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Bachelorarbeit, 2011
58 Seiten
Kap. 1. Einleitung
Kap. 2. Studien zur motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen
2.1 Forschungsfeld Kindheit - Einzelstudien und Analysen
2.2 Übersichtsstudien (1 - 4)
2.3 Gibt es einen Rückgang der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen? Ein ausführlicher Blick aus Sicht von zwei konträr argumentierenden Forscher(gruppen)
2.3.1 Standpunkt 1: Bös et al.
2.3.2 Standpunkt 2: Kretschmer
Kap. 3. Zusammenfassung und vertiefende Überlegungen
Kap. 4. Fazit
5. Literaturliste
6. Anhang: Tabelle 1: Übersicht Sportmotorische Tests im deutschsprachigen Raum
Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit auf die zweigeschlechtliche Bezeichnung verzichtet und nur die maskuline Form gewählt. Die einzelnen Be- zeichnungen beziehen sich jedoch stets auf Jungen bzw. Männer und Mädchen bzw. Frauen gleichermaßen.
Existiert ein Bewegungsmangel unter Kindern und Jugendlichen? Oder besser ausgedrückt: Leidet die derzeitige „Generation Kind“ unter Bewegungsmangel? Oder sind es wir, die Erwachsenen, die wir schon ein, zwei Generationen weiter sind, die an einer verzerrten Wahrnehmung leiden?
Das sind die Ausgangsfragen, die sich dem Verfasser der vorliegenden Arbeit stellten, als er anfing, sich diesem Thema zu widmen. Die Antworten auf die ersten bei- den Fragen schienen ohnehin klar: Man liest es in den Printmedien („Fettsucht grassiert unter Kindern“, Der Spiegel, 2000, 146) man sieht es im Fernsehen („Verschwinden der Sinne“, KAHL, N3, 1992) und man erlebt es jeden Tag auf der Straße. Die Umweltbe- dingungen unserer Kinder haben sich stark verändert in den letzten 20 bis 30 Jahren1. Mit ihnen sind auch die Bewegungswelten und Erfahrungswelten der Kinder andere geworden. Wir lesen von der „`verhäuslichten´ und `verinselten´ Kindheit ( ZEIHER & ZEIHER , 1988, zitiert nach BURRMANN, 2008, S. 2 ) oder Medienkindheit“ (ebd.), wir sehen übergewichtige Kinder und folgern, dass all diese Dinge Anzeichen einer eindeu- tigen Ursache-Wirkung-Beziehung sind. Anzeichen, sie so deutlich sind, dass durch einfach erhobene Stichproben eine Beweisführung möglich sein sollte. Oder nicht? Ein Blick in die Literatur, insbesondere in die Veröffentlichungen im Bereich der Sportwissenschaft verändert den Blickwinkel sehr schnell. So einfach wie die oben angesprochene Ursache-Wirkung-Beziehung scheint, stellen sich die Forschungsergeb- nisse nicht dar. Es kommt bereits bei der Ausgangsfrage zu einem Problem: In zahlrei- chen Studien, von denen viele den Inhalt der hier folgenden Ausführungen bilden, wird die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen untersucht, und zu- meist in Querschnittsuntersuchungen miteinander verglichen. Dabei werden sowohl Verschlechterungen, als auch Verbesserung herausgefunden. Können wir aber von die- sen Ergebnissen auf einen Bewegungsmangel schließen? Der wird zwar wiederholt ins Feld geführt, ist aber in längst nicht allen Studien wirklich Gegenstand der Untersu- chung gewesen. Insofern sei an dieser Stelle zur Vorsicht angemahnt, diese beiden Un- tersuchungsgegenstände nicht zu vermischen. Da aber das Stichwort Bewegungsmangel in der öffentlichen Diskussion als Synonym für eine Fülle an Veränderungen und Ent wicklungen benutzt wird, steht es auch in dieser Arbeit als Überschrift und sei somit als Schlüsselwort gleichermaßen zur Untersuchung der Merkmale der veränderten Kindheit sowie der motorischen Leistungsfähigkeit benutzt.
Es gibt unterschiedliche Interpretationsansätze für die verschiedenen Forschungsergeb- nisse, die ich exemplarisch an der Person des Hamburger Sportdidaktikers und Erzie- hungswissenschaftlers PROF. JÜRGEN KRETSCHMER auf der einen Seite, und den Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft der Universität Karlsruhe, PROF. DR. KLAUS BÖS auf der anderen Seite festmachen möchte. Aus diesem Grund bilden diese beiden Pole, denen sich viele weitere Sportwissenschaftler2 zuordnen lassen, auch das Zentrum der vorliegenden Arbeit und der Ausgangsfrage (und seiner Zusammenhänge): Gibt es einen Rückgang der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendli- chen, weisen die Kinder und Jugendlichen gesundheitliche Defizite auf und können wir auf einen Bewegungsmangel schließen, oder nicht?
Eingebettet ist dieser Abschnitt in eine Übersicht über die durchgeführten Studien, die in den letzten Jahrzehnten zu diesem Themenkomplex durchgeführt wurden, sowie in einen Exkurs über die vielfältigen weiteren Erklärungsansätze, die zur eingangs erwähnten Wahrnehmung führen, bzw. geführt haben.
„Dicke Kinder: Von allem zuviel“ (DER SPIEGEL, 52/1977), „Die Kalorienbom- ber sind da: Die Deutschen werden immer dicker.“ (FASZ, 20.09.2006), „Ärzte schlagen Alarm: Jedes fünfte Kind in Hamburg ist zu dick“ (ABENDBLATT, 1.12.2006) - die bun- desweiten Medien berichten in aller Regelmäßigkeit von der „neuen Volkskrankheit Nr. 1“ (EURIP.COM, 2009). Auch der Deutsche Olympische Sportbund DOSB schlägt in die gleiche Kerbe: „Ernährungs- und Bewegungsverwahrlosung" bei Kindern nehmen zu (09.10.2006). Und auch die lokale Presse benutzt Aufmerksamkeits- und verkaufsför- dernde Schlagzeilen wie „Deutsche Kinder werden immer dicker“ (NWZ 9.12.09) „Im- mer mehr dicke Kinder“ (NWZ, 30.4.2010). Da zeugt es schon von überraschender Zu- rückhaltung, wenn die selbe Zeitung später deutlich abgemildert titelt: „Viele Kinder bewegen sich zu wenig“ (NWZ, 5.8.2010). Entsprechend landete der Artikel auch nicht auf der Titelseite des Haupt-, sondern auf der hinteren Seite des Lokalteils „Der Ge- meinnützige“. Der Blick der Allgemeinheit wird geschärft, schließlich geht es nicht nur um das Wohlergehen einzelner Betroffener, sondern um eine Gefahr für das Bundesgesundheitssystem (vgl. FASZ, 2006).
„Differenziertheit ist medialer Präsenz eher abträglich und zudem nur schwer darstellbar“ (THIELE, 1999, S. 144), deshalb folgt die Präsentation dieser Themen „der medialen Logik von Einfachheit und Sensationsgehalt“ (ebd.). Kurz: Die Schlagzeilen sind die massenkompatibel vereinfachte Darstellung der Ergebnisse zahlreicher Studien, die es in den vergangenen dreißig Jahren zum Thema veränderte Kindheit gegeben hat. Viele dieser Studien kommen aus dem Bereich der Sportwissenschaft und stellen damit einen Teilbereich der Kindheitsforschung dar. „Die Art und Weise der Rezeption dieser Daten“, oft eine pauschalisierte und damit wertende Aussage von teilweise nur partiell auftretenden Ergebnissen zu einer Mischung aus „deskriptive[n] und normative[n] Aus- sagen“ entspricht dabei nicht mehr den originären Intentionen der Kindheitsforschung (SCHULZ, 1999, S. 160).
„Der Wandel der kindlichen Lebens- und Bewegungswelt ist offensichtlich und durch zahlreiche Untersuchungen belegt“ (KRETSCHMER & GIEWALD, 2001, S. 37). Der Beginn der sportwissenschaftlichen Konzentration auf die Beobachtung der Entwick- lung der motorischen Leistungsfähigkeit fällt dabei zusammen mit der „Trendwende“ in der Kindheitsforschung in den 1980er Jahren (vgl. HEIM, 2002, GRUNERT & KRÜGER, 2006). Hier entwickelte sich ein neues Verständnis für Kindheit als Forschungsgegen- stand, als eigenständige Lebensphase, die über das Zwischenstadium als unfertige Er- wachsene oder Menschen in Entwicklung hinausging (vgl. SCHULZ, 1999, S. 162). Kin- der und ihre Erfahrungen rückten in den Mittelpunkt, genauso ihre „alltägliche Lebens- führung“ (ebd., S. 14) sowie die Perspektive der Kinder. Ein Schwerpunkt dieser For- schung waren die „langfristigen Veränderungen in den Sozialisationsbedingungen von Kindern“ und der „Wandel der kindlichen Normalbiografie“ (ebd., S. 15).
Die Auseinandersetzung mit der Sozialisation von Kindern richtete den Blick auf die veränderte Kindheit sowohl im Bezug auf den Alltag und die Kindheitskultur, als auch im Bezug auf die Handlungsfähigkeit der Kinder. Dabei rückten verschiedene Begriffe in den Vordergrund, die je nach Herangehensweise den Schwerpunkt verschie- dener Studien bilden. Nach einem „ersten Ordnungsversuch“ (KRETSCHMER & WIRSZING, 2007, S. 16)
von HENTIG 1977 waren es 1985 ROLFF & ZIMMERMANN, die die veränderte Kindheit auf die Punkte Mediatisierung, Massenkonsum und die Expertisierung zurückführten (vgl. ebd.). Die Autoren KRETSCHMER & WIRSZING erweiterten diese drei Punkte um vier weitere Erscheinungen. Für sie gelten auch die zunehmende Verstädterung und Verhäuslichung (Urbanisierung), das veränderte Verkehrsaufkommen (Motorisierung), das veränderte Ernährungsverhalten (Fast Foodisierung) sowie die Auflösung tradierter Sozialstrukturen (Sozialumbruch)3 zu den wesentlichen Merkmalen veränderter Kind- heit (vgl. 17ff.)4. Während sie diese Stichworte untermauern, wird deutlich, dass die Zahl der Fernsehgeräte und Computer/-spiele im Kinderzimmer erheblich zugenommen hat, dass sich das aber nicht zwangsläufig auf die durchschnittliche Dauer ausgewirkt hat, die sich die Kinder damit beschäftigen. Diese hat im Vergleich 2006 - 1992 sogar um 18 Minuten abgenommen. Vielmehr sind „die Fernsehgewohnheiten ... sowohl schichtspezifisch als auch individuell unterschiedlich (KRETSCHMER & WIRSZING 2007, S. 17). Hierzu passen auch Untersuchungen von BÜNEMANN (2005) zum Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Übergewicht.
Mediennutzung und Übergewicht im Vergleich mit dem Maß an Bewegung Nach BÜNEMANN (2005) liegt Deutschland mit dem Anteil der Jugendlichen, die vier oder mehr Stunden fernsehen mit 20,5 bzw. 40,6 Prozent (Wochentag, bzw. Wo- chenendtag) im europäischen Vergleich im Mittelfeld und unter dem EU-Durchschnitt (24,1% bzw. 43,3%, vgl. S. 363). Ihrer Untersuchungsfrage „Verdrängt Medienkonsum die körperliche Aktivität?“ (S. 365) stellt die Autorin voran, dass die „Ursachen für die zunehmenden Übergewichtszahlen“ (S. 362) am ehesten in einer positiven Energiebi- lanz zu suchen seien. Sie belegt die Annahme, dass die veränderte Bewegungsumwelt von Heranwachsenden heute z.B. im großen Maße das Fahren mit dem Fahrrad betrifft, mit Zahlen eigener Studien: „männliche Teenager [fahren] heute nur die Hälfte der Strecke mit dem Rad wie ihre Altersgenossen vor 20 Jahren“ (S. 365). Das sei nur ein Beispiel für den heute passiveren Lebensstil (und damit ein Beweis für Bewegungs- mangel? (rk)). Gleichzeitig gebe es keinen empirisch belegbaren Zusammenhang zwi- schen der Häufigkeit der Mediennutzung und dem Umfang des Sportengagements:
„Diejenigen, die viel Sport treiben, verbringen auch viel Zeit mit dem Computer und umgekehrt.“ (2005, S. 366). Diese Aussage deckt sich mit den Ergebnissen von BURR- MANN (2003b), die nach einer Analyse diverser Studien folgert, dass “sich Mediennut- zung und aktives Sporttreiben“ nicht ausschließen (S. 176) und die angenommene Gleichsetzung, Medienfreaks sind Sportmuffel und Körperwracks, nicht stimmt (vgl. ebd.).
Auch BÜNEMANNS Untersuchung ihrer zweiten Forschungsfrage „Macht Fern- sehen fett?“ kommt zu keinem defizitären Ergebnis: „Auf Basis der bislang vorhande- nen Studien kann [die Annahme, dass] Medienkonsum einen negativen Einfluss auf den Körperfettanteil hat, nicht bestätigt werden.“ (2005, S. 366). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Forschungsergebnis von BIDDLE, GORELY & STENSEL (2004), die nach einem Vergleich über eine 50-Jahre-Spanne zu dem Ergebnis kommen, „dass sich der Inhalt von Comicheften hin zu Computerspielen geändert hat, der absolute Zeitumfang, den Heranwachsende heute mit Medien verbringen, aber nicht größer ist als in früheren Generationen“ (zitiert nach ebd., S. 363).
Einen ähnlichen Tenor schlägt auch KLEINE (1997) an. Er konstatiert einen „Kindheitspessimismus, der innerhalb der Kindheitsforschung deutlich ausgeprägt ist“ (S. 487) und warnt vor der „Absolutsetzung subjektiver Sichtweisen, der Simplifizie- rung von Sachverhalten und der Bevorzugung von `Wenn-Dann-Schemata´: Viel Fern- sehen impliziert wenig Bewegung, Fernsehen macht aggressiv, Landkinder bewegen sich mehr als Stadtkinder usw.“ (S. 487). Vor allem auch Übergeneralisierungen und Pauschalsetzungen, so KLEINE, seien bei Kindern kaum angebracht: „BAACKE stellt in diesem Sinne fest: `Wenn wir von Kindern sprechen, die sich so und so verhalten, ma- chen wir uns immer einiger Vereinfachungen schuldig´ (1993, 195)“ (S. 487). Trotz des beobachtbaren Trends `von draußen nach drinnen´ (vgl. ROLFF & ZIMMERMANN, 1993, zitiert in ebd.) konnten „die Daten der vorliegenden Studien [die Auffassung nicht be- stätigen], dass `Vielseher´ im Vergleich zu `Wenigsehern´ weniger außer Haus spielen, sich weniger bewegen oder Sport betreiben“ (S. 489).
Untersuchungen der motorischen Leistungsfähigkeit
Untersuchungen die sich auf die motorische Leistungsfähigkeit konzentrierten, schlagen vereinzelt deutlich andere Töne an. EGGERT, BRANDT, JENDRITZKI, & KÜPPERS (2000) untersuchten 180 Kinder aus einerseits Grund- und andererseits Lernbehinder- tenschulen auf ihre motorische Leistungsfähigkeit. Beide Gruppen stammten jeweils zur Hälfte aus dem Stadtgebiet Hannovers sowie aus dem Landkreis Hannover und Osnab- rück. Alle drei ihrer Hypothesen, die sie vor der Studie (mithilfe des DMB5, s. Anhang) aufgestellt hatten, wurden bestätigt: Im Vergleich zu einer früheren Untersuchung, die 10 Jahre zuvor an gleicher Stelle durchgeführt worden war, hatten sich die motorischen Fähigkeiten der untersuchten Kinder allgemein verschlechtert. Zudem kamen sie zu dem Ergebnis, dass sowohl Grundschüler den gleichaltrigen lernbehinderten Schülern, als auch Schüler aus dem ländlichen Einzugsgebiet den Schülern aus der Stadt in den motorischen Fähigkeiten überlegen waren. „Insgesamt kann festgestellt werden, dass sich bei den Vergleichen ein deutlicher Abwärtstrend zeigte Die Ursachen sind nach Ansicht der Autoren in einer Verringerung der Entwicklungsbedingungen für die motorische Entwicklung zu sehen…“ (EGGERT et al, 2000, S. 354).
KETELHUT & BITTMANN (2001) belegen den Rückgang der Leistungsfähigkeit mit Vergleichen der Ergebnisse von Bundesjugendspielen an 20 Berliner Schulen. An- hand der Anzahl der erworbenen Urkunden sehen sie einen Rückgang - in den 10 Grundschulen um durchschnittlich 4%, bei den 10 Oberschulen um durchschnittlich 9% im 5-Jahreszeitraum. Die durchschnittlichen Weitsprung-Ergebnisse belegen einen Leis- tungsrückgang von 10%, bei den Ausdauerleistungen sind es 11-17%. Die Zahlen ließen Rückschlüsse zu „auf eine reduzierte konditionelle Fitness sowie möglicherweise auf eine mangelnde Bewegungs-Erfahrung in der frühen motorischen Entwicklung“ (S. 344).
Differenzierter betrachtet RETHORST (2003) die Ergebnisse ihrer Untersuchun- gen der motorischen Leistungsfähigkeiten bei Bielefelder Vorschulkindern mithilfe des MOT 4-66 (s. Anhang) im Vergleich mit Daten aus den 1980ern. Pauschal beurteilt wurden dabei im 13-Jahres-Vergleich keine signifikanten Unterschiede festgestellt (vgl. S. 120 f.). Im Einzelnen könne eine Verschlechterung der Koordination beim Werfen und Fangen beobachtet werden, dafür eine Verbesserung der Gleichgewichtsfähigkeiten (vgl. ebd., S. 125), was RETHORST mit einer Verschiebung der Bewegungsgestaltung in Freizeit und Schule erklärt. Signifikant sei nur gewesen, dass „Kinder, die am Stadtrand leben, bessere Werte als die Kinder erbrachten, die im Stadtzentrum leben“ (S. 122), genauso wie „Kinder, die Mitglied in einem Sportverein sind“ bessere Leistungen auf wiesen (ebd.). RETHORST merkt an, dass der MOT 4-6 hauptsächlich koordinative Fä- higkeiten abteste, ein entsprechender Vergleich für die konditionellen Fähigkeiten fehle (vgl. S. 125).
Die Veränderung der motorischen Leistungsfähigkeit von männlichen Schülern zwischen 9 und 12 Jahren untersuchte SCHOTT (2005) anhand zweier Kohorten im Ab- stand von 20 Jahren (1976/77 und 1996/99) mithilfe von Fragebögen und 10 motori- schen Tests. Während sich die Körpergröße nicht sehr veränderte, war das Körperge- wicht und der BMI um mehr als 7% gestiegen (vgl. S. 55). Die Vereinsmitgliedschaft war von 60% auf 76% angestiegen (vgl. S. 56). In der motorischen Leistungsfähigkeit konnte eine Verbesserung der koordinativen Fähigkeiten sowie eine Verschlechterung von bis zu 25,5%, bei Liegestützen sogar 41% bei den Kraft-, Kraftausdauer- und Aus- dauerfähigkeiten aufgezeigt werden. Die Beweglichkeit verschlechterte sich um 62,5% (vgl. S. 57 ff.). „Als negativer Einflussfaktor […] erwies sich der Faktor Übergewicht, als positiver … die Vereinszugehörigkeit“ (S. 65). Aus den Ergebnissen folgert SCHOTT: „Die wahrscheinlichste Erklärung dürfte … die Abnahme in der sportlichen Aktivität darstellen“ (S. 67).
WYDRA (2006) beurteilt bei einer Untersuchung zur sportlichen Aktivität, Fit- ness und Wohlbefinden luxemburger Schülerinnen und Schüler „die Fitness von 75,8% der Mädchen und 50,3% der Jungen als schlecht, bzw. sehr schlecht Kein einziges Mädchen und kein einziger Junge erreichen ein sehr gutes Leistungsniveau“ (S. 3).
Einen in mehrerer Hinsicht drastischen Studienvergleich stellt GASCHLER (2000) an. Die elf Untersuchungen, zumeist aus den Achtzigern und Neunzigern wurden von verschiedenen Autoren und mittels unterschiedlicher Testverfahren durchgeführt und konzentrierten sich auf Kinder zwischen 3.8 und 10 Jahren. Das Besondere an dem Vergleich ist, dass deutlich wird, wie drastisch unterschiedlich getestet wurde7. Dras- tisch sind aber besonders auch die Ergebnisse: Die Studien weisen Schwächen der ge- testeten Kinder in der Leistungsfähigkeit von bis zu 61% auf (vgl. S. 6). Umso überra- schender das Fazit, in dem GASCHLER zu dem Ergebnis kommt, dass es schwer fällt „bei diesen Zahlen8 von einem bedenklichen oder sogar katastrophalen motorischen Ent- wicklungsstand zu sprechen“ (ebd., S. 15; vgl. GASCHLER, 2001)9. Ein möglicher Grund für diese Sichtweise ist ein Vergleichsversuch der motorischen Leistungsfähigkeit von Erwachsenen (im Mittel ca. 35 Jahre, Jandatest, s. Anhang) mit denselben Testaufga- ben: Dort fallen bis 92% der Getesteten bei einzelnen Items durch (Items, die von den Autoren als „leicht“ eingestuft werden). Von einem „Rückgang“ der motorischen Leis- tungsfähigkeit, bzw. einer Zunahme des Bewegungsmangels kann also keine Rede sein? Er dürfte sich vor allem auf diese vergleichenden Forschungsergebnisse beziehen, wenn er in seinem Fazit fort fährt: „Wer das tut, hätte es nach dieser Datenlage auch schon vor 20 Jahren tun können. Nach den hier vorliegenden Ergebnissen ist keine auffällige Zunahme motorischer Defizite bei Kindern im Verlauf der letzten 20 Jahre festgestellt worden“ (ebd.)10.
RUSCH & IRRGANG (2002) unternahmen mit einer Langzeitstudie (1986-2001) den Versuch, konkrete Aussagen zur motorischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu machen. Mittels der sechs Testaufgaben des MFT (s. Anhang) wurden 1986, 1995 und 2001 bei insgesamt 3619 elf- bis vierzehnjährigen Schülern Daten erhoben. Im 16-Jahres- Vergleich hatten sich die erzielten sportmotorischen Leistungen stark verschlechtert, von 1995 bis 2001 auf diesem niedrigen Niveau etwas verbessert (vgl. S. 7). Hervorzuheben ist bei dieser Untersuchung die Feststellung der Autoren „dass wir es nicht mehr wie früher mit einer `Normalverteilung´, sondern mit einer `zweigipfligen Verteilung´ zu tun haben“ (S. 9). D.h. die Standardabweichungen haben zugenommen; sowohl die Zahl der Schüler mit besseren Leistungen als auch mit schlechteren Leistungen war gestiegen. „Dies deutet auf eine große inhomogene Leistungsbreite hin“ (ebd.), was vor allem für den Schulsport eine Herausforderung darstelle (vgl. auch KRETSCHMER & WIRSZING 2007, S. 40).
Die längste Zeitreihenstudie hat RACZEK (2002) über drei Jahrzehnte mit Ju- gendlichen in Polen gemacht. In den Jahren 1965, 1975, 1985 und 1995 testete er mit- tels 8 sportmotorischer Testaufgaben konditionelle und koordinative Fähigkeiten von insgesamt 10015 Schülern zwischen 8 und 18 Jahren. Zu seinen wichtigsten Ergebnis- sen zählt, dass „die Gesamtheit der gegenwärtigen jungen Generation, trotz größerer Körperstatur, ein viel schlechteres Niveau der motorischen Leistungsfähigkeit aufweist als die früheren Schülerpopulationen“ (S. 208). Dabei stellt er einen Leistungsrückgang von bis zu 18% fest. Lediglich bei den „Schülern der unteren Altersstufen (Grundschul- alter) weist die absolute Leistungsfähigkeit ... eine leicht ansteigende Tendenz auf und liegt gering über dem Niveau des Jahres 1965“ (S. 202). Sein Gesamtfazit bezieht sich dann auch v.a. auf den festgestellten Leistungsrückgang, wenn er erklärt, „die Hauptursache der ausgewiesenen Leistungsregression liegt zweifelsohne im zunehmenden Bewegungsmangel der Schüler. Der natürliche Bewegungsbedarf wird immer stärker eingeschränkt“ (S. 211), und schlussendlich folgert „erforderlich ist vor allem eine deutliche Veränderung in den generellen Bildungs- und Erziehungskonzepten für die Jugend. Hier müssen der Abbau der Bewegungsdefizite und die Erweiterung der Bewegungsaktivitäten besondere Bedeutung gewinnen“ (ebd., S. 214 f.).
In ihrer Untersuchung von 3672, bzw. 3758 ungarischen Schülern zwischen 6 und 14 Jahren vergleichen PHITIOU, ANNIG, MÉSZÁROS, VAJDA, MÉSZÁROS, SZIVA, PROKAI & NG (2008) die körperlichen Entwicklung und Fitness zwischen 1975 und 2005. Das Zeitintervall ist deshalb so interessant, weil es „seit den 80ern zu essentiellen ökonomischen und sozialen Veränderungen“ (S. 167) gekommen ist, wie die Autoren anhand einiger Beispiele tabellarisch aufzeigen (S. 171). Neben einer massiven Zunah- me von Größe und Gewicht sowie einer großen Streuung der Werte für BMI, Hautfal- tendicke11 und Körperfettanteil bei gleichzeitiger absoluter Zunahme beobachteten sie eine signifikante Verschlechterung der Laufleistungen beim 400- und 1200-Meter-Lauf. Für die Autoren belegen diese Zahlen einen negativen Zusammenhang zwischen verän- derten Lebensbedingungen und Bewegungsmangel (vgl. S. 171) und deckten sich auch mit den Ergebnissen zweier weiterer ungarischer Studien (LAKI & NYERGES 2000; SÁGHI et al. 2002, zitiert in: PHITIOU et al, 2008).
JOUCK (2008) untersucht anlässlich einer Normierung der neuen Testbatterie des Dordel-Koch-Tests (DKT, s. Anhang) 2385 Kinder und Jugendlichen der Klassen 1 - 10 und besteht auf einer Eindeutigkeit der Ergebnisse: „Trotz hoher Mitgliedszahlen in organisierten Sportvereinen kann der zunehmende Bewegungsmangel im Alltag nicht kompensiert werden. Dies wird insbesondere auf eine verminderte Alltagsaktivität zu- rückgeführt“ (S. 195). Ausgangspunkt ihrer Analyse sind Studienergebnisse von BÖS et al. (2001), nach denen Grundschüler „am Tag im Mittel 9 Stunden lagen, 9 Stunden saßen, 5 Stunden standen und sich lediglich 1 Stunde bewegten“ (ebd., S. 13) und KIPHARD (1997), der herausgefunden hat, dass „2/3 aller Grundschulkinder zunehmend Bewegungseinschränkungen aufweisen und bis zu 10 Stunden am Tag sitzen“ (ebd.).
Die Untersuchungen von NOBIS, LOHMANN & NOACK (2009) sind ein „Scree- ning“ (S. 7) von Oldenburger Schülern aus vierten Klassen mithilfe des DMT 6-1812 und folgen einer sehr genauen Analyse der Literaturlage. Das Ergebnis ist, dass „Olden- burger Viertklässler ihren bundesweiten Klassenkameraden überlegen [sind], was die motorische Leistungsfähigkeit angeht“ (S. 229) - mit einem Unterschied von teilweise mehr als 1% nach Aussage der Autoren sogar „statistisch signifikant“ (vgl. ebd.). An- statt hier eine Überlegenheit zu postulieren oder die Wertigkeit anderer Ergebnisse in- frage zu stellen, betonen sie, dass sie der von BÖS beschriebenen Aussagekraft solcher „verlässlichen Daten“ als Grundlage politischer Entscheidungen mit Skepsis begegnen (vgl. S. 233). Ihnen ginge es um ein Leistungsbild, das „als Pilotstudie die Grundlage für hoffentlich eine Reihe von weiteren Untersuchungen [bildet], um in Zukunft Längs- schnittaussagen bzw. Aussagen über den Leistungsstand von Viertklässlern in Olden- burg im Wandel der Zeit machen zu können“ (NOBIS et al, 2009, S. 229f.)
Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle also festhalten, dass Bewegungsmangel zwar an verschiedener Stelle interpretiert wurde (vgl. EGGERT et al., 2000, S. 354 (s.o., S. 8); KETELHUT & BITTMANN, 2001, S. 344 (s.o., S. 8); SCHOTT, 2005, S. 67 (s.o., S. 9); RACZEK, 2002, S. 211 (s.o., S. 11); PHITOU et al., 2008, S. 171 (s.o., S. 11); JOUCK, 2008, S. 195 (s.o., S. 11)), mit den angegebenen Testverfahren aber nicht bewiesen wurde. Denn gemessen wurde das Symptom - der Rückgang der motorischen Leistungsfähigkeit. Auf Bewegungsmangel als seine Ursache wurden lediglich gefolgert - ein mal mehr, mal weniger deutlich gekennzeichneter Unterschied.
Forschungen an der Sporthochschule Köln
Motorische Entwicklung und Entwicklungsstörungen gehörten zu den Schwer- punkten von DR. SIGRID DORDEL, die seit 1971 an der Sporthochschule Köln in den Bereichen Prävention und Rehabilitation tätig war. In dieser Position war sie wiederholt mit der Analyse der Veränderungen der Kindheit beschäftigt und hat wiederholt Aufsät- ze zu diesem Thema verfasst. Mit Hilfe des Körperkoordinationstests KTK (s. Anhang) hat sie selber Tests durchgeführt, bzw. durchgeführte Tests betreut, und kommt z.B. in einer Studie (2000) zu dem Ergebnis, dass ein allgemeiner Rückgang der motorischen Leistungsfähigkeit zu beobachten sei, der „im Mittel nur unwesentlich“ sei (S. 344). So verfügten beispielsweise Erstklässler auch im 25-Jahres-Vergleich „über eine geringfü- gig reduzierte Gesamtkörperkoordination“ (S. 342), wobei das Ausmaß in Abhängigkeit vom Lebensraum steht: „Kinder aus ländlichen Wohngebieten sind weitgehend `nor- mal´ entwickelt, während Kinder aus dem großstädtischen Lebensraum deutlichere Entwicklungs- bzw. Leistungsrückstände zeigen“ (S. 344). Zudem reduziere sich die Gesamtkörperkoordination mit zunehmendem Alter - bei Mädchen noch deutlicher als bei Jungen (vgl. ebd.).
Signifikant seien die schlechteren Ergebnisse aber z.B. in den elementaren Wahrnehmungserfahrungen wie beim Balancieren rückwärts (vgl. ebd., S. 344). Für DORDEL ist die geringe Gleichgewichtsfähigkeit ein Ergebnis der „für die Gesellschaft heute typische Reizüberflutung im audio-visuellen Bereich ..., die zu einer vegetativen Dysregulation - z.B. mit der der Symptomatik einer Konzentrationsschwäche - führen kann“ (S. 345). Auch wenn sie THIELES Skepsis bezüglich der „dramatischen Verände- rung der motorischen Entwicklung und Leistungsfähigkeit von Kindern“ teilt (ebd.), fordert sie eine aufmerksame zukünftige Beobachtung der Entwicklung. Parallel dazu führt sie eine Anzahl weiterer Untersuchungen an, die in zwei Gruppen eingeteilt werden können: während die erste Gruppe „Leistungseinbußen in allen Bereichen motorischer Beanspruchung“ nachweisen (S. 346), kommen die Unter-suchungen, die mit Hilfe des ISFT (s. Anhang) durchgeführt wurden, im 25-Jahres- Vergleich zu dem Ergebnis, dass sich die motorische Leistungsfähigkeit „nicht wesent- lich verändert [hat]; sie zeigen teils schlechtere, teils bessere, überwiegend aber ver- gleichbare Leistungen“ (S. 347).
So sehen BRANDT ET AL. (1997) „schlechtere Ergebnisse ... am auffälligsten im Wahrnehmungsbereich“ (S. 346), KUNZ (1994) sieht „vor allem bei Aufgaben mit Be- anspruchung der Ausdauerleistungsfähigkeit und der Koordination deutlich schlechtere Ergebnisse“ sowie eine „erhebliche Abnahme motorischer Leistungsfähigkeit“ (ebd.), GASCHLER & HEINECKE (1990) „stellen hoch signifikante Verschlechterungen in der Beweglichkeit der Schultergelenke und der Kraft der Rückenstreckmuskulatur fest“ (ebd.) und MATTHEE (1993) zeigt, „dass die Ausdauerleistungsfähigkeit von fast 80% der untersuchten Kinder als unterdurchschnittlich eingestuft werden muss“ (ebd.). Auch V. KEITZ (1993) stufte diese bei einer vergleichbaren Untersuchung erzielten Ergebnisse bei 76,3% ein, „etwa zehn Jahre zuvor findet KLEMT (1988) bei gleicher Methodik keine Defizite in der Ausdauerleistungsfähigkeit von Grundschulkindern“ (ebd.).
Unter anderem auf Grund dieses Vergleichs verweist DORDEL darauf, dass die Aussagekraft der „sportmotorischen Aufgaben und Testbatterien [als] kritisch zu werten ist“ (ebd.) und stellt ihnen Ergebnisse des ISFT gegenüber. Dabei kommt beispielsweise KOSTER (1997) zu dem Ergebnis, dass sich „die Sprungkraft nicht signifikant verändert hat“ (ebd.), ENGLICHT (1997) stellt fest, „dass von einer generellen Verschlechterung motorischer Leistungsfähigkeit auch bei den 11- bis 15-jährigen gegenüber gleichaltri- gen Jugendlichen vor etwa 25 Jahren nicht gesprochen werden kann“ (ebd., S. 347), dass aber ein „deutlicher Rückgang der Flexibilität“ zu bemerken sei (ebd., S. 348). DORDEL hält abschließend fest, dass die Ergebnisse „insgesamt uneinheitlich“ seien (ebd.), die gewonnenen Daten „in der Zukunft über mögliche Veränderungen motori- scher Entwicklung und Leistungsfähigkeit im Verlauf der Zeit zuverlässig Auskunft geben“ könnten (S. 349).
Übersichtsarbeiten von KRETSCHMER & WIRSZING sowie THIELE Einen kleinen Überblick über Studien aus den Jahren 1997-2006 führen auch KRET- SCHMER & WIRSZING (2007) an. Neben bereits o.g. Studien von DORDEL, GASCHLER, EG- GERT, RASCZEK, sowie RUSCH & IRRGANG, zitieren sie WEINECK et al. (1997), die bei Erst- klässlern herausfanden, dass „zirka 75% der Schüler eine schwache Bauchmuskulatur be- sitzt, etwa 50% Gleichgewichtsprobleme beim Einbeinstand hat und etwa 10% bezüglich der Ausdauer als auffällig zu bezeichnen ist“ (S. 25). Ebenfalls bei Erstklässlern hat auch KIRCHEM (1998) die motorische Leistungsfähigkeit getestet. Er stellte fest, dass die Leis- tung zunehmend ab- und „der Anteil der motorisch trainingsbedürftigen Kinder kontinuier- lich zunimmt“ (ebd.). Allerdings zeigten die Daten auch, „dass sich bei fünf der sieben Testaufgaben keine Verschlechterungen erkennen lassen und dass die bisher aufgezeigten Ergebnisse noch keine Aussagen zu den Auswirkungen des Leistungsrückganges zulassen“ (ebd., S. 26).
„Bei UNGERER-RÖHRICH und BECKMANN (2002) liegen die Kinder der ersten bis zur vierten Klasse mit ihren Ergebnissen deutlich über den Durchschnittwerten des AST für diese Altersstufe“ (ebd.), im Cooper-Test (s. Anhang) stellte SCHNEIDER (2006) fest, dass die Ausdauerfähigkeit „auch für die Sechs- bis Zehnjährigen überraschend hoch ist und dass die von Cooper vor mehr als 30 Jahren erstellten Normwerte für die Grundschulpopulation weitgehend Gültigkeit zu besitzen scheinen“ (ebd., S. 27). Insgesamt zeigten die elf ange- führten Untersuchungen ein so uneinheitliches Bild, das es verwunderlich sei, „wie beharr- lich sich die Defizithypothese (THIELE 1999) hält“ (ebd., S. 28), so dass die Autoren nur warnen können vor vorschnellen Schlüssen und groben Berechnungen (vgl. Kap. 3.2). Zu- dem sei festzuhalten, dass teilweise „Untersuchungsverfahren eingesetzt werden, die dafür gar nicht gedacht waren“ (ebd.)13. Auch würden die Befunde nicht hinreichend differenziert, was gerade bei Kindern und Jugendlichen zu unterlassen sei, und würden Teilleistungen als Basis dienen, „Aussagen über die Veränderungen der motorischen Leistungsfähigkeit im Ganzen zu machen“ (ebd.).
Kritik an der „Defizithypothese“, die in vielen Veröffentlichungen vorherrschte, formulierte THIELE (1999). In der Literatur der Sportwissenschaft, so stellt THIELE fest, können die Berichte über die veränderten Kindheit, bzw. Lebenswelten („die Moderni- sierungsgeschichten“ (S. 143)) in der Regel als „Verfalls- oder Niedergangsgeschichten gedeutet werden“ (ebd.) - und das sei eine Tendenz, die seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zu beobachten wäre. Mit Verweis auf KIPHARD, ZIMMER und PROHL & SCHERRER stellt er dann fest, dass die erkannten Verluste dann zumeist als Grundlage für mögliche Therapievorschläge genutzt würden (vgl. ebd.).
„KURT HAHN diagnostizierte den körperlichen Verfall der Kinder und Jugendli- chen bereits in Zeiten (1940), in denen nach Ansicht der heutigen Forschung zumindest die notwendigen Streif- und Bewegungsräume noch im Überfluss zur Verfügung standen 1960, also ebenfalls noch zu `besseren Zeiten´ konstatiert MESTER den biologischen Verfall des Volkes mit einer verfrühten Invalidität und einer besorgniserregenden Zunahme der Haltungsschäden der Jugend 1980 beklagt KIPHARD die beträchtliche Zunahme von verhaltensgestörten Kindern und Jugendlichen, die in einer eigentlich therapiebedürftigen Gesellschaft auf- wachsen müssen“ (ebd., S. 145).
Abgesehen davon, dass nach THIELE die Zahlen oft erheblich bis beliebig schwanken (vgl. S. 144), sei ein Problem, dass „die Veränderungen der Lebenswelten - hier insbe- sondere der Bewegungswelten - der Kinder ... diagnostiziert, danach häufig im Sinne von `Verlusten´ interpretiert“ würden (S. 143). Es komme zur „Pathologisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe“ (S. 145), und das in einer Eindeutigkeit und Eindimensio- nalität, die infrage zu stellen sei: „Hochdifferenzierte Gesellschaften zeichnen sich eben nicht durch Eindimensionalität aus“ (S. 149). Abgesehen davon schüfen sich Kinder ihre eigenen Bewegungswelten: „Vielleicht stößt man auch bezüglich des Umgangs mit dem eigenen Körper, der Nutzung körperlicher Ressourcen in einer anregungsarmen Umwelt auf durchaus überraschende und kreative Bewältigungsstrategien?“ (S. 149)
Während v.a. die achtziger und neunziger Jahre noch beherrscht waren von Ein- zelstudien mit mehr oder weniger klaren Befunden, gibt es im aktuellen Jahrtausend immer weiter gehende Versuche, Autorengruppen zu bündeln und für eine Gesamtdar- stellung der Situation im Kinder- und Jugendbereich zu motivieren.
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1 Ein Zeitraum, auf den sich u.a. auch der Hamburger Sportdidaktiker und Erziehungswissenschaftler
KRETSCHMER (u.a. 2003a; 2004b) bezieht. Abgesehen von der Tatsache, dass dies wirklich ein Zeitraum ist, in dem sich die Veränderungen besonders schnell vollzogen zu haben scheinen, liegen auch die For- schungen zum Thema, um die es in der vorliegenden Arbeit gehen soll, schwerpunktmäßig aus diesem Zeitraum vor.
2 Vgl. KLEINE 1997; SCHULZ 1999; THIELE 1999; HEIM 2002; 2008, bzw. SCHMIDT 2003; 2008; EGGERT 2000; KURZ 2006; KLAES 2003; GRAF 2006; 2009; WOLL 2008 u.a.
3 GASCHLER (1999) nennt hierzu die Stichworte Ein-Kind-Familien, Ein-Elternteil-Familien, Mutter- Erwerbstätigkeit, Erziehungsverhalten der Eltern, Medien, Kindliche Raumerfahrung sowie Zivilisationskrankheiten (vgl. S. 8ff.)
4 Mit der Frage, inwieweit diese Merkmale tatsächlich problematisch sind für die (motorische) Entwicklung von Kindern, hat sich HEIM 2002 kritisch auseinandergesetzt (vgl. S. 290 ff.). Er plädiert dafür, sie „zunächst lediglich als Entwicklungstrends moderner Kindheit zu begreifen“ (S. 295).
5 DMB - Diagnostisches Inventar psychomotorischer Basiskompetenzen (EGGERT, D. & RATSCHINSKI, G., 1993); einer von vielen verschiedenen angewandten Tests zur Untersuchung der motorischen Leistungsfähigkeit (siehe Anhang).
6 MOT 4-6 - Motorik- und Bewegungsleistungstest (4-6 Jahre) (ZIMMER, R. & VOLKAMER, M., 1987)
7 Vgl. BML, Schirm-Test, Janda-Test, SMT u.a.; für einen detaillierten Überblick, s. Anhang.
8 „1/4 bis 1/3 der Grundschulkinder [wiesen] motorische Defizite auf“ (GASCHLER 2000, 14); „jedes 2.
vom Schulbesuch zurückgestellte Kind weist auch einen motorischen Entwicklungsrückstand auf“ (ebd.).
9 Zum Vergleich: Andere Autoren nutzen schon statistisch signifikante Unterschiede von p<0,05, um von „körperlichen Wracks“ und „motorisch unterentwickelten Kindern“ (vgl. BRETTSCHNEIDER 2000) zu sprechen.
10 Sind also, so möchte man hier provokant fragen, die wahren Unterschiede der motorischen Leistungs- fähigkeit erst erkennbar im Vergleich zu früheren Generationen, die auch bei den Strapazen der Flucht 1944/45 nicht zusammenbrachen, oder für die das Gewicht der Futtersäcke der Genossenschaften nicht auf 25 kg reduziert werden musste, weil sie es gewohnt waren, 80 kg-Kartoffelsäcke vom Feld nach Hau- se zu tragen?
11 Im Vergleich der Zahlen nennen die Autoren die Hautfaltendicke einen besseren Indikator für den Kör- perfettanteil als den BMI. Gemessen wird die Summe von 5 Hautfalten (vgl. PHITOU et al., 2008, S. 170).
12 DMT 6-18 - Deutscher Motorik-Test (6 - 18 Jahre) (BÖS et al., 2007)
13 Als Beispiel wird hier das DMB genannt (s. Anhang).