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Bachelorarbeit, 2011
51 Seiten, Note: 1,0
Vorwort
1. Einleitung
2. Demographische Aspekte der Altersgesellschaft
3. „Alter“ und „Altern“
3.1 Dimensionen des Alterns
3.1.1 Kalendarisches Altern
3.1.2 Biologisches Altern
3.1.3 Psychisches Altern
3.2 Altersbilder und Altersstereotype
3.3 Schlussfolgerungen
4. Herausforderungen und Chancen einer alternden Gesellschaft
4.1 Arbeitsmarkt und Arbeitswelt
4.1.1 Das Potential älterer Arbeitnehmer
4.1.2 Neue Wege auf dem Arbeitsmarkt
4.2 Sozialpolitik und soziale Ungleichheit in der Altersgesellschaft
4.2.1 Das System der Alterssicherung
4.2.2 Drohende Armut und Ausgrenzung?
4.3 Lebenslauf und Lebensformen
4.3.1 Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen
4.3.2 Familiäre Strukturen und Generationenbeziehungen
4.3.2 Freizeit und die freie Zeit
4.3.4 Technik im Alter
5. Das „vierte Alter“
5.1 Die Kultur des Sterbens
5.2 Das soziale Sterben
5.3 Ein würdiger letzter Lebensabschnitt
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
Im spätviktorianischen England verfasste Oscar Wilde seinen heute berühmten Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“, dessen Handlung im London des späten 19. Jahrhunderts spielt. Obwohl Wildes Geschichte erfunden ist, liegen in diesem Roman doch erste Merkmale für die in unserer Gesellschaft vorherrschende Jugendzentriertheit verborgen.
(Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Wilde 1921/2008, S. 133ff.) Wildes Roman handelt von einem Maler, der vor einer Staffelei in seinem Atelier steht und das Portrait des jungen und gut aussehenden Mannes Namens Dorian Gray zeichnet, während dieser sich mit einem Freund des Malers in dessen Garten unterhält. Der Freund nimmt die Schönheit Grays ebenfalls war und trauert gleichzeitig um deren Vergänglichkeit:
„ Ja, Herr Gray, die Götter sind Ihnen gnädig gewesen. Aber was die Götter geben, nehmen sie schnell wieder. Sie haben nur ein paar Jahre, in denen Sie wahrhaft, vollkommen, völlig leben können. Wenn Ihre Jugend dahingeht, verlässt Sie auch Ihre Schönheit, und dann werden Sie mit einem Male entdecken, dass es keine Siege mehr für Sie gibt, oder dass Sie sich mit den niedrigen Siegen begnügen müssen, die Ihnen die Erinnerung an Ihre Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen. Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie etwas Schrecklichem näher. Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und führt Krieg gegen Ihre Lilien und Ihre Rosen. Sie werden entsetzlich leiden Ah! Nehmen Sie Ihre Jugend wahr, solange Sie sie haben! [ ] Jugend! Jugend! Es gibt gar nichts in der Welt als Jugend. “ (Wilde 1921/2008, S. 161f.)
Am Abend, nachdem der Maler das Bild vollendet und seinen Gästen als Meisterwerk präsentiert hat, wird sich der junge Dorian Gray darüber bewusst, wie traurig es doch sein muss, mit dem Alter hässlich, abstoßend und nutzlos zu werden, wohingegen sein Abbild im Gemälde immer jung bleiben wird. Durch einen Pakt mit dem Teufel gelingt es ihm, die Rollen zu tauschen: Von nun an altert das Bild und Gray selbst bleibt ewig jung.
Heute kann man sich durchaus auch die Frage stellen, welche Gemälde an unserer Stelle altern oder welchen Preis wir stattdessen für unsere Jugendlichkeit, zum Beispiel schon im Vergleich zu unserer Großelterngeneration, zahlen müssen. Wir werden immer jünger, alle sehen besser aus und jedem geht es besser. Vermeintlicherweise (vgl. Seidl 2005a, S. 26f.).
„Unsere Gesellschaft altert!“ Über diese Aussage, besser gesagt über diese Feststellung, stolpern wir heute beinahe täglich bei der Lektüre der Tageszeitung oder in den Nachrichten, vor allem wenn es um die voranschreitende Überforderung unserer sozialen Sicherungssysteme geht. Das durchschnittliche Alter und die Lebenserwartung der deutschen Bevölkerung haben sich im letzten Jahrhundert deutlich erhöht und nehmen auch weiterhin noch stetig zu. Gleichzeitig werden immer weniger Neugeborene zur Welt gebracht. Die Gründe für diesen Wandel der Altersstruktur sind vielschichtig. Zum Beispiel garantieren medizinische Fortschritte immer mehr Menschen ein langes Leben, andererseits führen Anforderungen, die durch Ausbildung, Beruf und Karrieredruck entstehen, dazu, dass eine Familiengründung, wenn überhaupt, erst in einem deutlich späteren Lebensabschnitt durchgeführt wird, als es noch einige Generationen zuvor der Fall war. Wir sind bereits in den Anfängen einer und entwickeln uns weiter zu einer Gesellschaft, in der immer mehr alte und arbeitsunfähige Menschen einer deutlich geringeren Zahl an jungen, erwerbstätigen Personen gegenüber stehen. Im Jahr 2007 exekutierte der damalige Arbeitsminister Franz Müntefering den Beschluss der Rente mit 67 Jahren mit den Worten: „Weniger Kinder, später in den Beruf, früher raus, länger leben, länger Rente zahlen: Wenn man das nebeneinander legt, muss man kein Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland um zu wissen: Das kann nicht gehen.“
In dieser Arbeit soll herausgestellt werden, dass die Entwicklung der Gesellschaft als eine Herausforderung betrachtet werden muss, die zwar viele Probleme mit sich bringt, aber auch Chancen schaffen kann. Ziel ist es, einen Überblick über die Situation der alternden Gesellschaft und den demographischen Wandel zu schaffen, Ursachen und Folgen zu erläutern und die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen objektiv darzustellen. Die persönliche Meinung des Verfassers soll keinen positiven oder negativen Einfluss auf die Argumentation der Arbeit suggerieren. Durch die Bezugnahme auf verschiedene Literaturquellen der Soziologie, Demographie, Thanatologie, Gerontologie und weiteren Disziplinen, soll nicht nur nach Lösungen für die Probleme der alternden Gesellschaft gesucht werden, sondern ein umfassendes Bild über den Forschungsstand dargestellt werden.
Da das Gebiet der Altersforschung aber komplex und interdisziplinär beforscht ist, kann sich diese Arbeit nur auf die Darstellung einiger thematischer Blöcke beschränken. In einem ersten Kapitel werden zunächst die verschiedenen demographischen Aspekte der alternden Gesellschaft vorgestellt. Welche Ursachen liegen der im Entstehen begriffenen Altersgesellschaft zu Grunde? Der Leser soll erfahren, was genau unter demographischem Wandel verstanden wird und es soll ein Einblick darüber vermittelt werden, wie die Bevölkerungsentwicklung und die Struktur der deutschen Bevölkerung heute und in der Zukunft aussehen werden. Im darauf folgenden Kapitel werden die Dimensionen des Alterungsprozesses erläutert, die unterschiedlichen Bezugssysteme, in denen Alter und Altern stattfindet. So unterscheidet man zum Beispiel zwischen kalendarischem, biologischem und psychologischem Altern. Dass Alter(n) nicht nur ein individuelles, sondern auch ein soziales Phänomen darstellt und dass wir durch vorherrschende Altersbilder und Altersstereotypen in unserem alltäglichen Umgang mit alten Menschen und dem Alter geprägt sind, soll im Anschluss verdeutlicht werden.
Schließlich werden einige Herausforderungen und Chancen der Altersgesellschaft in wirtschaftlichen und politischen Bereichen der deutschen Gesellschaft dargestellt und diskutiert. Insbesondere werden auch die Auswirkungen der gesellschaftlichen Wandlungen auf die Lebensformen im Alter und die Lebensphase Alter erörtert. So soll verdeutlicht werden, wie der neu gewonnene Lebensabschnitt des langen Alters heute und in der Zukunft gestaltet wird. Dabei spielen sowohl materielle und familiäre, als auch körperliche Veränderungen, Einschränkungen und Wandlungen eine wichtige Rolle. Um diesen Themenblock abzuschließen wird die Bedeutung moderner Technik dargestellt. Hier soll gezeigt werden, wie wichtig technische Errungenschaften für unsere Gesellschaft sind und inwiefern wir von diesen abhängig sind.
In den nachfolgenden Kapiteln werden Fragen der medizinischen und sozialen Betreuung im Alter erörtert und die dadurch entstehenden soziokulturellen Probleme der Gesellschaft aufgezeigt. Durch das Altern der Bevölkerung werden heute völlig neue Anforderungen an die moderne Medizin gestellt: Vor allem mit zunehmendem Alter wird eine „sinnvolle“ und humane medizinische Behandlung zur Herausforderung für Ärzte, Pfleger und Nahestehende. Welche Schwierigkeiten im Bezug auf die Betreuung von Patienten in einer Altersgesellschaft entstanden sind, was man unter Institutionalisierung, Medikalisierung und sozialem Sterben, beziehungsweise dem sozialen Tod versteht, wird hier erläutert und definiert, sowie nach Lösungsmöglichkeiten für ein würdevolles Sterben in der heutigen Gesellschaft gesucht.
In einem abschließenden Fazit werden die Ergebnisse der Arbeit resümiert und ein Ausblick auf die zukünftigen Entwicklungen gegeben.
Mit Hilfe demographischer Forschung ist es heutzutage möglich, retrospektive Einschätzungen über die Bevölkerungszusammensetzung der letzten Jahrzehnte zu machen und, darüber hinaus auch einen Einblick in die Entwicklungen und Veränderungen der zukünftigen Bevölkerung zu erlangen (vgl. Pohlmann 2004, S. 45). Was man unter dem Prozess der gesellschaftlichen Alterung, beziehungsweise dem demographischen Wandel, zu verstehen hat, soll hier kurz erklärt werden: Wie bereits in der Einleitung der Arbeit erwähnt, hat es im 20. Jahrhundert einige deutliche Veränderungen in der Sozialstruktur Deutschlands gegeben.[1] Eine wachsende Zahl älterer Menschen steht heute einer sinkenden Zahl junger Menschen gegenüber und die Hochaltrigen bilden die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe. Wie in der Grafik zum Altersaufbau in Abbildung 1 zu sehen ist, hat sich die Altersstruktur der Deutschen in den letzten 100 Jahren bereits stark von einer „Alterspyramide“ zu einer „zerzausten Wettertanne“ verschoben:
Abbildung 1 : Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an: Statistisches Bundesamt 2006, S. 35.
Lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt von Frauen und Männern zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch bei 48 beziehungsweise 45 Jahren, so ist diese im Jahr 2009, aufgrund von Fortschritten in der Medizin, durch bessere Ernährung, Wohlstand und Hygiene, usw., auf 82 und 77 Jahre angestiegen (vgl. Kocka/Staudinger 2009, S. 13). (Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Statistisches Bundesamt 2006, S. 30ff.) Die Entwicklung hin zu einer Altersgesellschaft ist, laut dem Statistischen Bundesamt, im Wesentlichen auf zwei Kernfaktoren zurückzuführen: die erhöhte Lebenserwartung und die auch weiterhin erwartete, rückläufige Geburtenentwicklung. Darüber hinaus spielen auch die Außenwanderungen eine wichtige Rolle. Seit 1972 liegt in Deutschland ein Geburtendefizit vor, was bedeutet, dass es insgesamt mehr Sterbefälle als Geburten gibt. Die Bevölkerung konnte bisher trotzdem stetig weiter wachsen, weil durch Migration aus anderen Ländern dieses Geburtendefizit ausgeglichen werden konnte.
Aufgrund der hohen Lebenserwartung und der bis zum Jahr 2050 geschätzt drastisch sinkenden Geburtenraten geht die Bevölkerung seit 2003 zurück. Lebten 2005 noch 82,4 Millionen Menschen in Deutschland, so werden es, auch aufgrund schrumpfender Migrationszahlen, im Jahr 2050 nur noch ungefähr 68,7 Millionen sein, was dem Niveau des Jahres 1950 entspricht. Die Bevölkerungsvorausberechnungen prognostizieren jedoch nicht nur einen Wandel in der Bevölkerungsgröße, sondern auch eine Altersstrukturverschiebung. Die Zahl der unter 65-Jährigen wird weiter schrumpfen, die Zahl der über 65-Jährigen nimmt konstant zu, sodass im Jahr 2050 geschätzt doppelt so viele Personen im Alter von über 65 Jahre, einer Gruppe junger Menschen unter 20 Jahren gegenüberstehen wird.
Das hat auch zur Folge, dass der Anteil Erwerbstätiger an der Gesamtbevölkerung von 61% im Jahr 2005 auf schätzungsweise 51% im Jahr 2050 zurückgehen wird. Addiert man schließlich noch Jugend- und Altenquotienten, die es ermöglichen, eine Beziehung zwischen denjenigen, die zu jung oder zu alt zum Arbeiten sind und somit Empfänger von Sozialleistungen, Rente, usw. sind, und den Personen zwischen 20 und 65 Jahren, also den Personen im erwerbsfähigen Alter, herzustellen, so stehen 2050 geschätzt 90 arbeitsunfähige Personen 100 erwerbsfähigen Menschen gegenüber. 2005 belasteten dagegen gerade einmal 65 Kinder, Jugendliche und Menschen im Rentenalter 100 Personen im Erwerbsalter.
Eine Menge Zahlen und Schätzungen, die aber alle in eine klare Richtung deuten: Die Gesellschaft altert und dieses Altern bringt viele ungelöste Probleme mit sich. Die beschriebene demographische Entwicklung schafft die Rahmenbedingungen für die heutige und vor allem zukünftige Situation der Alten in unserer Bevölkerung, denn diese relativen und absoluten Zahlen verweisen auf gesellschaftliche, wirtschaftliche, medizinische und sozialpolitische Folgen (vgl. Tesch-Römer u.a. 2006, S. 13), die im weiteren Verlauf der Arbeit dargestellt werden. Zunächst werden aber, das in unserer Gesellschaft vorherrschende Bild vom „Alter“ und die Dimensionen des Alterungsprozesses erläutert, um abzubilden, was man überhaupt unter einem „alten Menschen“ versteht, wie das Alter in unserer Gesellschaft dargestellt wird und in welcher Hinsicht ein Umdenken stattfinden muss.
„ So ist das Bild vom alten Menschen in der Öffentlichkeit bestimmt als ein Bild des Zerfalls, des Abbaus, des Zurückbleibens hinter der unser menschliches Leben tragenden Norm. Gesehen wird er als Nörgler, der zum Zusammenleben schlicht unfähig ist [ ]. Man bescheinigt ihm Reglosigkeit in seinem Denken [ ] und Abnahme von Intelligenz bis hin zur Debilität. Wollte man demgegenüber eine Liste von positiven Eigenschaften zusammenstellen, so würde man vergeblich nach allgemein anerkannten und ‚ modernen ‘ Werten suchen. Das Bild ist rundweg negativ, und die wenigen positiven Ausnahmen stützen diese Aussage eher, als daß[sic] sie sie zu relativieren vermöchten. “ (Bätz/Iber/Middel 1976, S. 23)
Das Phänomen der Alterung der Gesellschaft steht heute präsenter im Fokus des öffentlichen Diskurses als je zuvor und hat dabei meist eine negative, wenn nicht sogar pessimistische Konnotation: Vergreisung und Überalterung, Alterslast, Sturheit, Senilität und Gebrechlichkeit, höhere Lebenserwartung, explodierende Kassenbeiträge und das erwartete Pflegechaos. Die Alterung der Gesellschaft zeigt sich in vielerlei Aspekten, doch muss sie nicht zwangsläufig mit kulturellem Verfall und gesellschaftlicher Katastrophe gleichgesetzt werden. Gehen wir davon aus, dass die Schätzwerte und Erwartungen der Demographen sich in den nächsten Jahrzehnten erfüllen werden, so müssten wir im Jahr 2050 mit einem Anteil von weit über einem Drittel der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung rechnen.
Parallel zur Alterung findet heute ebenfalls eine Verjüngung der Alten statt, der Lebensabschnitt Alter, der vor einigen Jahrzehnten faktisch nur sehr kurz war, kann nicht mehr einfach als ein „Lebensrest“ bezeichnet werden, er beträgt von der Rente bis zum Tod durchaus durchschnittlich um die 20 bis 30 Jahre. Eine lange Phase, die man an effektiv nutzbarer Lebenszeit gewinnt (van Dyk/Lessenich 2009, S. 11). „Wir werden, als Gesellschaft, immer jünger, und als Einzelne werden wir nicht mehr älter, wir werden zumindest anders älter, und wir stecken mittendrin in einem Prozess, dessen Ausgang wir noch gar nicht absehen können“ (Seidl 2005b, S. 3).
Altern findet auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Dimensionen statt und wird von uns auch in eben diesen wahrgenommen und definiert. Der Alterungsprozess läuft auf biologischer, sozialer, und psychischer Ebene ab und hat darüber hinaus noch einige weitere relevante Bezugssysteme, auf die wir bei der alltäglichen Kategorisierung zurückgreifen. „Wenn unsere Alten altern, dann hat unsere Gesellschaft mit ihren alten Ansichten über das Altwerden einen sehr wesentlichen Anteil daran“ (vgl. Montagu 1984, S. 261). Um als Altersgesellschaft funktionieren zu können, müssen wir uns über die Konstruktion unseres „Systems Alter“ bewusst werden und über den Tellerrand hinauszuschauen lernen. Darüber ist sich die Altersforschung einig. Der erste Abschnitt dieses Kapitels beschäftigt sich daher mit den unterschiedlichen Dimensionen des Alterungsprozesses.
Im zweiten Teil soll zunächst dargelegt werden, welches Altersbild wir in Deutschland haben, woher es kommt und welche Folgen aus einer regelrechten Stereotypisierung in verschiedenen Bereichen des alltäglichen Lebens entstanden sind. Darüber hinaus werden an dieser Stelle ein positives, wenn auch nicht häufig vertretenes, Bild vom Alter(n) beschrieben, sowie einige Schlussfolgerungen für den weiteren Verlauf der Arbeit aufgezeigt.
Wie bestimmen und definieren wir Alter? Weder in theoretischen, wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, noch im direkten Kontakt mit alten Menschen können wir heute einfach von allgemein gültigen Charakteristika ausgehen, die für das „Altsein“ sprechen. Die Menschen nehmen in unzähligen Situationen Kategorisierungen vor, die zur Definition von bestimmten Altersgrenzen führen, oftmals aber nicht der Realität entsprechen (vgl. Pohlmann 2004 S. 16). Das Alter ist gleichzeitig ein körperliches, psychisches und gesellschaftliches Phänomen, das einem individuellen Alterungsprozess zugrunde liegt und daher in diesen unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Verläufe aufweist (vgl. Backes/Clemens 1998, S. 87).
Woher können wir also wissen, wie wir eine sinnvolle Einteilung zwischen Jung und Alt, oder auch zwischen alt und noch älter vornehmen können? Eine differenzierte Betrachtung der Altersentwicklung in verschiedenen Lebensbereichen und eine multidimensionale Sicht sind nötig, um Alter zu definieren.
Alter wird im Alltag zunächst mit dem kalendarischen oder auch chronologischen Lebensalter verbunden, worunter man die direkte Einteilung einer Person in eine Altersgruppe anhand ihres Geburtsdatums versteht. Jeder ist also so alt, „wie es sich rechnerisch aus der Differenz zwischen Geburts- und aktuellem Datum ergibt“ (Thieme 2008, S. 33). Eine solche Einteilung existiert vermutlich hauptsächlich als „verwaltungsmässige [sic], bürokratische Organisationsform der Gesellschaft“ (Schmassmann 2006, S. 28f.), um bestimmte Phasen des Lebenslaufs, wie zum Beispiel die Volljährigkeit oder das Rentenalter, festlegen zu können. Die Altersgrenze für das Rentenalter zum Beispiel ist eine willkürliche Setzung, die, einmal fixiert, die gesellschaftliche Definition des Alters vollständig bestimmt (vgl. Braun 1973, S. 57). Dieser Aspekt ist von besonderer Relevanz für die alternde Gesellschaft, denn der chronologischen Einteilung werden gewisse kulturelle Eigenschaften und gesellschaftliche Bedeutungen zugeschrieben, die das Selbstverständnis vom Alter beeinflussen. In Deutschland nimmt ein 14 jähriges Mädchen beispielsweise die soziale Rolle einer Schülerin ein, in einer segmentären Gesellschaft kann sie jedoch bereits die Rolle der Ehefrau und Mutter tragen (vgl. Schmassmann 2006, S. 29f.). Ebenso existieren unterschiedliche Vorstellungen von dem Zeitpunkt, an dem das Alter beginnt, die sich in unseren Köpfen fest eingebrannt haben und sich so schnell nicht mehr von dort löschen lassen.
Problematisch ist also die Frage, wo eine Grenze zwischen den unterschiedlichen Altersgruppen gezogen werden kann. Wir sind heute stark auf die Aussage des kalendarischen Alters fixiert, obwohl eine Zahl alleine der „Heterogenität von Verhaltensweisen und Eigenschaften einer einzelnen Geburtskohorte“ (Pohlmann 2004, S. 13) nicht gerecht werden kann. Bei rein chronologischer Altersbetrachtung werden ereigniskorrelierte Entwicklungen sowie individuelle und umweltbedingte Einflüsse, die gesamte Vielfalt des Lebens also, völlig ignoriert (vgl. Pohlmann 2004, S. 14).
Der Soziologe Frank Thieme hält bezüglich des kalendarischen Alters weiterhin fest: „Alter und die damit einhergehenden Veränderungen - zunächst Entwicklung und Wachstum, dann Rückbau - sind nicht nur Zustand, sondern müssen als Kontinuum gesehen werden - langer Prozess, vielfältige Bedingungszusammenhänge“ (Thieme 2008, S. 33f.).
Von Beginn der Altersforschung an definierte man das Altern in der Biologie und der Medizin als natürlichen Verschleiß. Auch heute noch spricht man in über 300 Alter(n)stheorien größtenteils von einer Abnutzung des Körpers, da dies scheinbar die einfachste und nachvollziehbarste Erklärung für das Älterwerden darstellt und sich in unseren täglichen Erfahrungen ideal bestätigt (vgl. Prinzinger 2009, S. 117). Dabei fehlen uns gegenwärtig die diagnostischen Instrumente und die Kategorien, um Alter an der Biologie des Organismus zu definieren. Laut der Wissenschaft existieren zwar Gene, die sich im Alter negativ auf unseren Körper auswirken, aber keine Gene, die das Altern aktiv fördern oder eine maximal mögliche menschliche Lebensspanne vorherbestimmen (vgl. Schroeter 2008, S. 242f.)
Es gibt also auf biologischer Ebene keine Hauptursache für das Altern, obwohl das Alter anhand physiologischer Merkmale und Eigenschaften sichtbar wird. So erscheint uns derjenige als alt, dessen Haut dunkler, empfindlicher und weniger geschmeidig ist, dessen Gelenke starr und Knochen poröse und instabil sind, dessen Muskelmasse und Muskelkraft abnimmt, dessen Herz immer schwächer wird, usw., auch wenn diese Eigenschaften interindividuell zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten (vgl. Schmassmann 2006, S. 27f.). Der Alterungsprozess verläuft bei jedem Menschen anders. So altern beispielsweise auch Zellen und Organe innerhalb eines Organismus unterschiedlich schnell (vgl. Kocka/Staudinger 2009, S. 80). Verbesserte Lebensumstände führen zwar dazu, dass solche Alterungserscheinungen heute später auftreten, können aber, aktuell jedenfalls, nicht längerfristig hinausgezögert oder völlig aufgehalten werden (vgl. Backes/Clemens 1998, S. 91f.).
Die Biologie des menschlichen Körpers stellt einen guten Ausgangspunkt für die Definition des Alter(n)s dar und hilft uns im alltäglichen Leben, Unterschiede zwischen Alt und Jung zu machen. Und doch wäre es keine komplexe Betrachtung, das Altern bloß als bio-physische Erscheinung zu verstehen. Viele weitere wichtige Aspekte würden dann außer Acht gelassen, was unweigerlich zu einem reduzierten Altersverständnis führen würde (vgl. Schroeter 2008, S. 243).
Biologische und gesellschaftliche Aspekte beeinflussen sowohl das Altern an sich, als auch die Wahrnehmung des Alters durch Andere. Befasst man sich mit dem Alter, so stößt man darüber hinaus auf eine Redewendung, die wohl jedem bekannt sein sollte: „Man ist immer so alt, wie man sich fühlt.“ Dieses Sprichwort zielt auf die psychologische Komponente des Alterns ab, wonach Altern immer auch ein individueller Prozess ist, bei dem zur Bestimmung des eigenen Alters auf subjektive Bewertungsmuster zurückgegriffen wird, man seinen eigenen Zustand also selbst konstruiert (vgl. Pohlmann 2004, S. 26f.). Dieses Selbstkonzept nimmt eine zentrale Bedeutung für die wahrgenommene Lebensqualität ein und ist somit von immenser Bedeutung für die Zukunft einer alternden Gesellschaft, die, allein schon aufgrund wirtschaftlicher Aspekte, auf junggebliebene Alte angewiesen sein wird[2].
Als 40-Jähriger fühlt man sich vielleicht auf einem Rentnernachmittag besonders jung, im direkten Gegenüber mit Schülern einer 9. Schulklasse aber, ist man schon längst ein alter Mann. Heute beginnt dementsprechend das individuelle „Altsein“ im höheren Lebensalter immer später, die individuelle Altersgrenze verschiebt sich mit zunehmendem Alter nach hinten und selbstverständlich bezeichnet man sich selbst nicht sonderlich gerne als alt (vgl. ebenda, S. 27f).
Auch mit psychologischen Theorien ist es bisher nicht gelungen, den Prozess des Alterns vollständig zu erklären und zu beschreiben. Zunächst waren psychologische Alternstheorien an das „Defizit-Modell“ gekoppelt, wonach Altern bloß als Prozess des Verlustes emotionaler und intellektueller Fähigkeiten verstanden wurde, was sich aber wissenschaftlich widerlegen ließ (vgl. Backes/Clemens 1998, S. 92f.). Heute geht man davon aus, dass Altern nicht einzig als Abbau von Leistungsfähigkeit und geistigen Kompetenzen betrachtet werden darf. So verschlechtern sich zwar bestimmte geistige Fähigkeiten, besonders in sehr hohem Alter, andere bleiben aber bis zur Hochaltrigkeit erhalten oder verbessern sich sogar. Darüber hinaus ist auch aus psychologischer Sichtweise das Altern ein interindividuell unterschiedliches Phänomen, das bei jedem Menschen zu jeweils anderem Zeitpunkt auftritt und sich auf spezifische Art und Ausprägung zeigt (vgl. Tews 1971/1979, S. 79).
Altersbilder sind „bildhafte Vorstellungen“, die uns Informationen über alte Menschen vermitteln und sich dabei auf alle Lebensbereiche beziehen können. Um Altersstereotype handelt es sich, wenn Personen aufgrund ihres chronologisch hohen Lebensalters verschiedene Eigenschaften zugeschrieben werden, beziehungsweise ihnen bestimmte Fähigkeiten aberkannt werden, ohne dass man die Betroffenen genauer kennt (vgl. Backes/Clemens 1998, S. 56).
Demnach endet das Leben mit 49 Jahren, zumindest wenn es nach den Marketing-Gesetzen der privaten Fernsehsender geht. Nach jedem großen TV-Event bekommt man Tags darauf zu hören, dass die Einschaltquote der „werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen“ besonders hoch oder eben unerwartet niedrig ausgefallen ist. Dieses von den Fernsehmachern geschaffene „Naturgesetz“ erscheint uns so selbstverständlich, dass wir es zunächst vielleicht gar nicht mehr hinterfragen (vgl. Bernard 2010, S. 15). Macht man sich aber Gedanken um diese Skurrilität, so sollte recht schnell klar werden, dass das Alter nicht etwa eine biologische Tatsache, sondern vor allem ein soziales Konstrukt ist, das wir verinnerlicht haben.
Das uns präsente Bild vom Alter hat sich über viele Jahrhunderte hinweg entwickelt und stammt aus Zeiten, in denen „Alt werden“ die Ausnahme war: In der griechischen Antike dichtete der Tragödienschreiber Euripides den Vers: „Bei den Jüngeren liegt die Kraft in den Taten, bei den Älteren im Rat“ (Euripides 1981, S. 508). Über eine sehr lange Zeitspanne und viele Generationen hinweg hielt man an einem Altersbild fest, bei dem die Alten als weise, erfahren und würdevoll erachtet wurden, einer Zeit, in der die Weisheit des Alters unabdingbar war, um im Alltag bestehen zu können. Die Alten nahmen eine Vormachtstellung ein und verdienten den Respekt der jüngeren Generationen (vgl. Wagner- Hasel 2009, S. 25f.).
Von anderer Seite betrachtet wurde das Alter aber auch immer schon mit einer Versorgungsproblematik in Verbindung gebracht. Alte Menschen können nur noch körperlich leichte Aufgaben verrichten, sind also nicht mehr voll „funktionsfähig“ und belasten dadurch ihre Familien. Zwar wurden die Alten von den jüngeren Mitgliedern der Gesellschaft immer schon in materieller und fürsorglicher Hinsicht unterstützt, aber es entstanden auch Assoziationen zwischen dem Alter und Abhängigkeit, Hilflosigkeit, Nutzlosigkeit und Gebrechlichkeit (vgl. Kocka/Staudinger 2009, S. 34).
[...]
[1] Die Entwicklungen sind nicht nur auf Deutschland beschränkt, ganz Westeuropa und alle Industrienationen erleben laut den Alternsforschern früher oder später diesen sozialen Wandel (vgl. z.B. Thieme 2008, S. 65).
[2] Welche besondere Rolle dabei Altersbilder und Altersstereotype spielen, wird im nachfolgenden Kapitel erläutert.