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Bachelorarbeit, 2010
34 Seiten
Philosophie - Praktische (Ethik, Ästhetik, Kultur, Natur, Recht, ...)
1. Einleitung
2. Die Auslöser des Historikerstreits
2.1. Die Geistig - moralische Wende in den achtziger Jahren
2.2. Ernst Nolte
3. Die Debatte und ihr Verlauf: „Linke Aufklärer“ gegen die „Viererbande“?
3.1. Kritik an Nolte
3.1.1. Jürgen Habermas
3.1.2. Rudolf Augstein
3.1.3. Eberhard Jäckel
3.2. Unterstützung für Nolte
3.2.1. Andreas Hillgruber
3.2.2. Michael Stürmer
3.2.3. Klaus Hildebrand
3.2.4. Joachim Fest
4. Nach dem Historikerstreit
5. Der Historikerstreit als politische Debatte
6. Abschließende Bemerkungen
7. Der Umgang mit der deutschen Vergangenheit
8. Fazit
9. Literaturverzeichnis
Immer wieder werden in der Bundesrepublik Deutschland wissenschaftliche Debatten über den richtigen und angemessenen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit geführt und auch darüber, wie diese Vergangenheit in der Gegenwart und auch in der Zukunft weltgeschichtlich eingeordnet werden sollte. Sollen wir die Vergangenheit vergessen oder nicht? Und wenn wir sie nicht vergessen sollen, wie gehen wir angemessen und richtig mit ihr um? Können wir mit der nationalsozialistischen Vergangenheit so umgehen wie mit allen anderen Epochen auch? Oder wird das Dritte Reich mit all seinen Verbrechen - vor allem dem Holocaust - dadurch verharmlost? Diese Fragen wurden häufiger diskutiert, entweder in Universitäten, an Schulen, im privaten Kreise, manchmal aber auch öffentlich, in Presse und Rundfunk. Die bekannteste und bedeutendste und auch am intensivsten und emotionalsten geführte öffentliche Auseinandersetzung ist zweifelsohne der so genannte „Historikerstreit“ aus den Jahren 1986 und 1987. Geprägt wurde dieser Begriff von dem Journalisten Hermann Rudolph anlässlich der ersten Bilanz der Kontroverse im Oktober 1986.
Diese Kontroverse ist gerade deshalb so wichtig, weil sich an ihr nicht nur zahlreiche Historiker, vornehmlich der Zeitgeschichte, sondern auch Intellektuelle aus anderen Fachbereichen und zudem eine breite Öffentlichkeit beteiligte. Aus diesem Grund ist der Begriff „Historikerstreit“ zum Teil irreführend, weil er davon ausgeht, dass sich ausschließlich Fachleute beteiligten. Tatsächlich aber hat die gesamte deutsche Öffentlichkeit die Kontroverse aufgegriffen und sich zu Wort gemeldet. In Schulen und Universitäten beispielsweise wurden zahlreiche Diskussionskreise veranstaltet, die regen Zulauf fanden. Deshalb beschrieb Hans - Ulrich Wehler die Debatte im Nachhinein als „politischen Kampf um das Selbstverständnis der Bundesrepublik, um das politische Bewusstsein der Bürger.“1 Es handelte sich also um eine allgemeine Auseinandersetzung über das Geschichtsbild und um die nationale deutsche Identität, die jede deutsche Bundesbürgerin und jeden deutschen Bundesbürger angesprochen und betroffen hat. Jeder hatte seine eigene Vorstellung davon, wie man die Verbrechen der NS - Zeit zu bewerten hat. Genau deshalb war der Historikerstreit sowohl eine geschichtswissenschaftliche als auch eine politische Auseinandersetzung.
Dass diese Kontroverse über die Einordnung und Bewertung unserer jüngsten deutschen Vergangenheit einen so breiten Zugang und hohes Interesse fand, liegt auch daran, dass diese überwiegend in überregionalen Tages- oder Wochenzeitungen geführt wurde und nicht ausschließlich in geschichtswissenschaftlichen Fachpublikationen. Die Artikel erschienen unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Zeit und dem Nachrichtenmagazin der Spiegel. So hatte eine breite und weit gefächerte Leserschaft Zugang zu den verschiedenen Veröffentlichungen und die Möglichkeit, sich daran direkt und unmittelbar zu beteiligen. Claus Leggewie bezeichnete den Historikerstreit deshalb als „Mutter aller Debattenfeuilletons in der jüngeren Kulturgeschichte.“2 Sicherlich spielte aber auch die Brisanz des Themas bei der Wahrnehmung und Beteiligung eine große Rolle. Das enorme öffentliche Interesse „fand seinen Ausdruck in einer Vielzahl von Zeitungskommentaren und Leserbriefen.“3 Gerade die einfache Kommunikation über das Medium der Presse machte eine Beteiligung relativ einfach.
Auch die zahlreiche Literatur, die zu diesem Thema vorhanden ist und die Tatsache, dass auch zwei Jahrzehnte nach dem Ereignis noch Bücher und Aufsatzsammlungen zum Thema erscheinen, zeigt die Wichtigkeit und Bedeutung dieser Auseinandersetzung auch für tagespolitische und tagesgeschichtliche Themenbereiche.
Ausgelöst wurde der Historikerstreit durch einen brisanten und provokanten Artikel des Historikers Ernst Nolte, der am 6. Juni 1986 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien. Daraufhin meldeten sich zahlreiche bedeutende Historiker, aber auch Intellektuelle aus anderen Fachbereichen zu Wort, darunter Jürgen Habermas, Joachim Fest, Rudolf Augstein und Andreas Hillgruber. Schon kurz nach Beginn der Auseinandersetzung wurde deutlich, dass es sich nicht um einen einfachen Meinungsaustausch unter Fachleuten, sondern vielmehr um ein Streitgespräch handelte, denn die Intellektuellen griffen sich gegenseitig stark an und vertraten ihre eigene Meinung mit auffallender Härte und ließen keine anderen Forschungsergebnisse gelten. Die meisten beanspruchten für sich, die richtige Auffassung zu vertreten und sparten nicht an persönlichen Angriffen. Am meisten betroffen war Ernst Nolte, der nach der Veröffentlichung seines Artikels herbe Kritik einstecken musste, die in den wenigstens Fällen objektiv und in den meisten Fällen politische Hintergründe hatte.
Doch worum genau ging es in diesem Streit, der auch Jahrzehnte nach der Auseinandersetzung noch im öffentlichen Bewusstsein ist, wenn es um die NSVergangenheit und die Einordnung des Dritten Reiches und des zweiten Weltkrieges- gipfelnd in Auschwitz - in die internationale Geschichte geht? Warum beteiligten sich so viele Menschen an der Debatte? Und warum wurde die Debatte mit einer so großen ätzenden Schärfe geführt?
Diese Bachelorarbeit wird sich unter anderem mit diesen Fragen beschäftigen. Zunächst werde ich die Ausgangspunkte hinterleuchten. Eine wichtige Rolle dabei spielte die geistig moralische Wende in den 80er Jahren, einer neuen kulturpolitischen Richtung, die unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl herbeigeführt wurde. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der bereits erwähnte Artikel Ernst Noltes, der die Kontroverse überhaupt erst auslöste. Eine Kontroverse findet aber nur dann statt, wenn verschiedene Meinungen und Deutungsmuster vorhanden sind und aufeinander treffen, deshalb werden im zweiten Kapitel die verschieden Positionen und Reaktionen auf Nolte dargestellt. Dort spielt vor allem der Philosoph Jürgen Habermas eine entscheidende Rolle. Abschließend möchte ich kurz auf den Umgang mit der deutschen Vergangenheit - speziell die des Dritten Reiches - eingehen, denn darum ging es im Wesentlichen im Historikerstreit. Der gesellschaftliche Umgang mit dem Dritten Reich soll vor allem im Hinblick darauf darstellen, wie dieser sich im Laufe der Zeit gewandelt hat und immer noch wandelt und welchen Einfluss die Politik auf die geschichtspolitische Bildung der Bürger nimmt. Abschließen werde ich mit einem Fazit.
Ernst Nolte selber schreibt in seinem Buch „Das Vergehen der Vergangenheit - Antwort an meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit“, dass der Historikerstreit seine Entstehung dem Zusammentreffen verschiedener Umstände und Ereignisse zu verdanken habe, die laut Nolte zu einem guten Teil zufällig gewesen seien.4 Als Beispiel führt er seinen im Jahr 1980 erschienen Artikel „Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus“ auf, der unter dem Titel „Die negative Lebendigkeit des dritten Reiches“ veröffentlicht wurde und in dem er bereits seine These von der „Priorität der sowjetischen und überhaupt linksrevolutionären Vernichtungsmaßnahmen mit der größten Klarheit in Worte fasste und der doch keinerlei Aufregung hervorrief.“5 Er betont ausdrücklich, dass er seine Thesen, die den Historikerstreit auslösten, schon Jahre zuvor veröffentlich hatte, ohne dass jemand darauf reagierte. Er geht also davon aus, dass noch andere Faktoren eine Rolle spielten.
„Die Intensität der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ist mit der Zahl der Jahre, die uns vom Zusammenbruch seiner Herrschaft trennen, gewachsen.“6
Die Vorgeschichte des Historikerstreits zeigt, dass vor allem politische Gründe ausschlaggebend für die Kontroverse waren und nicht ausschließlich der Artikel Ernst Noltes. Zu diesen zählt auch der Regierungswechsel von einer sozialliberalen
Koalition unter dem Bundeskanzler Helmut Schmidt zu einer christliberalen Koaltion unter Helmut Kohl:
„Viele linke Intellektuelle waren nach dem Regierungsantritt der CDU/CSU - FDP - Koalition 1983 verunsichert, zumal in anderen westlichen Demokratien […] ein gewisser Rechtsdruck festzustellen war.“7
Nach dem Regierungsantritt Helmut Kohls prägte zudem schnell ein Begriff, eingeführt von der Regierung selber, die kulturpolitische Landschaft der Bundesrepublik Deutschland: Die so genannte „Geistig - moralische Wende“, maßgeblicher Auslöser des Historikerstreits. Doch was genau meint diese Formulierung und was hat diese durch die Politik herbeigeführte Wende mit dem Historikerstreit zu tun?
Unter diesem Begriff versteht man, vereinfacht formuliert, die öffentlichen Erinnerungsanstrengungen in Bezug auf die nationalsozialistische Epoche in der Zeit zwischen 1983 und 1995, vor allem bezogen auf „akademische Zeitgeschichtsforschung, der schulischen und außerschulischen historisch - politischen Bildung.“8 Allerdings greifen die Aktivitäten viel tiefer, als die Formulierung vermuten lässt. Der Geschichtspolitik wurde während dieser Zeit eine hohe Bedeutung beigemessen und deshalb unterstützen auch viele Historiker die Anstrengungen der Regierung, geschichtspolitische Themen mehr in den Vordergrund zu rücken und die deutsche Bevölkerung für historische Themen zu sensibilisieren. Zu diesen Historikern zählt unter anderem ein Akteur des Historikerstreits, der damalige Professor an der Universität Nürnberg - Erlangen, Michael Stürmer, denn „ganz unverkennbar setzte Stürmer Ergebnisse der historischen Forschung in politischer Absicht ein; er forderte ein bewusstes, zielstrebiges Engagement der Geschichtswissenschaft zugunsten einer neudeutschen „Identitätsstiftung“.9
Gerade die achtziger Jahre waren bedeutend für die Vergangenheitsbewältigung und einen neuen Umgang mit der deutschen Geschichte. Es herrschte eine bisher unbekannte, breite und öffentliche Diskussions- und Erinnerungsbereitschaft, die bis dahin vorherrschende Vorgehensweise des Be- und Verschweigens wurde gebrochen. Denn während der Ära Helmut Kohls jährten sich zahlreiche Daten der nationalsozialistisch - deutschen Geschichte zum fünfzigsten beziehungsweise zum vierzigsten Mal und somit war ein Umgang mit und die Erinnerung an die nationalsozialistischen Epoche unausweichlich. Der Umgang mit diesen besonderen Tagen deutscher Geschichte wurde anders, genau das war die Neuartigkeit. Zu diesen wichtigen Daten gehörten unter anderem die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 und die Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945. Es ließen sich noch zahlreiche weitere, ebenso wichtige und bedeutende Daten und Ereignisse hinzufügen. Ich beschränke mich hier lediglich auf den Beginn und das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, um einen Rahmen zu schaffen.
Aus Anlass des vierzigsten Jahrestages der deutschen Kapitulation hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 eine wichtige Rede vor dem deutschen Bundestag, die international viel Beachtung erhielt. Auch der Spiegel bezeichnete die Rede als „die wichtigste Rede, die jemals in Deutschland gehalten wurde.“10 In dieser bezeichnete Weizsäcker den 8. Mai 1945 nicht mehr als Kapitulation, sondern als „Tag der Befreiung“11.
"Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg."12
Die Bezeichnung des 8. Mai als Tag der Befreiung war ein Bruch in der bis dahin gehenden Geschichtsschreibung. Sie deckte sich nicht mit den konservativen Ansichten des Landes. Aus der Rede lassen sich drei wichtige Punkte für den Umgang mit der Vergangenheit, die unabänderlich sind, ableiten: Wir müssen unsere Vergangenheit annehmen, denn ohne eine Erinnerung kann es keine Versöhnung geben. Auch wer keine persönliche Schuld auf sich geladen hat, haftet für das, was im Namen des deutschen Volkes während des Nationalsozialismus geschehen ist. Das setzt voraus, dass auch die jüngere Generation nicht frei von Schuld ist. Sie wird immer in der Situation sein, sich auseinandersetzen zu müssen. Der besondere Charakter der Grausamkeiten der NS - Verbrechen steht bei jeglicher Betrachtung und Bewertung außer Zweifel.
Die Rede fand trotz der Anforderungen, die darin gestellt wurden, in der deutschen Bevölkerung großen Zuspruch:
„In den folgenden Tagen erreichten das Bundespräsidialamt rund 38.000 Telegramme und Telefonanrufe, die dem Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland Zustimmung und Anerkennung bekundeten. Rund 1,5 Millionen Bürger forderten einen Nachdruck der Rede von Weizsäckers und bedankten sich bei ihm für seine klaren, kritischen, aber auch einfühlsamen Worte zur historischen Bedeutung des 8. Mai 1945.“13
Seine Rede ging damit in die Geschichte ein und macht auch das enorme Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung deutlich. Man ist bereit, geschichtspolitische Themen aufzunehmen, sie zu diskutieren und eine Rückmeldung darüber zu geben. Denn eine Reaktion setzt voraus, dass eine Auseinandersetzung stattgefunden hat.
Claus Leggewie attestiert Helmut Kohl in seinem Aufsatz „Historikerstreit - transnational“ „diverse geschichtspolitischen Aktivitäten“14, zu diesen zählt auch die Erschaffung und Einweihung zahlreicher Mahnmale, Gedenksteine und - tafeln als Erinnerungsorte an authentischen Plätzen der NS - Vergangenheit und die Pläne für Geschichtsmuseen in Bonn und Berlin. Es entstand eine „regelrechte Bewegung zur Gründung von Gedenkstätten.“15 Man wurde sich bewusst, dass sich Geschichte einfacher vermitteln lässt, wenn ihr ein Raum gegeben wird und wenn man Geschichte an ihrem Entstehungsort stattfinden lässt. Der Historiker Michael Stürmer schreibt in seinem Aufsatz „Geschichte in geschichtslosem Land“, der im April 1986, also kurz vor der Veröffentlichung des Artikels von Ernst Nolte, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien:
„Landauf, landab registriert man die Wiederentdeckung der Geschichte und findet sie lobenswert. Museen sind in Blüte, Trödelmärkte leben von der Nostalgie nach alten Zeiten. Historische Ausstellungen haben über mangelnden Zuspruch nicht zu klagen, und geschichtliche Literatur, vor zwanzig Jahren peripher, wird wieder geschrieben und gelesen.“16
Auch Historikern ist es also nicht entgangen, dass das Interesse an historischen Zusammenhängen gewachsen ist, was vor allem auf die Förderung durch die Regierung und die Wende in der Bewertung der Wichtigkeit von geschichtspolitischen Zusammenhängen zurückzuführen ist.
Während der Amtszeit Helmut Kohls kam es aber auch zu weniger glücklichen Momenten der geschichtlichen Aufarbeitung. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Besuch Helmut Kohls auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg. Gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan legte er dort am 5. Mai 1985 einen Kranz nieder, um die Verbundenheit zwischen Deutschland und der einstigen Siegermacht Amerika zu demonstrieren. Diese Art der Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur wurde in weiten Teilen der deutschen und amerikanischen Öffentlichkeit heftig diskutiert und endete in massiven Protesten, weil auf dem Friedhof auch Angehörige der Waffen - SS begraben wurden. Jürgen Habermas, der zur damaligen Zeit zu den einflussreichsten linksdemokratischen Intellektuellen gehörte, erblickte hinter diesem Händedruck zwischen Kohl und Reagan eine „Entsorgung der Vergangenheit“. Er sah die jüngste deutsche Vergangenheit durch diesen Akt verdrängt und vergessen.
Ein weiteres Beispiel für die teils unglücklichen geschichtspolitischen Aktivitäten sind die umstrittenen Aussagen des damaligen CSU - Vorsitzenden Franz - Josef Strauß, die für großes Aufsehen sorgten. In seiner Biografie schreibt der ehemalige CSU - Politiker, „die Deutschen müssten nun endlich aus dem zerdrückenden Schatten Hitlers heraustreten und sich zu einem aufrechten Gang dringen.“17
Neben diesen beiden Faktoren verstärkten zudem die Aktivitäten, die der Bevölkerung die Geschichte ursprünglich näher bringen sollten, massiv das Misstrauen an der Regierung. Suspekt waren vielen die museumspolitischen Initiativen, wie das 1983 per Regierungserklärung angekündigte Deutsche Historische Museum in West-Berlin.18 Neben dem Projekt in Berlin gab es noch das ehrgeizige Museumsprojekt für die damaligen Bundeshauptstadt: Das „Haus der Geschichte“ in Bonn mit dem Schwerpunkt der Präsentation der Geschichte der Bundesrepublik. Im Deutschen Historischen Museum sollte die Nationalgeschichte und Entwicklung der Bundesstaaten erläutert werden. Die beiden Großprojekte sollten sich gegenseitig ergänzen, fanden in der Bevölkerung selber aber wenig Zuspruch.
In der so genannten „Geistig - moralischen Wende“ ging es also vornehmlich um den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Kohl - Regierung knüpfte mit dieser Wende an die Tradition Konrad Adenauers an, der während seiner Regierungszeit versuchte, einen Teil der Souveränität durch die Westbindung zurück zu erlangen. Kohl ging es vordergründig darum, einen neuen Umgang mit der Vergangenheit zu schaffen, „um mit den Verbündeten auf Augenhöhe“19 zu sein. Man war um „Restitution Deutschlands als politische Macht bemüht“, dazu war eine angemessene und gründliche Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit unumgänglich.
Neben den Entwicklungen bei der Aufarbeitung der Geschichte während der „Geistig - moralischen Wende“ spielte besonders der Beitrag von Ernst Nolte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine große Rolle, denn dieser sorgte erst dafür, dass es zu einem so enormen Disput kommen konnte, der sich letztendlich zu einem fast zwei Jahre währenden Streit ausgeweitet hat.
Ernst Nolte wurde 1923 geboren und studierte Philosophie, Germanistik und altgriechische Philologie. Er lehrte als Professor für Neuere Geschichte an der Universität Marburg sowie bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1991 an der Freien Universität Berlin. International bekannt wurde er vor allem durch sein Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“, das im Jahr 1964 veröffentlicht und mit dem er auch in Köln habilitiert wurde.20 Schon davor veröffentlichte er aber zahlreiche Bücher und Aufsätze, die ihm national und international viel Anerkennung brachten, dazu zählt auch „Deutschland und der Kalte Krieg“ aus dem Jahr 1973 und das dritte Buch „Marxismus und Industrielle Revolution“.
Bereits 1979 hatte Nolte in einem Aufsatzband „Was ist bürgerlich?“ die These verfochten, dass „Hitlers Judenvernichtung letztlich im Zusammenhang mit einer zeitgenössischen Tat zu sehen sei: Die Vernichtung des Bürgertums in Russland.“21 Somit war für den Historiker schon fast zehn Jahre vor dem Ausbruch des Historikerstreits klar, dass der Nationalsozialismus als spiegelbildliche Folge der Russischen Revolution begriffen werde und in gewisser Weise auch des Marxismus.22 Hans - Ulrich Wehler beschreibt Ernst Nolte in seinem „Polemischen Essay zum „Historikerstreit““ als einen
„ebenso anregenden und provozierenden wie idiosynkratrischen und egozentrischen Gelehrten, der sich aufgrund seiner Ausbildung und seines Denkstils als Außenseiter der Historikerzunft fühlte und dort auch als ein solcher galt, der jedem, der seine wichtigsten Schriften gelesen hatte, bekannt sein konnte, als der „Historikerstreit“ begann.“23
Ein ebenso provozierender Artikel erschien 1985 mit dem Titel „Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus? Das Dritte Reich im Blickwinkel des Jahres 1980“. Darin betont Nolte, dass bei der Aufarbeitung des Genozids nur die „Stimme der Opfer vernehmbar war“ und konstatiert, dass eine Rechtfertigung niemals versucht worden sei. Dadurch weise das NS - System eine durchgehend „negative Lebendigkeit“ auf. Nach dem Kriegsende sei vor allem Anklageliteratur erschienen.24 Im nächsten Schritt behandelt er das Buch „Hitler und seine Feldherrn“ von David Irving aus dem Jahre 1975. Der britische Buchautor erlangte vor allem durch seine Leugnung des Holocausts zwar internationale, aber im Zusammenhang mit seinen Thesen zweifelhafte Berühmtheit. In dem Buch, so Nolte, versuche der Brite die Rechtfertigung Hitlers und der Nazi - Verbrechen. Die Hauptthese lautete, dass Hitler von der „Endlösung“ nichts gewusst habe. So falsch und provokant die Thesen auch seien, Nolte selber könne nicht alle Thesen mit leichter Mühe abtun. Zu diesen zählte er auch die, dass Hitler sich durch die Äußerungen Chaim Weizmanns bedroht gefühlt haben muss, als dieser im September 1939 geäußert hatte, dass die Juden im Krieg auf der Seite Englands kämpfen würden.25 Die Juden seien dadurch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zur Kriegsführenden und Kriegsauslösenden Partei geworden26 und, so Irving weiter, der Massenmord an den europäischen Juden somit gerechtfertigt gewesen.27
[...]
1 Hans - Ulrich Wehler: Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum „Historikerstreit“, München 1988, S. 22
2 Claus Leggewie : Historikerstreit - transnational, in: Steffen Kailitz (Hrsg.): Die Gegenwart der Vergangenheit, S. 50
3 Wolfgang Marienfeld: Der Historikerstreit, Hannover 1987, S. 5
4 Ernst Nolte: Das Vergehen der Vergangenheit - Antwort an meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit, Frankfurt 2 1988, S. 13
5 Nolte: Vergehen der Vergangenheit, S. 13
6 Hermann Lübbe: Die Aufdringlichkeit der Geschichte - Herausforderungen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus, Köln 1989, S. 334
7 Steffen Kailitz: Die politische Deutungskultur der Bundesrepublik Deutschland im Spiegel des „Historikerstreits“ in: Steffen Kailitz (Hrsg.): Die Gegenwart der Vergangenheit - Der Historikerstreit und die deutsche Geschichtspolitik, Wiesbaden 2008, S. 17
8 Rupert Seuthe: „Geistig - moralische Wende?“ Der politische Umgang mit der NS - Vergangenheit in der Ära Kohl am Beispiel von Gedenktagen, Museums- und Denkmalprojekten, Frankfurt am Main 2001, S. 9
9 Wehler: Entsorgung der deutschen Vergangenheit, S. 36
10 „8. Mai war ein Tag der Befreiung“, in: Der Spiegel, 8. Mai 2005
11 Quelle: www.bundestag.de
12 http://www.wdr.de/wissen/wdr_wissen/programmtipps/radio/10/05/08_0905_5.php5 (zuletzt aufgerufen am 20. August 2010)
13 http://www.wdr.de/wissen/wdr_wissen/programmtipps/radio/10/05/08_0905_5.php5 (zuletzt aufgerufen am 20. August 2010)
14 Claus Leggewie: „Historikerstreit - transnational“, In: Kailitz, Steffen (Hrsg.): Die Gegenwart der Vergangenheit - Der Historikerstreit und die deutsche Geschichtspolitik, Wiesbaden 2008, S. 53
15 Thomas Lutz: Historische Orte sichtbar machen. Gedenkstätten für NS - Opfer in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 1/1995, S. 18 - 26
16 Michael Stürmer: „Geschichte in einem geschichtslosen Land“ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.04.1986
17 Franz Josef Strauß: Die Erinnerungen, Berlin 2 1989.
18 Leggewie: Historikerstreit, S. 53
19 Leggewie: Historikerstreit, S. 55
20 Vgl.: Wehler: Entsorgung Vergangenheit, S. 14
21 Wehler: Entsorgung der Vergangenheit, S. 19
22 Vgl.: Wehler: Entsorgung der Vergangenheit, S. 20
23 Wehler: Entsorgung der Vergangenheit, S. 20
24 Vgl.: Nolte: Vergehen der Vergangenheit
25 Vgl. Nolte: Vergehen der Vergangenheit, S. 170 ff.
26 Vgl.: Nolte: Vergehen der Vergangenheit, S. 171
27 Vgl..: Imanuel Geiss: Zum Historikerstreit, In: Evangelische Kommentare, Heft 2, Februar 1987