Bachelorarbeit, 2012
100 Seiten, Note: 1,0
1 Einleitung
2 Definitionen
2.1 Behinderung
2.2 Geistige Behinderung - der Versuch einer Begriffsbestimmung
3 Zahlen über Elternschaften bei Menschen mit geistiger Behinderung
4 Rechtliche Fragen im Zusammenhang der Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung
4.1 Das Normalisierungsprinzip
4.2 Übergeordnete gesetzliche Regelungen
4.3 Das Betreuungsgesetz
4.4 Rechtsstellung von Menschen mit geistiger Behinderung
4.5 Elterliche Sorge
4.6 Rechtliche Fragen hinsichtlich der professionellen Begleitung von Eltern mit geistiger Behinderung
5 Vorbereitung auf die Elternschaft und Hilfestellung während der Elternschaft
5.1 Methoden, Materialien und Werkzeuge
5.2 Unterstützungsnetzwerke als Hilfen bei der Ausübung der Elternschaft
5.3 Hilfen bei der Ausübung der Elternschaft durch die Bundesarbeitsgemeinschaft ‚Begleitete Elternschaft‘
5.3.1 Die Bundesarbeitsgemeinschaft ‚Begleitete Elternschaft‘
5.3.2 Ziele und Aufnahmebedingungen
5.3.3 Räumliche Ausstattung
5.3.4 Aufgaben und Qualifikation der BegleiterInnen
5.3.5 Rechtliche Grundlagen und Finanzierung
5.3.6 Arbeitsweisen/ Methoden
5.3.7 Schlussbemerkung
6 Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit
7 Zusammenfassung
8 Quellenverzeichnis
Anhang
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Vergleich ICIDH[1] / ICF[2]
Tabelle 2 Klassifikation des Schweregrades geistiger Behinderung nach ICD[3] -10
Tabelle 3 Anzahl der Elternschaften und Kinder
Tabelle 4 Vergleich von Sorgerechtsentzug und rechtlicher Betreuung
Tabelle 5 Finanzierungsmodelle für Unterstützungsmaßnahmen geistig behinderter Eltern in Deutschland
„Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein umso mehr". Wenn zu dieser großen Herausforderung eine weitere hinzu kommt, zum Beispiel in Form einer geistigen Behinderung eines oder beider Elternteile, gilt es eine Vielzahl von Fragen zu klären. Indessen wird eine Elternschaft geistig behinderter Menschen als Tabu-Thema beschrieben und kaum jemand weiß etwas darüber. Dies geht soweit, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung im Bereich der Familiengründung zahlreiche Einschränkungen ihrer Menschenrechte ertragen müssen. Während im Normalfall einer Frau zu ihrer Schwangerschaft gratuliert wird, löst die Schwangerschaft einer Frau, die als „geistig behindert“ eingestuft wird, in der Regel eher eine ablehnende Haltung aus. In vielen Fällen einer Elternschaft von Menschen mit speziellem Förderbedarf trennt das Jugendamt sofort nach der Geburt die Mütter von ihren oft gesunden Kindern. „Nur selten erhalten geistige behinderte Mütter die Chance, ihre Elternschaft auszuüben.“[4] Erst in den letzten Jahren wurden neue Studien eruiert und es entstanden Einrichtungen und Methodensammlungen zur Bearbeitung dieses Themas. Grund dafür ist der Wandel durch den Normalisierungsgedanken, die Selbstbestimmung und die Integrationsdiskussion.
Unter Betrachtung dieser Aspekte, ist es das Ziel dieser Arbeit die folgenden beiden Fragestellungen zu klären:
1. Welche rechtlichen Grundlagen gibt es im Zusammenhang mit einer Elternschaft von Menschen mit einer geistigen Behinderung?
2. Welche Unterstützungsmöglichkeiten für Eltern mit geistiger Behinderung gibt es? Erläuterungen am Beispiel der Bundesarbeitsgemeinschaft ‚Begleitete Elternschaft‘.
Das Ergebnis dieses Buches soll ein Leitfaden sein, der sowohl Professionellen in Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung, MitarebeiterInnen in Beratungsstellen, sowie Eltern und Angehörigen einen guten Überblick über die Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung gibt. Dabei befasst sich diese Zusammenstellung mit Unterstützungsmöglichkeiten im Falle eines Kinderwunsches, der Schwangerschaft und des Eltern-Seins. Im Anhang werden ausgewählte Methoden zur Bearbeitung des Themas in Gesprächen oder Seminaren zusammengetragen. Außerdem werden die rechtlichen Grundlagen für eine Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung aufgeführt.
Nicht alle Aspekte können in einer solchen Arbeit angesprochen werden. So verzichtet dieses Schriftstück darauf, den Wandel der Mutterrolle zu thematisieren. Auch Kompetenzen, die für eine Elternschaft notwendig sind, können hier nicht eingebracht werden. Ebenso interessant wäre die ethische Sichtweise unter Einbezug der Vorurteile, die es gegenüber Eltern mit geistiger Behinderung gibt. Dies sind nur einige Aspekte, die das Ausmaß dieses Beitrags jedoch bei weitem überschreiten würden. Dennoch soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, um den Blickwickel des Lesers zu erweitern.
Der erste Abschnitt dieser Aufzeichnung versucht den Begriff der Behinderung zu definieren. Ich bin mir hierbei durchaus bewusst und möchte aus diesem Grund auch schon an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es nicht den Menschen mit Behinderung gibt, da jeder Mensch in seiner Persönlichkeit individuell ist. Dennoch werde ich diesen Begriff im Folgenden verwenden, mit dem Bewusstsein, dass zu dieser Gruppe sehr unterschiedliche Menschen gezählt werden. Auch den Ausdruck der sogenannten geistigen Behinderung werde ich versuchen zu bestimmen. Der anschließende dritte Abschnitt befasst sich mit der Epidemiologie. Unter Punkt vier werden die rechtlichen Fragen im Zusammenhang der Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung geklärt. Weiterhin gibt diese Arbeit Hinweise und Anregungen zur Vorbereitung auf die Elternschaft und zur Hilfestellung für Menschen mit geistiger Behinderung während der Elternschaft. Wie die praktische Umsetzung aussehen könnte, soll am Beispiel der Bundesarbeitsgemeinschaft „Begleitete Elternschaft“ erläutert werden. Im letzten Abschnitt befindet sich der Bezug zur Profession Sozialer Arbeit.
Die definitorische und damit allgemeingültige Bestimmung des Begriffes „Behinderung“ bleibt trotz seiner alltäglichen und allgemein gebräuchlichen Verwendung schwierig. Der Grund der Schwierigkeit liegt zunächst in der Einzigartigkeit des Phänomens Behinderung. Dabei gibt es nicht den Menschen mit Behinderung, wohl aber viele unterschiedliche Ausprägungen organischer Schädigungen und deren geistigen und seelischen Beeinträchtigungen, sowie sozialer Folgen.[5]
Bleidick schlägt folgende Definition vor: „Als behindert gelten Personen, die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, daß (sic!) ihre unmittelbaren Lebensvorrichtungen oder ihre Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert werden.“[6] An dieser Definition wird deutlich, dass Behinderung keine feststehende Eigenschaft ist, sondern immer von den sozialen Gesichtspunkten und den Lebensumständen des Einzelnen abhängt.[7]
In dem § 2 Abs. 1 SGB IX wird Behinderung folgendermaßen definiert: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. (…)“[8]
In den letzten Jahren vollzog sich ein Perspektivwechsel in den Definitionsversuchen. Nicht mehr die Defizite der Person sind maßgeblich, sondern ihre individuellen Möglichkeiten und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Dies wird auch in dem 2001 veröffentlichten Klassifikationsschema „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF)[9] der Weltgesundheitsorganisation (WHO) deutlich. In dem Vorgänger-Klassifikationsschema ICIDH[10] (1980) wurden die Defizite einer Person mit Behinderung beschrieben. Heute kann man in dem neuen Klassifikationsschema ICF die Stärken und die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe finden.[11] In der folgenden Tabelle ist die Dimension der Neudefinition durch die WHO zu erkennen:
Tabelle 1 Vergleich ICIDH/ ICF[12]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bezeichnen wir einen Menschen als „geistig behindert“ und damit in seinem Geist behindert, werten wir damit automatisch sein Person-Sein ab. Dieses Problem ist zwar längst erkannt, jedoch kennt die deutsche Sprache keinen vergleichbaren Begriff. Heute wird versucht dies durch allgemeine Kategoriebezeichnungen, wie Kinder, Erwachsene, Männer, Frauen etc. mit Behinderung zu überwinden, was jedoch nicht ausreichend ist.[13]
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die geistige Behinderung eines Menschen ein komplexer Zustand ist. Dieser bestimmt sich aus dem Wechselspiel seiner individuellen Fähigkeiten und den Anforderungen an seine konkrete Umwelt.[14]
Im Folgenden soll die Definition unter Einbeziehung verschiedener Sichtweisen bezüglich geistiger Behinderung konkretisiert werden. Obwohl jede Behinderung sowohl einen medizinischen, einen psychologischen, einen soziologischen und einen pädagogischen Aspekt haben kann, beziehen sich Definitionen von Behinderungen nie ausgewogen auf alle Aspekte. Aus diesem Grund werden sie getrennt vorgestellt.
Medizinische Perspektive
Die Hauptaufgabe der Medizin ist es, die Ursachen der geistigen Behinderung aufzuzeigen. So können entsprechend mögliche Therapieformen gefunden werden. Bei der Ursachenforschung werden heute auch psychologische und soziologische Aspekte mit einbezogen. Nach Neuhäuser und Steinhausen lässt sich die Aufgabe der Medizin in Bezug auf geistige Behinderung folgendermaßen beschreiben: „Ziel der ärztlichen Untersuchung eines geistig behinderten Menschen ist es, Ursachen und Entstehungsgeschichte (Ätiologie und Pathogenese) der vorhandenen Funktionsstörungen aufzuklären. Das gelingt trotz aller Bemühungen nicht immer; es kommt deshalb auch darauf an, in einer Art ‚Bestandsaufnahme‘ Stärken und Schwächen zu bestimmen (Mehrfachbehinderung) und organisch-biologische und psycho-soziale Grundlagen für erforderliche Bildungsmaßnahmen zu schaffen. Durch frühzeitiges Erkennen einer Behinderung kann mancher ihrer Folgen wirksam begegnet werden“.[15]
Eine weitere Aufgabe der Medizin ist die Klassifikation. Hier werden Syndrome beschrieben und kategoriert. Unter einem Syndrom versteht man „(…) das gleichzeitige Auftreten von bestimmten Krankheitszeichen, Symptomen.“[16] Kombinationen von Symptomen werden bei einem Syndrom zusammengefasst, da sie ursächlich oder entstehungsgeschichtlich verknüpft sind und somit im diagnostischen Prozess zusammen betrachtet werden müssen.[17]
Laut der medizinischen Sichtweise geht die geistige Behinderung also auf eine organische Schädigung zurück, die das Gehirn direkt oder indirekt trifft. Diese prä-, peri-, oder postnatalen Schädigungen führen zu ganz unterschiedlichen Störungsbildern (klinischen Syndromen). Das Phänomen der geistigen Behinderung reicht beispielsweise von der Genmutation über Geburtstraumen bis hin zu Erkrankungen des Zentralnervensystems und ist damit ein vielfältiges und noch nicht voll erschlossenes Feld klinischer Syndrome.[18] Diese Sichtweise ist jedoch sehr kritisch zu betrachten, wenn man bedenkt, dass etwa 75-80% aller geistigen Behinderungen hinsichtlich ihrer Ursache letztlich ungeklärt sind und somit nur bei einem Viertel eine ätiologische Abklärung gelingt.[19]
Die geistige Behinderung ist kein statischer Zustand, sie kann somit in jeder Lebensphase entstehen. Auch ihre Auswirkungen können sich verändern. Somit können sich die Beeinträchtigungen verschlimmern oder auch mindern.[20]
Psychologische Perspektive
Aufgrund von Funktionsstörungen im Gehirn entwickeln sich Schäden in der kognitiven, motorischen, sozialen und emotionalen Entwicklung, sowie der Lernfähigkeit des Menschen mit Behinderung. Die Erfassung solcher Beeinträchtigungen ist die Aufgabe der psychologischen Diagnostik. Lange stand bei dieser Sichtweise die Beeinträchtigung der Intelligenzentwicklung im Vordergrund, womit geistige Behinderung primär als „Intelligenzminderung“ aufgefasst wurde.[21] Diese „Intelligenzminderung“ wird durch verschiedene Klassifikationssysteme (z.B. ICD-10) eingestuft:
Tabelle 2 Klassifikation des Schweregrades geistiger Behinderung nach ICD-10[22]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ermittelt werden die intellektuellen Fähigkeiten (Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten) durch Intelligenztests. Die Intelligenzdiagnostik fungierte damals als „Selektionsdiagnostik“, da je nach Höhe des diagnostizierten Intelligenzquotienten die Einweisung in eine Schule für Lern- oder Geistigbehinderte erfolgte. Durch die einseitige Einstufung nach Intelligenz-Werten ist die Klassifikation in Kritik geraten. Denn „(…) kein Kind kann ausschließlich über eine Intelligenz-Testung als geistig behindert diagnostiziert werden.“[23] Die soziale und kulturelle Umwelt des Menschen muss immer mit einbezogen werden.[24] Die psychologische Diagnostik hat sich gewandelt, indem sie nicht ausschließlich nach Defiziten sucht, sondern auch die Fähigkeiten, die Leistungsfähigkeit und das soziale Umfeld des Menschen mit einbezieht. Dadurch reformierte sich die Selektions- zur Förderdiagnostik, welche die Stärken und Ressourcen des Menschen betrachtet.
Sonder- und heilpädagogische Perspektive
Die Lernmöglichkeiten und –bedürfnisse des Menschen mit Behinderung sind Inhalt der pädagogischen Sichtweise. „Aufgabe der Geistigbehindertenpädagogik ist es, aus der Perspektive von Erziehung und Bildung auf das Behindertsein von Menschen und deren Lebenssituation zu schauen, um verändernd auf diese einwirken zu können.“[25] Die Geistigbehindertenpädagogik muss den Begriff der Behinderung in ihr Erziehungsverständnis integrieren und zwar in zweifacher Hinsicht: Sie berücksichtigt die Behinderung als Schädigung des Menschen mit Folgen für sein Lernvermögen sowie als Erschwernis seines Erziehungs- und Bildungsprozesses.[26] Erziehung muss somit den individuellen Lernbedürfnissen des behinderten Menschen angepasst werden. So sieht Speck in einer geistigen Behinderung „(...) spezielle Erziehungsbedürfnisse, die bestimmt werden durch eine derart beeinträchtigte intellektuelle und gefährdete soziale Entwicklung, dass lebenslange pädagogisch-soziale Hilfen zu einer humanen Lebensverwirklichung nötig werden".[27]
In der Pädagogik gelten laut der Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates alle Kinder, Jugendliche und Erwachsene als behindert, "(...) die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten soweit beeinträchtigt sind, daß (sic!) ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft wesentlich erschwert ist. Deshalb bedürfen sie besonderer pädagogischer Förderung..."[28]
Soziologische Perspektive
Dem soziologischen Ansatz zufolge ist eine Behinderung eine Folge der sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen.[29] Hier wird geistige Behinderung als eine gesellschaftliche Positionszuschreibung beschrieben. Diese entsteht aufgrund der vermuteten oder erwiesenen Einschränkung von gesellschaftlich als wichtig angesehenen Funktionen.[30] Jedoch befindet sich die Gesellschaft ständig im Wandel und somit auch der Begriff der Behinderung. Der soziologische Zugang richtet seinen Blick auf die Integration, den Normalisierungsprozess und auf das Verhältnis von geistiger Behinderung und der jeweiligen sozialen Schicht.[31]
Als schwerbehindert gelten Personen, denen von den Versorgungsämtern ein Grad der Behinderung von 50 und mehr zuerkannt wurde. Laut einem Bericht des statistischen Bundesamtes lebten zum Jahresende 2009 in Deutschland 7,1 Millionen schwerbehinderte Menschen, wobei es 2005 noch 6,8 Millionen waren. 2009 waren damit 8,7% der gesamten Bevölkerung in Deutschland schwerbehindert. Auf geistige oder seelische Behinderungen entfielen zusammen 10% der Fälle, auf zerebrale Störungen[32] 9% (insg. ca. 1,36 Mio. Menschen). Bei einem Viertel der schwerbehinderten Menschen (25%) war vom Versorgungsamt der höchste Grad der Behinderung von 100 festgestellt worden, 31% wiesen einen Behinderungsgrad von 50 auf.[33] Betrachtet man den Zeitraum von 1993 bis 2007 nimmt die Anzahl der Menschen mit einem Grad der Behinderung von 50 und mehr in Deutschland leicht zu. „Die Zahl der schwerbehinderten Menschen ist 2007 im Vergleich zur Erhebung 2005 um 2,3% gestiegen. Gegenüber 1997 ist die Zahl der schwerbehinderten Menschen 2007 um 4,5% gestiegen.“[34] Dies zeigt auch eine Grafik des statistischen Bundesamtes, die im Anhang zu finden ist (Anhang 1 : Schwerbehinderte Menschen am Jahresende; Zeitreihe von 1993 - 2007).
Bei dem Thema Elternschaften von Menschen mit geistiger Behinderung ist zunächst interessant, wie viele Menschen mit einer geistigen Behinderung welche Anzahl von Kindern haben. Leider gibt es bei der Klärung dieser Fragestellung nur zwei Studien. Beide wurden von WissenschaftlerInnen (Pixa-Kettner, Bargfrede, Blanken) an der Universität Bremen (Studiengang Behindertenpädagogik) durchgeführt. Die erste Untersuchung wurde von 1993 – 1995 ausgeführt. Behinderteneinrichtungen im gesamten Bundesgebiet wurden nach der Anzahl der ihnen bekannten Elternschaften von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung befragt. Alleine die ca. 450 antwortenden Einrichtungen wussten von 969 Elternschaften mit 1366 Kindern.[35] Leider können durch diese Studie keine klärenden Aussagen darüber getroffen werden wie viele Elternschaften von Menschen mit einer geistigen Behinderung es in Deutschland tatsächlich gibt. Solche Untersuchungen zeigen aber einen Ausschnitt aus unterschiedlichen Einrichtungen, wobei ein Trend angenommen werden kann. Nach der ersten Studie wurde vermutet, dass die Elternschaften von Menschen mit geistiger Behinderung zunehmen werden.[36]
Ab Juli 2005 wurde bundesweit eine zweite Untersuchung zu Elternschaften von Menschen mit geistiger Behinderung durch Ursula Pixa-Kettner und ihre KollegInnen durchgeführt. Bei dieser Studie wurden lediglich die Elternschaften seit 1990 erfragt. Insgesamt wurden von den Einrichtungen 1.584 Elternschaften mit 2.199 Kindern genannt.[37] Da bei den Studien unterschiedliche Zeiträume betrachtet wurden, sind sie nicht direkt vergleichbar. Dennoch ist eine Zunahme der Elternschaften und Geburten zu erkennen. Die folgende Tabelle soll Aufschluss darüber geben:
Tabelle 3 Anzahl der Elternschaften und Kinder[38]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In der zweiten bundesweiten Fragebogenerhebung wurden 1.584 Elternschaften von Menschen mit geistiger Behinderung für den Zeitraum von 1990 bis 2005 dokumentiert. Dies entspricht einer Zunahme von ca. 45 %. Nun muss auch berücksichtigt werden, dass die Anzahl der Menschen, die eine Schwerbehinderung haben, in diesem Zeitraum auch angestiegen sind, was automatisch zu einer Zunahme der Elternschaften führen könnte. Jedoch zeigt die Tabelle auch, dass sich die Elternschaften von Menschen mit einer geistigen Behinderung enorm erhöht haben, wobei der Anteil der Menschen mit einer Schwerbehinderung nur leicht angestiegen ist. Demnach bestätigt sich der angenommene Trend.
Bei dem Thema „Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung“ treten einige rechtliche Fragen auf, wie zum Beispiel:
„Geistig behindert und sorgeberechtigt – geht das? Sind die Eltern überhaupt geschäftsfähig?“
„Wenn Eltern mit geistiger Behinderung für sich selbst und für ihre eigenen Angelegenheiten einen Betreuer brauchen, wie können sie das Sorgerecht für ihr Kind selbst ausüben und die Angelegenheiten ihres Kindes selbst regeln?“
„Wie soll jemand für ein Kind sorgen können, der für sich selbst nicht sorgen darf? Das widerspricht sich doch!“
Die nun folgende Darstellung der rechtlichen Situation von Eltern mit geistiger Behinderung soll auf diese und andere Fragen eingehen.
Der Normalisierungsgedanke wurde in den 50er Jahren von dem Dänen Bank-Mikkelsen entwickelt und in Mitte der 70er Jahre durch den Schweden Nirje zu acht Grundsätzen des Normalisierungsprinzips ausformuliert (Anhang 2: Acht Grundsätze des Normalisierungsprinzips). Dabei sollte man „(…) den geistig Behinderten dazu verhelfen, ein Dasein zu führen, das so normal ist, wie es nur irgendwie ermöglicht werden kann.“[40] Ein Leben, das sich nicht von den gesellschaftlich anerkannten Lebensweisen anderer Menschen unterscheidet ist gekennzeichnet durch einen normalen Tagesablauf, einen normalen Wochen- und Jahresrhythmus, einen normalen Lebenslauf, das Leben in einer zweigeschlechtlichen Welt, Ansehen und Respekt, einen normalen materiellen Lebensstandard und normalen Standards bei Wohnen und Arbeit.[41]
Aufgrund dieser Betrachtungen wäre das Normalisierungsprinzip nur anwendbar, wenn es möglich wäre, das Lebensumfeld eines Menschen mit geistiger Behinderung individuell nach seinen Bedürfnissen zu gestalten und anzupassen. Fraglich ist nur, ob Menschen, die dazu in der Lage wären ein solches individuelles Lebensumfeld zu wählen, diese Möglichkeit beispielsweise in einem Wohnheim oder anderen Wohneinrichtungen haben. Hier sind oftmals die Gestaltungsmöglichkeiten schon durch Betreuungszeiten, Tagesabläufe, Zimmeraufteilung etc. eingeschränkt. Besonders in Bezug auf eine Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung gibt es weitere Begrenzungen durch die geringe Anzahl von Wohneinrichtungen der Begleiteten Elternschaft und auch durch die dortigen individuellen Einschränkungen im Tagesablauf.[42]
Daraus lässt sich schließen, dass die Umsetzung des Normalisierungsprinzips momentan noch nicht vollzogen ist und eine immerwährende Aufgabe der Gesellschaft bleibt. Dennoch und gerade aus diesem Grund ist wichtig, dass es diesen Grundsatz gibt und dass er für die Behindertenbewegung einen Weg bereitet, der ein Leben nach den Bürgerrechten und damit auch ein Leben mit einem Kind ermöglicht.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
In der Bundesrepublik Deutschland sind Ehe und Familie grundsätzlich geschützt[43]. Dabei wird kein Unterschied zwischen Menschen mit und ohne Behinderung gemacht.[44]
Hierzu soll beispielhaft ein Urteil des Landgerichts Berlin von 1988 zu einem Sorgerechtsverfahren des Landes Berlin gegen ein geistig behindertes Elternpaar aufgeführt werden:
„Es (…) ist zu berücksichtigen, dass einerseits (…) jedes deutsche Kind ein Recht auf Erziehung (…) hat, andererseits aber die Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung steht und Pflege und Erziehung des Kindes das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sind – Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG – so dass eine Maßnahme nach §1666 BGB, die zur Trennung des Kindes von den Eltern führt, nur als außergewöhnliches Mittel angeordnet werden darf, BVerfG, FamRZ 1982, 567. (…) Die bloße Erwägung, dass minderbegabte Eltern ihren Kindern nicht dieselben Entwicklungsmöglichkeiten bieten können, wie normal begabte Eltern, lässt eine Ausnahme von diesem den Naturgegebenheiten Rechnung tragenden Grundsatz nicht zu. Anderenfalls wäre die Würde des Menschen angetastet, die gemäß Art. 1 I GG unantastbar ist und die zu achten und zu schützen nach dieser Vorschrift die Verpflichtung aller staatlicher Gewalt ist.“[45]
Damit ist es als verfassungswidrig zu werten, wenn bei einem Sorgerechtsverfahren nicht eine Gefahr für das Kind, sondern die Behinderung der Eltern im Vordergrund steht. Auch wenn sich durch eine Einschränkung der Eltern eine Gefahr ergeben kann, so muss dann aber geklärt werden, warum die Gefahr nicht durch öffentliche Hilfen abzuwenden ist (§§ 1628, 1667, 1666F BGB und § 1 Abs. 3 Nr. 2 und 3 SGB VIII).[46] Im Einzelfall ist es zum Wohl des Kindes erforderlich, die Rechte der Eltern zu beschränken.
UN - Konvention über die Rechte des Kindes
Am 20.11.1989 wurde von der Vollversammlung der Vereinten Nationen einstimmig die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet. In Deutschland ist diese Übereinkunft am 05.04.1992 in Kraft getreten. Es gibt 180 Kinderrechte, die die meisten Staaten der Erde ratifiziert, also anerkannt haben.[47] Dazu gehört auch, dass Kinder das Recht haben, bei ihren Eltern aufzuwachsen (Art. 7 Kinderrechtskonvention (Anhang 3: Artikel 7 der UN- Konvention über die Rechte des Kindes)) und zu beiden Eltern Kontakt zu haben (Art. 9 (1), (3) Kinderrechtskonvention (Anhang 4: Artikel 9 (1), (3) der UN- Konvention über die Rechte des Kindes)).
Auch wenn ein Kind durch Gefährdung des Kindeswohls, beispielsweise durch Misshandlung der Eltern, von diesen getrennt wird, hat es dennoch das Recht seine Eltern zu kennen und auf einen Umgang mit ihnen. „Daher wird nach Möglichkeit dafür gesorgt, dass ein Kind seine Eltern auch dann regelmäßig sieht, wenn diese nicht mit ihm zusammenleben. Für den Schutz des Kindes werden geeignete Maßnahmen getroffen.“[48]
UN - Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Am 13.12.2006 hat die UN-Generalversammlung die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung beschlossen. Sie trat am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft und wird, da sie ohne Menschen mit Behinderung übersetzt wurde, kritisiert. Dennoch wird sie als Meilenstein für die Behindertenpolitik bezeichnet, da sie den Grundstein für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung legt. „Sie stellt eindrücklich den Menschenrechtsansatz heraus, das Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe, formuliert den Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderung und fordert eine inklusive und barrierefreie Gesellschaft.“[49] Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen besteht aus 50 Artikeln, die nahezu alle Lebensbereiche von Frauen und Männern mit Behinderung berührt.
Im Artikel 23 (Anhang 5: Artikel 23 der UN – Behindertenrechtskonvention „Achtung der Wohnung und der Familie“) wird die „Achtung der Wohnung und der Familie“[50] konkretisiert. Im Mittelpunkt steht dabei das Recht eine Partnerschaft beziehungsweise eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Auch wird definiert, dass Menschen mit Behinderung selbst über die Anzahl ihrer Kinder und über die Abstände der Geburten entscheiden können und dass sie alle notwendigen Mittel und Informationen zur Ausübung dieser Rechte zur Verfügung gestellt bekommen müssen. Des Weiteren ist in Artikel 23 Absatz 4 festgestellt, dass ein Kind nicht ohne weiteres gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird. Ein Sorgerechtsentzug kann, wie bei allen Kindern, nur bei einer Kindeswohlgefährdung in einem gerichtlichen Verfahren angeordnet werden und nicht aus dem Grund, dass die Eltern eine Behinderung haben. Die Regelung in Artikel 23c der Behindertenrechtskonvention verhindert, dass Menschen mit Behinderung sterilisiert werden und dass sie „gleichberechtigt mit anderen ihre Fruchtbarkeit behalten.“[51]
Das Betreuungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist am 01.01.1992 neu in Kraft getreten. Es regelt die Rechtsposition von Menschen mit Behinderung und psychischen Beeinträchtigungen. Die Stellung von Menschen mit intellektuellen Schädigungen war vor 1992 mit der eines Kindes vergleichbar. Nun wurden die Rechte behinderter Menschen gestärkt. Eine Betreuung schränkt zunächst die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten des zu Betreuenden nicht ein und soll somit eine Art Hilfsangebot darstellen. Betreuungen für volljährige Menschen werden vom Gericht angeordnet im Falle einer psychischen Krankheit, einer körperlichen Behinderung, einer geistigen Behinderung oder einer seelischen Behinderung. Das Betreuungsgesetz ist Bestandteil des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und wird dort in den Paragraphen 1896-1908k geführt.[52]
Grundsätze der Betreuung
Der erste Grundsatz ist der Grundsatz der Erforderlichkeit. Nur, wenn eine Betreuung in bestimmten Lebensbereichen erforderlich ist, wird sie angeordnet.[53] Kann ein Mensch aber durch eigene Tätigkeiten oder durch Hilfen von Verwandten, Bekannten etc. seine Angelegenheiten selbst regeln, benötigt er keine vom Gericht angeordnete Betreuung. Dabei beschränkt sich die Betreuung immer auf bestimmte Lebensbereiche und bezieht sich nur auf eine momentan erforderliche Unterstützung. Die Notwendigkeit wird regelmäßig durch das Gericht überprüft.[54]
Hat ein zu Betreuender ein Kind, so gilt seine Betreuung nicht für die Angelegenheiten des Kindes, es sei denn, diese sind nicht zu trennen (z.B. bei Wohnungssuche). Man darf nicht davon ausgehen, dass die Interessen des zu Betreuenden und die Interessen des Kindes identisch sind. Der Betreuer darf in diesem Fall auch nicht als Vormund eingesetzt werden oder die Betreuung für den Aufgabenkreis ‚elterliche Sorge‘ übernehmen.[55]
Als zweiter Grundsatz gilt der Grundsatz der persönlichen Betreuung. Dies bedeutet, dass der Betreuer seinen Klienten persönlich kennen muss. „Ehe der Betreuer wichtige Angelegenheiten erledigt, bespricht er sie mit dem Betreuten, sofern dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft.“[56]
Eine weitere Richtschnur stellt der Grundsatz der selbst bestimmten Lebensführung dar. Dies ist in §1901 Abs. 2 und 3 geregelt. Diese Paragraphen erklären, dass der Betreuer dem Betreuten auch dann eine selbstbestimmte Lebensführung zugestehen muss, wenn er selbst anderer Überzeugung ist. Die Wünsche des zu Betreuenden haben bei allen Entscheidungen höchste Priorität. Dieses Prinzip erfährt dann Einschränkungen, wenn der Klient gegen sein Wohl handelt oder gegen geltendes Recht verstößt.[57]
Einwilligungsvorbehalt
Ein Einwilligungsvorbehalt (§1903 BGB) schränkt die rechtliche Handlungsfähigkeit des Betreuten ein. Die Rechtsfähigkeit des Betreuten ist dann für den bestimmten Bereich, für den der Einwilligungsvorbehalt angeordnet wurde, eingeschränkt. Eine Rechtshandlung des Betreuten wird durch diese Regelung erst wirksam, wenn der Betreuer eingewilligt hat. „Der Einwilligungsvorbehalt darf nur vom Gericht angeordnet werden, wenn sich der betroffene Mensch (oder sein Vermögen) ohne diesen in einer erheblichen Gefahr befinden würde.“[58]
Das deutsche Gesetz unterscheidet zwischen:
- Geschäftsfähigkeit (§ 106 BGB)
- beschränkter Geschäftsfähigkeit (§§ 107 bis 113 BGB)
- und Geschäftsunfähigkeit (§104 BGB)[59]
Die Geschäftsfähigkeit wird in der Regel mit Vollendung des 18. Lebensjahres erreicht. Damit ist die Fähigkeit, rechtlich zu handeln, gemeint. Beschränkt geschäftsfähig sind Minderjährige nach Vollendung des siebten Lebensjahres.[60] Durch den Einwilligungsvorbehalt für einen zu Betreuenden, wird der unter Betreuung stehende Mensch einem beschränkt Geschäftsfähigen gleichgestellt. Das bedeutet, dass die Verträge, die in dem Bereich des Einwilligungsvorbehaltes abgeschlossen werden, solange schwebend unwirksam sind, bis der Betreuer seine Einwilligung gibt. Dies gilt jedoch nicht für Angelegenheiten mit unbeträchtlicher Bedeutung.[61]
Geschäftsunfähig ist, wer das siebente Lebensjahr noch nicht erreicht hat.[62] Geschäftsunfähigkeit bei Volljährigen ist die Ausnahme. Sie muss von dem bewiesen werden, der sich darauf beruft. Hier ist geschäftsunfähig, „wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.“[63] Diese Formulierung wirft seit ihrer Niederschrift 1900 im Bürgerlichen Gesetzbuch viele Fragen auf. Im Kommentar des BGBs wurde versucht eine Erklärung zu geben: Es „(…) sind weniger die Fähigkeiten des Verstandes als die Freiheiten des Willensentschlusses ausschlaggebend. … Es kommt darauf an, ob noch eine freie Entscheidung aufgrund einer Abwägung des Für und Wider, eine sachliche Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte und ein dementsprechendes Handeln möglich ist und ob der Betroffene in Folge krankhafter Geistesgestörtheit fremden Willenseinflüssen unterliegt oder sein Wille durch unkontrollierte Triebe und Vorstellungen beherrscht wird. … Bloße Willensschwäche und leichte Beeinflussbarkeit genügen nicht, solange die äußeren Einflüsse auch in normaler Weise als Motive wirken. Ebenso nicht das bloße Unvermögen, die Tragweite einer Erklärung zu ermessen.“[64] Es kommt also darauf an, ob die geminderte geistige Fähigkeit, den Willen frei zu bestimmen, gehemmt ist. Zusätzlich ist festzustellen, dass man nicht in allen Bereichen des rechtlichen Lebens geschäftsunfähig sein muss. Hier spricht man von partieller Geschäftsunfähigkeit. Seit dem Jahr 2002 sind auch Bagatellgeschäfte des täglichen Lebens (z.B. Kauf einer Tafel Schokolade) für volljährige Geschäftsunfähige rechtswirksam.[65]
Die elterliche Sorge ist in §§ 1626 – 1689b BGB geregelt. Sie klärt die rechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern und beinhaltet Rechte und Pflichten. Bei verheirateten Eltern haben beide gemeinsam das Sorgerecht. Sind die Eltern nicht verheiratet, hat die leibliche Mutter die elterliche Sorge. Der Vater kann in diesem Fall in der Regel mit der Zustimmung der Mutter durch eine schriftliche Sorgeerklärung an der elterlichen Sorge beteiligt werden.[66] Nach einem neuen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21.07.2010 können ledige Väter nun das Sorgerecht auch unabhängig von der Zustimmung der Mutter erhalten - auch in Altfällen.[67]
Die elterliche Sorge unterscheidet in ihren Rechten und Pflichten zwischen der Personensorge[68], der Vermögenssorge[69] und der Vertretung des Kindes[70]. Zu der Personensorge gehört unter anderem die Pflege und Erziehung des Kindes[71], die Aufenthaltsbestimmung[72], die Aufsichtspflicht[73] und die Haftpflicht[74], das Umgangsbestimmungsrecht[75] und der Herausgabeanspruch[76] gegenüber Dritten.[77] Zusätzlich gibt es Angelegenheiten des Kindes, auf die der Sorgeberechtigte keinen Einfluss hat (Umgangsrechte des Kindes, Schulpflicht). Seit dem 06.07.2000 hat das Kind das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.[78]
Die elterliche Sorge darf nur vom Gericht eingeschränkt werden, wenn das Wohl des Kindes gefährdet (Anhang 6: Das Kindeswohl gefährdende Sachverhalte)[79] ist und die Gefahr nicht durch öffentliche Hilfen abgewendet werden kann.
Elterliche Sorge und rechtliche Betreuung
Dass Eltern, die für ihre eigenen Angelegenheiten eine Betreuung brauchen, nicht selbst sorgeberechtigt für ihr Kind sein können, ist ein Irrtum. Die rechtliche Betreuung tangiert die elterliche Sorge nicht.[80] Die wichtigsten Unterschiede zwischen der elterlichen Sorge und der rechtlichen Betreuung sind in der folgenden Tabelle zu finden:
Tabelle 4 Vergleich von Sorgerechtsentzug und rechtlicher Betreuung[81]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Betreuung ist ein Hilfsangebot des Staates und soll Menschen mit Behinderung die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen sowie sie vor Benachteiligung beschützen. Sie dient also dazu, die Betroffenen in ihren Grundrechten zu stärken. Der Sorgerechtsentzug ist jedoch ein schwerer Eingriff in die Grundrechte. Aus diesem Grund ist es auch falsch von der rechtlichen Betreuung auf den Entzug der elterlichen Sorge zu schließen. Der Sorgerechtsentzug kommt nur dann in Frage, wenn alle anderen Hilfsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und ist erst möglich, wenn eine konkrete Gefahr für das Kind besteht.[82] Dennoch ist wichtig, dass das Wohl des Kindes entscheidend ist und nicht die Situation der Eltern. Dass eine geistige Behinderung einen Sorgerechtseingriff nicht rechtfertigt, hat das Bundesverfassungsgericht schon 1982 beschrieben: „Krankheit, Behinderung der Eltern gehören grundsätzlich zu den Lebensumständen, die das Kind als schicksalhaft hinzunehmen hat, sie rechtfertigen als solche zunächst noch keinen Eingriff in die elterliche Sorge“[83].
Elterliche Sorge und Einwilligungsvorbehalt
Es ist im Gesetz nicht genau geklärt, ob sich ein Einwilligungsvorbehalt auf die elterliche Sorge auswirkt. In § 1903 Abs. 2 BGB sind mehrere Willenserklärungen beschrieben, auf die sich der Einwilligungsvorbehalt nicht erstreckt. Jedoch wird hier die elterliche Sorge nicht erwähnt. Bienwald erklärt, „(…) dass sich der Einwilligungsvorbehalt nur unmittelbar auf die Rechte und Pflichten der betroffenen Person, nicht aber auf andere, z.B. auf die Rechtslage von dessen Kindern auswirken kann.“[84] Daraus ist zu schließen, dass der Einwilligungsvorbehalt die elterliche Sorge nicht beeinflussen dürfte.[85]
Elterliche Sorge und Geschäftsunfähigkeit
Bei einer Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Abs. 2 BGB unterstellt der Gesetzgeber, dass diese Personen nicht in der Lage sind, die Personensorge für ihr Kind auszuüben. Aus diesem Grund ruht, laut § 1673 BGB, die elterliche Sorge. In diesem Fall ist der geschäftsunfähige Elternteil nicht berechtigt die elterliche Sorge auszuüben (§1675 BGB).[86] Wie bereits in Punkt 4.4 Rechtsstellung von Menschen mit geistiger Behinderung festgestellt, sind die meisten Menschen mit geistiger Behinderung nicht als geschäftsunfähig einzustufen, da die Geschäftsunfähigkeit nicht von der Schwere der Behinderung abhängt, sondern von der Fähigkeit den freien Willen zu bestimmen. Im Einzelfall muss eine Prüfung der Geschäftsunfähigkeit jedoch sehr differenziert gesehen werden.[87]
[...]
[1] ICIDH: „International Classification of Impairments, Activities and Participation: A Manual of Dimensions and Functioning ” zu Deutsch: Internationale Klassifikation der Schäden, Aktivitäten und Partizipation: Ein Handbuch der Dimensionen von gesundheitlicher Integrität und Behinderung
[2] ICF: „International Classification of Functioning, Disability and Health“ zu Deutsch: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
[3] ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems
zu Deutsch: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme
[4] www.eltern.t-online.de, 23.05.2012
[5] Fornefeld 2004, 45 f.
[6] Bleidick 1999, 15 In: Fornefeld 2004, 46
[7] Fornefeld 2004, 46
[8] www.gesetze-im-internet.de/sgb_9
[9] ICF: zu Deutsch: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
[10] ICIDH: „International Classification of Impairments, Activities and Participation: A Manual of Dimensions and Functioning ” zu Deutsch: Internationale Klassifikation der Schäden, Aktivitäten und Partizipation: Ein Handbuch der Dimensionen von gesundheitlicher Integrität und Behinderung
[11] Richter 2007,9
[12] www.dimdi.de/icf_endfassung
[13] Neuhäuser/ Steinhausen (Hrsg.) 1999 ,11 In: Fornefeld 2004, 50
[14] Thimm 1999, 10 In: Fornefeld 2004, 50
[15] Neuhäuser/ Steinhausen (Hrsg.) 1999, 82 In: Fornefeld 2004, 51
[16] Fornefeld 2004, 52
[17] ebd.
[18] ebd., 51-52
[19] Hülshoff 2004 In: Schwarzer (Hrsg.) 2004, 192
[20] ebd., 54
[21] ebd., 56
[22] ähnlich in: Hülshoff 2004 In: Schwarzer (Hrsg.) 2004, 191
[23] Speck 1999, 49 In: Fornefeld 2004, 58
[24] Fornefeld 2004, 59
[25] Fornefeld 2004, 67
[26] ebd., 74
[27] Speck, 1993, 62 In: www.a-wagner-online.de
[28] Deutscher Bildungsrat zitiert nach Hensle 1988, 16 f., In: www.a-wagner-online.de
[29] www.a-wagner-online.de
[30] Neuhäuser, Steinhausen (Hrsg.) 1999, 11
[31] Speck 1999, 51ff In: Richter 2007, 17
[32] zerebrale Störungen sind Störungen des Zentralnervensystems
[33] www.destatis.de 2009
[34] www.destatis.de 2007
[35] Bundesminister für Gesundheit (Hrsg.), Pixa-Kettner/Bargfrede/Blanken 1996, 13
[36] Bundesminister für Gesundheit (Hrsg.), Pixa-Kettner/Bargfrede/Blanken 1996, 23
[37] www.beb-ev.de
[38] ähnlich in www.beb-ev.de
[39] In den Jahren 1990 bis 1992 wurden bei 185 Elternschaften insgesamt 268 Kinder geboren. Werden diese abgezogen, verbleibt eine Zahl von 1.931 Kindern aus: www.beb-ev.de
[40] Seifert 1997, 27 In: Kreisz 2009, 18
[41] Lenz u.a. 2010, 17
[42] Kreisz 2009, 19
[43] Art. 6 GG
[44] Art. 3 Abs. 3 GG
[45] Landgericht Berlin, FamRZ 1988, 1308 In: Vlasak 2006 In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 123
[46] Vlasak 2006 In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 123
[47] Vlasak 2006 In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 125
[48] Vlasak 2006 In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 126
[49] Stange 2010, 5
[50] UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Artikel 23
[51] ebd., 23c
[52] Vlasak 2006 In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 92
[53] §1896 (2) BGB
[54] Vlasak 2006In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 94
[55] ebd., 94
[56] § 1901 Abs. 3 BGB
[57] Vlasak 2006 In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 95; an dieser Stelle muss eine Betreuung jedoch Grenzen hinnehmen, dass der Betroffene sich selbst schädigt (Rauchen, Alkohol, ungesunde Ernährung etc.), obwohl der Betreuer dem Wohl des Betroffenen verpflichtet ist; der Betroffene kann alles tun, was ein nicht unter Betreuung stehender Mensch auch tun darf
[58] Vlasak 2006 In: AWO (Hrsg.) 2006, 142
[59] Vlasak 2006In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 98
[60] §106 BGB
[61] Vlasak 2006 In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 98f.
[62] §104 Abs. 1 BGB
[63] § 104 Abs. 2 BGB
[64] Soergel, Hefermehl 1999, §104 BGB Rn. 4 In: Vlasak 2006 In: AWO (Hrsg.) 2006, 143
[65] § 105a BGB
[66] Vlasak 2006 In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 102
[67] www.bundesverfassungsgericht.de
[68] § 1631 BGB
[69] §1642 BGB, umfasst die Vertretung des Kindes in finanziellen Angelegenheiten
[70] § 1629 BGB
[71] §1631 Abs. 1, 1. HS BGB
[72] §1631 Abs. 1, 2. HS BGB
[73] §1631 Abs. 1 BGB
[74] §823 BGB
[75] §1632 Abs. 2 BGB
[76] § 1632 Abs. 1 BGB
[77] Kohl 2012, Weiterbildung „Frühkindliche Bildung und Erziehung“
[78] Staudinger & Salgo 2002, § 1631 BGB Rn. 1ff. In: Vlasak 2006 In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 103
[79] & 1666 BGB
[80] Vlasak 2006 In: AWO (Hrsg.) 2006, 150
[81] ebd., 151
[82] ebd.
[83] BVerfG 1982 in: NJW 1982, 1379; FamRZ 1982, 567 In: Vlasak 2006 In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 107
[84] Staudinger, Bienwald 1999, § 1903 BGB Rn. 25 In: Vlasak 2006 In: Pixa-Kettner (Hg.)2006, 108
[85] Pixa-Kettner (Hg.)2006, 108
[86] Zinsmeister 2006, 8
[87] Vlasak 2006 In: AWO (Hrsg.) 2006, 152
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