Diplomarbeit, 1999
202 Seiten, Note: 1
1. Einleitung
2. Stand der Forschung
2.1 Begriffsbestimmung
2.2 Krankheitsbild der Querschnittlähmung
2.2.1 Formen der Querschnittlähmung
2.2.1.1 Störung der Motorik
2.2.1.2 Störung der Sensibilität
2.2.1.3 Störungen der vegetativ-autonomen Funktionen
2.2.1.4 Spezielle Probleme inkomplett Gelähmter
2.2.1.5 Epidemiologie von Querschnittlähmungen
2.2.1.6 Ätiologie
2.3 Das Konzept der Bewältigung
2.3.1 Historische Ansätze der Bewältigungsforschung
2.3.2 Die transaktionale Streßbewältigungstheorie von Lazarus
2.3.3 Reaktionsformen und Reaktionshierarchien bei Thomae
2.3.4 Bewältigungsressourcen
2.4 Ausgesuchte Modelle des Bewältigungsprozesses
2.5. Ausgesuchte empirische Befunde zur Bewältigung traumatisch erfahrener Querschnittlähmungen
2.5.1 Fink und Mitarbeiter
2.5.2 Seidler und Mitarbeiter
2.5.3 Mikula und Mitternecker
3. Methodische Vorgehensweise
3.1 Zur Bestimmung einer geeigneten Untersuchungsstrategie
3.1.1 Begründung der qualitativen Vorgehensweise
3.1.2 Das Konzept der Komparativen Kasuistik
3.2 Datenerhebung
3.2.1 Das problemzentrierte Interview nach Witzel
3.2.2 Darstellung des Interviewleitfadens
3.3 Durchführung der Untersuchung
3.3.1 Phänomenanalyse
3.3.2 Zusätzliche Homogenitätskriterien
3.3.3 Vergleichsgruppe
3.3.4 Darstellung der Stichprobe im Überblick
3.3.5 Durchführung der Interviews
3.4 Datenauswertung
3.4.1 Qualitative Inhaltsanalyse
3.4.2 Auswertungsschritte der vorliegenden Arbeit
3.4.3 Gütekriterien
3.4.4 Darstellung des Kategoriensystems
4. Darstellung der Ergebnisse
4.1 Einzelfallauswertung der Untersuchungsgruppe
4.1.1 Einzelfallauswertung Mike
4.1.1.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation
4.1.1.2 Behinderung
4.1.1.3 Selbstbild
4.1.1.4 Lebenssituation
4.1.1.5 Soziale Kontakte
4.1.1.6 Erfahren von Hilfe
4.1.1.7 Reaktionen der Umwelt
4.1.1.8 Vor dem Unfall
4.1.1.9 Zukunftswünsche
4.1.1.10 Reaktionsformen
4.1.2 Einzelfallauswertung Otto
4.1.2.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation
4.1.2.2 Behinderung
4.1.2.3 Selbstbild
4.1.2.4 Lebenssituation
4.1.2.5 Soziale Kontakte
4.1.2.6 Erfahren von Hilfe
4.1.2.7 Reaktionen der Umwelt
4.1.2.8 Vor dem Unfall
4.1.2.9 Zukunftswünsche
4.1.2.10 Reaktionsformen
4.1.3 Einzelfallauswertung Dennis
4.1.3.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation
4.1.3.2 Behinderung
4.1.3.3 Selbstbild
4.1.3.4 Lebenssituation
4.1.3.5 Soziale Kontakte
4.1.3.6 Erfahren von Hilfe
4.1.3.7 Reaktionen der Umwelt
4.1.3.8 Vor dem Unfall
4.1.3.9 Zukunftswünsche
4.1.3.10 Reaktionsformen
4.1.4 Einzelfallauswertung Apollo
4.1.4.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation
4.1.4.2 Behinderung
4.1.4.3 Selbstbild
4.1.4.4 Lebenssituation
4.1.4.5 Soziale Kontakte
4.1.4.6 Erfahren von Hilfe
4.1.4.7 Reaktionen der Umwelt
4.1.4.8 Vor dem Unfall
4.1.4.9 Zukunftswünsche
4.1.4.10 Reaktionsformen
4.2 Auswertung der Interviews der Vergleichsgruppe
4.2.1 Einzelfallauswertung Bernd
4.2.1.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation
4.2.1.2 Behinderung
4.2.1.3 Selbstbild
4.2.1.4 Lebenssituation
4.2.1.5 Soziale Kontakte
4.2.1.6 Erfahren von Hilfe
4.2.1.7 Reaktionen der Umwelt
4.2.1.8 Vor dem Unfall
4.2.1.9 Zukunftswünsche
4.2.1.10 Reaktionsformen
4.2.2 Einzelfallauswertung Edwin
4.2.2.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation
4.2.2.2. Behinderung
4.2.2.3 Selbstbild
4.2.2.4 Lebenssituation
4.2.2.5 Soziale Kontakte
4.2.2.6 Erfahren von Hilfe
4.2.2.7 Reaktionen der Umwelt
4.2.2.8 Vor dem Unfall
4.2.2.9 Zukunftswünsche
4.2.2.10 Reaktionsformen
4.2.3 Einzelfallauswertung Tim
4.2.3.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation
4.2.3.2 Behinderung
4.2.3.3 Selbstbild
4.2.3.4 Lebenssituation
4.2.3.5 Soziale Kontakte
4.2.3.6 Erfahren von Hilfe
4.2.3.7 Reaktionen der Umwelt
4.2.3.8 Vor dem Unfall
4.2.3.9 Zukunftswünsche
4.2.3.10 Reaktionsformen
4.3 Durchführung der Komparation
4.3.1 Komparationstabelle der Untersuchungsgruppe
4.3.1.1 Intragruppenvergleich: Untersuchungsgruppe
4.3.2 Komparationstabelle der Vergleichsgruppe
4.3.2.1 Intragruppenvergleich: Vergleichsgruppe
4.3.3 Komparationstabelle des Intergruppenvergleiches
4.3.3.1 Intergruppenvergleich
4.4 Zusammenfassung der Ergebnisse in Hypothesenform
5. Diskussion der Ergebnisse
6. Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. G. Jüttemann, sowie seiner Mitarbeiterin Anne Huber für die umfassende Betreuung der vorliegenden Arbeit bedanken. Gleiches gilt meinen Interviewpartnern für deren Vertrauen, Frau Dr. B. Schmidt und ihrem Team der Klinik-Buch, meiner Arbeitsgruppe sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des „Behindertenzentrum e. V.“ für deren tatkräftige Unterstützung.
Ferner gilt mein Dank Katja fürs Korrekturlesen, Tom für die Unterstützung beim Formatieren und allen Freundinnen und Freunden, die im letzten Jahr so mancher meiner „psychischen Reaktionsformen“ mit Empathie und Geduld begegneten.
Ein ganz besonderes Dankeschön möchte ich Heike und meiner Tochter Elena aussprechen, die mir immer wieder Kraft zum schreiben gaben.
„Es müßte eine Kraft geben, die diesen
Menschen vom Innern her befähigt, derneuen Lebenssituation Herr zu werden, die ihm den Blick öffnet dafür, daß sich ganz
neue ungeahnte Gelegenheiten anbieten, seinem Dasein einen hohen Sinn zu verleihen.“
Werner Dicke, 1960
Menschen sind von Geburt an einer Fülle von Aufgaben, Problemen und Problemlagen ausgesetzt, die es zum Erhalt der eigenen Gesundheit, des angestrebten oder erreichten Lebensstandards und zur Befriedigung primärer, wie auch sekundärer Bedürfnisse zu bewältigen gilt. Die Fähigkeit, sich mit den in verschiedensten Formen und Ausprägungen auftauchenden alltäglichen Anforderungen auseinandersetzen zu können und zu müssen, kann im Verlauf der Ontogenese auf vielfältige Weise erworben werden.
Was aber passiert, wenn ein Individuum von einer Sekunde auf die andere mit einer für ihn persönlich gänzlich neuen, bis dato unbekannten und allein aufgrund seines, vorausgesetzt vorhandenen, Vorwissens um solche Szenarien negativ bewerteten Situation konfrontiert wird, die darüber hinaus lebenslang anhaltenden Charakter aufweist? Diese Situation ist bei Eintritt einer traumatisch bedingten Querschnittlähmung gegeben. Das gesamte Maß an zuvor erlebter Individualität, die eigene Körperlichkeit, sozialer Status, die Stellung in der Partnerschaft, in Familie und Beruf, in den sozialen Netzwerken ist in Frage gestellt und nachhaltig geschädigt. Solch eine Situation zu meistern ist von niemanden a priori gelernt worden, es gibt keine entsprechenden Schulfächer, keine entsprechenden Kurse an den Universitäten oder Workshops. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem kann nur stattfinden, wenn es bereits eingetreten ist, präventive Maßnahmen sind nicht möglich.
Was aber befähigt einen Menschen, sich mit einer derartigen Situation, genauer einer individuell erfahrenen Querschnittlähmung zu befassen, und, darüber hinaus, Möglichkeiten und Fähigkeiten zu entwickeln, auch ein Problem dieser „Größenordnung“ zu meistern?
Zudem stellt sich die Frage, was „meistern“ im Einzelnen impliziert. Wird eine Querschnittlähmung akzeptiert? Ist es notwendig, ein neues, vollkommen modifiziertes Bewußtsein, oder genauer, ein neues Selbst bewußtsein zu entwickeln? Wie kann dieses neue Bewußtsein aussehen, welche unterstützenden Variablen sind in diesem Prozeßverlauf notwendig, welche erschweren dieses Geschehen. Oder aber besteht die Möglichkeit, dieses Ereignis mit all seinen Konsequenzen für einen selbst unter Zuhilfenahme eigener Kompetenzen und Eigenschaften in das eigene, prätraumatische Selbstbild zu integrieren. Kurz, welche Verlaufsbedingungen und Voraussetzungen sind erforderlich, die einem verunfallten querschnittgelähmten Menschen am Ende dieses Prozesses gestatten, unter Anbetracht der neuen Bedingungen und situativen Veränderungen zumindest seine prätraumatische individuelle Lebensqualität zu erreichen, oder aber im günstigsten aller Fälle zu verbessern. Demgegenüber stellt sich die Frage, welche Bedingungen hinderlich und störend wirken, resp. unter welchen Voraussetzungen die explizit wie implizit gestellten Anforderungen an sich selbst gar verunmöglicht werden.
In der vorliegenden Arbeit sollen diese Aspekte des Bewältigungsgeschehen Betrachtung finden. Bei dem zu betrachtenden Phänomen handelt es sich um komplette, als auch inkomplette Querschnittlähmungen. Eine spezifische Darstellung der Krankheitsbilder findet in Kap. 2.2 statt. Bei kompletten Querschnittlähmungen handelt es sich um eine vollständige Unterbrechung des Rückenmarks; als Folge einer kompletten Unterbrechung der Rückenmarkbahnen ist eine Trias von motorischer, sensibler und vegetativer Lähmung zu nennen.
Hiervon abzugrenzen sind inkomplette Querschnittlähmung. Diese zeichnen sich durch eine partielle Unterbrechung der Rückenmarkbahnen aus; in Abhängigkeit von den jeweils geschädigten Bereichen im Rückenmarksegment werden unterschiedlich schwere Störungen der motorischen, sensiblen und vegetativen Funktionen registriert.
Jedem Querschnittgelähmten - in der vorliegenden Arbeit wurde aus Gründen der Homogenität der Fokus auf querschnittgelähmte Männer gelegt, siehe auch Kap. 3.3.2 - erwachsen aus der neuen Situation ähnliche Grunderfahrungen und Problemkreise, mit denen er sich früher oder später auseinandersetzen muß. Zusätzlich ergeben sich aufgrund unterschiedlicher Läsionstypen, hier komplett vs. inkomplett, verschiedene Ausgangpositionen zur Verarbeitung der jeweiligen Querschnittlähmung.
Diese besteht beim inkomplett Gelähmten zusätzlich zu den o. g. Faktoren in der Unsicherheit über Art und Umfang sich möglicherweise restituierender Muskelfunktionen. Dieser Umstand erschwert die konkrete Zukunftsplanung und verunmöglicht die Auseinandersetzung mit einem Ist-Zustand wie er beim komplett Gelähmten vorliegt.
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, welche psychologischen Einflußgrößen bei diesen Prozessen mitwirken, ob es zu Modifikationen derselben kommt und inwiefern externen Variablen eine Rolle zukommt. Es soll vergleichend zwischen inkomplett und komplett Gelähmten betrachtet werden, inwieweit sich das „Wissen“ um die Endgültigkeit seines Zustandes, resp. um die Möglichkeit auf Besserung desselben auf den psychologischen Verarbeitungsprozess auswirkt. Darüber hinaus gibt es nur wenige qualitative, gleichbedeutend mit gegenstandsangemessene Arbeiten.
Das Ausgangsinteresse des Verfassers dieser Arbeit entstand aufgrund der Erfahrungen, die er im Rahmen seiner Tätigkeit als Einzelfallhelfer im Bereich der Jugendhilfe machte. Hier wurde er unmittelbar mit dem Unfallgeschehen einer seiner Klientinnen konfrontiert. Eine Vertiefung des Interesses fand während eines anschließenden Praktikums auf der Akutstation für Querschnittgelähmte der Klinik-Buch statt.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich formal in sechs Kapitel. An die Einleitung wird im zweiten Kapitel der Stand der Forschung dargestellt. Zunächst wird neben der Begriffsbestimmung auf das genaue Krankheitsbild, sowie Ätiologie und Epidemiologie der Querschnittlähmung eingegangen. Anschließend werden theoretische Konzepte von Bewältigung vorgestellt. Um einer implizit bewertenden Haltung gegenüber den Informationen der Untersuchungsteilnehmern vorzubeugen, sind für die vorliegende Arbeit die Ausführungen Thomaes herangezogen worden, der als neutralen Oberbegriff für alle Antworten auf Belastung den der Reaktionsform einführt. In diesem Sinne wurde auch der Titel der Arbeit gewählt, um auf dieser Art und Wiese jeder „Reaktion“ gerecht werden zu können. Schließlich wird auf die salutogenetische Perspektive der Bedeutung von Bewältigungsressourcen eingegangen, bevor die Fragestellung präzisiert wird.
Im dritten Kapitel erfolgt eine genaue Beschreibung und Begründung der methodischen Vorgehensweise. Hieran schließt sich die Durchführung der Untersuchung.
Kapitel vier enthält die Darstellung der Ergebnisse. Es werden neben den Einzelfalldarstellungen der Untersuchungs- als auch der Vergleichsgruppe die Komparation im Sinne eines Intra- und Intergruppenvergleichs sowie eine abschließende Zusammenfassung der Ergebnisse in Hypothesenform dargestellt.
Die Diskussion in Kapitel fünf stellt einen Bezug zwischen den Ergebnissen und der dargestellten Literatur her.
Die abschließende Zusammenfassung soll einen verkürzten Überblick über die Arbeit geben. Ferner werden hier Perspektiven für die weitere Verwendung der Ergebnisse aufgezeigt.
„...warum sagten sie nur alle immer «krank», ich war
doch gar nicht krank, ich konnte nur nicht gehen“
Zenta Maurina, 1975
Im Zuge einer genauen Begriffsbestimmung ist es unumgänglich, einen Blick auf Aussagen hinsichtlich normativer Bestimmungs- und Festschreibungsmerkmale zum Begriff der Behinderung zu werfen, um hieraus einen Zugang zum Selbstverständnis und Verstehen querschnittgelähmter Menschen ableiten zu können. Hierbei wird häufig übersehen, daß sich „bislang keine exakte, schlüssige und konsensfähige Bestimmung von Behinderung finden“ (Rauschenbach, 1980, S.87) ließ. Brackhane (1984) schlägt eine Differenzierung vor zwischen primären Behinderungen im Sinne von Funktionseinschränkungen, sekundären Behinderungen im Sinne von Beeinträchtigungskonsequenzen in anderen als den betroffenen Bereichen sowie tertiären Behinderungen als Interaktionsstörung zwischen dem betroffenen Individuum und der Umwelt. Auch Maneke schreibt in diesem Zusammenhang von einer „Störung der Interaktion zwischen Individuum und Umwelt“ (1975, S. 25). Der Versuch einer allgemeingültigen „Bestimmungsgröße für den Behinderten“ (Wiedemann, 1977, S.5) geht jedoch an dem zentralen Sachverhalt der Behinderung vorbei; Behinderung kann nicht als Eigenschaft, sondern muß als eine Relation zwischen individuellen und außerindividualen Gegebenheiten gesehen werden. So ist Behinderung dem Sinne nach stets eine Beeinträchtigung der Realisierung einer Verhaltenserwartung (vgl. Jantzen 1974, S.20 ff., Bleidick 1983, S.74), gleich ob diese außerindividualer oder internalisierter Art ist. Zwingend ergibt sich hieraus eine zweite Bestimmungsgröße der Relation Behinderung, die individuelle Möglichkeit zur Umsetzung der Erwartung, die individuale Verhaltensdisposition. Aus der konkreten Diskrepanz zwischen Verhaltenserwartung und Verhaltensdisposition ergibt sich ein wesentliches Merkmal der Behinderung. Als dritte Bestimmungsgröße sind noch die Verhaltensbedingungen hinzuzufügen. Diese führen im günstigsten Fall zur Realisierung -relativ- hoher Erwartungen bei -relativ- schwacher Disposition, resp. können diese, im negativen Fall, selbst bei -relativ- geringer Erwartung und nur wenig reduzierter Disposition beeinträchtigend wirken (vgl. Bach, 1983).
Inwieweit lassen sich nun oben genannte Aspekte auf traumatisch bedingte Querschnittlähmungen übertragen?
Die individuelle Disposition, das Gesamt an somatischen, kognitiven und emotionalen Möglichkeiten des Individuums auf Erwartungen des Selbst, als auch des ihn umgebenden Umfeldes im besten Fall adäquat zu reagieren, ist in seiner vom Individuum bisher verstandenen, er- und gelebten Norm nachhaltig geschädigt. Gleiches gilt für Erwartungen des Umfeldes, explizit wie implizit gestellte spezielle oder allgemeine Anforderungen und Normen, welche in ihrer Spezifität nach der Schädigung des Rückenmarks grundlegend neuer Art sind. Schließlich ergeben sich gänzlich neue, Disposition und Erwartungen beeinflussende, Bedingungen. Wohnraum, Spiel- und Arbeitsplatz, Hilfsmittel, sächliche und personelle Anregungen, kurz, das gesamte materielle und soziale Netzwerk ist einer teilweisen oder völligen Reform unterworfen. Vor diesem Hintergrund erscheint es als durchaus zulässig, angesichts einer Querschnittlähmung von einer Behinderung im Sinne oben genannter Ausführungen zu reden.
Weiterhin sei festzuhalten, daß Querschnittlähmungen auch in Abgrenzung zu Krankheit gesehen werden müssen. Abgesehen von der notwendigen medizinischen Erstversorgung einer jeden traumatisch bedingten Querschnittlähmung kann nicht allein das Arbeitsfeld der kurativen Medizin als maßgebend für die erfolgreiche Behandlung von Querschnittlähmungen angesehen werden (vgl. Faubel, 1975), sondern ist ein Prozeß gefordert, der sich vom „Annehmen“ der gelähmten Bereiche als Teil des eigenen Körpers“ (Schöler u. Schöler, 1980, S. 142) über eine Neustrukturierung der Leistungsmotivation bis hin zum Erlernen neuer Verhaltensmuster, die es erlauben, das bisherige Persönlichkeitskonzept und die neue Situation in Einklang zu bringen, erstreckt. Im folgenden sollen nun die medizinischen Aspekte der Querschnittlähmung betrachtet werden.
Bei Querschnittlähmungen handelt es sich überwiegend um Folgeerscheinungen von Läsionen eines oder auch mehrerer Rückenmarksegmente, mitunter auch von Nervenwurzeln oder von im Wirbelkanal verlaufenden peripheren Nerven (vgl. Paeslack, 1980)
Die Form der Läsion wird spezifiziert nach kompletter, resp. inkompletter Unterbrechung der Rückenmarkssegmente; bei kompletten Querschnittlähmungen unterscheidet man in Abhängigkeit der Läsionshöhe zwischen Paraplegie[1] und Tetraplegie[2].
Will man das Niveau einer Querschnittslähmung angeben, gibt man das jeweils letzte intakte Segment an. So liegt beispielsweise bei einer „Paraplegie unterhalb Th9“ eine Läsion zwischen dem neunten und dem zehnten Brustmarkwirbel vor. Die komplette Unterbrechung eines oder mehrerer Rückenmarkssegmente führt zu einer charakteristischen Trias von „motorischer, sensibler und vegetativer Lähmung“ (Paeslack, 1980) :
- Willkürbewegungen können in den Bereichen, deren Innervation unterbrochen ist, nicht mehr ausgeführt werden;
- Funktionen der Oberflächensensibilität[3] sind vollständig ausgefallen;
- es liegen schwere Ausfälle der Blasen- und Mastdarmfunktion, der Sexualfunktion, aber auch der Regulation des peripheren Kreislaufs, der Atemfunktion und der Schweißdrüsensekretion vor
(vgl. Zäch, 1974, Seidler, 1988).
Dem Schädigungsbild der kompletten Querschnittslähmung steht das der inkompletten Querschnittslähmung gegenüber. Bei letzterer ist „die zentrale, also zerebrale Steuerung der erwähnten motorischen und vegetativen Funktionen angedeutet, partiell oder weitgehend erhalten.“ (Paeslack, 1993,. S.27)
Je nach Ausmaß und Niveau der Läsion des Rückenmarks äußert sich die motorische Lähmung in einem Verlust der Fähigkeit zur willkürlichen Muskelinnervation ab Läsionshöhe. Dieser primäre Zustand im Frühstadium der Lähmung, bezeichnet als spinaler Schock, besitzt einen schlaff-atonischen Charakter und dauert im allgemeinen ein bis drei Wochen an (vgl. Seidler, 1988). Bei lokalisierten Schäden im Hals-, Brust- und Lendenmarkbereich entwickelt sich nach Abklingen des Rückenmarkschocks zunehmend eine spastische Lähmung mit Steigerung der Reflexaktivität. Voraussetzung hierfür ist der Erhalt des sogenannten „spinalen Reflexbogens“, etwa bei traumatischen Läsionen mit unterhalb der Läsionsstelle anatomisch intakten Rückenmarkabschnitten. Ist dagegen der spinale Reflexbogen unterbrochen, zeigt die Lähmung auf Dauer schlaffen Charakter. Gemischte Lähmungsbilder[4] oder ausschließlich schlaffe Lähmungen ergeben sich, je nach Lokalisation, bei gleichzeitiger Läsion der untersten Rückenmarkabschnitte und der im Wirbelkanal verlaufenden Nervenabschnitte.
Der Verlust der Oberflächensensibilität stellt eine weitere Folge einer Rückenmarkschädigung dar. Die dadurch gekennzeichnete Störung des Wahrnehmungsempfindens für Berührungs-, Schmerz- und Temperaturreize bedingt eine lebenslang bestehenbleibende, hochgradige Gefährdung durch Druckstellen der Haut, resp. darunterliegender Gewebeabschnitte.
Hierzu werden vor allem die Beeinträchtigung der Blasen- und Mastdarmfunktion, der Sexualfunktion, der Kreislauffunktion und des Gefäßtonus, der Atemfunktion sowie der Schweißsekretion gerechnet. Das jeweilige Ausmaß dieser Ausfälle liegt in Abhängigkeit von Lokalisation und Ausdehnung der Rückenmarkläsion zwischen leichter Schwäche, bis hin zu totalem Verlust (vgl. Caywood, 1977, Paeslack, 1980).
Im Gegensatz zu kompletten Rückenmarkläsionen ist im Fall einer inkompletten Läsion kein einheitliches Lähmungsbild zu verzeichnen. Je nach Umfang und Lokalisation der Läsion resultieren sehr unterschiedliche neurologische Befunde. So läßt sich bei der halbseitigen Unterbrechung der Leitungsbahnen des Rückenmarks, dem sogenannten spinalen Halbseitensyndrom (Brown-Sequard) auf der läsierten Seite eine spastische motorische Lähmung, einhergehend mit einer mehr oder minder eingeschränkten Berührungssensibilität feststellen, während hingegen auf der gegenüberliegenden Körperseite schwere Ausfälle der Schmerz- und Temperaturempfindung bestehen. Desweiteren führen inkomplette Läsionen Störungen der sogenannten „Tiefensensibilität“ nach sich; insbesondere bei Läsionen der dorsalen Rückenmarkanteile sind diese Empfindungsbeeinträchtigungen für Lage und Stellung der Glieder und der Gelenke zueinander, für Bewegungsausmaße, Tiefendruck, sowie für Vibrationsreize und Größe angewandter Muskelkräfte bei gleichzeitig erhaltenen motorischen Funktionen zu verzeichnen (vgl. Sturm, 1979, Paeslack 1980).
Angaben über die Häufigkeit der Querschnittlähmung finden sich kaum in der Literatur, und lassen in der Regel eine gegenstandsangemessene Aktualität vermissen (vgl. Sturm, 1979). Die hier angegebenen Häufigkeitsverteilungen beziehen sich in der Regel auf die alte Bundesrepublik. Presber, Schorr und Seidel (1973) geben die Zahl der in der DDR statistisch erfaßten Querschnittlähmungen traumatischen Ursprungs mit 150 Patienten pro Jahr an. Paeslack und Schlüter (1980) rechnen mit jährlich etwa 1000-1200 neu aufgetretenen Querschnittlähmungen, in dieser Zahl sind allerdings ca. 300 Kinder mit angeborenen Fehlbildungen des Spinalkanals enthalten. Nach Meinecke (1978) beträgt das Verhältnis von Tetraplegien zu Paraplegien konstant 40 : 60%, explizite Angaben über Verteilungen von kompletten zu inkompletten Querschnittlähmungen werden von keinem der aufgeführten Autoren vorgenommen.
Laut Paeslack und Schlüter (1980) sind „Verletzungen des Rückenmarks“ häufigste Ursache der Querschnittlähmung. In diesem Zusammenhang sind insbesondere Verkehrsunfälle[5] zu nennen, daneben spielen Sportverletzungen sowie Berufsunfälle eine erhebliche Rolle. Ähnliche Angaben finden sich bei Zäch (1975), Sturm (1979) und Seidler (1988).
Tabelle 1. zeigt eine vom Berufsgenossenschaften-Forschungszentrum für Traumatologie in Frankfurt am Main 1978 erfaßte Häufigkeits- wie auch Ursachenverteilung an.
Tabelle 1. Frische Fälle (N = 1296)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1. Ursachen für Querschnittlähmungen nach der Häufigkeit im Durchschnitt
(Rehabilitationskongreß Heidelberg, 1978)
Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte wurde der Bedeutung des Bewältigungs- resp. Copingkonzeptes im Rahmen der Belastungsforschung in einer Vielzahl von Veröffentlichungen Ausdruck verliehen. Allerdings wird von einigen Autoren angezweifelt, ob es sich hierbei um einen einheitlichen Forschungsbereich handelt (vgl. Prystaf, 1981, Braukmann & Filipp, 1984). Einen Überblick über die verschiedenen Konzeptbildungen verschaffen z. B.; Prystaf, 1981, Filipp, 1981, Nusko, 1986 sowie Brüderl et al., 1988.
Coping, aus der englischsprachigen Fachliteratur ins Deutsche übernommen [ engl. cope with, sich messen mit, fertig werden mit ], findet überall dort Verwendung, wo es als Abgrenzung zum Begriff der Bewältigung gesehen werden kann. Während Bewältigung eine erfolgreiche Meisterung der Situation impliziert, bedeutet coping eher „struggling, trying, managing, dealing with a Situation“ (Murphy, 1974, zit. nach Nusko, 1986). Filipp (1981) verweist auf den - jeweils inhaltlich bedingten - unterschiedlichen Gebrauch des Coping-Begriffes, welcher einmal als Sammelbegriff jener Reaktionen einer Person verwendet wird, die sich bedrohlichen oder belastenden Situationen gegenübersieht, zum anderen unter dem Gesichtspunkt seiner Effektivität und Funktionalität für ein oder mehrere definierte Kriterien gesehen wird (siehe Filipp, 1981, S. 36).
Witte (1988) betont, „daß man auf dem Wege des »coping« zu etwas kommt, das man als angemessenes Verhalten empfindet; das braucht dabei nicht identisch zu sein mit dem früheren Verhalten, das der Betreffende vor dem Eintritt seiner Behinderung gezeigt hat. Jetzt jedenfalls kann er etwas wieder neu, er kommt wieder zurecht.“ (S. 109).
Im folgenden wird zunächst auf historische Hintergründe der Bewältigungsforschung eingegangen, bevor zwei grundlegende theoretische Modelle, die transaktionale Streß- und Bewältigungskonzeption von Lazarus (1981) und die biographische Konzeption von Reaktionsformen und Reaktionshierarchien bei Thomae (1988) dargestellt werden.
Bei genauerer Betrachtung können die Ursprünge der Bewältigungsforschung einer Trias verschiedener Ansätze zugeordnet werden; zu nennen wären hier die psychoanalytischen Konzeptionen, verschiedene Ansätze zur Streßkonzeption und idiographisch ausgerichtete Persönlichkeitstheorien (vgl. Brüderl, 1988). Diese sollen im folgenden kurz skizziert werden.
Der aus der Psychoanalyse stammende Begriff der Abwehr wurde von Sigmund Freud (1926) als „allgemeine Bezeichnung für alle die Techniken [sein soll], deren sich das Ich in seinen eventuell zur Neurose führenden Konflikten bedient“ (S. 196) verstanden. Hierbei stand die Funktion der Triebabwehr im Mittelpunkt. In der von Anna Freud (1936) beschriebenen Taxonomie von Abwehrmechanismen werden auch Abwehr von Emotionen und bedrohlichen Umweltreizen im Funktionsbereich der Abwehr gesehen.
Hierzu schreiben Hoffmann und Hochapfel (1995): „Die Gesamtheit der Versuche zur Vermeidung von Angst bezeichnen wir als Abwehr. Abwehr meint, genaugenommen, die Versuche zur Vermeidung aller für das Ich unlustvollen Vorgänge, nicht nur der Angst“ (a.a.O., S. 58 Hervorhebung im Original)
Im Gegensatz hierzu betonen Forschungsansätze zur Streßkonzeption ursprünglich externe Stimuli als für das Verhalten des Menschen entscheidende Komponente. Sie sind im wesentlichen bestimmt durch eine experimentelle Vorgehensweise und somit in ihrem wissenschaftlichen Verständnis den theoretischen Grundannahmen des Behaviorismus zuzuordnen (Brüderl et al., 1988).
Auf Arbeiten von Selye geht im wesentlichen der Streß- resp. Belastungsbegriff zurück, der auf der Grundlage von Tierexperimenten basierend eine biologische Streßtheorie formulierte. Diese wurde in den fünfziger Jahren in die damalig vorherrschende lerntheoretische Psychologie integriert und beeinflußte die experimentelle Forschung zum Lern- und Leistungsverhalten sowie zur Angst (Faltermeier, 1988). Selye definiert Streß als „(...) die unspezifische Reaktion des Organismus auf jede Anforderung“ (1981, S. 170).
Streß wird als ein bestimmtes biologisches Reaktionsmuster, hier als sogenanntes „Allgemeine Adaptionssyndrom“, gesehen, welches bei Umweltreizen, den „Stressoren“, in gleicher Weise vorkommen soll, daher unspezifisch ist und einen typischen Phasenverlauf aufweist. Im Erklärungsansatz Selyes werden auch freudige Ereignisse als potentielle Stressoren miteinbezogen.
Dominierte in früheren Arbeiten der Gruppe um Lazarus noch eine behavioristische Ausrichtung, verlegte sie mit dem 1966 erschienenen Buch „Psychological stress and the coping process“ (zit. nach Brüderl, 1988) den Forschungsschwerpunkt eindeutig auf den innerpsychischen Bewertungs- und Verarbeitungsprozeß des Individuums.
Als dritten historischen Ansatz der Bewältigungsforschung können idiographisch ausgerichtete Persönlichkeitstheorien gesehen werden. Diese sind philosophisch orientiert und durch zwei Merkmale wesentlich gekennzeichnet:
Zum einen gehen sie im Gegensatz zur empirischen Persönlichkeitsforschung von der „Person“ resp. der „Persönlichkeit“ als etwas Substantiellem, „seinsmäßig“ vorgegebenen aus, zum anderen eher deskriptiv, phänomenologisch orientiert. Als wichtige Vertreter dieser Forschungsrichtung sind unter anderem W. Stern und P. Lersch anzusehen (vgl. Dorsch, 1994).
Durch eine besondere Nähe zur Philosophie und Antropologie zeichnet sich die Persönlichkeitskonzeption Allports aus. Er beschreibt Persönlichkeit als „die dynamische Organisation jener psychophysischen Systeme innerhalb eines Individuums, die seine einzigartige Anpassung an seine Umwelt bestimmen“ (Allport, 1937, 1949 in Brüderl, 1988).
Er geht in seiner Lehre vom „Becoming“, vom menschlichen „Werden“, von der im individuellen Lebenslauf „gewordenen“ Person aus (vgl. Revers, 1960). Die Ideen Allports wurden vor allem von Thomae in seiner biographischen Persönlichkeitstheorie fortgeführt und weiterentwickelt.
Ausgangspunkt der transaktionalen Streßtheorie von Lazarus und Mitarbeitern ist das Postulat, daß Streß weder der Umwelt - wie im Stressorenkonzept, z. B. repräsentiert durch die Kritischen Lebensereignisse (Holmes & Rahe, 1967), - noch der Person - wie im oben beschriebenen Streßreaktionskonzept von Selye - allein inhärent ist. Streß entsteht vielmehr aus einer bestimmten Beziehung (Relation) zwischen Person und Umwelt, aus welcher beide verändert hervorgehen. Hierzu schreibt Lazarus: „Psychischer Streß gründet weder in der Situation noch in der Person, obschon er von beiden abhängt. Er entsteht vielmehr aus der Art, wie die Person die adaptive Beziehung einschätzt. Diese Beziehung läßt sich am besten als Transaktion bezeichnen“ (Lazarus, 1981, S. 204, Hervorhebung im Original).
Umwelt wirkt in dieser Beziehung nicht per se. Vielmehr resultieren aus jeder Person-Umwelt-Begegnung kognitive Bewertungen, mittels derer die Person die Bedeutung der Begegnung hinsichtlich eigener Ziele und eigenen Wohlbefindens einschätzt. Die primären Bewertungen beinhalten Urteile darüber, ob eine gegebene Situation relevant oder irrelevant, günstig oder ungünstig ist. Wird die Situation als relevant und schädigend eingeschätzt, ist eine erste Bedingung für die Entstehung von Streß erfüllt. Gleichzeitig finden sekundäre Bewertungen statt, welche vorhandene Ressourcen und Optionen im Hinblick auf die Bewältigung der Situation evaluieren. Führen primäre und sekundäre Bewertungen zu einer ungünstigen Bilanz, resultieren negative Emotionen wie Trauer, Angst oder Ärger. In einem nächsten Schritt werden Bemühungen in Gang gesetzt, durch Bewältigungstrategien regulierend in das Geschehen einzugreifen.
Bewältigung dient zwei Funktionen: problemzentrierte Bewältigung ist auf die Auseinandersetzung mit den streßauslösenden Bedingungen gerichtet, emotionszentrierte Bewältigung auf die Regulierung der begleitenden Emotionen. Die Ausführung von Bewältigung verändert sowohl die Situation wie auch die eigene Befindlichkeit, worauf eine evaluative Sequenz der Neubewertung folgt. Für die adaptiven Folgen von Streß gelten die Bewältigungsstrategien als wichtiger denn die Dauer und Häufigkeit von Streßepisoden an sich (vgl. Lazarus und Launier, 1978, Folkman und Lazarus, 1988; Lazarus, 1991).
An dieser Stelle soll die von Thomae (1988), einem seit der fünfziger Jahre führenden Vertreter in der Bibliographieforschung, geäußerte Kritik gegenüber der Anwendung des psychoanalytischen Klassifikationssystems bezüglich der Auswertung von Interviewmaterial über den Umgang mit Belastung hervorgehoben werden. Er wirft Haan (1977), ebenso wie Vaillant (1977) - auf deren Konzepte der Ich-Mechanismen, resp. der Anpassungsstile hier nicht weiter eingegangen werden soll - vor, die „erhöhte, überlegene Position des Therapeuten gegenüber dem Patienten und damit die Unterwerfung der Aussage eines Mitbürgers, der sich der Wissenschaft als Partner zur Verfügung stellte“ (Thomae, 1988, S. 82) ein, und somit eine mißbräuchliche Verwendung der psychoanalytischen Methode vorgenommen zu haben. Desweiteren sieht er in der wertenden Hierarchisierung der Formen von Auseinandersetzung mit Belastung einen Vertrauensmißbrauch gegenüber den Untersuchungsteilnehmern. Er geht in diesem Zusammenhang davon aus, daß bei neopsychoanalytischer Deutungssuche verborgener Bedeutungen von Mitteilungen der „implizit geschlossene Vertrag mit dem Untersuchungspartner [verletzt wird], der uns sein Vertrauen in der Erwartung schenkte, in seiner Eigenart respektiert zu werden“ (Thomae, 1988, S. 85).
Von dieser Kritik ausgehend fordert Thomae eine „strikt empirische und deskriptive Einstellung“ (a.a.O., S. 85) für den Umgang mit persönlichen Dokumenten. Er hält demnach lediglich eine Auswertung nach semantischen Gesichtspunkten mit anschließender Zuordnung zu einem „bestimmten »Typus« bzw. einer bestimmten Klasse von Antworten“ (a.a.O., S. 85, Hervorhebung im Original) für zulässig.
Thomae benutzt ein deskriptives System, welches 20 verschiedene Reaktionsformen umfaßt, zur Klassifizierung von Reaktionen auf Belastungen. Er definiert den Begriff Reaktionsformen wie folgt: „Als Oberbegriff für alle instrumentellen und expressiven Antworten auf belastende Situationen bleibt nur jener der Reaktionsform, der darüber hinaus alle kognitiven wie praktischen , emotionalen wie physischen , »aktiven« und »passiven« Reaktionen einschließt.“ (a.a.O., S. 85, Hervorhebung im Original). Hierbei bezieht er auch Reaktionsformen wie »Akzeptieren der Situation« (a.a.O., S.84) ein, die seiner Meinung nach „weder mit der von Folkman & Lazarus (1980) gegebenen Definition von »coping«, noch mit dessen häufigster deutscher Übersetzung als »Bewältigung« vereinbar“ sind (a.a.O., S.84). Unter Berücksichtigung der relativen Stärke einer Reaktionstendenz erfolgt die Einordnung von Reaktionsformen in Reaktionshierarchien, wobei sich diese aus der Orientierung an der Häufigkeit und Intensität berichteter Reaktionsformen ergibt.
Somit interessiert beim Vergleich von Personen und Situationen die relative Stärke einer Reaktionstendenz und damit ihre Stellung innerhalb der Reaktionshierarchie. Kognitive Systeme haben bei der auf verschiedenen bewußten und weniger bewußten Ebenen erfolgenden Reaktionsauswahl zwar eine wichtige Funktion, indes werden ebenso irrationalen, unbewußten und affektiven Komponenten eine entsprechende Rolle eingeräumt. So zeigte sich bei den meisten von Thomae erhobenen Biographien, daß auf Belastungen unter Aufbietung aller zur Verfügung stehenden Verhaltenskompetenzen und Erfahrungen reagiert wurde und das rationale Überlegungen bei der Auswahl einer Reaktion seltener dominant waren (a.a.O., S.103). Im folgenden werden die Reaktionsformen in Anlehnung an Thomaes Ausführungen vorgestellt:
1.Reaktionsform : Leistung:
Definition: Alle Reaktionsformen, die mit Anstrengung und Mühewaltung verbunden sind. Der Einsatz von Ressourcen, die unter Energieeinsatz erworben wurden, ist mit berücksichtigt.
2. Reaktionsform : Anpassung 1:
Definition: Anpassung an die institutionellen Aspekte der Situation: Versuch zur Problemlösung, bzw. Beantwortung von Belastung unter Beschaffung und/oder Verwertung aller sachlich erforderlicher Informationen und Fertigkeiten.
3. Reaktionsform : Anpassung 2:
Definition: Anpassung an die Eigenheiten und/oder Bedürfnisse anderer; kann instrumentell zur Erreichung z. B. materieller Ziele sein oder aber im Sinne prosozialen Verhaltens die Wohlfahrt anderer zum Ziel haben.
4. Reaktionsform : Aufgreifen von Chancen
Definition: Aktive Auseinandersetzung mit Belastung. Voraussetzung sind der Eintritt bestimmter Ereignisse in der Umwelt, als auch das erkennen der Chance als solchen.
5. Reaktionsform : „Bitte um Hilfe“
Definition: Bitte um Hilfe kann sich an natürliche Personen, Institutionen oder übernatürliche Wesen richten.
6. Reaktionsform : Stiftung und Pflege sozialer Kontakte
Definition: Stiftung und Verstärkung sozialer Netze zur Lösung beruflicher, familiärer oder gesundheitlicher Probleme.
7. Reaktionsform : Zurückstellen eigener Bedürfnisse
Definition: Verzicht, Zurückstellung eigener Interessen zugunsten einer oder mehrerer Personen. Altruistisches Verhalten kann auch zum Erreichen eigener Ziele eingesetzt werden.
8. Reaktionsform : Sich auf andere verlassen
Definition: Implizit oder explizit auf dem Gefühl ruhende Reaktion, sich auf andere Personen, auf eine Gruppe, Institution oder ein übernatürliches Wesen verlassen zu können.
9. Reaktionsform : Korrektur von Erwartungen
Definition: Bestimmte Erfahrungen, insbesondere Enttäuschungen oder Frustrationen bedingen die Korrektur bestimmter zukunftsgerichteter Systeme. Unterschiedliche Verarbeitung dieser Erfahrungen ist vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zeit-Dimensionen zu sehen.
10. Reaktionsform : Widerstand
Definition: Widerstand besteht in der expliziten und/oder impliziten Weigerung, Zwang oder Druck nachzugeben oder einem Befehl, Hinweis oder Rat, resp. einem tradierten bzw. situativ aufgedrängten Weg zu folgen.
11. Reaktionsform : (Selbst)-Behauptung
Definition: Alle Reaktionen auf Belastung und Alltagsprobleme,die geeignet sind, »das eigene individuelle Dasein gegen alle Widerstände, Anfeindungen und Gefährdungen durch Um- und Mitwelt zu sichern« (Lerch 1962, S.147). Zuzüglich werden hier der Wahrung des Selbstwertgefühls und der Festigung und Bewahrung des inneren Gleichgewichts gegenüber aktueller oder symbolischer Bedrohung dienende Reaktionsformen zugeordnet.
12. Reaktionsform : Akzeptieren der Situation
Definition: Hinahme der Lage, wie sie nun einmal ist, ohne stärkeren resignativen Beiton. Akzeptieren muß nicht notwendigerweise passiv sein.
13. Reaktionsform : Positive Deutung der Situation
Definition: Trotz einiger negativer und/oder belastender Seiten werden positive Aspekte der Situation hervorgehoben. Entdeckung eines tieferen Sinns in einer u. U. stark belastenden Situation, Bewertung der eigenen Situation als positiv z. B. im Vergleich mit der eigenen zu einem früheren Zeitpunkt oder der Situation anderer.
14. Reaktionsform : Situation den Umständen überlassen
Definition: Reaktionen, die dem Bedürfnis entsprechen, Dinge reifen oder an sich heran kommen zu lassen, um dann in adäquater Form darauf zu reagieren.
15. Reaktionsform : Hoffnung
Definition: Notwendige Komponente des Umgehens mit unterschiedlichen Lebenslagen. Hoffnung kann sich einerseits auf eine »Wende« in einer ungünstigen bzw. gefährlichen Lebenslage, andererseits auf die Beibehaltung einer befriedigenden Gegenwart beziehen.
16. Reaktionsform : Depressive Reaktion
Definition: Im äußersten Fall »reaktive Depressionen«; die hier aufzuzeigenden Reaktionen weisen keine klinische Bedeutung auf. Desweiteren Äußerungen, die auf Resignation, Ohnmacht und Aufgabe verweisen.
17. Reaktionsform : Identifikation
Definition: Identifikation mit den Schicksalen und/oder Zielen anderer bedeutet ein stärkeres Beteiligtsein an dem Wohlergehen bzw. den Fortschritten einer oder mehrerer Personen.
18. Reaktionsform : Evasive Reaktion
Definition: Alle Formen faktischen oder symbolischen »Aus-dem-Felde-Gehens« (Dembo 1931) sind hier zusammengefaßt. Alle Reaktionsweisen des Verlassens der bisherigen Position, des Ausweichens oder Meidens der Situation.
19. Reaktionsform : Betonte Realitätsorientierung
Definition: Reaktionsform, die nur in Bezug auf bestimmte Grenzsituationen zur Anwendung gelangt. Das betonte Bewußtmachen wird versachlichend, präventiv oder auch vorbeugend eingesetzt, um irreale Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche in Kontrolle halten zu können.
20. Reaktionsform : Aggression/Kritik
Definition: Hier in Form von Kritik an andere Personen, Zustände oder Institutionen.
(vgl. Thomae, 1988).
Den hier vorgestellten grundlegenden theoretischen Konzeptionen sind durchaus wesentliche Komponenten inhärent; hier wären die Betonung des Prozeßcharakters des Bewältigungsgeschehens, die methodische Herangehensweise und schließlich die Betonung der Subjektivität des Individuums bei der Erforschung des Bewältigungsgeschehens zu nennen. Desweiteren ist eine Übereinstimmung in der Betrachtungsweise Thomaes und Lazarus dahingehend zu sehen, die Unterscheidung von Coping und Abwehr als unzulässig zu erachten.
Somit sollen die Forderungen Thomaes nach einer wertfreien Auswertung, die eine Interpretation von Aussagen hinsichtlich ihres Bedeutungsgehaltes vorsieht, aus der dann eine Typisierung von Antwortmustern erfolgen kann, weitesgehend berücksichtigt werden. Dies ermöglicht die Beschreibung von Reaktionsformen, ohne die Effizienz oder den Erfolg einer Reaktion auf Belastung beurteilen zu müssen und damit den erhobenen Daten schlimmstenfalls Gewalt anzutun.
In jüngerer Zeit wird in der Forschung Streßerleben vor dem Hintergrund gesundheitserhaltender Faktoren diskutiert. In diesem Zusammenhang liegt der Fokus mehr auf der Ressourcen- denn auf der Belastungsforschung (vgl. Udris, 1992). Bewältigungressourcen erklären hier im Sinne von Moderatorvariablen den Zusammenhang zwischen Belastungsfaktoren und deren psychischer wie physischer Auswirkung auf die betroffene Person. Die zentrale Frage der Ressourcenforschung formuliert Udris (1992) folgendermaßen: „Welche „Mittel“ stehen einer Person zur Verfügung bzw. lassen sich aktivieren, um mit Streß fertig zu werden, Belastungen zu ertragen und die eigene Gesundheit zu erhalten bzw. nicht krank zu werden“ (a.a.O., S. 14, Hervorhebung im Original). Im folgenden sollen personale als auch soziale Ressourcen näher dargestellt werden.
Laut Udris (1992) handelt es sich bei personalen Ressourcen um habitualisierte, genauer situationskonstante Handlungsmuster, deren Aufgaben im Bereich gesundheitserhaltender- resp. wiederherstellender Tätigkeiten und Reaktionen liegen, sowie differentialpsychologisch beschriebene Persönlichkeitskonstrukte, hier im Sinne kognitiver Überzeugungssysteme („belief systems“) (a.a.O., S.17). Die Fähigkeit, „hilfreiche, vertrauensvolle Beziehungen herzustellen, anzunehmen und aufrechtzuerhalten“ (a.a.O., S.18) wird als Bindeglied zwischen personalen und sozialen Ressourcen betrachtet.
In der Literatur vorkommende Konstrukte zu personalen Ressourcen wie zum Beispiel „Selbstwirksamkeit“ („Self-efficacy“, Bandura, 1977), „coping styles“ (Folkmann, 1984) oder „Kohärenzerleben“ (Antonovsky, 1987) werden von Udris hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten wie folgt beschrieben: „Gesundheitsrelevantes (präventives) Verhalten korrespondiert mit der Überzeugung bzw. Erwartung, daß die Erhaltung von Gesundheit im eigenen Verfügungsbereich der Person liegt und daß die Person ihre Lebensbedingungen allgemein und ihre Arbeitstätigkeiten im besondern kontrollieren kann und sie als sinnvoll erlebt“ (a.a.O., S. 18). Ausschlaggebend sind demnach für das Handeln und Fühlen einer Person das subjektive Gefühl, in einer Situation Möglichkeiten zur Kontrolle zu haben (Voraussetzung hierfür ist die Fähigkeit zur Reflexion und kognitiven Erfassung der Anforderung), als auch die persönlich empfundene Sinngebung des eigenen Handelns auf vom Leben an sie gestellte Anforderungen.
In verschiedenen Forschungsrichtungen wird immer wieder der Frage nachgegangen, welchen Stellenwert soziale unterstützende Faktoren auf Streßbewältigung und psychische Gesundheit haben. Dieser positive Einfluß äußert sich in einer Verminderung von Streß und einer Verbesserung der Bewältigungsfähigkeit (vgl. Udris, 1982).
Auf der Basis der zur Präzisierung des Faktors „soziale Unterstützung“ zugrundeliegenden verschiedenen Definitionsansätzen hat House (1981) ein Klassifizierungschema erstellt, mit Hilfe dessen er versucht, den verschiedenen Ansätzen gerecht zu werden:
- Emotionale Unterstützung (emotional support): Hier bezieht er sich auf die Vermittlung von Empathie, Zuneigung, Vertrauen und Sorge.
- Unterstützung durch Information (informational suuport) meint die Vermittlung nützlicher Informationen, welcher im Prozess der Auseinandersetzung mit den Problemen hilfreich sein können.
- Instrumentelle Unterstützung (instrumental support): Hier bezieht sich House auf direkte und konkret erbrachte und erfahrene Hilfeleistungen.
- Unterstützung durch Einschätzung (appraisal support): Bezieht sich auf Informationen, die über verhaltensbezogene Rückmeldungen Personen zu einer besseren Einschätzung sich selbst gegenüber verhelfen.
Vom jeweiligen sozialen Netzwerk (s.u.), wie z. B. Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen, aber auch Selbsthilfegruppen oder professionelle Helfer können diese Unterstützungsformen ausgehen. Zu einem ungünstig verlaufenden Bewältigungsprozeß, resp. einer fälschlich vorgenommenen Beurteilung einer Situation kann es hingegen aufgrund fehlender oder mangelnder Unterstützung im sozialen Bereich kommen (vgl. House, 1981).
Der hier bereits angesprochene Begriff des „sozialen Netzwerkes“ wird angesichts seiner Bedeutung für eine gegenstandsangemessene und adäquate Beurteilung resp. Bearbeitung einer Situation für die betroffene Person ebenfalls vielfach diskutiert. Das soziale Netzwerk beschreibt quantitative und strukturelle Aspekte von Sozialbeziehungen, in die eine Person eingebunden ist. Kritik wird an der statischen Konzeption von sozialer Unterstützung laut. Vielmehr wird in neueren Veröffentlichungen soziale Unterstützung als dynamischer Prozeß gesehen, in dem das soziale Netzwerk Hilfeleistungen zur Verfügung stellt, welche von den jeweils betroffenen Personen im Bedarfsfall abgerufen werden können. Der Grad der Stärke dieser Kräftemobilisierung hängt hierbei im wesentlichen von der Eigenaktivität einer Person ab (vgl. Udris, 1992).
Ältere Modelle der Behinderungs- resp. Krisenbewältigung postulieren den regelmäßigen Ablauf gewisser Phasen. Übereinkunft herrscht hier größtenteils über die Zuordnung der einzelnen Verhaltens- und Erlebensmuster, die den einzelnen Phasen zugeordnet werden. Unterschiede werden jedoch vor allem in der Akzentsetzung und der Anzahl der Phasen gesehen (vgl. Falek & Britton, 1974, Shontz, 1975). Die bei den einzelnen Ansätzen unterschiedliche Anzahl der Phasen läßt sich im wesentlichen auf drei zusammenfassen:
1.) Schock: Der Betroffene lebt in seinen Gedanken und Vorstellungen weiterhin so wie früher und kann die Diagnose der Ärzte nicht annehmen. Er verleumdet die Tatsache, irreparabel geschädigt zu sein, glaubt daran, wieder gesund werden zu können.
2.) Depression: Wird offenkundig, daß die Erwartungen auf Heilung unrealistisch sind, entsteht tiefe Verzweiflung, Rückzugstendenzen auf sozialer Ebene sind auszumachen. Im gleichen Zusammenhang können auch psychosomatische Störungen auftreten.
3.) Anpassung: Die Einschränkungen werden akzeptiert, indem sich der Betroffene wieder der Realität zuwendet und beginnt, aktiv zu werden. Es kommt zu einer Modifikation des Verhaltensreservoirs, welches die Behinderung miteinschließt (vgl. Lindenmeyer, 1983).
Winter (1976) stellt in ihrem Modell der „Organisation der Behinderung“ die prämorbide Persönlichkeit in den Vordergrund. In ihrem psychoanalytischen Konzept wird das Trauma der Verletzung im Sinne einer schweren narzistischen Kränkung gedeutet; es kann zu Regressionen auf frühkindliche Entwicklungstufen kommen, was durch die Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins in der Klinik verstärkt wird. Vorteil dieser Konzeption ist es, die intrapsychischen Veränderungen bei traumatischen Behinderungen zu fokussieren und somit das Verständnis dafür zu erleichtern. Kritisch betrachtet bleibt allerdings festzuhalten, daß die veränderte Umweltkomponente meist unberücksichtigt bleibt und die individuelle Vergangenheit in den Vordergrund rückt.
Lindenmeyer (1983) analysiert die Reaktionen auf traumatische Behinderungen im Rahmen der Selbstkonzepttheorie. In Anlehnung an Bandura (1978) postuliert er eine reziproke Determination zwischen Selbstkonzept, Umweltinformation und Handlungskompetenz. Als Regelgröße nennt er hierbei die Aufrechterhaltung resp. Erhöhung des Selbstwertes. Selbstbezogene Informationen, die dem bisherigen Konzept nicht entsprechen, können besonders dann erfolgreich integriert werden, wenn sie die Grundlage für den Erwerb von selbstwerterweiternden Handlungskompetenzen abgeben. Der Bewältigungsprozess kann dadurch günstiger beeinflußt werden, daß behinderungsrelevante Situationen und Konstellationen werden hierdurch sukzessiv erfahrbar gemacht werden, da der Aufbau neuer, behinderungsbezogener Handlungsfähigkeit leichter erfolgen kann.
Forschungsansätze, welche die Bewältigung traumatisch bedingter Querschnittlähmungen zum Gegenstand haben, sind seit den 60iger Jahren vereinzelt zu finden. An dieser Stelle sollen eine ältere und zwei neuere Studien vorgestellt werden. Obwohl alle drei Studien in ihrem Ansatz eine quantitative Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand vorweisen, wurden sie aufgrund der inhaltlichen Nähe zur vorliegenden Fragestellung in diese Arbeit aufgenommen. Während Fink und Mitarbeiter (1985) eher den Zusammenhang zwischen biographisch bedingter Persönlichkeitsentwicklung und daraus resultierender Bewältigungsstrategie fokussieren, legen Seidler und Mitarbeiter (1986), sowie Mikula und Mitternecker (1979) den Schwerpunkt ihrer Betrachtung auf sich im Zuge der Verarbeitung verändernde Persönlichkeitseigenschaften.
Anhand von 20 Einzelfallanalysen haben Fink und Mitarbeiter (1985) die spezielle Problematik der Bewältigung einer traumatischen Querschnittlähmung untersucht. Als Methode dienten eine ausführliche Anamnese sowie der „Thematische Apperzeptionstest“. Die Ergebnisse zeigen einen auffallenden Zusammenhang zwischen dem Erleben der eigenen Persönlichkeitsentwicklung und der Verarbeitungsstrategie. Im Einzelnen wurde festgestellt: Eine gestörte Beziehung zur Mutter, Vater, Geschwisterrivalitäten, Streit und Tätlichkeiten, sowie finanzielle Probleme und existentielle Not liessen eine Atmosphäre von Geborgenheit und Zuwendung kaum entstehen. Unsicherheit, Hilflosigkeit, ein Mangel an Sicherheit und Wärme waren Determinanten einer mißlungenen Selbstwerdung.
Das auffällige Nebeneinander von Ablösungs- und Selbstbefreiungstendenzen und dem zur Läsion führenden Unfall bei mehreren Probanden lässt die Vermutung einer Selbstbestrafungstendenz aufkommen. Zwischen der Unfallursache und der Verarbeitungsstrategie fand sich kein Zusammenhang. Alle Probanden sahen ihre Behinderung als vom Schicksal bestimmt, ein Teil fand sich schnell damit ab, dem anderen Teil gelang es auch nach längerer Zeit nicht, sich wirklich damit abzufinden. Probanden mit einem emotional warmen und verstehenden Elternhaus hatten mehr Selbstvertrauen, Zuversicht und Optimismus. Ein kühles ablehnendes Elternhaus führte schneller zu Resignation und Depression.
Seidler und Mitarbeiter (1986) untersuchten das Bewältigungsverhalten von 34 paraplegischen Männern im Alter von 18-66 Jahren. In einem halbstrukturiertem Interview wurden Daten zur Art und Ausprägung von Störungen im Bereich der Blasen- und Darmfunktion, der Sexualität sowie zur psychosozialen Verarbeitung gewonnen und mit Hilfe deskriptiver Statistik ausgewertet. Es zeigte sich, daß jüngere Paraplegiker mit einer traumatischen Läsion zu einem instrumentellen Umgang mit ihren Funktionsausfällen fanden, hingegen ältere Patienten, deren Läsion auf einen Krankheitsprozess zurückging, überwiegend in Resignation und hypochondrischer Körperbezogenheit verharrten, sowie sozial isoliert waren.
Mikula und Mitternecker (vgl. Zotte, 1979) untersuchten psychische Begleiterscheinungen bei traumatisch bedingten Querschnittlähmungen. Die Grundannahme war, daß mit einer körperlichen Behinderung eine starke psychische Belastung einhergeht, die sowohl zu Änderungen des Selbstkonzeptes des Behinderten als auch zu Einstellungsänderungen seiner sozialen Umwelt gegenüber führt. Die untersuchte Gruppe bestand aus 15 männlichen Hals,- Brust- und Lendenmarkgeschädigten.
Es erfolgten drei Erhebungen in einem Zeitabstand von jeweils sechs Wochen, erstmalig 8-14 Wochen nach dem Unfall. In jedem Erhebungsvorgang wurden die gleichen Fragebögen verwendet:
Das Semantische Differential (vier Begriffe), „Eigenschaftswörterliste“ von Janke und Debus sowie „Handicap Problems Inventory“ von Wright und Reumers. Durch das Fehlen einer Kontrollgruppe war es nicht möglich, Veränderungen von Persönlichkeitsmerkmalen über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Die Ergebnisse wiesen daraufhin, daß es kurz nach dem Unfall zu momentanen, situationsspezifischen Veränderungen bestimmter Persönlichkeitsmerkmale kam. Weiterhin wurde eine Umstrukturierung des Selbstkonzeptes der Querschnittgelähmten in jedem Bereich festgestellt, in dem ihre Möglichkeiten tatsächlich eingeschränkt waren. Das Selbstbild „Vor dem Unfall“ wurde zunehmend als potenter beurteilt im Vergleich zum „Gegenwärtigen Selbstbild“. Das „Wunschbild“ wurde zunehmend als weniger potent erlebt. Die realitätsangepassten Einstellungen sich selbst gegenüber nahmen mit dem Zeitabstand zum Unfall zu.
Aus der Aufgabe, Selbstbild, Idealbild, Fremdbild und das Bild der eigenen Umwelt zu verändern und den neuen Lebensumständen anzupassen, erwachsen jedem Querschnittgelähmten ähnliche Grunderfahrungen und Problemkreise, mit denen er sich früher oder später auseinandersetzen muß. Der Querschnittgelähmte „kann sich der inneren Auseinandersetzung nicht entziehen, auch wenn er dies möchte“ (Sturm, 1979, S. 97). Hervorzuheben sei an dieser Stelle, daß sich aufgrund unterschiedlicher Läsionstypen, im Rahmen dieser Arbeit wurde der Fokus auf komplett vs. inkomplett gelähmte Paraplegiker gelegt, verschiedene Ausgangspositionen zur Auseinandersetzung ergeben. Verfügt der komplett Gelähmte spätestens nach Abklingen des spinalen Schocks über „das Wissen über die Tatsache des auf Dauer „Gelähmtseins““ (Grüninger u. Klassen, 1982), kann der inkomplett Gelähmte die Erfahrung sich zurückbildener sensorischer und motorischer Funktionen machen, so daß hier eine gänzlich andere psychologische Situation gegeben ist. Grüninger und Klassen bemerken hierzu:
„Die Unsicherheit über Art und Umfang der sich restituierenden Muskelfunktionen und wie weit sie tatsächlich genutzt werden können, erschweren konkrete Zukunftsplanungen und verunmöglichen die Auseinandersetzung mit einem Ist-Zustand wie er beim komplett Gelähmten vorliegt.“ (Grüninger u. Klassen, 1982, S. 505)
Grundsätzlich bestimmen das Alter, die Grundzüge der Persönlichkeit und die allgemeine soziale Situation des Patienten beim Eintritt der Querschnittlähmung vornehmlich die Art und Weise, in welcher der Einzelne den physischen und psychischen Streß der Verletzung und ihrer Folgen verkraften kann (vgl. Sturm, 1979).
Evident erscheint zudem, daß man bei einem sich ehemals selbst als gesund[6] definierenden Menschen die individuelle Auseinandersetzung mit seiner erworbenen Lähmung auch immer vor dem Hintergrund seiner eigenen Vorurteile und Erfahrungen betrachten muß. Der Querschnittgelähmte gehört innerhalb seines Lebenskontextes nicht nur zu einer „Minderheit, deren öffentliche Anerkennung und deren soziales Lebensrecht auf Prinzipien gründet, die der normalen Vertretung von Gruppeninteressen entgegengesetzt sind“ (Jansen, 1977, S. 138), sondern ist gleichermaßen von dem Konflikt betroffen, daß „das Vorurteil gegenüber Körperbehinderten in ihm weiter [lebt], obwohl er spürt, daß dieses nicht mit seiner Wirklichkeit übereinstimmt“ (Sturm, 1979, S. 95). Doch wie können „Individuen, die plötzlich eine Transformation ihres Lebens von dem einer normalen zu dem einer stigmatisierten Person erfahren, die Wandlung psychologisch überleben?“ (Goffman, 1967, S. 163).
An dieser Stelle setzt das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit an. Von vordergründigem Interesse ist, welche psychologischen Einflußgrößen bei diesen Prozessen mitwirken, als auch deren wechselseitige Beziehung untereinander darzustellen. Desweiteren soll Betrachtung finden, inwieweit es zu Modifikationen derselben kommt und inwiefern externe Variablen im Sinne unterstützender, resp. aber auch hemmender Funktion im Bewältigungprozeß eine Rolle spielen. Interindividuelle Übereinstimmungen in Bezug auf angewendete Verarbeitungsstrategien, die es dem jeweiligen Individuum ermöglichen, „psychologisch überleben zu können“ sind hierbei von besonderem Interesse. Darüber hinaus wird vergleichend zwischen inkomplett und komplett Gelähmten betrachtet, inwieweit sich das „Wissen“ um die Endgültigkeit seines Zustandes, resp. um die Möglichkeit auf Besserung desselben auf den psychologischen Verarbeitungsprozess auswirkt. Ausgehend vom vorliegenden Erkenntnisinteresse ergeben sich folgende Fragestellungen:
- In welchem Maß lassen sich bewältigungsfördernde- bzw. hemmende psychologische Einflußgrößen bestimmen?
- Lassen sich explizite Beziehungen zwischen Verarbeitungsstrategien und vorgefundenen psychologischen Einflußgrößen finden?
- Haben noch andere, externe Variablen einen moderierenden, kompensatorischen oder auch hemmenden Einfluß?
- Lassen sich lähmungstypspezifische Unterschiede in den Reaktionsformen zwischen inkomplett/komplett Gelähmten finden?
Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sind die Verarbeitung, resp. Reaktionsformen einer spezifischen Belastung, die in Form einer traumatisch bedingten Querschnittslähmung bei Männern vorliegt. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um die Entstehungszusammenhänge eines Phänomens, sondern um die Betrachtung der durch ein plötzlich ins Leben getretenen Ereignisses hervorgerufenen Folgezustände und Prozesse. Das Augenmerk soll auf Veränderungen in der Art der Auseinandersetzung, den in den subjektiven Aussagen zu findenden interindividuellen Gemeinsamkeiten oder divergierenden Auffälligkeiten liegen. Daß es sich bei diesem Ereignis per se um ein belastendes Ereignis handelt, wird angesichts des zum Zeitpunkt der Untersuchung vorhandenen theoretischen Vorverständnisses vorausgesetzt.
In den letzten zwei Jahrzehnten kam es zu einer Renaissance in der Auseinandersetzung um die Verwendung qualitativer Methoden. Dem anfänglichen Aufschwung qualitativer Methoden in der Soziologie folgte, mit einiger Verzögerung, ihre vermehrte Verwendung in der Psychologie (vgl. Flick, 1992).
Wie z. B. bei Bortz (1984) erwähnt, wird die hypothesenvorbereitende Funktion qualitativer Forschung, der eine Hypothesenüberprüfung und somit Erkenntnissicherung mittels quantitativer Verfahren folgen sollte, vielfach anerkannt. Somit wird qualitativer Forschung, wie Jüttemann (1990) feststellt, „nur der bescheidene Platz eines Konzepts zur Durchführung von Vorstudien eingeräumt“ (a.a.O. S.10). Sieht Jüttemann (1985) in dem Einsatz einer sinnverstehenden Methodik, bei der es überlicherweise um die Rekonstruktion tatsächlicher Verhältnisse und Verläufe geht, eine „echte Alternative“ (a.a.O. S. 11) zur vorherrschenden naturwissenschaftlichen Forschungsauffassung, betrachtet er die Notwendigkeit der Verwendung qualitativer Forschungsmethoden nicht ausschließlich unter heuristischen Gesichtspunkten.
Für den Bereich der Streßforschung formuliert Lazarus (1981) die Notwendigkeit einer Hinwendung zu alltagsnäheren, qualitativen Forschungsmethoden folgendermaßen:
„Trotz jahrelanger multidiziplinärer Erforschung des Phänomens kennen wir noch immer nicht jene streßerzeugenden Umstände, mit denen Menschen im Alltag konfrontiert sind, nicht ihre alltäglichen Belastungen, nicht die Anlässe für positive Gefühle, nicht die Art ihrer alltäglichen emotionalen Reaktionen. Solange wir so wenig grundlegende Informationen aus dem alltäglichen Leben haben, können wir wohl kaum viel wissen darüber, wodurch streßreiche Erfahrungen und ihre emotionalen Folgen erzeugt werden“ (a.a.O., S. 202). Viele Autoren betonen, daß es sich bei der Gegenüberstellung qualitativer vs. quantitativer Forschungsmethodik zwar um zwei verschiedene, im günstigsten Fall sich aber um gegenseitig ergänzende Methoden handelt. Ungeachtet dessen muß die dem jeweiligen Forschungsgegenstand angemessene Methode ausgewählt werden. An dieser Stelle soll die für die vorliegende Arbeit getroffene Wahl einer qualitativen Herangehensweise näher begründet werden. Ziel qualitativer Forschung ist die Entwicklung gegenstandsbegründeter Theorien. Den Untersuchungsgegenstand in seiner Vielfalt und Komplexität zu erfassen hat somit Priorität und ermöglicht zudem eine detaillierte Deskription von Einzelfällen. „Das qualitative Paradigma ist bemüht, den Objektbereich (Menschen) in seinem konkreten Kontext und seiner Individualität zu verstehen“ (Lamnek, 1988, S. 205). Bezogen auf die grundlegende Fragestellung vorliegender Arbeit erschien es daher als sinnvoll, eine Methode zu wählen, die zum einen die Bewältigung nach einem längeren Zeitraum betrachtet, zum anderen die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.
Die Komparative Kasuistik versteht sich als eine „iterative Such- und Prüfstrategie zur Generierung funktional relevanter Hypothesen und eine ebenfalls iterative Vorbereitungstrategie zur Initiierung und Strukturierung „empirisch fundierter“ Konstruktionsprozesse für adäquate Theorien über psychologisch beschreibbare Phänomene.“ (Jüttemann, 1981, S. 23, Hervorhebung im Original). Dieser von Jüttemann (1981) entwickelte bedeutende Forschungsansatz innerhalb der qualitativen Forschung erhebt zudem den Anspruch, nicht allein deskriptive Zwecke zu erfüllen, sondern als theoriengenerierendes Verfahren in erster Linie den Focus auf Ursachenforschung zu setzen (vgl. Jüttemann, 1981). Beim Vergleich „ähnlich gelagerter Einzelfälle zum Zwecke einer Erforschung des Entstehungszusammenhangs“ (Jüttemann, 1981, S. 1) wird in Ermangelung auf ursächliche Hinweise noch kein ausdrücklicher Erklärungsanspruch erhoben, sie stehen aber unter der Annahme einer funktionalen Relevanz (vgl. Jüttemann).
Nach Jüttemann sind es zwei Fragestellungen, die eine Anwendung der Komparativen Kasuistik zur Untersuchung entwicklungsspezifischer Phänomene nahelegen. Er stellt hier die Frage nach dem Entstehungs- und Verursachungszusammenhang eines entwicklungsspezifischen Phänomens sowie dessen theoretische Erfassbarkeit der Fragestellung, der theoretischen Aufarbeitung der Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen bei „modifikationsbedürftigen“ Phänomenen gegenüber. Letztere stellt auch die Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem in der vorliegenden Arbeit zu betrachtenden Phänomen dar. Interessieren an dieser Stelle doch weniger die - wenn überhaupt vorhandenen - psychologischen Entstehungsbedingungen des Phänomens „traumatische Querschnittlähmung“, das Phänomen selber ist vielmehr in den im Individuum liegenden Ressourcen zur Aufarbeitung und Bewältigung jener erfahrenen Läsion und den daraus zu resultierenden einschneidenden Wirkungen für sein weiteres Leben, als auch in den überindividuell vorhandenen Übereinstimmungen zu sehen. Es sind also die „Interventionsmaßnahmen“, die im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.
Untersuchungsmethodologisch handelt es sich bei der Komparativen Kasuistik um einen Kleingruppenansatz, bei dem „die „Gruppenanalyse“ stets auf dem „Umweg“ über eine differenzierte einzelfallanalytische Betrachtung vorgenommen“ wird (Jüttemann, 1981, S. 25). Zudem sind neben der Einzelfallorientierung „die Aspekte der Verlaufsstrukturbetrachtung und der Veränderungsmessung charakteristisch“ (a.a.O.). Der qualitativen Einzelfallbetrachtung wird eine tragende Bedeutung für die Strategie der Komparativen Kasuistik beigemessen.
Der Auffassung Cronbachs zufolge, von einer weitgehenden Kontextspezifität sowie einer relativ geringen Geltungsbreite der theoretischen Systeme auszugehen, empfiehlt Jüttemann, das zu untersuchende Phänomen möglichst eng einzugrenzen. Hierzu sieht das Verfahren eine Phänomenanalyse vor, deren Ziel „unter dem Gesichtspunkt einer sinnvollen Reduzierung von Komplexität (...) den zu untersuchenden Phänomenbereich soweit wie möglich aufzugliedern“ (Jüttemann, 1981, S. 105) zu sehen ist.
Evident erscheint die Durchführung einer Phänomenanalyse aus dem Anwendungsprinzip Komparativer Kasuistik, welches sich aus der Forderung nach psychologischer Definierbarkeit des zu untersuchenden Phänomen ergibt. So sollte die ausgewählte Stichprobe dem Kriterium der phänomenspezifischen psychologischen Homogenität genügen, sie sollte sich nicht lediglich als soziologische Einheit definieren lassen, sondern als gemeinsamen Nenner eine sinnvolle, psychologische Fragestellung aufweisen können. Ist zu erwarten, daß das zu untersuchende entwicklungsspezifische Phänomen in einer einzigen in sich geschlossenen psychologischen Theorie erklärt werden kann, kann die Phänomenanalyse abgeschlossen werden. Jüttemann (1981) unterscheidet zwei Anwendungsformen der Komparativen Kasuistik; das experimentelle und das diagnostische Modell. Unabhängig voneinander angewendet, können sie zur gegenseitigen Ergänzung und Überprüfung dienen.
Das experimentelle Modell, welches eng an den Methodenvorschriften der experimentellen Psychologie angelehnt ist, richtet den Fokus stark auf durchgängig oder deutlich sich häufende Übereinstimmungen zwischen den untersuchten Personen. Aus diesen vorgefundenen Übereinstimmungen werden anschließend funktional relevanten Hypothesen formuliert, welche im Idealfall die Vorform einer Theorie darstellen.
Im diagnostischen Modell wird zunächst ein einziger Merkmalsträger einzelfalldiagnostisch untersucht. Hieraus wird im Anschluß eine Individualtheorie aufgestellt. Ein Vergleich mehrerer Individualtheorien schließlich läßt die Entwicklung einer Theorie zu dem untersuchten Phänomen zu.
Für beide Modelle ist ein mehrphasiges Untersuchungsdesign mit Spiralencharakter vorgesehen. Jüttemann (1981) bezeichnet den Forschungsprozeß zur Entwicklung einer gegenstandsangemessenen Theorie als eine stufenweise Annäherung, die er als „eine „aufsteigende“ Reihe von Theorie-Vorformen“ (a.a.O., S. 30) beschreibt. Diese Vorformen sind beim experimentellen Modell als lose „Bündel“ von Hypothesen zu verstehen.
In der Anfangsphase einer Untersuchung stehen die Hypothesenfindung sowie die Hypothesendifferenzierung im Vordergrund. Es ist nicht von vornherein festgelegt, wieviel Untersuchungsphasen durchlaufen werden müssen. Vor allem beim experimentellen Modell können Zwischenergebnisse eine praktische Bedeutung haben, beispielsweise „als Grundlage für die Entwicklung oder Verbesserung von spezifisch wirksamen Modifikationsprogrammen“ (a.a.O., S. 31).
Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sind subjektive Aussagen zur Auseinandersetzung mit der akuten Krisensituation zum Eintritt der Querschnittlähmung, als auch Reaktionsformen angesichts der Dauerhaftigkeit des von den Interviewpartnern erlebten Phänomens der Behinderung. Angesichts des hier vorliegenden prozeßhaften Charakters bietet sich als Erhebungsverfahren eine Methode an, die zum einen den Subjekten qua ihrer Sprache die Möglichkeit bietet, als „Experten für ihre eigenen Bedeutungsinhalte“ (Mayring, 1990, S. 45) aufzutreten, zum anderen eine Ebene zuläßt, diese Bedeutungsinhalte im Rahmen eines flexiblen Vorgehens in ihrer zugrundeliegenden Komplexität zu erfassen.
Ein Erhebungsverfahren, das diese Anforderungen in sich eint, stellt das „Problemzentrierte Interview“ nach Witzel (1982,1985) dar. Hierunter fallen alle Formen der offenen, halbstrukturierten Befragung (vgl. Mayring, 1989). Nach Witzel hilft das problemzentrierte Interview, „die tatsächlichen Probleme der Individuen zu eruieren“ (Witzel, 1985, S. 230), indem es die Möglichkeit bietet, auf den Befragten einzugehen, Fragen zu formulieren, anzuordnen und Nachfragen zu stellen. Andererseits ergibt sich daraus für den Befragten eine Erweiterung des Antwortspielraums, sowie die Perspektive, vor dem Hintergrund der zentrierten Problemstellung zu einer offenen Gesprächssituation zu kommen (vgl. Bortz, Döring, 1995).
Für die vorliegende Untersuchung wurde daher eine Interviewtechnik gewählt, die sich eng an dieses Erhebungsverfahren anlehnt. Aus Gründen der erforderlichen Transparenz wird das problemzentrierte Interview in seinen wesentlichen Punkten wie folgt dargestellt.
Witzel versteht die im folgenden skizzierte Methode als „forschungspraktische Einlösung der Kritik an standardisierte Meßverfahren der empirischen Sozialforschung“
(1985, S. 227). Die aus dieser Kritik heraus abgeleitete Interviewmethode ist durch die drei Kriterien Problemzentrierung, Gegenstandsorientierung und Prozeßorientierung gekennzeichnet.
Im Rahmen dieser Trias benennt er das Kriterium der Problemzentrierung als das Zentrale dieser Methode. Witzel postuliert, daß der Forscher vom Ausgangspunkt der von ihm „wahrgenommenen gesellschaftlichen Problemstellung“ (1985, S. 230) über die Offenlegung und Systematisierung seines eigenen Wissenshintergrundes zu einer unvoreingenommenen Erfassung, als auch Nachvollziehbarkeit des Forschungsgegenstandes kommen kann.
Dazu ist notwendig, daß der Forscher sein Wissen elastisch handhabt, um zum einen die eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren, sich zum anderen über Offenhalten des Vorwissens im empirischen Prozeß kontrollieren zu lassen (vgl. Blumer, 1954); Hier wiederum sind Strategien erforderlich - und in diesem Kriterium implizit enthalten - die es den Befragten ermöglichen, ihre Problemsicht auch entgegen etwaiger Vorbehalte aus Sicht des Forschers darzustellen.
Bezüglich des Kriteriums der Gegenstandsorientierung weist Witzel daraufhin, daß, entgegen vielfach üblicher Forschungspraxis, das Untersuchungsinstrument am Untersuchungsgegenstand auszurichten sei, um eine adäquate „Klärung der Wirklichkeitssicht von Subjekten“ (a.a.O., S. 232) gewährleisten zu können. Die Übernahme fertiger Instrumente schließt sich an dieser Stelle aus.
Das Kriterium der Prozeßorientierung bezieht sich schließlich sowohl auf die gesamte Gestaltung des Forschungs- sowie die Entwicklung des Verstehensprozesses im Interview, aber auch auf den Untersuchungsgegenstand selbst. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit bezieht sich letztgenannter Punkt beispielsweise auf den prozesshaften Charakter der Auseinandersetzung mit der eingetretenen Querschnittlähmung.
Als zentrale Kommunikationsstrategien des problemzentrierten Interviews faßt Witzel den Gesprächseinstieg, allgemeine - sowie spezifische Sondierungen sowie Ad-hoc - Fragen zusammen.
Dem „Gesprächseinstieg“ soll eine möglichst narrative Geprächsstruktur zugrunde liegen, um über diesen „Erzählanstoß“ (vgl. Bortz, Döring, 1995, S. 293) den Einstieg zu einer entspannten und angenehmen Gesprächsatmosphäre zu schaffen; eine Grundvoraussetzung, die unter anderem den Erhalt möglichst authentischer Antworten im Verlauf des Interviews begünstigt.
Dies zu erreichen setzt voraus, daß es dem Befragten möglich ist, „inhaltliche Abfolge und Gliederungspunkte“ (a.a.O., S. 245) der Gesprächsstruktur weitgehend selbst zu entwickeln. Der Interviewer sollte nochmals das Prinzip des Erzählens ansprechen und zugleich den problemzentrierten Rahmen abstecken. Den konkreten Gesprächseinstieg sollte schließlich eine relativ allgemeine Frage bilden, die erzählerisch ausgestaltet werden kann.
Die Kommunikationstechnik der „allgemeinen Sondierung“ verhilft dem Interviewer zur Verdeutlichung, oder, wie es Witzel ausdrückt, der „Spezifizierung einzelner Sachverhalte oder Zusammenhänge“ (a.a.O., S. 246); hier greift der Interviewer Erfahrungsbeispiele auf und fördert anhand detaillierten Nachfragens die Verdeutlichung angesprochener Problemfelder.
Der Technik der „spezifischen Sondierung“ wird eine verständnisgenerierende Funktion zugeschrieben. Basierend auf Kommunikationsstrategien wie Zurückspiegelung, Verständnisfragen und Konfrontation dient diese, dem Forscher Erzähleinheiten verständlich und nachvollziehbar zu machen.
Um schließlich eine „erschöpfend Auskunft über alle interessierende Problembereiche des Leitfadens“ (a.a.O., S. 250) zu gewährleisten, werden vom Interviewer an entsprechender Stelle Ad-hoc-Fragen gestellt.
Als Instrumente des problemzentrierten Interviews benennt Witzel im Einzelnen den Leitfaden, den Kurzfragebogen zur Erfassung demographischer Daten sowie die Tonbandaufzeichnung und das Postskriptum.
Der Interviewleitfaden enthält die zentralen Aspekte, die sich aus der Formulierung und der Analyse des Problems ergeben. Es handelt sich hierbei um einzelne Thematiken - oder auch Gesprächsschwerpunkte - die dem Interviewer als „Orientierungsrahmen bzw. Gedächtnisstütze“ (a.a.O. , S. 236) dienen und somit den jeweiligen Gesprächsverlauf qua vorab entwickelter Formulierungsvorschläge resp. ad-hoc entwickelter Formulierungsalternativen unterstützen und anregen (vgl. Mayring, 1989).
Allerdings verweist Witzel in diesem Zusammenhang darauf, daß der Leitfaden im Sinne eines gesprächsunterstützenden Instrumentariums lediglich den Charakter einer Hintergrundfolie haben kann, der Fokus für die Entwicklung des Gespräches indes auf den Gesprächsfaden des Interviewten zu richten sei.
Zur Erhebung soziodemographischer Daten dient die Beantwortung eines Kurzfragebogens. Hierbei werden Daten wie Alter, Berufsausbildung etc. erfaßt. Diese Informationen sollen vor dem Hintergrund des Themas die Situation der Befragten kennzeichnen und einem reinen Abfragemodus während des Interviews vorbeugen.
Die Tonbandaufnahme bietet dem Interviewer mehrere Aspekte; er kann sich auf den jeweiligen Gesprächsverlauf konzentrieren, im Gegensatz zu erstellten Interviewprotokollen tritt keine Selektion bezüglich der erhaltenen Informationen seitens der protokollierenden Befragers auf. Zusätzlich sind die verbalen und paralinguistischen Elemente der Kommunikation[7] dokumentiert, so daß diese situativen und nonverbalen Elemente zum Zeitpunkt der Auswertung in diese miteinfließen können[8] (vgl. Friedrichs, 1980).
Im Anschluß an jedes Interview wird ein Postskriptum (Postkommunikationsbeschreibung) angefertigt. Hiermit werden Gesprächsatmosphäre- und Umgebung, als auch Erscheinungsmerkmale des Interviewpartners dokumentiert und tragen somit zu einem besseren Verständnis des Interviews bei (siehe folgende Grafik).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Ablaufmodell des problemzentrierten Interviews (Mayring, 1993, S. 48)
Gesprächseinstieg:
In dem Gespräch, daß ich mit ihnen führen möchte, geht es darum, wie man den Eintritt einer Querschnittlähmung erlebt und verarbeitet hat. Können sie zu Beginn einfach mal erzählen, was bei ihnen konkret vorliegt?
Schwerpunkt „Behinderung“
- Haben Sie derzeitige Beschwerden, die mit der Lähmung zusammenhängen?
- Wie würden Sie ihren allgemeinen gesundheitlichen Zustand beschreiben?
- Können sie erzählen, wie es konkret zu ihrer Querschnittlähmung kam?
- Wie war es für Sie, unmittelbar nachdem Sie von der Querschnittlähmung erfuhren?
- Wie kamen Sie mit dem Klinikpersonal zurecht?
- Ab wann ungefähr war bei Ihnen die medizinische Rehabilitation abgeschlossen?
- Wie reagierten Ihre Partner/in, Angehörige auf die Diagnose?
- Schildern Sie bitte kurz, wie es für Sie kurz nach der Entlassung aus der Klinik war, welche Probleme standen für Sie im Vordergrund?
- Gab es jemanden, dem Sie die Schuld an Ihrem Schicksal gaben?
Schwerpunkt „Lebenssituation“
- Waren Sie vor Eintritt der Behinderung berufstätig?
- Sind Sie derzeit berufstätig?
- Arbeiten Sie in Ihrem „alten“ Beruf?
- Wenn nicht, welche Umschulungsmaßnahmen haben Sie ausgeführt?
- Sehen Sie einen Unterschied zwischen ihrer derzeitigen Berufstätigkeit und der Zeit
vor dem Unfall? (Engagement, Verdienst, berufl. Zufriedenheit)
- Haben Sie außerhalb Ihrer Beschäftigung Kontakt zu Arbeitskollegen?
- Können Sie mir einen typischen Tagesablauf schildern?
- In welchen Situationen sind Sie auf die Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen?
- Wie würden Sie Ihre allgemeine Lebenssituation vor Eintritt der Querschnittlähmung
beschreiben?
- Wo liegen Unterschiede in Ihrer damaligen und der heutigen Lebenssituation?
- Was vermissen Sie am meisten?
- Was hat sich verändert in Ihrem Leben?
- Hatten Sie vor dem Unfall bestimmte Hobbies?
- Hat sich seit dem Unfall an Ihrem Freizeitverhalten etwas verändert?
- Haben Sie Interessen entwickelt, die Sie vor Eintritt der Lähmung noch nicht hatten?
- Womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Freizeit?
- Gab es Pläne oder Vorhaben, die Sie nach Eintritt Ihrer Behinderung aufgrund der
neuen Situation verwerfen mußten?
- Sind Sie mit Ihrer jetzigen Lebenssituation zufrieden?
Schwerpunkt soziale Bindung
- Lebten Sie unmittelbar vor Eintritt der Lähmung in einer Partnerschaft?
- Leben Sie derzeit in einer partnerschaftlichen Beziehung?
- Befinden Sie sich in der selben Partnerschaft aus der Zeit vor dem Unfall?
- Wer hat Ihnen Ihrer Meinung nach in der Zeit nach dem Unfall am meisten geholfen?
- Hat sich Ihrer Meinung nach in Ihrer Partnerschaft seit dem Unfall etwas verändert?
- Haben sich ihre Kontakte zu Freunden, Angehörigen verändert?
- Würden Sie diese Veränderungen als eher positiv oder eher negativ bewerten?
- Welche Rolle spielt Ihre Familie in Ihrem derzeitigen Leben?
- Wie erleben Sie im allgemeinen die Reaktionen der Umwelt auf Ihre Behinderung?
[...]
[1] wird auch synonym für alle Lähmungstypen verwendet, hier liegt eine Läsion des Brust- und Lendenmarks vor.
[2] „Viergliedmaßenlähmung“, bei Läsion des Halsmarks.
[3] Berührungs-, Schmerz- sowie Temperaturempfindung.
[4] spastisch/schlaff
[5] Auto-, Zweirad- und Fußgängerunfälle
Kopfsprünge in unbekannte Gewässer, Trampolin-, Reitunfälle u. a.
Sturz vom Gerüst, von der Leiter
(Paeslack u. Schlüter, 1980)
[6] gesund hier im Sinne einer offenkundig nicht vorhandenen somatischen oder psychischen Beeinträchtigung.
[7] Sprechdauer, Länge der Sprecheinheit, Länge und Zahl der Pausen, Stimmune
[8] Voraussetzung hierfür ist die Transkription des Interviews, siehe Abschnitt 3.4.3. dieses Kapitels.
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