Diplomarbeit, 2011
81 Seiten, Note: 1,0
1. Kontroverse um die Gesundheitsreform in den USA
2. U.S.-amerikanische kulturelle Ideologien
1. Liberalismus
2. Individualismus
3. Exzeptionalismus
4. „American Dream“
3. Lyndon B. Johnsons Gesundheitsreform
1. Franklin D. Roosevelts „New Deal“
2. Entwicklung des Gesundheitssystems bis 1961
3. Politische und wirtschaftliche Umstände für Johnsons Reform
4. Veränderungen durch Medicare und Medicaid
5. Einfluss der Ideologien auf die Reform
4. Bill Clintons Gesundheitsreformversuch
1. Veränderungen im Gesundheitssystem bis 1992
2. Politische und wirtschaftliche Umstände für Clintons Reformversuch
3. Geplante Änderungen durch Clintons Reformpläne
4. Einfluss der Ideologien auf das Scheitern der Reform
5. Barack Obamas Gesundheitsreform
1. Veränderungen im Gesundheitssystem bis 2008
2. Politische und wirtschaftliche Umstände für Obamas Reform
3. Veränderungen durch Obamas Gesundheitsreform
4. Einfluss der Ideologien auf die Reform
6. Vergleich der Reformversuche
1. Positionen der Parteien
2. Wirtschaftliche Umstände der Reformen
3. Politische Umstände der Reformen
4. Ausnahmestellung des Gesundheitswesens der USA
7. Fazit und Ausblick
8. Literaturverzeichnis
9. Eidesstattliche Erklärung
Als Barack Obama im Jahr 2009 als erster afro-amerikanischer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt wurde, sahen Beobachter in den USA wie auch im Ausland darin eine lange ersehnte Erfüllung des Wunsches nach politischem Wandel in Washington. Besonders in Deutschland hatte sich die internationale Begeisterung für Obama im Gegensatz zur Ablehnung seines Amtsvorgängers George W. Bush deutlich gezeigt, als er bei einer Rede in Berlin von über 200.000 Menschen empfangen wurde. Auch in Amerika war die verbreitete Unzufriedenheit mit Bush offensichtlich und trug zu seinem triumphalen Wahlsieg bei. Viele verbanden damit nun die Erwartung, Obama würde getragen von dieser Welle der Popularität zahlreiche innen-und außenpolitische Probleme der USA durch zielstrebige Veränderungen gegenüber der Ära Bush angehen und beheben.
Doch schon nach den ersten Monaten seiner Amtszeit machte sich vielerorts Ernüchterung breit. Anstatt der gewohnten Bilder von jubelnden Mengen von Unterstützern zeigten sich in der Berichterstattung nun heftige Proteste von Amerikanern, welche Obama aufgrund seines Regierungskurses als unamerikanisch und sozialistisch bezeichneten. Besonders stark traten die verhärteten Fronten in den USA in der Auseinandersetzung um die Reform des amerikanischen Gesundheitssystems zu Tage. Dabei war für viele Europäer kaum verständlich, wie gerade ein so vermeintlich komplexes Thema wie das Gesundheitswesen so leidenschaftliche Reaktionen in großen Teilen der Bevölkerung auslösen kann.
Allerdings zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die Frage nach der bestmöglichen Art der der Gesundheitsversorgung in den USA bereits beinahe über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg äußerst kontrovers debattiert wurde und zu erbitterten Auseinandersetzungen in der Politik und der Gesellschaft geführt hatte; gerade die Rolle des Staates war dabei seit jeher umstritten. Während Deutschland bereits im 19. Jahrhundert eine gesetzliche Krankenversicherung einführte, wehrten sich viele Amerikaner gegen jede Ausweitung des staatlichen Einflussbereichs im Gesundheitswesen und vertrauten auf den Wettbewerb im privaten Versicherungsmarkt zur Abdeckung der Bürger.
Die besondere Umstrittenheit der Gesundheitsreform in den Vereinigten Staaten ergibt sich aus der Verbindung des Themenkomplexes mit bestimmten amerikanischen kulturellen Ideologien. Die Debatte um die Reform wird nicht nur vor dem Hintergrund von rationalen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt, sondern berührt einen gesamten Wertekanon, welcher der amerikanischen Mentalität zu Grunde liegt.
In der folgenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, inwiefern spezifisch amerikanische Ideologien die Entwicklung des U.S.-Gesundheitssystems beeinflusst haben. Dabei stehen vor allem die Reformversuche der Präsidenten Lyndon B. Johnson, Bill Clinton und Barack Obama zur Ausweitung des Versicherungsschutzes im Fokus. Für diese Analyse werden zunächst die Ideologien des Liberalismus, des amerikanischen Exzeptionalismus, des Individualismus sowie des „American Dream“ aus kulturwissenschaftlicher Perspektive in ihrer Bedeutung und historischen Entwicklung dargestellt. Im Folgenden werden die Reformversuche betrachtet. Dabei wird jeweils zunächst ein Überblick über die Entwicklungen und den bisherigen Stand des Gesundheitswesens bei Beginn der Reformvorhaben gegeben. Daran schließt sich eine Untersuchung der politischen und wirtschaftlichen Umstände im Hinblick auf die Veränderungen des Versicherungssystems an. Im nächsten Schritt werden die Ausgestaltung und die Auswirkungen des jeweiligen Reformplans auf das Gesundheitswesen erläutert. Vor diesen Hintergründen erfolgt danach eine Darstellung des Einflusses der amerikanischen Ideologien auf die Verhandlungen und die Ergebnisse der behandelten Reformpläne. Dies geschieht durch eine Betrachtung der Rhetorik der Reformgegner und -befürworter sowie der Besonderheiten in der Beschaffenheit der Pläne. Anschließend werden die Reformen auf sich zeigende Konstanten und Unterschiede verglichen, wobei auf der Basis der amerikanischen Ideologien auf die Position der demokratischen und republikanischen Parteien, die wirtschaftlichen und politischen Umstände sowie die Ausnahmestellung der USA im internationalen Vergleich im Bereich des Gesundheitswesens eingegangen wird.
Seit der Gründung der ersten Kolonien im 17. Jahrhundert zeichnen sich Amerikaner durch eine besondere Betonung des Wertes der „Freiheit“ aller Bürger aus. In keinem anderen westlichen Land ist der Glauben an die Freiheit so fest in der Mentalität der Bevölkerung verankert wie in den Vereinigten Staaten. Auf eine beeindruckende Weise verkörpert wird dies durch das wohl bekannteste Wahrzeichen Amerikas, der Freiheitsstatue. Auch in den beiden Gründungsdokumenten der USA wird dieses Ideal explizit hervorgehoben: die Unabhängigkeitserklärung definiert „life, liberty and the pursuit of happiness“[1] als Menschenrechte, während die Verfassung „the blessings of liberty to ourselves and our posterity“[2] garantieren soll. In der Entwicklung der politischen Landschaft der USA zeigt sich diese Überzeugung besonders in der starken Bedeutung der Strömung des Liberalismus, welcher seit Gründung der Nation stets die bestimmende politische Gesinnung war und auch bis heute geblieben ist. Während sich in Europa über die Jahrhunderte hinweg verschiedene repressive Systeme wie Feudalismus, Kommunismus oder Faschismus entwickelten, blieben die USA immer ihren freiheitlichen, liberalen Werten treu. Auch heute noch können die Vereinigten Staaten als die wohl „most classically liberal polity in the developed world“[3] bezeichnet werden. Allerdings ist zu beachten, dass eine genaue Definition des Begriffes „Liberalismus“ nur schwer möglich ist. Seine Bedeutung hat sich über die Jahrhunderte hinweg verändert und kann viele, sich teils stark voneinander unterscheidende Denkweisen umfassen.[4] Auch haben sich erhebliche Unterschiede in der Auffassung zwischen Europa und Amerika ergeben; ein deutscher „Liberaler“ vertritt andere Positionen als ein zeitgenössischer amerikanischer „liberal“. Aufgrund des immensen Einflusses liberalen Gedankenguts auf Amerika werden im Folgenden die Entwicklung und die heutige Bedeutung des amerikanischen Liberalismus dargestellt.
Bereits die ersten Siedler auf dem amerikanischen Kontinent im 17. Jahrhundert vertraten in Abgrenzung zu Europa liberale Werte. Angesichts der Unfreiheit und Ungleichheit in den absolutistischen und feudalistischen Gesellschaften widerstrebte den Emigranten der Gedanke an die Errichtung einer starken zentralisierten Staatsgewalt. Im Gegensatz zur europäischen Tradition einer herrschenden Monarchie und Aristokratie verschrieben sich die Amerikaner bereits früh dem Ideal einer repräsentativen Regierung. Folglich ging die Macht in den Kolonien zusehends von einzelnen Gouverneuren auf gewählte Versammlungen über.[5] Großen Einfluss auf die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Kolonien – und später der Nation – hatte der englische Philosoph John Locke (1632–1704), welcher als Mitbegründer und Hauptvertreter des klassischen Liberalismus gilt. Der Politologe Louis Hartz sieht in dem amerikanischen Vertrauen auf die Lehren Lockes eine geradezu „irrational devotion.“[6] Vor allem die Betrachtungen in dessen Hauptwerk „Two Treatises of Government“ stellen die Verbindung dar „between historic liberalism and the development of the modern liberal state.“[7] Locke liefert darin die Begründung für den Schutz des privaten Eigentums der Bevölkerung. Während in europäischen absolutistischen Monarchien nur der Herrscher nach göttlichem Recht seinen Bürgern Eigentum gewährte und trotzdem letztlich allein darüber verfüge konnte, schlossen sich die amerikanischen Siedler Lockes Ansichten an. Für Locke bestand der Hauptgrund für den Zusammenschluss von Menschen zu Gemeinschaften in „the preservation of their property.“[8] Die Regierung darf die Bürger nicht unterdrücken, sondern beruht allein auf deren Zustimmung und muss den Schutz des Lebens, der Freiheit und der Besitztümer der Bevölkerung garantieren.
Diese Überzeugungen fanden ihren Niederschlag sowohl in der von Thomas Jefferson verfassten Unabhängigkeitserklärung mit der berühmten Formel von „life, liberty and the pursuit of happiness“, als auch in der amerikanischen Verfassung. Gegenüber anderen damaligen Systemen bedeuteten diese Grundsätze eine erhebliche Einschränkung der Macht der Regierung; Amerika war zu diesem Zeitpunkt die einzige Nation, welche sich auf solch liberale Werte gründete.[9] Die Vereinigten Staaten entstanden in bewusster Abgrenzung zu anderen als repressiv empfundenen Staatsformen, welche die Freiheit ihrer Bevölkerung beschnitten. Das Hauptaugenmerk der Gründerväter lag daher auf der Begrenzung und der Aufteilung der Zentralgewalt. Sie misstrauten einer starken staatlichen Regierung, da sie die Gefahr der Entstehung einer Tyrannei sahen. Dieser „Antistatism“[10] ist in der amerikanischen Politik tief verwurzelt und seine Auswirkungen sind auch heute noch sichtbar.
Der Grundsatz der Minimierung staatlicher Eingriffe zeigte sich auch in der amerikanischen Wirtschaftspolitik. Die USA verschrieben sich dem Glauben an den freien Markt und folgten damit den Ideen des schottischen Ökonomen Adam Smith. Dieser legte in seinem Werk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations” im Jahre 1776 dar, dass freier, unbeschränkter Handel innerhalb eines Landes wie auch zwischen den Nationen zum Vorteil aller sei. Staatliche Interventionen gelten demnach nur als störend, da ein wirtschaftliches System, in welchem jeder Einzelne ohne Auflagen sein eigenes Wohl verfolgt, wie durch eine „invisible hand“[11] geleitet den Interesses aller Handelsteilnehmer bestmöglich nützt. Nach Smiths liberaler Überzeugung sollte der Staat lediglich die Regeln des fairen Wettbewerbs garantieren; damit wird der Freihandel ermöglicht, in welchen der Staat dann nicht mehr direkt eingreifen soll. Die gute Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft trug dazu bei, dass sich die Doktrin des „Laissez-faire“ fest im Nationalbewusstsein der Amerikaner verankerte. Zu dem Bekenntnis zur Freiheit vor politischer Unterdrückung kam also auch der Glauben an die Bewahrung der wirtschaftlichen Freiheit der amerikanischen Bürger. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war deshalb die Ansicht, „that the proper role of government should be passive and circumscribed, […] virtually an article of faith, even approaching official ideology.“[12]
Im der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigten sich jedoch auch die Schattenseiten dieser Politik. Durch die von der Industrialisierung angetriebenen rapiden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen hatten sich die Vorzeichen für die Laissez-faire-Doktrin gewandelt. Die wirtschaftlichen Schwankungen nach dem Bürgerkrieg ließen Forderungen nach einem verstärkten Eingreifen von staatlicher Seite laut werden. Grund hierfür war die Befürchtung, dass die Freiheit der amerikanischen Bürger in Gefahr sein könnte – diesmal allerdings nicht durch die eine mögliche Tyrannei des Staates. Im Gegenteil entstand die Gefahr für die Bevölkerung diesmal aus den großen wirtschaftlichen Machtkomplexen, die sich im Zuge der Industrialisierung herausgebildet hatten und die in rücksichtslosem kapitalistischem Wettbewerb die Arbeiter zunehmend ausbeuteten. Um diesem Vorgehen Einhalt zu gebieten forderten viele „Liberale“, der Staat solle nun als Beschützer der Freiheit auftreten und sich den wirtschaftlichen Entwicklungen entgegenstellen. Der Wunsch nach einer größeren Rolle der Regierung scheint dabei zunächst allen als liberal verstanden Grundgedanken zuwiderzulaufen. Allerdings war das klassisch liberale Credo einer möglichst limitierten Regierung kein eigentliches Ziel an sich, sondern stets nur Mittel zum Zweck der Bewahrung der Freiheit vor Tyrannei gewesen. Als nun die Gefahr von anderer Seite drohte – von wirtschaftlicher Ausbeutung anstatt politischer Unterdrückung – änderten sich auch die Aufgaben des Staates. Patrick Garry stellt deshalb fest: „the liberal advocacy of affirmative government sprang from the same values and ideals that prompted eighteenth-century belief in limited government.“[13]
Durch die veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorzeichen kam es in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Umdenken vieler zuvor klassisch liberal gesinnter Politiker. Damit einher ging die Verschiebung des Begriffes „liberalism“ und die Aufteilung des politischen Lagers in „liberals“ und „conservatives“. Ein Merkmal der konservativen Einstellung ist die Ablehnung von abruptem politischem, sozialem oder wirtschaftlichem Wandel, der durch staatliches Handeln verursacht wird – auch wenn dies zum Schutz oder zur Ausweitung der Freiheit dient. Stattdessen bevorzugen Konservative eine Bewahrung des Status quo durch die Fortführung von bestehenden Gesetzen und Traditionen.[14] Als nun viele „liberals“ zu tiefgreifenden Reformen zur Beseitigung der Ausbeutung aufriefen, lehnten die „conservatives“ dies ab, da sie die entstandene soziale Ordnung nicht verändern und an den bisherigen Handlungsweisen des klassischen Liberalismus festhalten wollten.
Die amerikanischen „liberals“ wichen also von der reinen Laissez-faire-Doktrin ab und forderten staatliche Reformen, während die „conservatives“ stattdessen die klassisch liberale Position des Nicht-Interventionismus einnahmen. Diese Spaltung begann Anfang des 20. Jahrhunderts und zeigte sich in den nächsten Jahrzehnten immer deutlicher bis zu den umfassenden Reformen des New Deals unter Präsident Franklin D. Roosevelt. Auch wenn die Aufteilung der beiden Strömungen nicht trennscharf entlang der Parteigrenzen verläuft, ist auch heute noch tendenziell Roosevelts Feststellung aus dem Jahre 1941 zuzustimmen: „The clear and undisputed fact is that in these later years, at least since 1932, the Democratic party has been the liberal party, and the Republican party has been the conservative party.”[15]
Der abgeänderte Kurs der „liberals“ des 20. Jahrhunderts ist nur schwer klar bestimmbar, da er sich nicht auf eine klare Ideologie oder ein bestimmtes geschichtliches Vorbild gründet. William Gerber definiert den neuen „liberalism“ als „belief that individuals and institutions, including governments, should so act – or refrain from acting – as to liberate as many individuals as possible from as many shackles as possible, without overturning the basic social machinery.“[16] Dies verdeutlicht, dass die Regierung durchaus eine aktive Rolle einnehmen soll, um den Bürgern die Freiheit zu garantieren, ihren persönlichen Zielen nachzugehen, da die Bedrohung der Freiheit für sie nicht mehr allein vom Staat ausgeht. „Liberals“ sehen einen Teil der Aufgabe des Staates in der Schaffung von Chancengleichheit für die Bevölkerung zur Erfüllung des „American Dream“ (siehe Kapitel 2.4). Konservative dagegen sind weiterhin vor allem in wirtschaftlichen Fragen allen staatlichen Eingriffen gegenüber misstrauisch eingestellt und wollen die Macht der Zentralregierung minimieren. Als Hauptrepräsentanten des amerikanischen Konservatismus des 20. Jahrhunderts gelten Präsident Ronald Reagan und der Ökonom Milton Friedman.[17]
Doch bei allen Konflikten zwischen diesen beiden politischen Lagern der USA gilt dennoch: „both modern liberalism and modern conservatism have roots in classical Jeffersonian liberalism.“[18] Beide Strömungen sehen die Freiheit der amerikanischen Bürger als zentralen Wert an. Sie unterscheiden sich aber im Verständnis dieser Freiheit und vor allem in der Frage, welche Rolle der Staat zur deren Bewahrung oder Ausweitung einnehmen sollte. Dass diese Differenz zu heftigen politischen Auseinandersetzungen führen kann, zeigt sich nicht zuletzt in der Debatte um die Entwicklung des amerikanischen Gesundheitssystems.
Die Mentalität und das Selbstverständnis der Amerikaner sind bedeutend von der Ideologie des Individualismus beeinflusst; sie liegt „at the very core of American culture.“[19] Dies bedeutet einerseits, dass die Einzigartigkeit und die „sacredness“[20] eines jeden einzelnen Bürgers stark betont werden. Andererseits wird jedes Individuum zunächst für sein Glück oder seinen Misserfolg als selbst verantwortlich gesehen und kann wenig Unterstützung von anderen oder gar dem Staat erwarten.
Die Ursprünge des Individualismus liegen in der Besiedelungsgeschichte der USA. Die Einwanderer aus vielen verschiedenen fremden Ländern fanden sich im neuen Land zunächst auf sich allein gestellt; das Überleben hing von den Erträgen der eigenen Arbeit ab. Der in Frankreich geborene Schriftsteller J. Hector St. John de Crèvecœur sah hier einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der europäischen Emigranten zu „echten“ Amerikanern. In „Letters from an American Farmer“ aus dem Jahre 1782 stellt er fest, dass die Arbeiter in Europa oft gezwungen waren, die Früchte ihrer Anstrengungen an Fürsten oder Herrscher abzutreten. Dagegen gründe sich die Arbeit eines Amerikaners „on the basis of nature, self-interest; can it want stronger allurement?“[21]
Auch die Formen der Religion in Amerika begünstigten die Entfaltung des Individualismus. Dass der Glaube eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der amerikanischen Kultur einnimmt, lässt sich alleine daran erkennen, dass die ersten Kolonien von strenggläubigen Puritanern gebildet wurden. Doch auch in der heutigen Zeit besitzt die Religion in Amerika große Bedeutung. 82% der Amerikaner äußerten in einer Harris-Umfrage aus dem Jahre 2009, dass sie an Gott glauben – weit mehr als in anderen westlichen Ländern.[22] Darüber hinaus zeigen sich in der Struktur und der Ausübung der Religion deutliche Unterschiede. Vor allem die katholische Kirche legt traditionell viel Wert auf klare hierarchische Strukturen. Für Priester sind daher nicht die freie Entfaltung des Glaubens zentral, sondern der Gehorsam und die Unterordnung unter kirchliche Dogmen und Vorgaben. In den USA dagegen steht anstatt gleichförmiger Andacht die persönliche Beziehung jedes einzelnen Gläubigen zu Gott im Vordergrund, welche jeder für sich ohne Beeinflussung durch Kirchen oder Synagogen finden sollte.[23] Die individuelle Entscheidung für eine Religion ist dabei „a central part of self-definition.“[24] In den Vereinigten Staaten existieren viele verschiedene protestantische Strömungen, die nicht einer zentralen Autorität – wie etwa dem Papst – unterstehen, sondern in welchen die einzelnen Kirchengemeinden weitgehend eigenständig agieren.[25] Der amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset stellt fest: „American Protestant sectarianism has both reinforced and been strengthened by social and political individualism.”[26]
Im 18. Jahrhundert verstärkten säkulare Vorstellungen der Aufklärung die im Protestantismus vorhandenen individualistischen Neigungen.[27] Benjamin Franklin wurde zur Gallionsfigur der Strömung des utilitaristischen Individualismus, welche das Streben jedes Einzelnen nach individueller Verbesserung und ökonomischen Erfolg in den Mittelpunkt rückt, ohne dabei auf die Auswirkungen für die Gemeinschaft zu achten.[28] In seiner „Autobiography“ schildert Franklin, wie er mit harter Arbeit und Selbstdisziplin seine Ziele erreichte, was viele Amerikaner dazu inspirierte, es ihm gleichzutun. Diese verbreitete Fokussierung auf das Rationale löste auch die Gegenreaktion des „expressive individualism“[29] aus. Diese Einstellung, für die der Dichter Walt Whitman beispielhaft steht, betonte anstatt Selbstdisziplin die freie Entfaltung der individuellen Persönlichkeit auch in künstlerischer und sexueller Hinsicht.
Die starke Ausprägung des Individualismus in Amerika stellte der französische Publizist Alexis de Tocqueville in seinem 1835 erschienenen Buch „Democracy in America“ dar. Er beschrieb den Individualismus als „mature and calm feeling, which disposes each member of the community to sever himself from the mass of his fellows and to draw apart with his family and his friends, so that […] he willingly leaves society at large to itself.”[30] Er erkannte zwar die Vorteile der Eigenverantwortlichkeit und der Selbstständigkeit in Amerika, sah aber auch die Gefahren des Individualismus. Die Abgrenzung der einzelnen Bürger voneinander und von der Gemeinschaft wirkt für ihn zerstörerisch auf die Gemeinschaft und damit auf die Grundlagen von Demokratie und Freiheit.[31]
Anders als Tocqueville begriff der amerikanische Schriftsteller Ralph Waldo Emerson den im 19. Jahrhundert vorherrschenden Individualismus nicht als Bedrohung. Er sah umgekehrt in der erzwungenen Konformität der Gesellschaft die Gefahr der Unterdrückung der Individuen, denn „society is everywhere in conspiracy against the manhood of everyone of its members.“[32] Er empfand es als gerecht, dass jeder Einzelne nur gegenüber sich selbst und seinem eigenen Schicksal verpflichtet ist. Dies bringt mit sich, dass jeder Erfolg als persönliche Leistung, jeder Misserfolg aber auch als eigene Niederlage, für die man nur selbst verantwortlich ist, angesehen wird. Daher haben nach dieser Ansicht Arme und Arbeitslose keinerlei Unterstützung von anderen verdient: „do not tell me, as a good man did to-day, of my obligation to put all poor men on good situations. Are they my poor?“[33]
In der Zeit zwischen dem Bürgerkrieg und dem ersten Weltkrieg erlebten die USA eine industrielle und wirtschaftliche Blütephase. Zahlreiche technologische Entwicklungen und Erfindungen veränderten die Gesellschaft rapide. Einige „predatory capitalists“[34] nutzten die Zeichen der Zeit und bereicherten sich auch auf Kosten anderer. Doch auch die wachsende Ungleichheit und die Ausbeutung vieler Arbeiter änderte nichts an dem Vertrauen auf den Individualismus. Der spätere US-Präsident Herbert Hoover glaubte an die spezifisch amerikanische Version des „rugged individualism“[35], welche auf der Schaffung von Chancengleichheit für alle basiere. Doch es zeigte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts, dass viele Amerikaner weiterhin jeden als selbst verantwortlich für sein Schicksal sahen und deshalb staatliche Eingriffe ablehnten.
Eine Ideologie, welche die amerikanische Identität von Anfang an stark geprägt hat und sich bis heute auswirkt, ist der amerikanische Exzeptionalismus. Dieser steht für das „Überlegenheitsgefühl der U.S.-amerikanischen Nation als welthistorisch singulär und politisch-gesellschaftlich einzigartig im Vergleich mit allen anderen Nationen“[36]. Die Überzeugung des Exzeptionalismus geht dabei weit hinaus über das Anerkennen der zahlreichen kulturellen, sozialen, demographischen Unterschiede, die zwischen allen Nationen existieren: er beinhaltet den Glauben an eine Ausnahmestellung der USA in den Reihen der westlichen Staaten, aus der sich eine Vorbildfunktion und die besondere Mission der Bewahrung zentraler Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit ergibt.[37] Wenn sich auch die Begründung für diese Stellung Amerikas im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat und sie zur Rechtfertigung verschiedenster, teils widersprüchlicher politischer Vorstellungen verwendet wurde, ist das Konzept des Exzeptionalismus bis heute tief in der amerikanischen Mentalität verwurzelt; „[it] is a part of the ideology of what it means to be an American, and it is quite literally un-American to think the United States is not a special place.“[38]
Der Ursprung des Exzeptionalismus lässt sich unmittelbar zu den Anfängen der amerikanischen Kolonien im 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Die damalige Vorstellung war stark von den religiösen Überzeugungen der Puritaner geprägt. Der Ausgangspunkt hierfür ist die Predigt „A Model of Christian Charity“ des Puritaners John Winthrop aus dem Jahre 1630. In dieser an der Bergpredigt angelehnten Rede erklärt er die Kolonialisten für auserwählt von Gott. Mit der Hilfe Gottes könnten sie nun eine neue, bessere Gesellschaft errichten, die allen anderen Nationen ein leuchtendes Beispiel biete: „For we must consider that we shall be as a city upon a hill. The eyes of all people are upon us.“[39]
Diese zunächst rein religiöse Begründung des Exzeptionalismus wurde im Laufe der Zeit abgewandelt und durch weltliche Ideen ergänzt. „Im Zuge eines […] Säkularisierungsprozesses ersetzten die Aufklärung, Politik und Recht im Amerika des 18. Jahrhunderts das Heilsgeschehen als Bezugsrahmen für den Exzeptionalismus und als Gegenstand für Verantwortung und Mission.“[40] Für diesen Umschwung von der religiösen zur säkularen Interpretation steht vor allem Benjamin Franklins Autobiographie. In dieser begründet er Amerikas Ausnahmestellung durch die auf die Ideale der Freiheit und Gleichheit aufgebaute demokratische Gesellschaft, welche in Gegensatz steht zu den von Feudalismus und Korruption geprägten europäischen Nationen.[41] Durch diese Auffassung wird die bereits in der religiösen Interpretation vorhandene Vorstellung von Amerika als Vorbild für andere Staaten weiter vorangetrieben. Verstärkt wurde dies durch die Revolution gegen Großbritannien und die Gründung eines neuen Staates durch die amerikanische Verfassung, welche auf den Werten der Freiheit und Gleichheit aller Menschen basiert.
Im 19. Jahrhundert verband sich die Vorstellung einer Vorbildrolle Amerikas mit einem Sendungsbewusstsein. Die Staatsform und die Grundwerte der Neuen Welt sollten nicht nur auf eine kleine Gemeinschaft beschränkt bleiben, sondern sich über den gesamten Kontinent ausbreiten. Für diese Denkweise wurde von John L. O’Sullivan der Begriff „Manifest Destiny“ geprägt. In einem im Jahre 1845 erschienenen Artikel beschrieb er das amerikanische „manifest destiny to overspread the continent allotted by Providence for the free development of our yearly multiplying millions.”[42] Hier zeigt sich aber auch die Kehrseite eines übersteigerten Überlegenheitsgefühls. Die indianischen Ureinwohner wurden als Barbaren betrachtet, welche der Ausbreitung der Zivilisation im Wege standen und welche deshalb im Namen des Schicksals und des Fortschritts bekämpft werden mussten.[43]
Die Expansion des Staates und der Zivilisation über den nordamerikanischen Subkontinent in bis dahin unergründetes Gebiet ist eine spezifisch amerikanische Erfahrung. Für Frederick Jackson Turner hat das Aufeinandertreffen von Zivilisation und Wildnis an der nach Westen wandernden Staatsgrenze erheblich zur Herausbildung eines eigenen amerikanischen Nationalcharakters beigetragen. In seinem 1893 erschienenen Aufsatz „The Significance of the Frontier in American History“ argumentiert Turner, dass der ständige Kontakt mit den Gefahren der Wildnis zur Herausbildung spezifisch amerikanischer Tugenden und Eigenschaften wie Einfallsreichtum, Pragmatismus und Individualismus geführt habe.[44] Dies bedeutet gleichzeitig eine scharfe Abgrenzung zu europäischen Mentalitäten. Die sogenannte Frontier-These erklärte somit den „process of self-transformation from corrupted European to perfected American”[45] und lieferte ihren Vertretern eine weitere Bestätigung für die herausragende Stellung Amerikas in den Reihen der westlichen Nationen.
Der Glauben an die Besonderheit Amerikas und an die Mission, anderen Nationen den Weg zu weisen, wurde im 20. Jahrhundert durch die wirtschaftliche und militärische Stärke der USA gesteigert.[46] Nach dem Ende der Besiedelung des Kontinents wurde die Außenpolitik der USA zunehmend interventionistisch. Woodrow Wilson sah die Aufgabe der USA im Ersten Weltkrieg darin, die Demokratie in der Welt zu sichern.[47] Ebenso halfen die Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg, die Ausbreitung des Totalitarismus in Europa zu verhindern. Der amerikanische Verleger Henry Luce hatte im Jahre 1941 in seinem Artikel mit dem bezeichnenden Titel „The American Century“ gefordert: „We must undertake now to be the Good Samaritan of the entire world. It is the manifest duty of this country to undertake to feed all the people of the world.”[48] Deutlich zeigt sich hier die globale Orientierung der amerikanischen Mission. Nach der siegreichen Beendigung des Zweiten Weltkrieges wurde die Überzeugung, dass die USA die Bewahrer von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit waren, in der Zeit des Kalten Krieges noch weiter verstärkt durch den Gegensatz zum Feindbild der kommunistischen Sowjetunion,. Tatsächlich ist bemerkenswert, dass es in der Geschichte der USA anders als in den meisten anderen westlichen Ländern nie zur Bildung von nennenswerten sozialistischen Bewegungen kam. Als Gründe hierfür können der vergleichbar große Wohlstand der Bürger, das Wahlsystem, das Fehlen einer feudalen Vergangenheit und die egalitäre Gesellschaftsstruktur genannt werden.[49] Das System des Sozialismus gilt vielen bis heute als Antithese zu allen amerikanischen Werten; so wird nahezu jede versuchte Vergrößerung des staatlichen Einflussbereiches von Vorwürfen, dies seien nur sozialistische Maßnahmen zur Beraubung der Freiheit der Bürger, begleitet.
Die bleibende Relevanz des amerikanischen Exzeptionalismus findet ihren Niederschlag auch in zahlreichen Reden verschiedener Präsidenten der Nachkriegszeit. John F. Kennedy betonte bei seiner Amtseinführung, dass Amerika stets wie von den Gründervätern gewollt die von Gott gegebenen Menschenrechte und die Freiheit auf der ganzen Welt verteidigen werde.[50] Ronald Reagan zitierte in seiner Abschiedsrede direkt Winthrops Vorstellung der „city upon a hill“[51] ; und bereits vor seiner Ernennung zum Präsidenten war er überzeugt: „the leadership of the free world was thrust upon us two centuries ago in that little hall in Philadelphia.“[52] Auch George W. Bush bekannte sich deutlich zum Konzept des Exzeptionalismus und der Vorstellung, „[that] our nation is chosen by God and commissioned by history to be the model to the world of justice.“[53]
Doch bei aller Attraktivität und Relevanz der Vorstellung wurde das Konzept des Exzeptionalismus auch in Frage gestellt. Die dunklen Seiten der amerikanischen Geschichte wie die blutige Unterdrückung der indianischen Ureinwohner oder die Sklavenhaltung hatten bereits früh Zweifel an der besonderen Stellung und Mission der Vereinigten Staaten aufkommen lassen. In den 1970er Jahren führten die Watergate-Affäre und vor allem die demütigende Erfahrung des Vietnamkriegs zu einem verstärkten Aufkommen von Kritik.[54] Der Soziologe Daniel Bell erklärte das Scheitern in Vietnam teilweise durch die Selbstüberschätzung der USA, welche aus egoistischen Interessen als Anführer der freien Welt gelten wollten.[55] Er forderte nach dem Verlust der moralischen Autorität ein Umdenken und die Erkenntnis, dass Amerika keine Ausnahmestellung mehr zukomme und dass es keine amerikanische Mission zur Erleuchtung und Führung anderer Nationen gäbe.
Inwieweit es tatsächlich gerechtfertigt ist, von eine Sonderstellung oder gar einer Überlegenheit Amerikas insbesondere gegenüber europäischen Staaten zu sprechen, mag umstritten sein. Unleugbar ist jedoch, dass der Glaube an den Exzeptionalismus über Jahrhunderte hinweg starken Einfluss auf die amerikanische Mentalität und somit auch auf die Politik ausübte.[56] Ein Grund hierfür ist, dass sich das Konzept mit den verschiedensten politischen Vorstellungen und Zielsetzungen vereinbaren lässt. Nach Ansicht des Historikers Knud Krakau bedient das Konzept des Exzeptionalismus „ein Repertoire von Argumenten, mit deren Hilfe in einem offenen, demokratischen politischen System sehr unterschiedliche Positionen um Unterstützung für ihre Ziele werben, indem sie diese in den Strom der nationalen Mythologie einbinden und sie in deren Kategorien „erklären“, vertraut und akzeptanzfähig machen.“[57]
Ein Mythos, der seit Jahrhunderten Teil des amerikanischen Selbstverständnisses ist und auch die Sicht der Europäer auf Amerika stark beeinflusst hat, ist der „American Dream“. Dieser Begriff wurde erst im Jahre 1931 von James Truslow Adams geprägt, der ihn als „that dream of a land in which life should be better and richer and fuller for everyone, with opportunity for each according to ability or achievement”[58] definiert. Die utopische Vorstellung von Amerika als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in welchem Freiheit und Gleichheit herrschen und in welchem der persönliche Erfolg nicht von Geburt und Klassenzugehörigkeit vorherbestimmt ist, sondern nur von den eigenen Tugenden und Anstrengungen abhängt, ist allerdings weit älter als Adams Definition.[59]
Die Spuren des American Dream reichen dabei noch vor die Entstehung der Vereinigten Staaten zurück bis zur Entdeckung des amerikanischen Kontinents. Die Existenz eines fremden Kontinents erschien wie das Versprechen einer neuen, heilen Welt im Gegensatz zu den harten Lebensumständen im Europa des Mittelalters. Das unerforschte Amerika verhieß die Möglichkeit des Beginns eines neuen Lebens und „almost immediately became the country on to which the European imagination projected its cherished notions of a paradise on earth.“[60] Eine besondere Bedeutung bekam diese Vorstellung durch die protestantischen Auswanderer, die vor religiöser Verfolgung in ihrer Heimat flüchteten und in Amerika auf ein unbehelligtes Leben gemäß ihren religiösen Grundsätzen hofften. Sie glaubten, das neue Land sei ihnen von Gott geschenkt worden, da sie nach der Reformation zum richtigen Glauben gefunden hätten und betrachteten sich selbst deshalb als auserwählt.[61] Auch waren sie der Überzeugung, dass materieller Wohlstand ein Zeichen der Gunst Gottes war, während Armut folglich als Strafe für Faulheit oder Unwissenheit begriffen wurde.
Die Anziehungskraft Amerikas beschränkte sich jedoch nicht auf religiöse Flüchtlinge. Immer mehr Europäer suchten nicht religiöse Verwirklichung, sondern wollten die Armut und Ausbeutung in Europa hinter sich lassen und in Amerika frei von allen Zwängen kraft der eigenen Arbeit eine neue Existenz aufbauen. J. Hector St. John de Crèvecœur zeigte diese Möglichkeiten für mittellose Auswanderer auf, warnte jedoch ebenso, dass nicht allen gleichermaßen Erfolg beschieden sei: „it is not every emigrant who succeeds; no, it is only the sober, the honest, and industrious.“[62] Die Voraussetzung für diese Möglichkeit war die gesellschaftliche Gleichheit aller Menschen. Im Gegensatz zur großen sozialen Ungleichheit in Europa, wo die wenigen Herrschenden im Überfluss lebten, während große Teile der Bevölkerung Hunger leiden mussten, war die amerikanische Gesellschaft egalitär geprägt. Diese Vorstellung fand Eingang in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung durch den berühmten Satz: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.”[63] Dier Feststellung der Gleichheit der Bürger bedeutet hier nicht wie in kollektivistischen Systemen die zwanghafte Aufhebung aller materiellen Unterschiede, sondern wendet sich direkt gegen die feudalistische Ordnung in Europa und betont, dass allen Menschen unabhängig von Herkunft oder Nationalität gleiche Rechte gesichert sind.
Während in Europa der soziale Status stark von der Abstammung geprägt wurde, erreichte man in Amerika gesellschaftliches Ansehen durch den Erfolg der eigenen Arbeit - auch oder gerade wenn man aus einer armen Familie kam. Senator Henry Clay prägte im Jahre 1832 den Begriff des „self-made man“, der sich aus Armut hocharbeitet und beruflichen Erfolg und soziale Achtung gewinnt.[64] Als Musterbeispiel hierfür lässt sich erneut Benjamin Franklin anführen; sein Leben und seine Schriften „came to define the American Dream.“[65] Obwohl er aus einfachen Verhältnissen kam, erreichte er durch Talent, Selbstbildung und Disziplin Erfolge als Schriftsteller, Erfinder und Politiker und dient deshalb vielen als Vorbild.
Diese Orientierung des American Dream am individuellen Erfolg trug allerdings auch zur Entwicklung einer materialistischen Weltanschauung bei. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte im Zuge der Industrialisierung einschneidende Veränderungen der Gesellschaft wie der Wirtschaft mit sich und schuf damit auch neue Möglichkeiten des individuellen Aufstiegs. Während aber zuvor vor allem die Überwindung von Armut und die Sicherung eines gewissen Lebensstandards im Zentrum des Traumes standen, schoben sich nun der rücksichtslose Aufstieg um jeden Preis und die Zurschaustellung des eigenen Reichtums in den Vordergrund. Die Autoren Mark Twain und Dudley Warner prägten für diese Zeit den Ausdruck „The Gilded Age“ (zu Deutsch: Das vergoldete Zeitalter) und kritisierten damit die vorherrschende materialistische Oberflächlichkeit.[66]
Während sich einerseits die Auswüchse des Erfolgsmythos des American Dream in kapitalistischer Raffgier zeigten, blieb weiten Teilen der Bevölkerung die im Idealbild vorgegebene Möglichkeit des Aufstiegs verwehrt. Zwar existierte in Amerika seit dem 17. und 18. Jahrhundert im Vergleich zu Europa eine freiere Gesellschaft mit größeren Hoffnungen für Immigranten, doch galt dies bei weitem nicht für alle Bürger. Frauen, amerikanische Ureinwohner, Asiaten und Schwarze wurden über den Großteil der amerikanischen Geschichte hinweg diskriminiert und von der Teilhabe am American Dream ausgeschlossen. Somit galt die Verheißung einer reellen Aufstiegschance bis vor kurzem nur für etwa ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung.[67] Die Civil-Rights-Bewegung der 1960er Jahre wandte sich gegen diese Diskriminierung der schwarzen Amerikaner. Martin Luther King bezog sich in seiner berühmten Rede im Jahre 1963 in Washington direkt auf die Ideologie des amerikanischen Traumes und die Versprechungen in der Unabhängigkeitserklärung: „I still have a dream. It is a dream deeply rooted in the American dream. I have a dream that one day this nation will rise up and live out the true meaning of its creed: ‘We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal.’”[68]
Doch auch bei allen Unzulänglichkeiten und Schattenseiten des Konzepts des American Dream besitzt es auch heute noch weitreichende Strahlkraft als „source of hope and a vital force of social transformation.“[69] Dies zeigt sich auch darin, dass nahezu alle Präsidenten der Vereinigten Staaten sich in verschiedenen auf diese Vorstellung beriefen.[70] Eine prägnante Wiedergabe der Ideologie fern aller mythischen Überhöhung oder materialistischen Besessenheit lieferte dabei Bill Clinton im Jahre 1993: „The American Dream that we were all raised on is a simple but powerful one – if you work hard and play by the rules you should be given a chance to go as far as your God-given abilities will take you.”[71]
Die ersten Grundlagen zur Errichtung eines umfassenden Gesundheitssystems in den USA und die Anfänge des sogenannten „Welfare State“ wurden in den 1930er Jahren durch Präsident Franklin D. Roosevelt geschaffen. Um die Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit während der Großen Depression zu lindern, führte Roosevelt im Rahmen seines „New Deals“ zahlreiche verschiedene soziale und wirtschaftliche Reformprogramme ein. Zwar bleibt die Wirksamkeit der Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft bis heute zweifelhaft und umstritten, doch stellt insbesondere der im Jahre 1935 erlassene „Social Security Act“ eine einschneidende Veränderung des sozialen Systems der USA dar, auf welche sich alle weiteren Entwicklungen des amerikanischen Gesundheitswesens gründen.
Die 1930er Jahre standen ganz im Zeichen der Großen Depression. Der Zusammenbruch der Wirtschaft im Jahre 1929 war der Anfang einer Krise nie zuvor gesehenen Ausmaßes, welche über ein Jahrzehnt andauern sollte.[72] Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen betrafen alle Bevölkerungsschichten. Während sich die Arbeitslosenquote vor Beginn der Krise im Jahre 1929 bei lediglich 3,2% befand, stieg sie bis zum Jahre 1933 auf 24,9% und lag noch 1940 bei 14,9%.[73] Erst durch die erhöhten Aufträge für die amerikanische Industrie durch den Verlauf des Zweiten Weltkrieges normalisierten sich die Arbeitslosenzahlen wieder. Dadurch zeigte sich, dass das bis dahin rudimentäre Sozialsystem den Anforderungen einer industriellen Gesellschaft den 20. Jahrhunderts nicht gewachsen war. Der verbreitete Glaube, dass jeder sich nur auf sich selbst oder auf sein nahes Umfeld verlassen sollte, wurde durch die Krise untergraben. Im Jahre 1931 waren lediglich 116.000 Angestellte von einer freiwilligen Arbeitslosenversicherung abgedeckt; ein Jahr später hatten nur 15% der industriellen Arbeiter eine private Altersvorsorge.[74] Ein ähnliches Bild zeigte sich bei den Senioren: zwar boten 28 Staaten im Jahre 1934 Renten für notleidende Ältere an, jedoch bekamen nur etwa 400.000 der 6,6 Millionen bedürftigen Senioren tatsächlich staatliche Unterstützung.[75]
Ebenso wurde offenbar, dass der Staat stärker in den wirtschaftlichen Sektor eingreifen musste. Der bei Ausbruch der Großen Depression amtierende republikanische Präsident Herbert Hoover versuchte erfolglos, die Krise mit konservativen Methoden in den Griff zu bekommen. Seine Maßnahmen waren stets von zwei Überzeugungen geleitet: erstens, dass der Staat niemals in den Wettbewerb zu privaten Unternehmen treten dürfe; sowie zweitens dass der Staatshaushalt immer ausgeglichen sein sollte.[76] Infolgedessen wandte sich Hoover gegen eine bundesweite Arbeitslosenunterstützung, denn er befürchtete eine weitere Vergrößerung des Defizits. Gemäß seinen Überzeugungen änderte er nichts am wirtschaftlichen System der USA, da er weiter auf die Leistungsfähigkeit des privaten Sektors vertraute. Vor einschneidenden staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft schreckte er zurück, da er diese als Einschränkung der Freiheit der Bevölkerung betrachtete.[77] Durch Hoovers Scheitern angesichts der Krise zeigte sich, dass die Regierung eine größere Rolle bei der Bekämpfung der Großen Depression einnehmen musste. Dies ebnete den Weg für Roosevelts „New Deal“.
Die Unzufriedenheit der amerikanischen Bevölkerung mit Hoover wurde am Wahltag im November 1932 deutlich. Der Wunsch nach neuen Strategien im Kampf gegen die Krise verhalf dem Demokraten Roosevelt zu einem klaren Sieg: er erhielt 57,4% der Stimmen, während Hoover nur auf 39,7% kam.[78] Dabei stand Roosevelts Kampagne nicht immer in Gegensatz zu Hoover. Auch Roosevelt legte zunächst Wert auf einen ausgeglichenen Haushalt und hatte sogar Hoover für dessen überhöhte Ausgaben kritisiert.[79] Dennoch war er entschlossen, dem Staat mehr Verantwortung zukommen zu lassen, sodass sich am Tag seiner Amtseinführung nur eine Frage stellte: „not whether interventionism would increase, but what forms it would take.“[80]
Roosevelts „New Deal“ bestand einerseits aus wirtschaftlichen Reformmaßnahmen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, und andererseits aus sozialen Wohlfahrtsprogrammen, durch welche die Auswirkungen der Krise gelindert werden sollten. Das Besondere am New Deal war das Ausmaß und die Geschwindigkeit, mit welcher die Washingtoner Regierung ihren Einfluss ausdehnte.[81] Während die Wirtschaftspolitik bis dahin mehr vom Prinzip des Laissez-faire geleitet worden war, ereigneten sich bis 1938 zahlreiche direkte und regulative Eingriffe in die Privatwirtschaft, welche das Verhältnis von Staat und Wirtschaft erheblich veränderten.[82] Auffallend ist dabei, dass die die Gesamtheit der Maßnahmen Roosevelts nie einer klaren ökonomischen Leitlinie folgten. Albert Romasco stellt fest, dass Roosevelts New Deal Logik und Konsistenz fehlten; stattdessen wählte er frei „from a wide and contradictory variety of ideological programs both home-grown and imported, and more often than not he used them simultaneously.”[83] Ein Großteil der Gesetze des New Deals wurde von verschiedenen Interessengruppen beeinflusst, die versuchten, durch die Politik kurzfristige Vorteile zu erlangen.[84] Von einem rein wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen war der New Deal kein Erfolg. Zwar hatte Enttäuschung über Hoovers Scheitern bei der Bekämpfung der Großen Depression Roosevelt ins Amt verholfen; allerdings führten auch Roosevelts wirtschaftliche Maßnahmen keineswegs zu einer schnellen Erholung. Trotz seiner Anstrengungen lag die Zahl der Arbeitslosen im Jahre 1940 immer noch bei 9,5 Millionen. Auch blieb die industrielle Produktion unter dem Level von 1929, während die meisten westeuropäischen Staaten dieses bereits 1935 wieder überschritten.[85]
Neben den ökonomischen Maßnahmen war der zweite wichtige Teil des New Deals die Einsetzung von sozialen Wohlfahrtsprogrammen. Ebenso wie in der Wirtschaft vergrößerte sich hierbei der Einfluss des Staates. Während zuvor vor allem lokale Regierungen und das nahe Umfeld den Betroffenen zu Hilfe kamen, spielte nun die Zentralregierung eine große Rolle. Nach Roosevelts Auffassung bedeutete das Recht auf Leben gleichzeitig das Recht auf Leben frei von Not.[86] Gerade durch die Auswirkungen der Großen Depression sollte nun auch die Regierung dafür Verantwortung tragen. Der Eckpfeiler der sozialen Maßnahmen des New Deals war der 1935 erlassene Social Security Act, der trotz vieler Unzulänglichkeiten ein wichtiger Schritt in Richtung Wohlfahrt war.
[...]
[1] US Declaration Ind.
[2] US Const., pmbl.
[3] Lipset 1996, S.35.
[4] Vgl. Gerber 1987, S.71.
[5] Vgl. Gerber 1987, S.145.
[6] Hartz 1955, S.10.
[7] Dobelstein 1999, S.166.
[8] Locke 2006, S.261.
[9] Vgl. Garry 1992, S.49.
[10] Lipset 1991b, S.20.
[11] Smith und Sutherland 1993, S.292.
[12] Greenberg 1985, S.11.
[13] Garry 1992, S.82.
[14] Vgl. Dunn und Woodard 1991, S.43.
[15] Roosevelt 1941, S.xxx.
[16] Gerber 1987, S.111.
[17] Vgl. Lipset 1991b, S.35.
[18] Garry 1992, S.47.
[19] Bellah 1985, S.142.
[20] Bellah 1985, S.334.
[21] De Crèvecœur 2007, S.55.
[22] Vgl. Harris Interactive 2009.
[23] Vgl. Bellah 1986.
[24] Shafer 1991, S.237.
[25] Vgl. Lipset 1996, S.19.
[26] Lipset 1996, S.19.
[27] Vgl. Jillson 2004, S.2.
[28] Vgl. Bellah 1985, S.33.
[29] Bellah 1985, S.33.
[30] De Tocqueville 1840, S.104.
[31] Vgl. De Tocqueville 1840, S.104-106.
[32] Emerson 1841, S.3.
[33] Emerson 1983, S.262.
[34] Bellah 1985, S.43.
[35] Hoover 1928.
[36] Hebel 2008, S.312.
[37] Vgl. Krakau 2001, S.90-92.
[38] Calabresi 2006, S.1345.
[39] Winthrop 2007, S.146.
[40] Krakau 2001, S.97.
[41] Vgl. Madsen 2009, S.37.
[42] O’Sullivan 2003, S.2183.
[43] Vgl. Calabresi 2006, S.1361.
[44] Vgl. Turner 1970, S.97.
[45] Madsen 2009, S.123.
[46] Vgl. Krakau, S.107-109.
[47] Vgl. Calabresi 2006, S.1366.
[48] Luce 1999, S.11.
[49] Vgl. Lipset 1991a, S.6.
[50] Vgl. Kennedy 1961.
[51] Vgl. Reagan 1989.
[52] Reagan 1974.
[53] Zitiert nach Purdum und Mitchell 2000.
[54] Vgl. Kammen 1993, S.11.
[55] Vgl. Bell 1975, S.204.
[56] Vgl. Madsen 2009, S.1.
[57] Krakau 2001, S.110.
[58] Adams 1931, S.317.
[59] Vgl. Wasser 2000, S.42.
[60] Freese 1991, S.93.
[61] Vgl. Freese 1991, S.98.
[62] De Crèvecœur 2007, S.80.
[63] US Declaration Ind.
[64] Vgl. Hebel 2008, S.325.
[65] Jillson 2004, S.31.
[66] Vgl. Freese 1991, S.111.
[67] Vgl. Hochschild 1995, S.26.
[68] King 1963.
[69] Schulz 1999, S.484.
[70] Vgl. Freese 1991, S.87-89.
[71] Zitiert nach Hochschild 1995, S.18.
[72] Vgl. Tartell 1987, S.323.
[73] U.S. Department of Commerce 1975, S.135.
[74] Vgl. Badger 1989, S.229.
[75] Vgl. Badger 1989, S.229.
[76] Vgl. Deglar 1990, S.293-295.
[77] Vgl. Deglar 1990, S.294.
[78] Vgl. Kirkendall 1990, S.333.
[79] Vgl. Best 1991, S.19.
[80] Coleman 1989, S.75.
[81] Vgl. Coleman 1989, S.50.
[82] Vgl. Romasco 1983, S.219.
[83] Romasco 1983, S.5.
[84] Vgl. Franklin 1987, S.130.
[85] Vgl. Deglar 1990, S.298.
[86] Vgl. Kesler 1989, S.163.
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