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Bachelorarbeit, 2011
49 Seiten, Note: 1,3
Einleitung
1. Einflussfaktoren bei der Erstellung von Geschichtslehrbüchern sowie deren Funktion im Unterricht
2. Die Genese von Geschichtsbewusstsein
3. Lehrbuchanalyse
3.1. Das Verfahren der Lehrbuchanalyse
3.1.1 Lehrbuchanalyse am Beispiel Anno 4 Gymnasium Sachsen (Klassenstufe 8, Sekundarstufe I)
3.1.2 Lehrbuchanalyse am Beispiel Zeiten und Menschen 2 Gymnasium Nordrhein-Westfalen (Klasse 7, Sekundarstufe I)
4. Perspektivübernahme im Geschichtslehrbuch - ein Vergleich zwischen Sachsen und Nordrhein-Westfalen
Schlussbetrachtung
Anhang
Quellen- und Literaturverzeichnis
Kaum ein zweites Medium unterlag in seiner funktionalen Ausgestaltung im Laufe der Ge- schichte einer solch gravierenden Veränderung, wie das Schulbuch. Eines der ältesten Ge- schichtslehrbücher („Einleitung zur Universal-Historie“) aus dem Jahr 1723 von Hilmar Cu- ras hatte zunächst die Funktion sich ein sicher geglaubtes historisches Wissen in katecheti- scher Form anzueignen. Ende des 18. Jahrhunderts stand hingegen in Stölzers „Weltgeschich- te für Kinder“ die Erarbeitung historischer Zusammenhänge im Vordergrund des Lehrwerkes. Im 19. Jahrhundert verliert sich diese Darstellung der Geschichte zugunsten geschlossener Erzählungen. Im Zuge der reformpädagogischen Bewegung im ausgehenden 19. und begin- nenden 20. Jahrhunderts wurden neue Anforderungen an Schule und Unterricht gestellt. Dies wirkte sich nicht zuletzt auf die Ausgestaltung der Schulbücher aus, wenngleich sich Verände- rungen anfänglich nur allmählich zeigten. Dabei sollten die Schüler/-innen unmittelbar mittels anschaulicher Geschichtserzählungen angesprochen werden und der Geschichtsunterricht wurde als Arbeitsunterricht konzipiert, welcher den Schülern/-innen große Selbstständigkeit beim Lernen einräumte. Historisches Geschehen wurde möglichst farbig ausgestaltet, um das Interesse der Leser/-innen zu wecken. Dies schloss mitunter auch fiktionale Elemente ein. Ei- ne solche Geschichtsdarstellung war besonders zur Zeit der Nationalsozialisten beliebt und verlor sich auch nach 1945 nicht vollständig. Die Gründe hierfür liegen in den damalig gel- tenden entwicklungspsychologischen Annahmen (siehe PIAGET), die Aufgrund eines starren Begabungsbegriffes den Schülern/-innen weder historisches Lernen noch historische Erkennt- nisse zutraute. Lediglich den Schülern/-innen am Gymnasium schrieb man die Fähigkeit zu originale Quellen lesen und auslegen zu können. So wurde in dieser Schulform dem Ge- schichtslehrbuch, welches als Lesebuch konzipiert war, noch ein Quellenteil hinzugefügt. Erst durch HEINRICH ROTHS Untersuchung „Kind und Geschichte. Psychologische Vorraussetzun- gen des Geschichtsunterrichts in der Volksschule“ wurden die starren entwicklungspsycholo- gischen Strukturen durchbrochen, so dass auch jüngere Schüler/-innen im Geschichtsunter- richt zu historischen Denken befähigt sind. Somit ergab sich für das Lehrbuch ein völlig neuer Typus - das Arbeits- und Lesebuch. Der Prototyp dessen war das Lehrwerk „Menschen in ih- rer Zeit“, 1966 im Klett-Verlag erschienen. Den Schüler/-innen sollte nunmehr die Auseinan- dersetzung mit historischen, menschlichen Erfahrungen ermöglicht werden, aus welchen sie ihre Folgerungen ziehen konnten. Gestützt wurde dies mit eine Vielzahl an Text- und Bild- quellen, die Einzug in das Geschichtslehrbuch hielten. Dieser Schulbuchtypus hat sich im Fach Geschichte durchgesetzt. Moderne Geschichtslehrbücher zeichnen sich als kombinierte Lehr- und Arbeitsbücher aus.1 Doch neben den inhaltlichen und methodischen Neuerungen sollte ein modernes Schulgeschichtsbuch auch seinen Beitrag zur Ausbildung und Förderung des Geschichtsbewusstseins leisten, welches in den Lehrplänen für das Fach Geschichte in den einzelnen Bundesländern festgeschrieben ist.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Ausbildung des Geschichtsbewusstseins in Geschichtslehrbüchern, unter besonderer Berücksichtigung der Perspektivübernahme. Im di- rekten Vergleich der beiden Bundesländer Sachsen und Nordrhein-Westfalen soll untersucht werden, inwieweit die Lehrbücher Perspektivübernahmen fördern und somit zur Ausbildung von Geschichtsbewusstsein beitragen können. Dafür wurde aus jedem Bundesland exempla- risch ein Lehrwerk ausgesucht, aus welchen jeweils drei Themenbereiche frei ausgewählt und zum Vergleich herangezogen werden. Für das Land Sachsen handelt es sich um das Lehrbuch „Anno 4“ (Klasse 8, Sekundarstufe I), im Westermannverlag 2006 herausgegeben. Für Nordrhein-Westfalen ist es das Lehrwerk „Zeiten und Menschen 2“ (Klasse 7, Sekundarstufe I), im Schöningh Verlag 2008 veröffentlicht. Da in Nordrhein-Westfalen nach dem neuen G8 Lehrplan der Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe I nur in den Klassenstufen fünf, sie- ben und neun erteilt wird, ergeben sich die verschiedenen Klassenstufen der ausgewählten Lehrbücher. So wies ein Lehrbuch aus der Klassenstufe acht in Sachsen die größten inhaltli- chen Schnittmengen mit den Inhalten der Klassenstufe sieben in Nordrhein-Westfalen auf. Der Fokus der Untersuchung ist bewusst auf diese Altersstufe gerichtet, da diese in der For- schung (besonders in der Entwicklungspsychologie) oftmals vernachlässigt wird.
Da sich das Konstrukt des Geschichtsbewusstsein aus verschiedenen Komponenten und Ein- flussfaktoren zusammensetzt, kann in dieser Arbeit nur auf einen Faktor des Geschichtsbe- wusstseins eingegangen werden. Ausgewählt wurde hierfür die Perspektivübernahme, welche von führenden Geschichtsdidaktikern (z. B. BERGMANN und BORRIES) als ein elementares Ziel für den Geschichtsunterricht angesehen wird. Aufgrund der Tatsache, dass für die folgen- de Untersuchung jeweils nur ein Lehrwerk aus beiden Bundesländern Berücksichtigung fin- den kann und nur ein Teil des Geschichtsbewusstseins untersucht wird, sind die hier getroffe- nen Aussagen nicht der als allgemeingültig zu verstehen. Sie liefern vielmehr einen Ansatz- punkt für eine Analyse der komplexen Thematik des Geschichtsbewusstseins, seiner mögli- chen Entstehung, Formung und daran beteiligter, vernetzter Einflussfaktoren.
Im ersten Schritt dieser Arbeit wird das Medium Schulbuch/Geschichtslehrbuch und dessen Funktion für den Unterricht untersucht. Dabei sollen die an ein modernes Schulbuch/Ge- schichtslehrbuch gestellten Ansprüche aufgezeigt und Einflüsse bei der Entstehung der Lehr- werke geklärt werden. Im nächsten Schritt soll das Konstrukt des Geschichtsbewusstsein de- finiert und im Diskurs der Geschichtsdidaktik verortet sowie die Perspektivübernahme inner- halb dessen eingeordnet werden. Darauf folgend wird eine Verfahrensanalyse für Geschichts- lehrbücher vorgestellt um in Anschluss die beiden Lehrwerke „Anno 4“ sowie „Zeiten und Menschen 2“ nach dieser zu analysieren. Im letzten Punkt dieser Arbeit werden beide Lehr- werke miteinander verglichen, wobei anhand drei, frei gewählter Themenbereiche die Ausbil- dung der Perspektivübernahme in beiden Lehrbüchern im Mittelpunkt steht.
Die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit stützen sich u. a. auf das „Handbuch der Ge- schichtsdidaktik“ von KLAUS BERGMANN (Hrsg.) sowie auf den Sammelband „Kinder Entde- cken Geschichte“m herausgegeben von KLAUS BERGMANN und RITA ROHRBACH. Die Litera- tur und Quellenlage gestaltet sich insoweit schwierig, als dass die geschichtsdidaktische For- schung auf den Erkenntnissen der 1980er und 1990er Jahre stehen geblieben ist. Zwar werden diese Ansätze in der Geschichtsdidaktik nach wie vor rezipiert, jedoch bleiben aufgrund der mehr mindestens 20-jährigen zeitlichen Distanz die gesellschaftlichen, wirtschaftliche, usw. Veränderungen oft unberücksichtigt. So stammen beispielsweise die wenigen empirischen Forschungen aus den 1970ern und 1980ern Jahren und sind auf heutigen heterogenen gesell- schaftlichen oder auch sozialen Strukturen nur noch bedingt oder gar nicht mehr übertragbar.
Das Geschichtslehrbuch wird heute fast einstimmig in der wissenschaftlichen Literatur (z. B. SAUER, BECHER, FRÖHLICH) als das Leitmedium im Fach Geschichte angesehen. Für HACKER ist darüber hinaus das Schulbuch wie die Lehrer/-innen selbst vom Unterricht nicht mehr wegzudenken. Des Weiteren kippt und steigert LEO KUHN zugleich noch einmal das Verhält- nis zwischen Lehrperson und Schulbuch, indem er behauptet, dass das Schulbuch den Unter- richt kontrolliere und die Lehrer/-innen lediglich die Funktion des Unterstützers des Schulbu- ches inne habe.2 Diese Aussage ist in gewissem Maße zu relativieren, da sich die Ausgangsla- ge geändert hat. Die Proklamation dieses Leitmediums bezieht sich auf eine Untersuchung aus den 1970er Jahren von WOLGANG HUG3. Dem Einzug der neuen Medien in den Schulen konnte zu diesem Zeitpunkt noch keine Rechnung getragen werden. Es existiert zudem noch eine weitere, Europa umfassende Studie von ANGVIK und BORRIES aus den 1990er Jahren, die in den geschichtsdidaktischen Hauptwerken (z. B. PANDEL und BERGMANN) keinen Eingang gefunden hat. In dieser Studie findet sich zumindest noch ein Ansatz dafür, dass das Schul- buch in einigen Ländern, darunter auch Deutschland, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre das am meisten genutzte Medium im Geschichtsunterricht darstellte.4 Die Vormachtstellung des Lehrbuches darf heutzutage dennoch angezweifelt werden, denn seit dieser Zeit hat sich der Bereich der traditionellen Medien im Geschichtsunterricht (z. B. Buch, Tafel, Karte, usw.) um die audio-visuellen Medien (z. B. Tonaufnahmen oder Filme) und den großen Bereich der digitalen Medien und neuen Medien (z. B. Internet, digitale Speichermedien, digitale Präsen- tationsformen, usw.), der für Nutzung des Unterrichtes zur Verfügung steht, erweitert. Es ist folglich eher ein Verbund der unterschiedlichen Medien im Unterricht zu erwarten. Darüber hinaus werden vor allem zunehmend außerschulische Lernorte wie Museen oder Denkmäler für den Geschichtsunterricht interessant und erweitern somit das Repertoire der zur Verfügung stehenden didaktischen Vermittlungskonzeptionen. Somit ist der Schulunterricht und insbe- sondere der Geschichtsunterricht nicht mehr ausschließlich an das Schulbuch gebunden. Auf- grund der Vielzahl an Medien, welche nunmehr für den Unterricht nutzbar gemacht werden können, ist die Grundlage für eine abwechslungsreichen Stundengestaltung gelegt.
Dass das Schulbuch dennoch für den Geschichtsunterricht eine wichtige Rolle spielt und wei- terhin spielen wird, liegt nicht zuletzt „[i]n der Vielseitigkeit der Verwendung - Information, Erarbeitung, Überprüfung“.5 Des Weiteren bietet es zunächst für den Lehrer/die Lehrerin eine Grundlage zur Vorbereitung des Unterrichts. FRÖHLICH behauptet sogar, dass es ihm die Aus- wahl der zu vermittelnden Inhalte erspart, die in kompakter Form übersichtlich dargestellt sind, wodurch sich „die Reihenplanung [...] beim Durchblättern des anstehenden Kapitels gleichsam von selbst“6 ergibt. Da dieses aber zu kurz gefasst währe und jedes Lehrbuch auch Schwächen hat, fügt er zudem noch die anregende/provozierende Funktion für die Vorberei- tung des Unterrichts an, die sich im unmittelbaren Vergleich verschiedener Lehrbücher ergibt. Es gibt demzufolge nicht das eine, perfekte Lehrwerk, welches noch detailliert herauszustel- len ist. Vielmehr wird die Synthese der guten Aspekte aus verschiedenen Geschichtslehrbü- chern für den Unterricht nutzbar gemacht. Für TEEPE sprechen vor allem die unterrichtsprak- tischen Gründe für das Geschichtslehrbuch. Es befindet sich immer zu Händen der Schüler/- innen - ob nun direkt als Leihgabe der Schule oder im Klassensatz - und steht als Arbeitsmit- tel immer für den Unterricht bereit. Durch seine Schülerzentriertheit schafft es die Vorausset- zung für sinnvolle Kommunikations- und Kooperationsformen und vermeidet den ungezügel- ten Einsatz von Kopien. Darüber hinaus können die Schüler/-innen durch das Lehrbuch eine gute Fach- und Methodenkompetenz (z. B. Arbeiten mit Geschichtskarten, Umgang mit Sta- tistiken und Diagrammen, usw.) erwerben, welche die Vorraussetzung für das eigenverant- wortliche Lernen darstellen soll. BECHER stellt hier noch einmal die Trennung des Darstel- lungs- und Arbeitsteils heraus. Die Quellen im Arbeitsteil enthielten Fragen und Antworten, die an die Quellen selbst gestellt würden. Somit seien diese noch lange nicht Geschichte. Die Geschichtsdarstellung hingegen würde eine mögliche Interpretation der Quellen darbieten und dem Leser/der Leserin deren Einbettung in einem größeren historischen Kontext ermöglichen, den er/sie zum Verständnis der Quellen benötigt. Besonders im Arbeitsteil sei die Selbststän- digkeit des Schülers/der Schülerin gefordert, die Historie zu untersuchen. Dabei würden zu- sätzlich Karten und Zeittafeln die räumliche und zeitliche Einordnung erleichtern.7
Nach all diesen positiven und schülerzentrierten Aspekten des Geschichtslehrbuches verwun- dert es, dass in der länderübergreifenden Studie von ANGVIK und BORRIES das Medium des Geschichtslehrbuches bezüglich der Frage an die Schüler/-innen über „Fun With History-Me- dia“ in allen Ländern das unbeliebteste Medium darstellt. Neben beispielsweise Slowenien (2.15), Russland (2.17), Tschechien (1.90), Ungarn (2.15) und Belgien (1.84) rangiert auch Deutschland (2.20) noch unter dem europäischen Durchschnitt (2.43) in der Beliebtheitsskala.8 Des Weiteren stellte sich die Unbeliebtheit des Geschichtslehrbuches ge- schlechterübergreifend bei Jungen (2.47) und Mädchen (2.40) im selben Maße dar.9 Dass die Unbeliebtheit des Geschichtslehrbuches alleinig an seinen häufigen Einsatz im Unterricht - wie oben beschrieben - gebunden ist, konnte durch die Studie nicht zweifelsfrei belegt wer- den. Der Einsatz des Geschichtslehrbuches korreliert dabei nicht immer mit der Unbeliebtheit bei den Schülern. So erfreut sich zum Beispiel das Schulbuch auch in den Ländern Tschechien und Kroatien trotz geringem Einsatzes im Unterricht keiner großen Beliebtheit.10 Über die genauen Gründe der Abneigung der Schüler/-innen gegenüber dem Lehrbuch kann an dieser Stelle nur spekuliert werden, da die Studie hierzu keinerlei Auskünfte liefert. Dies muss auch kritisiert werden, denn die Aussage allein, dass es das unbeliebteste Medium im Unterricht sei, reicht nicht aus. Nur wenn man die Ursachen für die Unbeliebtheit des Lehrbuches kennt, kann man bei der Erstellung der Schulbücher diesen entgegenwirken. Darüber hinaus bedarf es durch den Einzug der neuen Medien in den Geschichtsunterricht neuere Untersuchung, die den Stellenwert des Geschichtslehrbuches innerhalb dieser abbildet.
Um sich den Faktoren der prekären Lage des Geschichtsschulbuches, wie sie in der Studie von ANGVIK und BORRIES aufgezeigt wird, anzunähern, müssen die Einflussfaktoren auf das Lehrwerkes sowie dessen Funktionen weiter geklärt werden. Daraus sind gegebenenfalls Kri- tikpunkte abzuleiten und Ansatzpunkte für die Unbeliebtheit von Schulbüchern zu finden.
Zunächst ist festzuhalten, dass nach Artikel sieben des Grundgesetztes der Bundesrepublik Deutschland der Staat die Aufsicht über das Schulwesen inne hat. Bevor das Schulbuch in die Hände der Schüler/-innen gelangt, durchläuft es demzufolge eigens dafür eingesetzte staatli- che Kommissionen, die über die Zulassung des selbigen entscheiden. Da die Bundesrepublik Deutschland ein föderativer Staat ist und die Bildung der Länderhoheit obliegt, gibt es folg- lich für jedes Bundesland eine eigene Kommission. Hierbei steht vor allem der Punkt der Lehrplankonformität im Vordergrund. Damit findet die Bemerkung von KUHN und RATHMAYR ihre Berechtigung, wenn sie die „Schulbücher [...] [als die] zum Leben er- weckt[en] Lehrpläne“11 bezeichnen. OLECHOWSKI kritisiert hier zurecht die Arbeit der Schul- buchverlage. Diese sind bei der Erarbeitung der Schulbücher nicht an den Lehrplan gebunden. Die Ausgestaltung des Lehrbuches obliegt den Verlagshäusern und den Autoren des Schulbu- ches. Diese stehen allerdings im Abhängigkeitsverhältnis zu den politischen Instanzen (Zulas- sungskommissionen der einzelnen Bundesländer). Somit wird sich die Praxis der Bucherstel- lung weiterhin an den Lehrpan binden. Kein Verlag würde es riskieren, dass das Schulbuch den jeweiligen Zulassungsverfahren nicht standhält. Nicht zuletzt durch die immens getätig- ten Investitionen, die mit der Erstellungen eines Lehrwerkes einhergehen. Aus diesem Grund sind auch die Autoren indirekt an den Verlag gebunden und die Verlage können sich somit nicht die von TIEMANN geforderten Experimente und Innovationen leisten und verbleiben bei einem Besorgnis erregenden Konformismus.12
Bei den Lehrplänen für den Geschichtsunterricht herrscht vor allem die Kritik an der eurozen- trischen Geschichtsdarstellung und die Gewichtigkeit der politischen Geschichte vor.13 Die- sem Problem kann zumindest in Ansätzen nach der Studie von ANGVIK und BORRIES entgeg- net werden. Dabei soll nur auf die Daten von Deutschland verwiesen sein. In weiteren unter- suchten Staaten ergeben sich zum Teil andere Ergebnisse. So wurde die Frage nach dem „In- terest in Areas of History“ (Interesse in den Themengebieten von Geschichte) an die Schüler/- innen gestellt. Für Deutschland lassen sich daraus folgende Ergebnisse ableiten: Das Hauptin- teresse der Lernenden im Geschichtsunterricht liegt bei der Geschichte des eigenen Landes (3.47) dicht gefolgt von der Geschichte anderer Länder außerhalb Europas (3.43) und schließ- lich bei Europa selbst (3.32). Es geht demzufolge nicht hervor, dass die eurozentrische Ge- schichtsbetrachtung ein Problem im Geschichtsunterricht darstellt. Dennoch ist festzuhalten, dass die Ergebnisse im neutralen Bereich (3) bleiben. Dies könnte darin begründet sein, dass die Themengebiete zu groß gefasst sind. So umfasst das Themengebiet „Europa“ unzählige thematische Unterpunkte. Dabei hat jeder/e Schüler/-in noch unterschiedliche Interessen in dem jeweiligen Gebiet. Somit kann sich das Ergebnis aufgrund der Fragestellung nur im neu- tralen Bereich bleiben.14 Einen Ansatzpunkt für das schlechte Abschneiden des Schulbuches lässt sich bei den global-gefassten Themengebieten im Geschichtsunterricht nicht finden.
Eine wichtige Funktion des Schulgeschichtsbuches, sowohl für Lehrende und Lernende, liegt im Erwerb und der Organisation historischer Kenntnisse. Der Stoff ist medien- und adressa- tengerecht zu strukturieren, sodass die Schülerinnen und Schüler je nach Schulform und Schulstufe die Lernanforderungen bewältigen können. Dabei soll es vor allem einen geordne- ten Überblick geben oder, wie TEEPE es beschreibt, als „Kompass in einer Flut geschichtlicher Ereignisse“15 für Lehrende und Lernende im gleichen Maße dienen. Für TIEMANN ist vor al- lem das Schulbuch das Medium, welches der zunehmenden Unlust und Unfähigkeit des Le- sens und des sprachlichen Ausdruckes entgegenwirken muss.16 Angesichts des gegenwärtigen, schlechten Abschneidens der Schüler/-innen beim PISA-Test im Bereich der Lesekompetenz ist dies ein nicht zu vernachlässigender Faktor, auch wenn sich Deutschland darin seit dem Jahr 2000 verbessert hat, bleibt es weiterhin im Mittelfeld. So umfasst der Prozess des Lesens die unterschiedlichsten kognitiven Ebenen (Metakognition) und erleichtert den Lernprozess oder wie es VANECEK ausdrückte: „Der Leseprozess umschließt Wahrnehmung, Speichern, Denken, Vergleichen [...] fordert divergentes und konvergentes Denken [...]. Lesen erfaßt den gesamten Menschen“17. In der Lernpsychologie wird dieses mittel „Levels of Processing“ (Modell der Verarbeitungstiefe) beschrieben. Allein aus diesem Grund ist es notwendig, dass sowohl die Verfassertexte als auch die schriftlichen Quellen im Geschichtslehrbuch zum Le- sen anregen und dem Alter des Lernenden angemessen sind. Dabei ist es wichtig, dass diese altersunabhängig nicht mit Informationen überladen sind. Wie ATKINSON und SHIFFRIN in ih- rem Mehrspeichermodell18 (1968) eingehend dargestellt haben, kann das Kurzzeitgedächtnis lediglich 7/±2 Elemente in einer halben Minute speichern. Das heißt, wenn die Schulbuchtex- te/schriftlichen Quellen, usw. mit Informationen überladen sind/keine altersgerechte Struktur aufweist, schwindet die Verständlichkeit. Daraus können sich Überforderungen der Schüler/- innen ergeben, die sich motivationsungünstig auf das Lesen auswirken können und somit auf das Lehrbuch überhaupt. Somit sollte das Geschichtslehrbuch natürlich die wichtigsten In- formationen enthalten, um den Anforderungen aus den Lehrplänen zu genügen. Diese Infor- mationen müssen jedoch so in den Autorentext eingepasst sein, dass die Schüler/-innen diese verarbeiten können.
Ein weiteres Interesse an den Geschichtslehrbüchern haben nach RÜSEN die Geschichtswis- senschaftler. Somit findet sich auch hier gleich die nächste Aufgabe, die ein Lehrwerk im Fach Geschichte zu leisten hat: „das Schulgeschichtsbuch [ist] einer der wichtigsten Kanäle zum Transport historischer Forschungsergebnisse in die Geschichtskultur der Gegenwart. [...] [der Forschungstand des Faches soll also] möglichst ohne großen Zeitverzug in den Schulbü- chern berücksichtigt werden“.19 Die Geschichtswissenschaft hat hier einen erheblichen Teil dazu beigetragen, die Inhalte des Faches in der Schule zu modernisieren. So beschreibt dies TIEMANN mit der zunehmenden Öffnung von einer eurozentrischen Geschichtsbetrachtung hin zu universalhistorischen Zusammenhängen. Dies birgt jedoch die Gefahr, dass inhaltlich kaum noch in die Tiefe gegangen werden kann. Je mehr Themenfelder eröffnet werden, wird die Zeit an anderen Stellen gestrichen, da die Anzahl der zu lehrenden Stunden sich nicht im selben Maße mit vergrößert. Besonders FRÖHLICH sieht bei Geschichtslehrbüchern am ehes- ten die Chance, neue Lerninhalte (z. B. Frauen- und Geschlechtergeschichte, Alltagsgeschich- te, usw.) in den Geschichtsunterricht zu transferieren. Herbe Kritik erfährt dabei von O- LECHOWSKI der Umgang mit dem Bild der Frau im Schulbuch. Er sieht nach wie vor die Frau im Vergleich zum Mann in den Lehrbüchern unterrepräsentiert.20 Gründe hierfür könnte mit- unter die Quellenlage darstellen, bei welcher die Quellendichte in Bezug auf das weibliche Geschlecht rarer ausfällt. Mit der Unterrepräsentation von Frauen bei der Geschichtsbetrach- tung lässt sich zumindest ein Punkt für das schlechte Abschneiden des Schulbuches bei den Mädchen erahnen. Schaut man hier beispielhaft in den Lehrplan des Landes Sachsen für das Fach Geschichte - wie oben beschrieben orientieren sich die Schulbücher an den Lehrplänen - lassen sich explizit nur wenig Anhaltspunkte für die Frau in der Geschichte finden (z. B. Klasse 9, Wahlpflicht 2: Gesellschaftliche Situation von Frauen in der Weimarer Republik).21 Dennoch muss hier fairer Weise die Auslegung des Lehrplanes Berücksichtigung finden. Wenngleich nicht explizit auf Frauen verwiesen ist, so sagt der Lehrplan auch nicht aus, dass auf diese nicht eingegangen werden kann. Das Problem liegt hier vielmehr bei der Lehrperson, welche den Stoff auswählt und in den meisten Fällen die Dominanz der männlich geprägten Geschichte wählt. Aus diesem Grund sollten die Verlage und Lehrbuchautoren vielmehr dieses Themenfeld in den Lehrbüchern darbieten, zumal der Lehrplan es zulassen würde.
Ein besonderer Kritikpunkt, der dem Schulbuch wohl immer zu eigen sein wird, ist die „feh- lende Orientierung an Entwicklungs- und Begabungsfälle[n] [sowie] unzureichende Förde- rung individueller Prozesse“22. Wie bereits erwähnt und in Erweiterung dieses Punktes kann es hiernach nicht das perfekte Lehrbuch geben, dass auf jedermanns Bedürfnisse und indivi- duellen Entwicklungsstand angepasst ist. Auch hier können Gründe für die Unbeliebtheit des Lehrbuches gesehen werden. Beispielhaft kann eine beliebige Aufgabe aus dem Lehrbuch den einen Teil der Schüler/-innen unterfordern, den anderen überfordern oder genau eine Passung darstellen, je nach dem Wissen und der Entwicklung des/der jeweiligen Schülers/-in. Somit ist pauschalisierenden Aussagen, wie der von SAUER: „Das moderne Schulbuch [ist] im Grunde als Selbstlernbuch konzipiert. Es ist gegenüber der Lehrkraft gleichsam autark, deren Beteili- gung ist nicht vorgesehen [...] [und] macht gleichsam Unterricht überflüssig“23, in Gänze zu widersprechen. Zum einen bieten die Lehrbücher keine Lösungsteile zu den Aufgaben, wo- durch eine Selbstkontrolle seitens der Schüler/-innen gewährleistet ist. Zum anderen würde man zum reinen Erwerb kognitiven Wissens in den Zeiten der neuen Medien und des Internets nicht mehr auf das Schulbuch angewiesen sein. Das allseits geforderte Geschichtsbewusstsein (z. B. BORRIES, BERGMANN u. a.) könnte in seiner differenzierten Form überhaupt nicht ver- mittelt werden. Um dieses ausbilden zu können, bedarf es der intensiven, kommunikativen und konstruktiven Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Lernstoff und die Meinungen an- derer, welche neue Sichtweisen zu den einzelnen Themen ergeben können- eine Leistung, der das stumme Medium Geschichtslehrbuch nicht gerecht werden kann.
Die Entstehung von Lehrwerken und hier insbesondere von Geschichtslehrbüchern ist von einer Vielzahl von Kompromissen begleitet. „Die Fachwissenschaft verlangt Vollständigkeit und Exaktheit, die Ökonomie des Lernens Kürze und Vereinfachung [...] dem Autor schwebt ein umfangreiches, glänzend ausgestattetes Buch vor, der Verleger darf einen gewissen Preis nicht überschreiten; Herausgeber und Verfasser denken an ein grundstürzend neues Konzept, die Verlagsredakteure an die traditionell denkenden Abnehmer“24. Es bleibt demnach festzu- halten, dass aufgrund der komplexen Anforderungen an dieses Medium durch die verschiede- nen Nutzergruppen und den damit verbundene Kompromisse, das Schulbuch nie die Bedürf- nisse aller erfüllen kann. Insbesondere die Schüler/-innen als Hauptnutzer des Lehrbuches ha- ben gar keinen Einfluss auf die Ausgestaltung dessen und erfreut sich bei ihnen keiner großen Beliebtheit. Demnach müssen stärker die Bedürfnisse der Schüler/-innen, welche sie an ein Schulbuch stellen, erforscht werden und in den Mittelpunkt bei der Erstellung der Lehrwerke rücken. Denn die Vorteile von Lehr- und insbesondere Geschichtslehrbüchern liegen nach wie vor in der umfangreichen Materialsammlung, die in schneller Handreiche einen soliden Grundstock für den Geschichtsunterricht darstellen kann. Die daraus abgeleitete Bequemlich- keit, wie sie bei TEEPE auftaucht: „Neu entwickelte Schulbücher machen es im Fach Ge- schichte möglich, den Unterricht so zu gestalten, dass weitere Materialsuche weitgehend ü- berflüssig wird“25, ist daraus keinesfalls zu rechtfertigen. Die individuellen Bedürfnisse der Schüler/-innen müssen dabei immer von der jeweiligen Lehrkraft berücksichtigt werden. Diese Funktion kann das Lehrbuch nicht erfüllen, weshalb es infolge seiner Starrheit schwer bleiben wird, seine Beliebtheit zu steigern.
[...]
1 Vgl. Becher, Ursula: Schulbuch, in: Pandel, Hans-Jürgen/Schneider, Gerhard (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, Schwalbach 2007, S. 45-68, hier S. 46-57.
2 Vgl. Hacker, Hartmut: Didaktische Funktionen des Mediums Schulbuch, in: Hacker, Hartmut (Hrsg.): Das Schulbuch. Funktion und Verwendung im Unterricht, Regensburg 1980, S. 7-30, hier S. 7 und Kuhn, Leo/ Rathmayr, Bernhard: Statt einer Einleitung - 15 Jahre Schulreform, in: Kuhn, Leo (Hrsg.): Schulbuch - Ein Massenmedium, München 1977, S. 9-18, hier S. 10.
3 Vgl. Fröhlich, Klaus: Schulbucharbeit, in: Bergmann, Klaus/u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 1997, S. 422-430, hier S. 422.
4 Vgl. Item-Tables on Teachers´Answer on Usual Character on History Lessons, in: Angvik, Magne/Borries, Bodo von: Youth an History. A comparative European Survey an Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents, Vol. B., Hamburg 1997, S. 63-65.
5 Becher, 2007, S. 45.
6 Fröhlich, 1997, S. 423.
7 Teepe, Renate: Umgang mit dem Schulbuch, in: Mayer, Ulrich/Pandel, Hans-Jürgen/Schneider, Gerhard (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach 2007, S. 255-268, hier S. 255 und vgl. Becher, 2007, S. 46 und S. 58-59.
8 Die Skala reicht von 5 (beliebt) bis 0 (unbeliebt).
9 Vgl. Item-Table of Questions About Fun With History-Media, in: Angvik/Borries, Vol. B 1997, S. 35-37.
10 Vgl. Item-Table Comparison of Usage of School Textbooks and Students´ Fun with Them, in: Angvik, Magne/Borries, Bodo von: Youth an History. A comparative European Survey an Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents, Vol. A., Hamburg 1997, S. 95.
11 Kuhn/Rathmayr, 1977, S. 9.
12 Vgl. Olechowski, Richard: Der mehrdimensionale Ansatz in der Schulbuchforschung - Eröffnungsvortrag, in: Olechowski, Richard (Hrsg.): Schulbuchforschung (= Schule - Wissenschaft - Politik, Band 10), Frankfurt am Main 1995, S. 11-20, hier S. 19 und vgl. Tiemann, Dieter: Schulgeschichtsbücher heute - eine Bestandsaufnah- me, in: Tiemann, Dieter (Hrsg.): Neue Schulgeschichtsbücher. Herausgeber und Autoren stellen ihre Werke vor (= Dortmunder Arbeiten zur Schulgeschichte und zur historischen Didaktik, Band 18), Bochum 1990, S. 96-111, hier S. 105-107.
13 Vgl. Olechowski, 1995, S. 19.
14 Vgl. Table of the Question about the Interest in Areas of History, in: Angvik/Borries, Vol. B 1997, S. 143-144.
15 Teepe, 2007, S. 255.
16 Vgl. Tiemann, 1990, S. 101.
17 Vanecek, Erich: Zur Frage der Verständlichkeit und Lernbarkeit von Schulbüchern, in: Olechowski, Richard (Hrsg.): Schulbuchforschung (= Schule - Wissenschaft - Politik, Band 10), Frankfurt am Main 1995, S. 195- 215, hier S. 195.
18 Das Mehrspeichermodell setzt sich aus folgenden Komponenten zusammen: Den Sinnesorganen welche Reize/ Informationen von außen aufnehmen und zum Ultrakurzzeitgedächtnis/Sensorisches Register befördern, dort findet der erste Informationsverlust statt, von dort gehen die Informationen erst in das Kurzzeitgedächtnis wo sich nach Bedeutungen verarbeitet und abgespeichert werden. Erst wenn mit diesen Informationen weiter gearbeitet wird, können sie ins Langzeitgedächtnis gelangen, vgl. hierzu Mietzel, Gerd: Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens, Göttingen 2007, S. 201-206. Zur Frage wie ein verständlicher Text auszusehen hat, sei hier verwiesen auf Vanecek, 1995, S. 199-202.
19 Rüsen, Jörn: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen, Köln 1994, S. 156. 9
20 Vgl. Tiemann, 1990, S. 103 und Fröhlich 1997, S. 423 und Olechowski, 1995, S. 17-18.
21 Vgl. Sächsisches Staatsministerium für Kultus (Hrsg.): Lehrplan Gymnasium für das Fach Geschichte, 2009, S. 26.
22 Olechowski, 1995, S. 15.
23 Sauer, Michael: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, Seelze 2007, S. 262- 263.
24 Rohlfes, Joachim: Geschichte und ihre Didaktik, Göttingen 2005, S. 319. 11
25 Teepe, 2007, S. 255.