mehrheitsgesellschaft führen zu der Annahme, dass eine Benachteiligung von Jungen und Mädchen ausländischer Herkunft stattfindet. (vgl. Gomolla 2000) Darin begründet sich die hohe Prozentzahl der ausländischen SchulabgängerInnen der Allgemeinen Schulen ohne Schulabschluss (insgesamt 20,3 %, im Vergleich zu den deutschen 8,6%) und die extrem hohe Anzahl von ausländischen Absolventen der Hauptschule (40,1 %). (vgl. Statistisches Bundesamt 2002) Die direkte und indirekte Diskriminierungen durch LehrerInnen haben einen negativen Einfluss auf die Migrantenkinder und Jugendlichen. Es ergibt sich zwangsläufig ein Kreislauf von Diskriminierung und Benachteiligung:
„Die [...] negativen Trends in den Bildungserfolgen [...] geben sich als Kumulationseffekte zahlreicher Einzelentscheidungen zu erkennen, die im Verlauf einer Schulkarriere getroffen werden.“(Gomolla 2000, S. 54)
Diese Daten beziehen sich in erster Linie auf die Grund- und Hauptschulen. Einen Blick auf die Berufsschulen und Ausbildungslehrgänge möchte ich im folgendem Abschnitt werfen. Dieser Zusammenhang soll nicht mit Zahlen belegt, sondern anhand einer sozialpädagogischen Sicht erklärt werden.
Im Schuljahr 2001/2002 lag der Anteil an weiblichen Lehrkräften in den ersten fünf Schuljahren bei insgesamt ca. 85 %. Bezogen auf alle Schulformen lag der Anteil der Lehrerinnen bei 66,2 %. Lediglich die Hauptschulen bilden eine kleine Ausnahme: der Anteil der männlichen Kollegen liegt dort bei 45,7 %[27]. Somit fehlen in einer wichtigen Phase des Lebens die männlichen Identifikationsfiguren für die Jungen.
Aus einem der Interviews geht hervor, dass Aussiedlerjungen in einem Jungenkurs berichteten, sie hätten sehr negative Erfahrungen mit männlichen Lehrern gemacht:
„Dann war ein großer Punkt, dass sie aufgrund ihrer Erfahrungen mit Schule[...] in Russland, das offensichtlich, so wie sie mir das beschrieben haben, ein sehr restriktives System ist, wo der Lehrer Frontalunterricht macht, und wer Mist macht fliegt raus und wird bestraft. Und sie auch mit den Erfahrungen an mich herangegangen sind, und es für mich sehr schwer war zu vermitteln, dass ich es eigentlich anders will.“
F.Lohscheller
Diese Erfahrungen bringen die Jungen mit, wenn sie mit dem hiesigen Schulsystem konfrontiert werden. Auch wenn die Mentalität der deutschen Lehrer aus meiner Sicht oft eine weniger autoritäre ist, spiegelt sie m. E. nach eine patriarchatsunkritische Haltung wider:
„Ich bin kein Sozialingenieur, auch wenn das jetzt modern zu sein scheint“ oder „Nachts brechen sie in einen Kiosk ein, und tagsüber wollen sie den Hauptschulabschluss. Die sollten mal eine Woche lang die Leitplanken auf der A1 streichen, damit sie wissen was Arbeit ist.“ (Lohscheller 2002, S.18)
Bekannt ist aus meiner Sicht, dass Lehrer sich mit geschlechtsspezifischer Jungenpädagogik erst dann befassen, wenn Druck der weiblichen Kollegen vorausgegangen ist oder weil dem Mädchenprojekt in gleichberechtigter Weise ein Angebot für die Jungen folgen musste[28].
Die Jungen mit Migrationshintergrund sind häufig noch einer Doppelbelastung ausgesetzt. Aus der 13. Shell- Jugendstudie (2000) geht hervor, dass die Bildungsinstitutionen Orte der multinationalen Begegnung sind, aber die Kontakte im Alltag mit Migrantenkindern und Jugendlichen sehr gering ausfallen[29]. Die Studie belegt, dass türkische Jungen Kontakte zur eigenen ethnischen Jugendgruppe bevorzugen. Die Probleme und die sozialen Hintergründe sind ähnlich und lösen einen Gemeinschaftssinn aus. (vgl. Münchmeier 2000, S.221 ff) Die Angst vor der Marginalisierung und Abwertung treibt sie paradoxerweise in eine ethnische Isolation.
Im Prinzip haben sie m. E. die gleichen Konflikte wie ihre deutschen Mitschüler. Sie haben Angst davor, ausgelacht zu werden, Schwächen einzugestehen, nicht stark genug zu sein, und tun alles, um nicht als unmännlich zu gelten. Es ist einfacher, ohne große Erklärungen unter seinesgleichen zu bleiben. Damit werden allgemeine Verunsicherungen und Kommunikationskonflikte vermieden. Nicht die Ethnie kann zu einer weiteren Belastung werden, sondern das Gefühl der Benachteiligung, das durch die sozialen Bedingungen entsteht.
Das Freizeitverhalten der Migrantenjungen ist ein sehr spezifisches Gebiet. In meinen bisherigen Recherchen ist deutlich geworden, dass wenig zum spezifischen Freizeitverhalten von Migrantenjungen bekannt ist. Dagegen konnte ich durch die Alltagsbeobachtungen der Pädagogen und aus allgemeinen Jugendstudien einige Schlüsse ziehen.
Wegen der Vielfältigkeit der Ethnien, der vielschichtigen Lebensbedingungen in einzelnen Städten oder ländlichen Gebieten und der unterschiedlichen Ressourcen der kommunalen Angebote ist es schwierig, allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Es muss genau zwischen den einzelnen Faktoren differenziert werden. Im Folgenden soll grob skizziert werden, wie es sich mit den Lebensverhältnissen in der Freizeit verhält.
Das Alter spielt eine große Rolle, und der Blick soll auf das Jugendalter gerichtet werden. Letztendlich liegt jeder ethnischen Gruppe auch eine eigene Jugendkultur zugrunde. Sie unterscheidet sich zudem von Gruppe zu Gruppe, ganz gleich welcher Ethnie oder sozialen Herkunft.
Es handelt sich also um Alltagsbeobachtungen und Erfahrungen der Sozialarbeit/ Sozialpädagogik. Klar herauszustellen ist m. E., dass der Konsum zunehmend unsere Gesellschaft beeinflusst und Jugendliche von Unternehmen der Wirtschaft als eine wesentliche Zielgruppe mit profitabler Kaufkraft gesehen werden. Die Freizeitgestaltung kann dementsprechend kostspielig ausfallen, wenn diesem Druck nicht widerstanden werden kann. Dies gilt für die sportliche Freizeitgestaltung, für Diskotheken- und Konzertbesuche, Partys, Urlaubsreisen und die neuen Medien.
„Was mir zum Beispiel auffällt - das sind auch wieder türkische Jugendliche, auf die ich mich beziehe - ich finde zum Beispiel, sie sind sehr gut gekleidet oft, also sie achten sehr stark auf ihr Äußeres. Was für mich dann auch wieder ein Indiz ist dafür, wie sie sich selber präsentieren wollen unter Gleichaltrigen in ihren Peergroups, aber auch fremden Jugendlichen, welche Bilder sie gerne von sich zeigen möchten. Es ist wirklich auffällig anders als bei deutschen Jugendlichen, [...]“
F. Bonczek
Die finanziellen Mittel stehen oft nur begrenzt zur Verfügung, was grundsätzlich zu weiteren Benachteiligungen führen kann. Schließlich sind über 60 % der erwerbstätigen MigrantInnen „ArbeiterInnen“. Viele bewegen sich aufgrund der derzeitigen Schwierigkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt im Bereich der Arbeitslosigkeit und/oder Sozialhilfe. (Statistisches Bundesamt, 2000)
Es sei nur kurz erwähnt, dass Computer, Handys und Markenkleidung zu Statussymbolen geworden sind. Viele Jugendliche werden dadurch unter Druck gesetzt. Sie haben m. E. das Problem, in der Clique anerkannt zu sein und sich zu behaupten. Diejenigen, die sich solche Konsumgüter nicht leisten können, stehen in der Hierarchie ganz unten. Das gilt nicht nur für die eigene Gruppe, sondern spielt auch in der Interaktion zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen eine wesentliche Rolle.
Viele Gruppen der Aussiedlerjungen treffen sich untereinander zumeist an öffentlichen Plätzen oder auf der Straße.
„ [...] Russlanddeutsche, die am Anfang wenig Möglichkeiten hatten, da ihnen die Freizeitplanung so unbekannt war, da das in ihren Herkunftsländern anders ist. Sie besuchen die Schule und danach zuhause sind sie auf dem Hof, wenn sie aus den ländlichen Regionen stammen bzw. in der Stadt hieß das dann auf der Straße abzuhängen. Nicht so alles verplant.“
R. Rossel
Dies sind sie aus ihrer vorherigen Umgebung gewöhnt. Viele Peergroups fallen dadurch auf, dass sie Alkohol und Drogen konsumieren und Vandalismus betreiben. (vgl. Dietz 1997) Ein eindrückliches Beispiel wurde von Blomberg aus der Suchtpräventionsarbeit geschildert. Er erzählt von einer Situation, in der die Jungen ihr Verhalten innerhalb eines Gespräches veränderten:
„[...] wenn ich Aussiedlerkurse gemacht habe, die habe ich dann immer aus ihrer Heimat erzählen lassen. Und dann erzählten die von irgendwelchen Flüssen und draußen spielen [...] da merkte man [...], da wurden die auch wach. Und wenn man die so sieht, so stumpf und so klotzig, wie die dann hier so rumhängen, das hat natürlich auch mit den Wohnverhältnissen zutun etc. Aber wenn man so merkt, da ist dieses innere Feuer weg und da weiß man gar nicht, wie die so warm werden sollen. Das finde ich traurig, das fehlt. Also auch dafür ein Bewusstsein zu schaffen.“
C. Blomberg
Weiterhin hängen noch andere Faktoren mit der sozialen Isolation zusammen. Die Wohnsituation in abgesonderten Vierteln ist ein Beispiel dafür. Beengtes Wohnumfeld ist für viele soziale Konflikte verantwortlich. Die Unterschicht der Bevölkerung hat den Widerspruch auszuhalten, „dass ihre Lebenswirklichkeit der ethnisch homogenen deutschen Volksgemeinschaft gegenübersteht“. (Jaschke 2001, S.92) Teilweise wohnen verschiedene ethnische Gruppen auf engem Raum zusammen, die durch ihre Geschichte und politischen Hintergrund verfeindet sind. Hinzu kommt der Prozess der Selbstethnisierung, um sich von anderen ethnischen Gruppe positiv abzuheben und in der gesellschaftlichen Hierarchie nicht unten zu stehen. Deshalb kommt es zur weiteren Segregation in Wohnvierteln. In der 13. Shell Studie ist deutlich geworden, dass „durch Prozesse der Segregation von [...] Ausländern und ausländischen Familien in bestimmten Wohnvierteln [...]“ eine sogen. Gettoisierung stattfindet. (Münchmeier 2000, S.229) Eine weitere Rolle dafür spielen die niedrigen Mieten in den Randgebieten der Kommunen und ein Wegzug von angestammten deutschen Familien.
Bei den befragten türkischen Jugendlichen geben 55% an, in der Nachbarschaft ausschließlich ausländischer Familien zu wohnen. Gerade „die Unterschiede der Religion, stärkerer Binnenzusammenhalt innerhalb der türkischen Gemeinde, und materielle Gründe [...]“ (ebd. S.229) sind für die Desintegration zwischen der deutschen und türkischen Kultur verantwortlich. Es ist demnach in einigen Stadtteilen recht schwierig, von multikultureller Gesellschaft zu sprechen, wenn die MigrantInnen nur unter sich sind. Für die Jungen bedeutet das eine weitere Hürde auf dem Weg, der zum Ziel „Integration“ führen soll.
Der Sozialpädagoge Hakan Aslan aus Berlin sieht noch eine zusätzliche Gefahr, der die türkischen Jungen ausgesetzt sind. Durch die soziale Marginalisierung, könnten radikal-islamische Gruppen die Situation ausnutzen und sie für ihre Zwecke missbrauchen. Er sieht eine Chance die Jungen von solchen Einflüssen fernzuhalten, indem sie mehr am gesellschaftlichen Leben partizipieren und integriert werden.(vgl. Wierth 2003)
Für viele türkische Jungen stellt Sport, wie Fußball eine wichtige Freizeitbeschäftigung dar, die auch von ihren Familien anerkannt wird. Das wirkt sich auf die Angebote der Sozialen Arbeit aus:
„Auf jeden Fall muss man,... insbesondere bei der Arbeit mit Jungen,[...] sportliches Interesse mitbringen. Ich habe gemerkt, wenn ich Angebote gemacht habe, die mit Bewegung zu tun haben, und hinter denen ich nicht stand, dann wurden sie auch nicht angenommen. Wenn ich z. B. Mountainbiking angeboten habe, [...], was ich leidenschaftlich gern tue, oder Fußball, da springt dann der Funke richtig über[...] sie erleben jemanden, der das richtig gerne tut und es sich hierbei nicht bloß um einen Programmpunkt handelt, den irgendjemand aufgesetzt hat.“
R.Rossel
Ein weiteres Thema ist die Delinquenz von ausländischen Jungen. In der Öffentlichkeit ist die Diskussion um die Ausländerkriminalität von Missverständnissen und Vorurteilen geprägt. „Sind „Ausländer“ krimineller als Deutsche?“ lautet der Titel eines Aufsatzes von R. Geißler (2001). Er beschreibt, dass die Statistiken häufig falsch interpretiert werden und stellt sie in anderen Zusammenhängen dar. Ein Ergebnis seiner Recherchen ist, dass gerade die ArbeitsmigrantInnen[30] im Vergleich zu Deutschen bei gleicher sozialer Lage weniger kriminell sind. Dies ist auch im internationalen Vergleich (z. B. bei Staaten wie Australien, Israel, USA) nachgewiesen. Die statistischen Daten stellen deshalb ein unausgeglichenes Bild dar. Ein Grund dafür ist, dass bei Delikten von MigrantInnen die Bereitschaft, eine Anzeige zu erstatten, in der Bevölkerung höher ist, als bei Delikten von Deutschen. Auch einige Beamte der Polizei haben Vorurteile gegen ethnische Minderheiten[31], woraus der Rückschluss gezogen werden kann, dass der „ethnische selektive Anzeigeeffekt durch einen ethnischen selektiven Polizeieffekt verstärkt“ wird. (Geißler 2001, S. 32) Es ist also festzustellen, dass viele MigrantInnen, obwohl sie sozial benachteiligt sind, sich an die Lebenssituation anpassen und an einem genügsameren Lebensstandard orientieren.
Geißler bemerkt weiterhin, dass es eine Problemgruppe der zweiten Generation gibt. Bevor ich genauer darauf eingehe, möchte ich eine aktuelle Meldung voranstellen:
In einer Pressekonferenz vom 17.03.2003 erklärte jüngst der Innenminister des Landes NRW, Dr. Fritz Behrens, dass die Jugendkriminalität der unter 21-jährigen im Jahre 2002 gering gesunken sei. Aber der Polizei sei „[...] zunehmend aggressives Verhalten bei jungen männlichen Aussiedlern [aufgefallen].“ (Behrens 2003) Er forderte eine bessere Integration dieser Jugendlichen. In diesem Zusammenhang wies er auch auf präventive Maßnahmen wie Antiaggressions- Projekte der Polizei hin.
Exkurs: Es lohnt sich m. E., diese Projekte kritisch zu hinterfragen. Zu überprüfen wäre, inwieweit durch einen Kurstrainer der Polizei ein hegemoniales Bild von Männlichkeit reproduziert wird und für Jungen weiterhin gewohnte männlich dominierende Handlungsweisen legitimiert werden[32].
Der Innenminister erkennt somit an, dass die Problematik vor allem durch mangelnde Integration begründet ist. Auch Geißler teilt diese Auffassung, dass die Elterngeneration es nicht geschafft hat, ihr eigenes Anspruchsniveau an ihre Kinder weiterzugeben. Es ergibt sich deshalb der Eindruck, dass die Jugendlichen die sozialen Benachteiligungen spüren und das damit zusammenhängende Chancendefizit als ungerecht empfinden. Hinzu kommen Arbeitslosigkeit, Armut und Misshandlungen seitens der Eltern. (vgl. Geißler 2001) Diese Annahmen werden durch den Migrationsbericht der Bundesregierung bestätigt. Der Bericht weist darauf hin, dass es zwei Ansätze zur Ursachenforschung gibt: einerseits gruppensoziologische Ansätze und „ [...] Modelle, die speziell die Erziehungsstile und Wertvermittlung in Migrantenfamilien [...] fokussieren“ (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000, S.300), andererseits Zuschreibungs- und Labelingansätze, die auf eine ungleiche Wahrnehmung vom Umgang mit Migrantenjugendlichen schließen lassen.
Die Familienstrukturen der Migrantenfamilien sind insgesamt patriarchalisch geprägt, was hauptsächlich an den gesellschaftlichen Geschlechterkonstruktionen in den jeweiligen Herkunftsländern liegt. Dennoch gibt es gerade bei den Familien aus Russland oder der Türkei unterschiedliche Rollenkonzepte bei der Ausgestaltung von Männlichkeit.
Daran anknüpfend muss gesagt werden, dass die Jungen häufig einen „ [...] Widerspruch spüren, zwischen den Wunschvorstellungen in der hiesigen Gesellschaft und den Erwartungen aus dem Kulturkreis, aus dem sie kommen.“ (Atabay, 1998, S. 130)
Viele türkische Jungen sind bereits in Deutschland geboren und sozialisiert. Das bedeutet, dass sie in den jeweiligen Kulturen unterschiedliche Rollenmuster erleben. Die verschiedenen Aspekte dieser Rollenmuster, die zum Teil intrapersonelle Konflikte hervorrufen, müssen in ihr Selbstkonzept integriert werden. Die Migrantenfamilien in Westeuropa sind dadurch charakterisiert, dass es „Großfamilien mit patriarchalischen Bindungen, [mit einer] hohen Geburtenrate und [einem] niedrigen Status der Frau [sind].“ Gesellschaftliche Werte sind „gegenseitige Abhängigkeit der Familienmitglieder, enge [...] Gruppenbindungen und Bevorzugung männlicher Nachkommen.“ (Akgün 1993, S.59)
Sie erleben hier eine festgelegte Rolle des Vaters, der für die finanziellen Belange zuständig ist.
Eine der entscheidenden Erfahrungen in der Sozialisation ist die Bedeutung der Ehre. Der Mann oder Sohn ist für die Ehre der gesamten Familie zuständig. Sie gilt es zu schützen, zu verteidigen oder wieder herzustellen. Dieser tradierte soziale Habitus bringt verschiedene Konflikte mit sich: einerseits in bezug auf die eigene zukünftige (eheliche) Beziehung, andererseits aufgrund öffentlich- gesellschaftlicher Anforderungen. Insbesondere der Respekt vor dem Vater, der die Familie nach außen vertritt[33], löst ein Spannungsverhältnis aus, das sich zwischen den Bereichen der außer- und innerfamiliären Konflikte bewegt. (vgl. Bohnsack, 2001) Dies bedeutet, dass die Jungen mit diesem Habitus Konflikte in der Familie, insbesondere mit dem Vater, nicht austragen können. Dem Vater gegenüber ist im Sinne des Patriarchats viel Respekt geboten und dieses familiäre System stellt für die Jungen ein Problem dar.
Väter sind Vorbilder und ihr Verhalten wirkt sich unmittelbar auf die Entwicklung der Söhne aus. Dies ist unabhängig davon, wie oft sie in der Familie präsent sind. Sind sie den Traditionen zu sehr verhaftet, besteht die Gefahr (spätestens in der Adoleszenz), dass die Jungen stark unter Druck geraten und ausbrechen. Geben sie zu viele Freiheiten in der Erziehung, kann dies als Richtungslosigkeit und Schwäche gedeutet werden. Für viele türkische Jungen scheint die Vätergeneration passiv und den hiesigen Lebensumständen ausgeliefert. Die letzte bewusste Handlung war die Entscheidung für die Migration nach Deutschland. Von diesem Zeitpunkt an war es für viele Väter wichtig, die finanzielle Lebensgrundlage der Familie zu sichern. Sie werden und lassen sich sozusagen von der kapitalistischen Welt fremdbestimmen. Somit fehlt den Jungen ein wichtiges Vorbild zu einer positiven Identitätsentwicklung. (vgl. Spohn, 2002 )
[...]
[1] Am Beispiel der Situation eines Sozialarbeiters in der Erziehungsberatung wird dies näher beleuchtet. Eine Familie mit Migrationshintergrund sucht die Beratung auf. Wie verhält sich der Profi in so einem Fall? In Bezug auf fremde Kulturen? Hat er ein negatives oder positives Bild von Fremden? Ist er verunsichert oder mit Vorurteilen belastet? Sieht er die Familie aufgrund der anderen Herkunftskultur als hilfebedürftig an, oder spürt er Ablehnung aufgrund der Fremdheit?
[2] Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen: Daten und Fakten zur Ausländersituation, 2000
[3] Der Begriff der “deutschen Leitkultur“ wurde von CDU- Politkern in die Diskussion um das Zuwanderungsgesetz eingebracht.
[4] Bukow schreibt von einem „Exklusionsmechanismus“, der den deutschen Migrationdiskurs dominiert.
Dieser Mechanismus schafft Minderheiten und etikettiert diese (meist) negativ.
[5] „Mord und Totschlag, Diebstahl, (Banden-)Raub und (Asyl-)Betrug sind Delikte, über die ... häufig berichtet wird. “ (Butterwegge 2002)
[6] vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen Migrationsberichte 2001 und 2002)
[7] Aus statistischen Gründen sind in dieser Anzahl (2 Mio.)ErstantragsstellerInnen und Folgeanträge von Migranten, die bereits längeren Aufenthalt in Deutschland haben, miteinbegriffen.
[8] Betrachtet man die Flüchtlingsbewegungen genauer, kann dies aber auch an Faktoren, wie z. B. erhöhte Grenzsicherung (erschwerte Bedingungen durch Bootpatrouillen im Mittelmeer) oder Regionalisierungs-maßnahmen der EU, liegen.
[9] Quelle: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge 2002
[10] Quelle: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, 2002
[11] Ein Asylverfahren kann nach Erfahrungsberichten der Mitarbeiter der Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (GGUA) zwischen drei Monaten und mehreren Jahren andauern.
[12] Sobald jemand die Grenzen des Kreises verlässt und von der Polizei aufgegriffen wird, hat das zur Folge, dass eine Strafhandlung vorliegt und in die Kriminalstatistik Eingang findet. Dies ist ein Grund dafür, warum die Zahlen über Ausländerkriminalität falsch interpretiert werden. (vgl. hierzu auch Kapitel 4.2 zum Thema Delinquenz)
[13] Pressemitteilung der Bundesregierung vom 15. Januar 2003: Das Bundeskabinett hat beschlossen, den aus formellen Gründen vor dem Bundesverfassungsgericht gescheiterten Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz über den Bundesrat erneut ins Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Die Opposition hat derweil, wie schon erwähnt, 137 Änderungsanträge eingereicht.
[14] Bildungsarbeit findet im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Fortbildungen für Professionelle und in Schulen statt.
[15] Erweiterte Handlungskompetenz meint, die Fähigkeit zu entwickeln, sozialreflexiv, aktiv und gestaltend mit der eigenen Geschlechtlichkeit umzugehen.
[16] Hier sind Verhaltensmöglichkeiten gemeint, die ein ganzheitliches Ausleben der Persönlichkeit ermöglichen, wie z. B. das Zulassen von Stärken und Schwächen.
[17] Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ein von mir durchgeführter Jungenkurs eines Berufsförderungslehrganges für ältere Jugendliche als ein „Antiaggressionstraining“ angekündigt worden war. Dieser Kurs musste aufgrund von mangelnder Mitarbeit und Teilnehmerzahl abgebrochen werden,
ein deutliches Beispiel dafür, wie sich das Stigma auf die Motivation ausgewirkt hat.
[18] Gewalt wird statistisch, wie auch in der Öffentlichkeit als Männerthema angesehen. Die Jungen auf ihre Täterrolle zu reduzieren, bewirkt genauso wenig wie die Mädchen nur in ihrer Opferrolle zu sehen.
[19] Dies ist m.E. ein sehr hoher Anspruch und von Winter eher symbolisch gemeint. Die Vaterschaft soll gerade bei jüngeren Jungen aufgewertet werden, ohne die Mütterlichkeit abzuwerten.
[20] Viele Jungen erleben ihre Väter oder Männer nur in besonderen Situationen, z. B. der Vater, der sich Zeit nimmt und mit seinem Sohn „Wochenend- Events“ unternimmt, oder die „Alleskönner-Männer“ in der Werbung, TV, usw.
[21] Der Begriff „Labelstreit“ taucht auf einer Homepage des Vereins Medium e.V.auf, der dazu aufruft den Labelstreit der Jungenarbeit zu beenden, also einen Titel für den einzig richtigen Ansatz der Pädagogik zu finden. (vgl. www.medium-eV.de)
[22] Ebenso gilt dieses Prinzip für deutsche Jungen, da z. B. ein Grundsatz der Jungenarbeit ist, die Jungen individuell wahrzunehmen.
[23] Lt. der Jahresstatistik Aussiedler 1991- 1995, S.3 aus: Dietz 1997. Dieser Trend hat sich nicht verändert, da dies aus den aktuellen Jahresstatistiken hervorgeht. 2002 waren es
insgesamt 14.936 SchülerInnen, Jahresstatistik Aussiedler 2001/2002, S. 3
[24] Nach Dietz (1997) wandelt sich seit Mitte der Neunziger Jahre dieses Bild von Schule in der ehem. Sowjetunion. Sie beschreibt, wie schulische und berufliche Ausbildung ihr vormals positives Image verloren hat und viele Jugendliche sich nach den Verdienstmöglichkeiten eines Berufes richten. Eine Folge dessen ist – auch ohne schulische Ausbildung- der möglichst frühe Einstieg in das Berufsleben.
[25] Ich habe selbst am MEU teilgenommen und habe als Kind nie verstanden, warum es „Muttersprachlich“ bedeutet, da ich deutschsprachig aufgewachsen bin. Dies ist die erste Kindheitserfahrung, an die ich mich erinnern kann, in der mir eine kulturelle Differenz „untergeschoben“ wurde.
[26] Kulturelle Differenz meint die sozialschichtigen, kulturellen und geschlechtsspezifischen Unterschiede und Zuschreibungen zwischen den Kulturen.
[27] Diese Zahl verwundert mich nicht, wenn man bedenkt, dass die Hauptschule häufig den Ruf hat, das Auffangbecken für soziale Problemfälle zu sein und somit ein „härteres Klima“ vorherrscht.
[28] Ich will natürlich auch nicht ausschließen, das es eine Gruppe von Lehrern gibt, die sich ernsthaft und mit Interesse und Engagement diesem Thema widmet.
[29] Rund zwei Drittel haben wenig bis keinen Kontakt, die Ostjungen liegen vorn mit 49,1 % (überhaupt keinen Kontakt) und Westjungen 47,1% (weniger Kontakt).
[30] Auch wenn von nun an der Begriff MigrantInnen gebraucht wird, muss festgehalten werden, dass Gewaltdelikte ein überwiegend männliches Phänomen sind.
[31] Eine Forschungsstudie des Innenministeriums der Länder kam zu dem Ergebnis, dass „Fremdenfeindlichkeit sich insbesondere bei solchen Polizeieinheiten entwickelt, die in sozialen Brennpunkten mit hoher Ausländerkriminalität spezifischen und psychischen Belastungen ausgesetzt sind.“ (ebd. S.32)
[32] Lesenswert dazu auch Rafael Behr (2001) „ ... Männlichkeiten in der Polizei“ aus: Döge/ Meuser (2001) Männlichkeit und soziale Ordnung.
[33] Dass der Vater die Familie nach außen vertritt, bedeutet nicht den Umkehrschluss, dass die Frau die Macht und Kontrolle innerhalb der Familie hat. Sie trägt die Verantwortung für die Versorgung, Erziehung und den Zusammenhalt in der Familie. (vgl. Akgün 1993, Opladen usw.)