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Bachelorarbeit, 2011
54 Seiten, Note: 1,1
Einleitung
1 Explizite Orestie -Rezeption
1.1 Familiäre Gewalt: Echtzeit von Albert Mestres (2010)
1.1.1 Familientragödie als Gewaltakt
1.1.2 Soziale Einschränkungen im Kiez
1.2 Das Schicksal der Kinder: Orestie: Die Brut von Henry Mason (2009)
1.2.1 Ein vorherbestimmtes Familiendrama
1.2.2 Der Inzestfall von Amstetten und der Einsatz der Medien
2 Implizite Orestie -Rezeption
2.1 Von Göttern und Naturgewalten: Ein Sturz von Elfriede Jelinek (2010)
2.1.1 Das Kräftemessen der Elemente Erde und Wasser
2.1.2 Naturgewalten, Götter und der Einsturz des Kölner Stadtarchivs
2.2 Europa und Afrika in der Flüchtlingspolitik: Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung von Kevin Rittberger (2010)
2.2.1 Kassandras Warnungen und Vorsehung
2.2.2 Flüchtlingsflut und ihre Folgen
Fazit
Literaturverzeichnis
Die Orestie von Aischylos ist mit über 2.500 Jahren die älteste erhaltene Dramentrilogie aus der griechischen Antike, die eine so große Bekanntheit erlangte, dass sie noch immer auf dem Theater gespielt wird. Dennoch ist nicht nur die starke Präsenz in den Spielplänen beeindruckend. Auch die zunehmende Rezeption in den neueren Dramen ist überraschend und faszinierend zugleich. Besonders auffällig ist dabei die Häufigkeit der Rezeption in den letzten beiden Jahren, wobei das Jahr 2010 als erster Höhepunkt dieses Prozesses gelten kann. Gleich drei Theaterstücke beziehen sich auf die Tragödie von Aischylos, sei es thematisch, motivisch oder formal. Die Orestie bleibt damit weiterhin im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft verhaftet, sofern die Instanz »Theater« auch in Zukunft Gültigkeit hat.1
Mein Anliegen in der vorliegenden Arbeit ist es, die Zusammenhänge aktueller gesellschaftlicher und politischer Themen mit der antiken Orestie aufzudecken sowie zu ergründen, worin das Interesse der Gegenwartsdramatik in Bezug auf die Tragödie von Aischylos besteht.
Um zu zeigen, dass die Orestie -Rezeption nach wie vor in der Gegenwartsdramatik präsent ist, möchte ich vier Theaterstücke analysieren, die explizit aber auch implizit auf die Orestie verweisen. Zum einen sind dies Echtzeit (2010) von Albert Mestres und Orestie: Die Brut (2009) von Henry Mason, zum anderen Ein Sturz (2010) von Elfriede Jelinek und Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung (2010) von Kevin Rittberger. Die ersten beiden Dramen behandeln offensichtlich sowohl die Figurenkonstellation als auch die familiäre Problematik der antiken Tragödie. So werden ähnliche Namen und Eigenschaften der Personen als auch die familiären Gewalttaten übernommen.
Dagegen ist es abgesehen vom Dramentitel bei den beiden letztgenannten Stücken nicht sofort erkenntlich, dass sie sich stofflich oder thematisch auf die Orestie beziehen. Erst in der eingehenden Beschäftigung mit den Inhalten und Motiven bestätigt sich rückwirkend die Vermutung.
Im Folgenden werde ich jedes einzelne Theaterstück isoliert betrachten und unter zwei Gesichtspunkten untersuchen. Einerseits interessiert mich der formale, sprachliche und inhaltliche Aspekt der Orestie -Rezeption; welche Elemente aufgegriffen und verarbeitet wurden. Andererseits richtet sich mein Blick besonders auf die aktuellen tagespolitischen Themen in den jeweiligen Werken insofern, welche neue Lesart und heutige Präsenz der antike Stoff erhält.
Zuvor möchte ich allerdings noch einen kurzen Einblick in die Trilogie des Aischylos geben, um die stoffliche und thematische Problematik der beteiligten Figuren in Erinnerung zu rufen, welche als Grundlage für die nachstehenden Ausführungen vorauszusetzen ist.
Die Trilogie Oreste í a von Aischylos2 ist in drei dramaturgisch abgeschlossene Einzelwerke geteilt, welche aneinandergefügt inhaltlich allerdings ein Gesamtwerk ergeben. In diesen drei Teilen Agamemnon, Die Choephoren und Die Eumeniden wird die Tragödie der Familie um den mykenischen König Agamemnon nach dem Sieg im Trojanischen Krieg als Folge des Atriden-Fluchs erzählt.
Agamemnon: Agamemnon, der das Leben seiner Tochter Iphigenie gegen die Hilfe der Götter im Trojanischen Krieg tauscht und opfert, wird nach der Rückkehr zusammen mit seiner Geliebten Kassandra von seiner Ehefrau Klytaimestra getötet. Choephoren: Klytaimestras Sohn Orestes, nachdem er seine Schwester Elektra wiedergefunden hat, rächt den Vatermord und tötet schließlich seine Mutter sowie deren Geliebten Aigisthos.
Eumeniden: Als Orestes schließlich von den racheliebenden Erinnyen verfolgt wird und seinen inneren Frieden wieder erlangen möchte, wird er durch den Einsatz des neu entstandenen Areopags mit Athenes Hilfe freigesprochen, womit der Atriden-Fluch aufgelöst ist.
Exemplarisch für eine explizite Orestie -Rezeption steht das Theaterstück Echtzeit3 (2010) vom katalanischen Autor und Regisseur Albert Mestres. In diesem Drama verarbeitet er das Thema der Gewalt in der Familie, sei sie physischer oder psychischer Natur. Die Gewalt ist stark in den Vordergrund gerückt und unterliegt dem Umgang innerhalb einer vom Leben sehr enttäuschten und unglücklichen Familie. Der Inhalt ist schnell erzählt. Nachdem der Ehemann Nonet nach jahrelanger Abwesenheit als Soldat im Krieg ins wohlbehütete Zuhause zurückkehrt, hat seine Frau Clita bereits einen Nebenbuhler. Als sie und ihr Geliebter Gisto die Situation als Patchwork-Familie nicht mehr ertragen können, töten sie Nonet. Die Kinder allerdings, welche den Vater abgöttisch lieben und die Ignoranz der Mutter und die körperliche Gewalt des Stiefvaters nicht mehr dulden wollen, töten erst Gisto und schließlich auch die Mutter.
Das Thema der häuslichen Gewalt ist bei Mestres in eine Handlung eingebettet, die der Orestie von Aischylos zugrunde liegt. Die Trilogie der Stücke in der Orestie wird in Echtzeit in drei Akte aufgelöst, wobei rückwirkend nur mit den beiden ersten Teilen, dem Agamemnon und den Choephoren, gearbeitet wurde.
Folgende Punkte sind im unmittelbaren Vergleich auffällig: die Gesänge, die Namensähnlichkeit und die Handlung.
1.) Die Gesänge
Jeder Akt beginnt mit einem zwei-strophigen Gesang, deren Metrik und sprachliche Gestaltung dem der Orestie sehr ähnlich formuliert sind: sie lauten der Gesang der Elektra, Gesang des Agamemnon, Gesang der Klytaimnestra und Gesang des Orest, welche von einem explizit als „Schauspieler“ ausgewiesenen Redner im Stück verkörpert werden. Dieser hat die Aufgabe, dem Zuschauer den Stoff als Rahmenprogramm aufzuzeigen.
Der Gesang der Elektra beispielsweise vermittelt inhaltlich den Tod des Vaters, obwohl dessen Ermordung in den ersten beiden Akten nicht dargestellt wird. Erst im dritten Akt wird der Gewaltakt von der Mutter und deren Geliebten ausgeführt. Auch in der Orestie von Aischylos betrauert Elektra bereits ihren toten Vater an der Grabesstätte, allerdings beginnt dieser Auftritt erstmals in den Choephoren. Hier hat Mestres also eine Veränderung vorgenommen. Er setzt einen Auszug aus der aischyleischen Tragödie über die Trauer des Kindes oder Kinder, da zu Beginn der Choephoren auch Orestes selbst als Trauernder auftritt in den Zusammenhang mit der Trauer der Kinder Uri und Eli in Echtzeit über den Tod ihres Vaters. Zwar ist dieser Vorgang im Verlauf des Stückes an verschiedenen Stellen wahrzunehmen, aber die Erwähnung als Vorgriff auf den ersten Akt erhöht die Spannung und Erwartung des Lesers oder Zuschauers enorm, sodass der szenische Einsatz der Trauer bereits vorab mit Neugierde besetzt ist.
Der inhaltliche Vorgriff ist auch sprachlich interessant. Vergleicht man den Gesang der Elektra mit dem ersten Auftritt der Elektra in den Choephoren, fällt auf, wie nah sich Albert Mestres für den „Vorspann“ an der aischyleischen Vorlage orientiert hat.4
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ähnliches kann man auch in den Ges ä ngen des Agamemnon, der Klytaimestra und des Orestes feststellen.
Der Gesang des Agamemnon, der Beginn oder „Vorspann“ des zweiten Akts, gibt zwei Szenen der Orestie wieder, in denen Agamemnon einmal indirekt und dann direkt auftritt. Zum einen handelt es sich um die Schilderung der Ermordung von Agamemnons Tochter Iphigenie durch einen Wächter, zum anderen um die kurze Präsenz des Herrschers bei der Rückkehr in Argos und der unmittelbar folgenden Ermordung des Gatten durch dessen Frau Klytaimestra; beides ist im Agamemnon vereint.
Diese beiden Szenen werden in Echtzeit im Gesang des Agamemnon aufgegriffen und in zwei Strophen übertragen. Der inhaltliche Vorgriff auf zwei elementare Momente in Mestres Stück bewirkt auch hier wieder eine Erweiterung des Vorwissens für den Leser oder Zuschauer sowie eine Rekurrenz zum Stoff der Orestie. Denn auch in Echtzeit hat der Vater Nonet sein Kind Gènia getötet allerdings unbeabsichtigt und wird durch die Hand seiner Frau Clita ermordet. Diese beiden Motive werden im Gesang vorbereitet, um sie im zweiten Akt darstellen zu können. So lassen sich in diesem Gesang ebenso Textstellen des Originals wiederfinden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die in diesem Gesang angesprochenen Kugeln, welche Agamemnon treffen, werden in Echtzeit zu den beiden Schüssen Elis, wenn sie ihren gehassten Stiefvater Gisto mit einer imaginären Pistole erschießt. Die Kinder Eli und Uri spielen regelmäßig „Himmel und Hölle“, „Doktorspiel“, „Mama und Papa“ und „Cowboy und Indianer“. Sobald sie Letzteres spielen, ist Gisto häufig anwesend und erhält die beiden gezielten Treffer.5
Der Gesang der Klytaimnestra offenbart in einer Art Wechselgesang zwischen Klytaimestra und Orestes, െ wobei dessen Argumente lediglich im übertragenen Sinn und in einer distanzierten Form gesprochen werden െ die zukünftigen Ereignisse des dritten und damit letzten Akts. Uri tötet seinen Stiefvater ܩ݅ݏݐ, was gesanglich jedoch nicht erwähnt wird, sowie seine Mutter Clita aus Rache für den Tod des geliebten Vaters. Ebenso werden die Beweggründe und Motive für die bisherigen Handlungen aufgezeigt. Clita ist dessen überdrüssig geworden, dass ihr Mann lediglich ab und zu ein paar Tage zu Hause verweilt, aber die restliche Zeit als Soldat in den Krieg ziehen muss. Als alleinerziehende Mutter zweier schulpflichtiger Kinder kann sie den Haushalt, die Erziehung der Kinder und die Erfüllung körperlicher Sehnsüchte nicht ohne männliche Unterstützung bewältigen, weshalb sie sich einen Nebenbuhler, den gewalttätigen Gisto, angeschafft hat.
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Das Theaterstück endet mit dem zweistrophigen Gesang des Orest. Dieser ist so gebaut, dass im ersten und zweiten Abschnitt Worte aus den Eumeniden der Orestie sprachlich umgewandelt werden. Darin werden Orestes´ Erklärungen und die Rechtfertigungen der Erinnyen miteinander verbunden, um zu verdeutlichen, wie wichtig die Frage nach der Schuld ist. Albert Mestres möchte am Ende des Theaterstücks mit Verweis auf die Eumeniden noch einmal rekapitulieren, was der oder die Auslöser für die Morde innerhalb der Familie sein könnte oder könnten. Bedeutsam und einschneidend in diesem Zusammenhang ist vor allem die Frage: „Kann ein Kind die Mutter töten?“ Eindringlich fordert der Autor hier das Überdenken der Erziehungsmaßnahmen und besonders das Verhältnis der Eltern zu den Kindern, worauf ich zu einem späteren Zeitpunkt noch eingehen werde.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Der Vergleich zwischen den Gesängen in Echtzeit und der Orestie zeigt, dass offensichtliche Bezüge zwischen den einzelnen Textpassagen bestehen. Sowohl zitierend als auch paraphrasierend erfolgt hiermit eine inhaltliche und sprachliche Übereinstimmung mit dem Original, sodass von einer expliziten Orestie -Rezeption die Rede sein kann.
Die Gesänge können somit als thematische Vorboten der Aktionen in den jeweiligen Szenensequenzen gelesen werden und weisen ausdrücklich auf den Rückgriff des mythologischen Stoffes in Mestres Drama hin.
2.) Namensähnlichkeit und Figurenhintergründe
Interessant ist in Echtzeit auch der etymologische Zusammenhang zwischen den einzelnen agierenden Personen. So kann die Figur des aus dem Krieg heimkehrenden Nonet als Agamemnon identifiziert werden. Zum einen durch die Namensähnlichkeit von Nonet und Agamem non, zum anderen aufgrund des Hintergrundes, dass beide Kriegsheimkehrer sind. Die Regieanweisungen bestätigen dies abermals mit den Worten: „Nonet kommt aus dem Krieg zurück.“6 Im Ablauf der Heimkehr liegt aber auch ein bedeutsamer Unterschied. Agamemnon wird bei der Ankunft in Argos von seiner Kriegsbeute Kassandra begleitet. Nonet dagegen kehrt allein aus seinen Einsätzen zurück. Diese Abweichung ist deshalb wichtig, weil die Person Kassandra dadurch nicht in die Figurenkonstellation mit aufgenommen werden muss. Damit wird die Beziehung zwischen Clita und Gisto mehr in den Fokus gerückt.
Nonets Frau Clita, die in der Abwesenheit ihres Mannes den Haushalt erledigt und die Kinder betreut, stellt Klytaimestra dar. Auch hier ist die Namensgleichheit zwischen Clita und Klyta imestra deutlich erkennbar. Ihr heimlicher Geliebter Gisto kann mit Ai gistho s gleichgesetzt werden. Gistos Auftritt im Stück Echtzeit beginnt erst im zweiten Akt. Das bedeutet, dass beim erstmaligen Aufeinandertreffen des Paares Clita und Nonet die Anwesenheit des Geliebten nicht Thema ist und die Aufmerksamkeit allein auf die Verhältnisse innerhalb der vierköpfigen Familie gelegt wird.
Die vaterliebenden Kinder Uri und Eli ähneln etymologisch und charakterlich den Figuren des Ore stes und der Ele ktra.
Auch die vom Vater Agamemnon für die Hilfe der Götter zum Sieg geopferten Tochter Iphigenie taucht im Stück Echtzeit wieder auf: Gènia. Der etymologische Zusammenhang der beiden Figuren sei hier nur am Rande erwähnt. Gènias Schicksal ist ebenfalls grausam. Aufgrund von Misshandlungen durch den Ehemann Nonet an Clita während der Schwangerschaft wird Gènia taub und stumm zur Welt gebracht. Während einer kurz andauernden, nahezu flüchtigen Verletzung der elterlichen Aufsichtspflicht ertrinkt das Kind schließlich in der Badewanne; dies wird in Szene 3. VI geschildert.
Diesen Verlust kann Clita ebenso wie Klytaimestra psychisch nicht verarbeiten, da beide ihre Töchter abgöttisch geliebt haben. So bezeichnet Clita ihre verlorene Tochter immer wieder als „Zuckerpüppchen“ und schlägt sich bei jedem emotionalen Zusammenbruch mehrmals ins Gesicht und in den Bauch. Klytaimestra dagegen äußert, als sie vom Chor zur Rechenschaft für die Ermordung ihres Mannes gezogen wird: „Sein eigen Kind geopfert, mir die liebste Frucht der Mutterschmerzen, wegzuzaubern thrakischen Wind“ (Agamemnon, V. 1417-1418). Der Schmerz der beiden Mütter ist damit Motiv gebend und verstärkt die offensichtliche Orestie -Rezeption.
3.) Die Morde
Nicht nur die Namen sind verblüffend ähnlich, auch die Handlung des Stücks ist weitgehend übereinstimmend. Die inhaltliche Rezeption spiegelt sich in den einzelnen Aktionen durch die vielen detaillierten Regieanweisungen wieder. Neu ist vor allem der Fokus auf den Vater. Der aus dem Krieg heimgekehrte Nonet zeigt sich seinen Kindern überaus fürsorglich, fast liebevoll, auch wenn er als Alkoholiker, Anti-Hausmann und Schläger seiner Ehefrau nicht wirklich viel zum Familienfrieden beiträgt. Dies ist eine Facette, die in Aischylos´ Drama nicht zu sehen ist, auch nicht gesehen werden kann, da Agamemnons Kinder nicht im elterlichen Haus wohnen und auch er eine Nebenbuhlerin mit nach Hause bringt. Clitas Hass bezieht sich also nicht wie bei Klytaimestra neben dem Tod ihrer Tochter Iphigenie auf die Geliebte, sondern auf die Nutzlosigkeit des Ehemannes im Haushalt und als Partner, das sie abermals betont: „Einen Tollen hab ich mir da an Land gezogen.“7
Da in den ersten beiden Akten familiäre Gewalt an der Tagesordnung steht und die Kinder sowie die Erwachsenen körperliche Misshandlungen ertragen müssen, kommt es im dritten Akt schließlich zum Gewaltausbruch in Form von Ermordungen. Übereinstimmend mit der Orestie wird zuerst der Vater Nonet von seiner Frau Clita erstochen, dann ersticht ihr Sohn Uri den Stiefvater Gisto und im Anschluss auch seine Mutter. Albert Mestres unternimmt in dieser Schlussszene allerdings eine kleine Änderung, auf die ich kurz eingehen möchte.
Da die wenigen Handlungen, die tatsächlich in Echtzeit stattfinden, im Laufe des Stücks ab und zu wiederholt und jeweils um erkenntnisreiche Äußerungen und Sätze erweitert werden,8 erfährt man erst in der letzten Szene, dass nicht, wie bis zu dem Zeitpunkt angenommen, Uri die Mutter tötet, sondern Eli. Aufgrund der Zögerung Uris, die Mutter zu erstechen, schubst Eli ihren Bruder und entreißt ihm das Messer, um den Tötungsvorgang einzuleiten. Bemerkenswert ist auch die Stelle des Einstichs. Nicht ein Schnitt an der Kehle, wie es in der Orestie durchgeführt wird, sondern ein Stoß oder drei Messerstöße in den Bauch Clitas jeder Stich steht für ein von ihr geborenes Kind sind Elis brutale Mordergebnisse.
Diese Änderung kommt jedoch nicht von ungefähr, denn auch in der antiken Vorlage ist Elektra nicht ganz unbeteiligt am Mordgeschehen. So fordert sie in den Choephoren, gemeinsam mit dem Chor: „Für unrecht Handlen fordre ich Recht!“ (V. 396) Orest wird durch ihre Reden und durch die Bemerkungen des Chors schließlich dazu gebracht, nicht nur Aigisthos, sondern auch seine Mutter zu töten. Allerdings ist Elektras Forderung nach Entsühnung nur indirekt vernehmbar. Eine explizite Äußerung Elektras zum Mord wird in der Unterredung zwischen den beiden Geschwistern nicht deutlich, sodass ihre Beteiligung tatsächlich nur als indirekte Anstachelung Orestes´ aufgefasst werden kann.9
Im Stück Echtzeit von Albert Mestres lassen sich noch weitere spannende Elemente entdecken, wie weitere sprachliche und zitierende Übereinstimmungen mit der aischyleischen Vorlage besonders in den Dialogen der Mordszenen oder gleiche Charaktereigenschaften der Figuren. Vor allem die Person Gisto, die ähnliche Züge wie Aigisthos aufweist oder am Mord mitbeteiligt respektive dazu Anstifter10 gewesen ist, müsste genauer untersucht werden sowie dessen Mitwirkung in der familiären Gewalt. Doch sollte dies fürs Erste genügen, um zu zeigen, dass die Orestie von Aischylos explizit in dem gegenwärtigen Drama rezipiert wurde.
Interessant ist nun die Frage, wie Albert Mestres die Thematik und den Stoff interpretiert und gedeutet, was er also als etwas Neues und Gegenwärtiges in der Orestie des Aischylos gesehen hat. Auffällig ist zunächst die starke Reduktion der Kommunikation innerhalb des Theaterstücks. Der sprachliche Aspekt scheint für ihn bis auf die vier Gesänge und die Mordszenen nicht von Interesse gewesen zu sein. Denn alle Figuren sprechen nur mit wenigen kurzen Sätzen, die sie floskelhaft immer wieder in spärlichen Dialogen verwenden.11 Der Grund liegt zumindest auch darin, dass die einzelnen Familienmitglieder nicht wirklich miteinander kommunizieren möchten und so ihre scheinbare Teilnahme am Tagesgeschehen anzeigen. Durch jahrelange Frustration und Enttäuschung über die nur sporadisch existierende Kommunikation innerhalb der Familie entwickelt sich eine Resignation in den Versuchen, emotionale Beziehungen untereinander aufzubauen. Dies hat zur Folge, dass jeder mit seinen Problemen allein bleibt und keinerlei Anteilnahme von anderen mehr gefordert wird.
Die Übertragung des Stoffes und der Themen der Orestie in die Gegenwart ist nun von besonderem Interesse. Die Orestie wird in Echtzeit als Grundlage für extreme häusliche Gewalt gebraucht, deren Formen sich neben psychischer vor allem in körperlicher Gewalt zeigen. In starken Penetrationen, sexuellen Angriffen und besonders in den Morden äußert sich die Verzweiflung der einzelnen Personen, dass sie mit dem jetzigen Leben nicht zurechtkommen.
Die Eltern lassen ihre Frustrationen, Aggressionen und Sehnsüchte nach Stabilität, Harmonie und vor allem Liebe am Partner sowie am Häufigsten an den unschuldigen Kindern aus. Diese erscheinen als leichtes Opfer, da sie sich nicht wehren können oder wenig Auswirkungen erzielen können. So versteht man die aggressiven Ausbrüche der Kinder in Form von Selbstverletzungen, Prügeleien in der Schulund Freizeit oder auch Amokläufen.
Auch heute steht Gewalt leider immer auf der Tagesordnung. Gegenüber dem Anderen Macht ausüben zu können, wenn man selbst nicht mehr die Fähigkeit hat, seinen Umstand zu ändern, scheint vielen als letzter Ausweg zu dienen. So ist körperliche Gewalt vor allem in den Medien stark präsent. Man hört von U-Bahn-Schlägern, von Gewalt in scheinbar gut behüteten Familien und von Mobbing an Schulen oder im Beruf. Das Thema Mord fällt in der aktuellen Tagespresse besonders auf. Von Auslöschungen ganzer Familien durch ein Elternteil oder auch durch die eigenen Kinder wird immer öfter berichtet, meist aus Eifersucht zwischen Partnern, aus finanzieller Not aufgrund eines Jobverlusts oder auch aus Hassliebe dem Elternteil gegenüber. Immer wieder sind Verlustängste, gesellschaftliches Ansehen und Furcht vor dem Verletztwerden Motive, die den Menschen zu solchen Taten verleiten. Das ist es, was schließlich auch die Orestie von Aischylos so gegenwärtig und damit hochaktuell macht. Denn die emotionalen Ausflüchte in Gestalt von Misshandlungen, Penetrationen und Ermordungen hat Mestres zum Anlass genommen, in Echtzeit zu verarbeiten. Er selbst sagt:
[...]
1 In einem kurzen Essay habe ich meine These der Orestie -Rezeption in der Gegenwartsdramatik bereits darlegen können. Siehe dazu Hilbig, Nicole: Die „ Orestie “ von Aischylos ein N ä hrboden der Gegenwartsdramatik. Ein Vergleich mit „ Echtzeit “ von Albert Mestres und „ Ein Sturz “ von Elfriede Jelinek, ein Essay, [6 Seiten]. Zu finden unter folgendem Link: http://www.grin.com/e-book/168963/dieorestie-von-aischylos-ein-naehrboden-der-gegenwartsdramatik.
2 Die Trilogie Orestie von Aischylos wurde uraufgeführt im Jahre 458 v. Chr. zu den Großen Dionysien in Athen. Nähere Informationen zur Aufführungstradition der Dionysien und den Dichtern siehe Nesselrath, Heinz-Günther : Die Orestie von Aischylos ein erster H ö hepunkt des europ ä ischen Theaters. In: Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur, hrsg. von Werner Frick in Zusammenarbeit mit Gesa von Essen und Fabian Lampart, Göttingen: Wallstein, 2003. S. 9-28. Ebenfalls erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist der Aufsatz von Wickevoort Crommelin, Bernhard van: Die Rolle des Theaters im politischen Leben Athens. In: Die griechische Tragödie und ihre Aktualisierung in der Moderne, zweites Bruno Snell-Symposion der Universität Hamburg am EuropaKolleg, hrsg. von Gerhard Lohse und Solveig Malatrait, München; Leipzig: K. G. Saur, 2006. S. 13-44. (Beiträge zur Altertumskunde, hrsg. von Michael Erler u.a., Bd. 224)
3 Stückabdruck und einleitende Worte sind zu finden in Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik, Jahrgang 65, Heft Nr. 12, Dezember 2010. S. 46 ff.
4 Als Übersetzungsund Analyse-Vorlage habe ich gewählt Aischylos: Die Orestie. Agamemnon, Die Totenspende, Die Eumeniden, Deutsch von Emil Staiger, mit einem Nachwort des Übersetzers, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2008. (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 508)
5 So zu lesen mit den Worten Elis „Peng-peng tot“ in den folgenden Szenen, außer Szene 1.VI und 2.VI: 2.IX, 2.XIV, 2.XVIII, 3. XI, 3.XIX, 3.XX, 3.XXII.
6 So zu lesen in den Szenen 1.II, 1.VIII, 2.VIII und in 3.II.
7 Diese Äußerung wiederholt sich in mehreren Szenen: 1.VI, 1.XII, 2.XII, 2.XV, 3.V, 3.VIII,
8 Mestres konstruiert die einzelnen Abläufe in mehreren Szenen, die in vier nebeneinanderstehenden und durch vier Türen getrennten Küchen jeweils einen bestimmten Zeitabschnitt bedeuten. Die Handlung wird also nicht nacheinander, in einer Abfolge erzählt, sondern vieles „zeitgleich“ ( „Echtzeit“) nebeneinander. Diese Gleichzeitigkeit lässt viele Vermutungen aufkommen, was als Nächstes passieren wird, allerdings nimmt es auch Momente heraus, die bereits viele Szenen früher erkannt werden. Das macht es umso spannender zu erfahren, wie und weshalb es letztlich zu den Morden kommt.
9 Elektra als direkte Beteiligte am Muttermord wird erst in der Tragödie Elektra von Sophokles definiert. Siehe dazu Flashar, Hellmut: Die antike Gestalt der Elektra. In: Inszenierte Antike Die Antike, Frankreich und wir. Neue Beiträge zur Antikenrezeption in der Gegenwart, hrsg. von Henry Thorau und Hartmut Köhler, Frankfurt am Main; Berlin; Bern u.a.: Peter Lang, 2000. S. 47-58. (Trierer Studien zur Literatur, hrsg. von Jörg Hasler, Karl Hölz, Lothar Pikulik, Bd. 33)
10 Im Agamemnon der Orestie sagt Aigisthos: „Anstifter dieses Mords bin ich mit vollem Recht.“ (V. 1604)
11 Vgl. dazu das Interview mit dem Autor in Mechanismen der Gewalt. Der katalanische Autor und Regisseur Albert Mestres im Gespr ä ch. In: Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik, Jahrgang 65, Heft Nr. 12, Dezember 2010. S. 46.