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Bachelorarbeit, 2012
49 Seiten
1. Einleitung
2. Das Phänomen „Häusliche Gewalt“ – Begriffsbestimmung und Prävention
2.1 Definition
2.2 Prävention
2.2.1 BIG-Prävention
2.2.2 Interkulturelle Aspekte bei der Prävention
3. Häusliche Gewalt gegen türkische Frauen und Kinder
3.1 Die Situation in der Türkei
3.2 Exkurs: Entwicklungsschritte und Stationen der türkischen Frauenbewegung
3.3 Die Situation türkischer Migrantinnen in Deutschland
3.4 Die Entwicklung der häuslichen Gewalt in Berlin zwischen 2004 und
3.5 Häusliche Gewalt und Kinder
3.6 Fallbeispiele für die Täter- und die Opferperspektive
3.6.1 Hassan, als Elfjähriger nach Deutschland nachgeholt, ohne Schulabschluss und Berufsausbildung
3.6.2 Yüksel, in Ingolstadt geborener studierter Betriebswirt
3.6.3 Hakan, in München geborener Imbissbesitzer
3.6.4 Serap, mit 16 Jahren zwangsverheiratet
3.6.5 Hatice, eine Importbraut ohne Bindungen in und an Deutschland
3.6.6 Ahmet, als Zehnjähriger Zeuge und Opfer häuslicher Gewalt
4. Hilfsangebote für die Opfer häuslicher Gewalt in Berlin
4.1 Arbeitsansätze der Soziologie in der Arbeit mit Opfern häuslicher Gewalt
4.1.1 Der systemische Ansatz
4.1.2 Der klientenzentrierte Ansatz
4.2 Hilfs- und Beratungsangebote in Berlin
4.2.1 Beratungsstellen
4.2.2 Frauenhäuser
4.2.3 Zufluchtswohnungen
4.2.4 Klientelvergleich der drei Betreuungsformen
5. Fazit
Quellenverzeichnis
Meine Motivation zum Thema leitet sich u.a. von meiner Arbeit (zwei Phasen[1] von insgesamt 26 Wochen Dauer) im HIPPY-Projekt ab. Das Projekt „HIPPY“ der Arbeiterwohlfahrt Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg richtet sich an Migrantenfamilien mit Kindern im Alter von 4 bis 5 Jahren. Dabei werden einerseits die Kinder in der Entwicklung ihrer kognitiven Fähigkeiten sowie in der Ausbildung elementarer motorischer Grundfertigkeiten, andererseits deren Eltern in der Einübung des sachgerechten Umgangs mit pädagogischen Materialien gefördert (vgl. Halatci 2011: 3). Im Rahmen dieses Projektes hatte ich auch mit Familien zu tun, in denen mindestens ein Angehöriger Opfer von häuslicher Gewalt war. In eheähnlichen Gemeinschaften und gleichgeschlechtlichen Beziehungen existiert häusliche Gewalt, so dass in der Statistik des Berliner Interventionsprojektes bei häuslicher Gewalt (BIG) für 2010 insgesamt 4,5%, in der Polizeilichen Kriminalstatistik dagegen 23,8% weibliche Täter registriert wurden.
Auch wenn die Opfer häuslicher Gewalt nicht in jedem Falle weiblich und die Täter nicht in jedem Falle männlich sind (z.B. das Paar aus Berlin-Lichterfelde, bei dem die Frau ihren Partner mit mehreren Messerstichen schwer verletzte – vgl. http://www. tagesspiegel.de/berlin/ehedrama-in-lichterfelde/6224912.html) – möchte ich mich auf diese weit überwiegende Konstellation beschränken. Ein wichtiger Moment für mich war aber auch, dass eine junge Frau aus meinem weiteren Bekanntenkreis Opfer eines sogenannten Ehrenmords wurde (vgl. Becker u.a. 2010, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-80266942.html). Neben dem persönlichen Schockerlebnis war es für mich auch eine Situation, die mir zeigte, dass solche Gewalttaten in der Mehrheitsgesellschaft ohnehin vorhandene Vorurteile gegen die türkischstämmige Bevölkerung bestätigen.
Diese Erfahrungen waren Auslöser dafür, mich mit häuslicher Gewalt in türkischen Familien zu beschäftigen. Dabei stellte sich mir auch die Frage, inwieweit sich die türkische Frauenbewegung mit dieser Problematik auseinandergesetzt hat.
Gerade das Beispiel der Ehrenmorde zeigt aber, dass der Übergang von der öffentlichen zu häuslichen Gewalt ein fließender ist: Die „Bestrafung“ der Haushaltsangehörigen durch das Familienoberhaupt gehört zum Kern der häuslichen Gewalt, ihre Spitze, Mord und Totschlag, wird aber oftmals so ausgeführt, dass möglichst viele Nachbarn und Bekannte davon erfahren – auch wegen der dadurch vermeintlich wiederhergestellten Reputation des Mörders. Da das Gesamtthema „Gewalt“ ein sehr umfangreiches ist, möchte ich mich in der vorliegenden Arbeit auf den Bereich der häuslichen Gewalt beschränken, auf andere Gewaltverhältnisse kann nur am Rande eingegangen werden.
Doch zunächst soll es um den Begriff der „häuslichen Gewalt“ selbst gehen.
Für das öffentlich-rechtliche Handeln gelten allein die verbindlichen Begriffsbestimmungen der Polizei und Justiz, wonach der Begriff „Häusliche Gewalt" Gewaltstraftaten zwischen
1. Personen in einer partnerschaftlichen Beziehung, die derzeit besteht, die sich in Auflösung befindet oder die aufgelöst ist, oder
2. Personen, die in einem Angehörigenverhältnis zueinander stehen, soweit es sich nicht um Straftaten zum Nachteil von Kindern handelt,
unabhängig vom Tatort und nicht an die Voraussetzung eines gemeinsamen Wohnsitzes gebunden bezeichnet (vgl. Der Polizeipräsident in Berlin, 10/2001).
Außerdem existieren auch noch verschiedene andere Definitionen, so z.B. die der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG) oder die der einschlägig forschenden und lehrenden Juristin und Heilpädagogin Prof. Marianne Schwander.
Die BIG definiert „häusliche Gewalt“ etwas genauer, indem sie die Formen der „physischen, sexuellen, psychischen, sozialen und emotionalen Gewalt“ explizit erwähnt, „die zwischen erwachsenen Menschen stattfindet, die in nahen Beziehungen zueinander stehen oder gestanden haben. Das sind in erster Linie Erwachsene in ehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften, aber auch in anderen Verwandtschaftsbeziehungen“ (vgl. Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt, o.J.: 4). Letztlich sind beide oben genannten Definitionen aber deckungsgleich.
Frau Prof. Schwander hat offenbar die beiden vorgenannten Definitionen zusammengeführt, wenn sie häusliche Gewalt als „Gewaltstraftaten zwischen Personen, die innerhalb einer bestehenden oder aufgelösten familiären, ehelichen oder eheähnlichen Beziehung physische, psychische oder sexuelle Gewalt ausgeübt oder angedroht werden“ beschreibt und dabei auch die Tatortunabhängigkeit und die Nichtnotwendigkeit des gemeinsamen Wohnsitzes erwähnt (vgl. Schwander 2003: 83).
Neben den aufgezählten Formen der körperlichen, psychischen, sozialen und emotionalen Gewalt existieren jedoch auch weitere Formen. Mir fehlt zum Beispiel, dass die ökonomische Macht als weitere Form der Gewalt nicht genannt wird. Angesichts einer Arbeitslosigkeit unter den Berliner Türken von rund 40% (Brenke 2008: 504) ist der Streit um das Haushaltgeld kein Randphänomen, sondern vermutlich sogar einer der wichtigsten Auslöser für andere Formen häuslicher Gewalt. Ich finde diesen Aspekt ausgesprochen wichtig, weil es sich bei den von häuslicher Gewalt Betroffenen oft um Frauen in ökonomischer Abhängigkeit handelt.
Die Definitionen häuslicher Gewalt sind allesamt jüngeren Datums, da das Phänomen bis in die 1970er Jahre hinein als Privatsache der Betroffenen galt. Erst durch die langjährige Arbeit von Initiativgruppen, Frauenhäusern usw. wurde die Öffentlichkeit – auch die wissenschaftliche – soweit für das Thema sensibilisiert, dass seit Mitte der 1990er Jahre Polizei, Justiz und Jugendämter sich aktiv einschalteten und dafür natürlich eine Handlungsgrundlage, d.h. eine amtliche Definition benötigten. Seit 01.01.2002 bildet das Gewaltschutzgesetz – zusammen mit dem Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) als Berliner Landesrecht – die rechtliche Grundlage für das Handeln der staatlichen wie der nichtstaatlichen Akteure bei Fällen häuslicher Gewalt.
Nicht zur häuslichen Gewalt zählt die faktische Überlastung vieler Migrantinnen durch ihre männlichen Familienangehörigen, die ganz gewaltfrei, durch einfaches Nichtstun, auf die Dauer auch das Selbstbewusstsein der Frauen zerstört. Dafür gibt es ein Beispiel aus meinem erweiterten Bekanntenkreis: Eine junge Frau, verheiratet, mit jetzt zweieinhalbjähriger Tochter, plant zu studieren. Der importierte Ehemann, ohne Berufsabschluss, und dessen Bruder haben gemeinsam einen Imbiss übernommen. Nach wenigen Wochen leistet jedoch die junge Frau dort die meiste Arbeit (und ist auch noch für die Buchhaltung und den sonstigen „Papierkram“ zuständig), während die Männer selten auch nur anwesend sind. Die kleine Tochter wird in dieser Zeit bei der Mutter der jungen Frau „abgeladen“. Der Kindesvater ist sich selbst zum Wechseln der Windeln zu fein, sofern die Rückkehr seiner Frau aus dem Laden innerhalb der nächsten Stunde zu erwarten ist. Die junge Mutter wird permanent und auf mehreren Gebieten überfordert und unter dem Stress leidet sie erkennbar körperlich (u.a. Gewichtsverlust) wie seelisch (Depressionen) – Drohungen und Schläge sind dafür gar nicht nötig!
Der Begriff der Prävention (lat. praevenire: zuvorkommen) bezeichnet in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der häuslichen Gewalt Strategien, „die darauf abzielen, unerwünschte oder mit Leid verbundene Formen menschlichen Verhaltens oder Erlebens zu verhindern, möglichst rasch zu beenden oder mögliche, noch nicht eingetretene Folgewirkungen abzumildern“ (Kindler/Unterstaller 2006: 420). Im Zuge der wissenschaftlichen Diskussion wurde der ursprüngliche, allein auf die Vorbeugung gerichtete Begriffsinhalt stark ausgeweitet und die Intervention in gewaltgefährdeten Milieus als Sekundärprävention sowie die Intervention zur Verhinderung der Verfestigung bereits existierender Gewalterfahrungen als Tertiärprävention einbezogen.
Zur praktischen Umsetzung in Berlin bildete sich 1999 die Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG e.V.), die mit Unterstützung des Senats heute nicht nur ein Krisentelefon (BIG-Hotline), sondern auch eine Stelle zum Beobachten und Analysieren der Interventionen bei häuslicher Gewalt (BIG-Koordinierung) und eine Stelle zur Aufklärung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit (BIG-Prävention) betreibt. BIG-Koordinierung und BIG-Prävention werden vollständig vom Senat finanziert, BIG-Hotline erhält neben der Senatsfinanzierung auch private Spenden.
Das Konzept der BIG-Prävention ist aus der Studie von Corinna Seith (2006) hervorgegangen. In dieser Studie wurde das Kommunikationsverhalten der von häuslicher Gewalt betroffenen Kinder untersucht. Aus dieser Studie geht hervor, dass Mädchen und Jungen am häufigsten mit ihren Geschwistern über häusliche Gewalt reden würden. Am zweithäufigsten erzählen Mädchen ihren Freundinnen ihre Probleme und die Jungen vertrauen sich den Großeltern an.
Diese Untersuchung zeigt ebenfalls, dass bei häuslicher Gewalt Lehrerinnen und Lehrer selten als Vertrauenspersonen gewählt werden (nur ca. 14% empfinden es als einfach, mit dem Lehrer über häusliche Gewalt zu sprechen und ca. 35% nehmen eine mittlere Position ein, aber die Hälfte der befragten Kinder lehnte dies ab).
Hier wird deutlich wie wichtig es ist, Geschwister sowie Freundinnen und Freunde von betroffenen Kindern zu entlasten und ihnen Möglichkeiten zur indirekten Hilfe zu zeigen. Des Weiteren zeigt die Studie, dass in der Schule Veränderungen passieren müssen, damit die Lehrerinnen und Lehrer als Vertrauenspersonen wahrgenommen werden.
Insbesondere bei Migrantenfamilien ist häufig zu beobachten, dass die Kinder aus Angst, den guten Ruf der Familie zu schädigen, über ihre Gewalterfahrungen gegenüber Außenstehenden schweigen (vgl. Seith 2006:103ff.)
Entsprechend der oben skizzierten Ausweitung des Präventionsbegriffes sieht BIG drei Zielgruppen und Ebenen für präventives Handeln:
* Primäre Prävention
Bei der primären Prävention lernen Kinder und Jugendliche Konfliktbewältigungsstrategien. In einer durchmischten Gruppe verbessern sie ihr Verhalten.
* Sekundäre Prävention
Die sekundäre Prävention wendet sich an gefährdete Mädchen und Jungen, bei denen die Gefahr besteht in einer Gewaltsituation (z.B. Familie, benachteiligte Stadtteile, Cliquen mit gestörten Kommunikationsverhalten) zu sein oder zu geraten. Hier werden die Jugendlichen mit ihrem Verhalten konfrontiert und neue Möglichkeiten gezeigt.
* Tertiäre Prävention
Die tertiäre Prävention richtet sich an Kinder und Jugendliche, die bereits gewaltauffällig geworden sind. Dementsprechend handelt es sich meist um Aktivitäten in Kleingruppen bzw. um Einzelbetreuung, mit denen eine Verfestigung der gewaltorientierten Handlungsmuster verhindert werden soll.
In Berlin haben mittlerweile rund 45% der Kinder einen Migrationshintergrund, in einzelnen Stadtteilen ist diese Zahl noch weit höher und inzwischen gibt es mehrere Grundschulen in den Bezirken Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg ganz ohne ethnisch-deutsche Schülerinnen und Schüler. Entsprechend wichtig ist die interkulturelle Kompetenz der mit Prävention Befassten. Theoretische Überlegungen führten dazu, Rollendistanz, das Wissen über die hegemoniale Praxis von Einschluss und Ausschluss, Empathie und Sprachkenntnisse zu diesen Kompetenzen zu zählen. Praktische Erfahrungen ergänzten dies um die Punkte kulturelles Selbstbewusstsein und Stress- sowie Frustrationstoleranz, außerdem Wissen über die Herkunftsgesellschaften und deren kulturelle Standards (vgl. Jantz-Mühlig/Versen 2003: 5 und Toprak 2005: 6).
So kollidiert z.B. der in Europa entwickelte Individualismus, der auch dem deutschen Bildungs- und Erziehungssystem zugrunde liegt, mit der Norm der unbedingten Loyalität und Solidarität innerhalb der Familie (z.T. der Großfamilie), die in weiten Teilen Asiens von Anatolien bis China, aber auch Afrikas und anderer Erdteile gilt. Interna der eigenen Familie, darunter auch Gewalttätigkeiten von Familienmitgliedern untereinander, gehen gemäß dieser Norm niemanden außerhalb der Familie etwas an. Diese Abschottung gilt es zu überwinden, wenn Prävention tatsächlich Erfolge zeigen soll. Meine Erfahrung ist, dass Kontaktpersonen aus dem jeweils eigenen Kulturkreis einen wesentlich leichteren Zugang zu den (potentiell) Betroffenen finden und durch ihre Vertrautheit mit den andersartigen kulturellen Standards auch eher in der Lage sind, nicht deutlich Ausgesprochenes zu verstehen.
Für die Prävention unter Migrantinnen und Migranten besonders bedeutsam ist das Wissen um die Unterschiede in den Rollenbildern von Frau und Mann zwischen dem heutigen Deutschland und den Herkunftskulturen vieler Migrantengruppen. Daraus folgt, dass die Verhältnisse in Deutschland (so weit entfernt von tatsächlicher Gleichberechtigung sie auch noch sein mögen) für Jungen und Männer objektiv eine Positionsverschlechterung, für Mädchen und Frauen dagegen eine Positionsverbesserung gegenüber den Herkunftskulturen bedeuten. Entsprechend groß ist die Gefahr, dass Jungen und Männer in dem Bestreben, in ihrem persönlichen Umfeld die Statusminderung zu verhindern, Gewalt anwenden. Dieser Gefahr ist kurzfristig kaum wirkungsvoll zu begegnen, mittelfristig auch nur, wenn die deutsche Mehrheitsgesellschaft ihren kulturellen Anpassungsdruck massiv verstärkt. Anzeichen dafür sind in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik gegenwärtig jedoch nicht zu erkennen, so dass auch die reale Möglichkeit besteht, dass sich die traditionellen Rollenbilder von Mann und Frau wieder allgemein durchsetzen.
In der Türkei ist die Situation hinsichtlich der Frauenrechte sehr widersprüchlich. So besteht eine große Diskrepanz zwischen dem, was rechtlich festgelegt wurde und der gelebten Realität. 1985 hat die UNO die CEDAW[2] beschlossen. Die Türkei hat das Abkommen mitunterzeichnet. Als Folge davon mussten in der Türkei eine Reihe von Gesetzen überarbeitet und reformiert werden, so dass heute Frauen in der Türkei gesetzlich den gleichen Schutz und formell die gleichen Rechte wie z.B. in Deutschland haben. Die Formulierung „formell“ deutet schon an, dass bisher die Umsetzung in die Praxis jedoch noch nicht umfassend gelungen ist und es dabei auch ein erhebliches Gefälle zwischen den Regionen von West nach Ost gibt.
Die türkische Gesellschaft ist – ungeachtet aller Gesetze – auch heute noch stark durch Gewalt geprägt. Sie wird als etwas Selbstverständliches hingenommen und von Frauen und Männern nicht hinterfragt. Unglücklicherweise gehört sie zum Alltag. Nach Robert W. Connell (Connell 2006: 104, zit. n. Somersan 2011: 126) können zwei Formen der Gewalt unterschieden werden, die die ständige Gegenwart von Gewalt im Alltag verdeutlichen:
1. Zum einen als ein Mittel der privilegierten Gruppen der Männer gegenüber Frauen um die Herrschaft bzw. Dominanz zu sichern, d.h. Gewaltausübung als Unterdrückungsinstrument und
2. Zum anderen zwischen den Männern, um sich untereinander die Männlichkeit zu beweisen.
Laut Amnesty International werden täglich gegenüber Hunderttausenden von Frauen in der Türkei die Menschenrechte verletzt. Angaben der türkischen staatlichen Familienforschungsinstitution (TCBAAK) zufolge schlagen 25 % aller Männer, also jeder vierte Mann, seine Mutter, Ehefrau, Tochter, Schwester oder andere weibliche Verwandte. Bei Akademikern beträgt dieser Anteil immerhin noch 18% (vgl. Mor Çatı 1996, zit. n. Somersan 2011: 126).
In vielen Fällen beginnen die Verletzungen der Frauenrechte und Misshandlungen in der Familie. Bis heute hat die Familie eine sehr große Bedeutung in der türkischen Gesellschaft. Dies ist ein Grund dafür, dass diese Problematik meistens aus der familiären, d.h. privaten, nicht-öffentlichen, Perspektive betrachtet wird. Auch Frauen, die körperlich in der Verfassung sind, sich zu verteidigen, wagen es nicht sich zu wehren und nehmen die Misshandlungen hin.
Trotz der vielen Kampagnen gegen häusliche Gewalt und Ehrenmorde zeigen die Statistiken, dass Frauen, die sexueller Aktivitäten vor der Ehe oder ehelicher Untreue beschuldigt werden oder über die auch nur Gerüchte wegen bloßen „Herumflirtens“ im Umlauf sind, weiterhin von männlichen Familienangehörigen exekutiert werden (vgl. WWHR 2006: 32f., zit. n. Somersan 2011: 126). Dies macht deutlich, dass für Frauen das Ausleben ihrer sexuellen Bedürfnisse weiterhin faktisch unter Strafe steht und schlimmstenfalls mit dem Leben bezahlt werden muss. Sogar bei Vergewaltigungen, bei denen die Frauen Opfer sind, werden sie oft als die Schuldigen betrachtet. Im Rahmen einer Studie stimmten 4% von 50 Gerichtsmedizinern, 6% von 85 Psychologen, 10% von 100 Anwälten, 17% von 80 Richtern und Staatsanwälten und 33% von 100 Polizisten dem Satz zu: „Manche Frauen verdienen es, vergewaltigt zu werden.“ (vgl. Kerestecioğlu 2003: 8f., zit. n. Somersan 2011: 128).
Die Frage, ob „das Aussehen und die äußere Erscheinung von Frauen zur Vergewaltigung führen kann“ ergab ähnliche Prozentzahlen (ebd.). Diese Haltung findet man jedoch nicht nur in der Türkei. Es ist leider noch eine weltweit verbreitete Einstellung, dass Frauen an sexuellen Übergriffen wegen ihrer aufreizenden Bekleidung selber schuld seien, wie die Aussage eines Polizisten aus Toronto „Frauen sollten sich nicht wie Schlampen kleiden, um nicht schikaniert zu werden“, belegt (AFP-Meldung vom 28.05.2011, zit. n. http://www.spiegel.de/panorama/ gesellschaft/0,1518,765499,00. html).
In der Türkei besteht jedoch zusätzlich noch ein weiteres Problem, das in den strukturell verfestigten, maskulinistischen und hegemonial männlichen Praktiken der staatlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begründet ist. Diese „eingefahrenen Denk- und Handlungsmuster“ führen dazu, dass Verletzungen von Frauenrechten nicht anerkannt und geahndet werden. So versuchen Richterinnen und Richter vor Gericht die misshandelten Frauen zu überreden, zu ihren Männern zurückzukehren. Ähnliche Verhaltensweisen findet man bei Polizistinnen und Polizisten, wenn Frauen auf der Polizeistation Schutz vor ihren gewalttätigen Männern suchen (vgl. Arın 1996, 1998; Levine 1982, zit. n. Somersan 2011: 127).
Aktueller Ausdruck dieser Haltung ist die im türkischen Polizeimagazin, einer Dienstzeitschrift, im Januar 2012 veröffentlichte Ansicht des früheren Abteilungsleiters für Planung und Koordination bei der Generaldirektion für Sicherheit, Dr. Hasan Yağar, wonach „unsere Männer nicht grundlos einen Mord begehen“, ergänzt um die Folgerung, dass türkische Frauen selbst ihre Ermordung provozierten, was die Männer dann ihre Zukunft koste (http://derstandard.at/1330390456380/Gesetz-gegen-Pruegel-Ehemaenner-kommt). Bedenkt man, dass bei der Zahl von 257 ermordeten Frauen in der Türkei 2011 nur die vom eigenen Mann Ermordeten erfasst sind, Morde an Töchtern z.B. dagegen nicht, während in der Berliner Zahl von 5 getöteten Personen 2010 alle Opfer häuslicher Gewalt erfasst sind, so erscheint das Niveau von 1 hG-Mord pro 272.000 Einwohner in der Türkei gegenüber 1 hG-Mord pro 698.000 Einwohner in Berlin immer noch zu niedrig gegriffen zu sein.
Hinzu kommt, dass auch in der Türkei die Armut ganz überwiegend weiblich ist: rund 90% der absolut Armen sind geschiedene, verwitwete oder getrennt lebende Frauen, dabei gibt es keine statistisch messbaren Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Regionen (vgl. Hattatoğlu 2007, zit. n. Somersan 2011: 175).
Das Thema „Häusliche Gewalt“ geriet in Deutschland auch wesentlich durch die Frauenbewegung in die Diskussion. Es stellt sich die Frage, inwieweit sich die Frauenbewegung in der Türkei gegen die Gewalt gegen Frauen im Alltag zur Wehr setzt und welche Fortschritte dabei erzielt wurden.
Die türkische Frauenbewegung entstand schon Mitte des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich. Allerdings fanden sich auch hier – vergleichbar mit der Entwicklung in Westeuropa – nur die gebildeten Frauen Istanbuls zusammen, fast ausnahmslos dem Bildungsbürgertum oder hofnahen Kreisen entstammend, die sich für die Rechte der Frauen einsetzten und den Zugang zu Bildung und Arbeit für Frauen sowie die Abschaffung der Mehrfrauenehe und der islamischen Gesichtsbedeckung (Peçe) forderten. Es handelte sich dabei um verschiedene Gruppen, die u.a. Frauenzeitschriften herausgaben und sich in unterschiedlich ausgerichteten Frauenorganisationen engagierten. 1908 wurde der erste türkische Frauenverein gegründet. In dieser Zeit setzten sich Schriftstellerinnen wie Fatma Aliye Topuz oder Nezihe Muhiddin nicht nur für die Gleichstellung der muslimischen Frau, sondern auch der Frauen von anderen Religions- und Volksgruppen ein. Wie an der gesamten jungtürkischen Revolution waren auch an den Anfängen der Frauenbewegung Angehörige der armenischen Minderheit weit überproportional beteiligt (vgl. Koç 2009: 1 und Binder 2011: 1). Eine genauere Untersuchung der Gründe für dieses Phänomen steht noch aus, landläufig galten die Armenier jedoch als die am stärksten nach Europa ausgerichtete Bevölkerungsgruppe des Osmanischen Reiches.
Mit der Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923 waren zahlreiche Reformen und Modernisierungen verbunden, die auch die Frauenrechte betrafen. So wurde ein Zivilgesetzbuch nach dem Vorbild der Schweiz mit dem Verbot der Vielehe und der Egalisierung des Scheidungs- und des Erbrechts für Mann und Frau eingeführt. Dies brachte für die Frauenbewegung eine Wende: Ein Teil der Frauenbewegung wurde als sogenannter Staatsfeminismus vom Staatsapparat aufgesogen; und die Teile, die sich nicht mit dem Staatsfeminismus vertrugen, wurden verboten. Im gleichen Jahr gründete die Feministin Nezihe Muhiddin die Frauenpartei, die jedoch von der kemalistischen Revolutionsführung als zu radikal eingestuft und verboten wurde. Das politische Ziel der Frauenpartei, aktives und passives Wahlrecht für Frauen, wurde allerdings 1934 durch die kemalistische Staatspartei CHP verwirklicht. Ihr gesellschaftliches Ziel, Frauen das Rederecht in Moscheen zu erkämpfen, ist dagegen bis heute noch eine Utopie. Mit der Einführung des Frauenwahlrechts 1934 galt die Frau in der Türkei als emanzipiert und befreit. Die Realität sah jedoch, insbesondere außerhalb der Eliten[3], ganz anders aus. Eine vielseitige Entwicklung wurde Frauen nicht zugestanden. Sie wurden vom Staat in erster Linie als Lehrerinnen, Ärztinnen und Krankenschwestern gefördert – Berufe, die mit dem traditionellen Frauenbild der Kinderhüterin und -pflegerin große Schnittmengen haben (vgl. Binder 2011: 1).
Dieser „Staatsfeminismus“ duldete neben sich keinen zivilgesellschaftlichen Feminismus, so dass bis ca. 1975 eine Frauenbewegung oder feministische Organisationen praktisch nicht existierten (vgl. Koç 2009: 2).
Erst nach dem Militärputsch von 1980 wurde die feministische Bewegung wieder stärker. Hintergrund dafür war, dass alle politischen Vereinigungen verboten waren. Als Reflex darauf gründeten Frauen in den Großstädten wie Istanbul, Ankara oder Izmir Lesegruppen, um gemeinsam feministische Literatur aus den USA oder Westeuropa zu lesen. In diesen sogenannten Bewusstseinserhöhungsgruppen hinterfragten die Frauen auch die patriarchalen Verhältnisse in den linken Bewegungen und das Familienkonzept in der Türkei. Dabei wurde auch das geschlechtsspezifische Rollenverhalten untersucht und kritisiert, wodurch abweichend vom Staatsfeminismus Atatürks erstmals das Privatleben als politisches Thema aufgenommen wurde (vgl. ebd.).
Wie Ch. Binder in ihrem Artikel hervorhebt, machten deshalb die Ende der 80er Jahre gegründeten Frauenzeitschriften „Feminist“ und „Kaktüs“ besonders die sexuelle Belästigung und die Gewalt in der patriarchalen Gesellschaft der Türkei zum Thema (vgl. Binder 2011: 2).
Das Thema „Gewalt“ war dabei aus zweierlei Gründen wichtig: Zum einen weil durch das Militär nach dem Putsch verstärkt körperliche und politische Gewalt ausgeübt wurde und zum anderen fand über die Gewalt im Privatleben erstmals eine öffentliche Diskussion statt. Dabei wurde die allgegenwärtige sexuelle Belästigung als Unterdrückungsmechanismus angeprangert (vgl. Koç 2009: 3).
[...]
[1] Feldstudienphase im Februar 2010 und Praktisches Studiensemester im Sommer 2011
[2] CEDAW ist ein Abkommen was unteranderem die „Diskriminierung der Frau“ definiert, die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau und die Gleichberechtigung von Mann und Frau herbeiführt. Über 165 Länder haben CEDAW ratifiziert oder sind ihr beigetreten.
[3] So war z.B. der Staatspräsident Atatürk von 1923 bis 1925 mit einer in Großbritannien und Frankreich ausgebildeten Juristin namens Latife Uşşaki verheiratet, die für das Frauenwahlrecht und ein modernes Scheidungsrecht eintrat und ihre gegebenenfalls abweichende Meinung auch in der Öffentlichkeit zum Ausdruck brachte – also eher dem Bild der modernen „Westlerin“ als dem der traditionellen „Orientalin“ entsprach.