Bachelorarbeit, 2012
62 Seiten, Note: 1,0
1 Einleitung
2 Das Krankheitsbild ADHS im Kinder- und Erwachsenenalter
2.1 Symptomatologie
2.2 Epidemiologie und Ätiologie
2.3 Verlauf der ADHS
2.4 Diagnostik
2.5 Komorbidität
3 Interventionsstrategien
3.1 Pharmakologische Intervention
3.2 Psychotherapeutische Intervention
4 Gruppentherapie bei ADHS im Erwachsenenalter
4.1 Besonderheiten der Gruppentherapie im Erwachsenenalter
4.2 Heilfaktoren der Gruppenpsychotherapie
4.3 “Psychotherapie der ADHS” nach Hesslinger und Philipsen
4.4 “ADHS-Gruppentraining” nach Lauth und Minsel
4.5 Strukturvergleich von Gruppentherapiemanualen
4.6 Weitere Gruppentherapien und deren Wirksamkeit
5 Vergleich von pharmakologischen und psychotherapeutischen Interventionen
6 Fazit
7 Literatur
8 Tabellen
9 Anhang
Die Bachelorarbeit thematisiert die Wirksamkeit von psychotherapeutischer Behandlung im Gruppensetting bei der Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter. Lange Zeit galt die ADHS als eine psychische Störung, welche ausschließlich im Kinder-und Jugendalter auftritt. Hingegen zeigen wissenschaftliche Evaluationen, dass sich die Störung bei zwei bis drei Prozent der betroffenen Kinder- und Jugendlichen bis ins Erwachsenenalter fortsetzt. Bei der ADHS im Erwachsenenalter wird von einem bio-psycho-sozialen Bedingungsmodell ausgegangen, dabei wird die Fehlfunktion im Bereich der Selbstregulation als zentrale Rolle angenommen. Die Diagnosestellung gestaltet sich bei den betroffenen Erwachsenen als schwierig, da die ADHS häufig mit psychiatrischen Begleiterkrankungen einhergeht. Dabei führt die korrekte Diagnosestellung, welcher eine entsprechende Behandlung folgt, zu einer beträchtlichen Verbesserung der Lebensqualität und zu einem besseren Funktionieren in Alltagssituationen. Die Kernsymptomatik der ADHS kann mittels pharmakologischer Intervention wirksam behandelt werden. Die sozial-behavioralen Strategien können über die Reduzierung der Kernsymptomatik hinaus, die Zielbereiche, Organisation, Aufschieben und den Selbstwert positiv beeinflussen. Zudem führte die Gruppentherapie im Rahmen der ADHS bei den Teilnehmern zu einer höheren Zufriedenheit und zu einer Verringerung der depressiven Symptomatik. Ein Wirksamkeitsvergleich zwischen pharmakologischer- und psychotherapeutischer Intervention hebt die hohe Wirksamkeit der sozial- behavioralen Verfahren hervor.
„Zappelphillip und Traumsuse: Leben mit ADHS“ lautet die Überschrift eines Artikels im Hinblick auf das Fortbestehen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter. Erwachsene mit ADHS, Kinder und deren Eltern berichten in einer entsprechenden Dokumentation zu dem Artikel von ihrem „Leidensweg“, der sie durch Gesellschaft, Ärzte, Schulen sowie Beruf begleitet (Danmerk & Müller, 2008). Bis vor kurzem galt die ADHS als Domäne der Kinder- und Jugendpsychiatrie, doch Studien zeigen die Persistenz der ADHS bei bis zu einem Drittel der Betroffenen. Die Störung bringt ein hohes Risiko für komorbide psychiatrische Störungen und Suchterkrankungen mit sich, was mit einem beträchtlichen Leidensdruck verbunden ist. Somit kann die ADHS als ernst zu nehmende valide, psychische Störung akzentuiert werden. Die Betroffenen schildern ihre einzelnen Beschwerden häufig als schon immer vorhandene Persönlichkeitseigenschaften, welche daher nicht als spezifische Symptome der ADHS wahrgenommen werden (Hesslinger, Philipsen & Richter, 2004; Sobanski & Alm, 2004).
Still (1902) beschreibt erste ADHS-ähnliche Symptome, welche sich ausschließlich auf die Hyperaktivität konzentrieren. Er führt die abweichenden Verhaltensformen auf einen Defekt in der moralischen Kontrolle zurück und begründete das Auftreten rein biologisch. Entweder es sei angeboren oder auf prä- oder postnatalem Wege erworben. Unklare Hirnschädigungen wurden für die hyperaktiven Symptome verantwortlich gemacht. Rothenberger & Neumärker (2010) beschreiben, dass die Symptome dieser Kinder den Verhaltensweisen von Primaten glichen, welche einer Frontalhirnläsion unterzogen wurden. Das führte zu der Annahme, dass die hyperkinetische Störung auf eine krankhafte Veränderung des Frontalhirns zurückzuführen sei. Mit dem Zufallsbefund von Bradley (1937, zit. nach Seidler, 2004), der verhaltensgestörte Kinder mit dem Stimulanz Benzedrin behandelte, beginnt die pharmakologische Behandlung der hyperaktiven Symptomatik. Bradley konnte zwar nicht erklären, wieso ausgerechnet ein Stimulanz hyperaktive Kinder ruhiger macht, stellte die Tatsache aber überzeugend dar. Mit dieser Entdeckung begann, was Lawrence Diller 1996 „The Run on Ritalin“ genannt hat (1937, zit. nach Seidler, 2004, S. 24). 1962 setzte sich die Bezeichnung der Minimalen Zerebralen Hirnschädigung und-dysfunktion (MBD/MCD) als dominanter Begriff der Kinder-und Jugendpsychiatrie durch. Gleichfalls entstanden psychoanalytisch begründete Theorien, welche Erziehungsdefizite für eine mögliche Ursache postulierten. Empirische Belege dazu gab es nicht (Rothenberger & Neumärker, 2010). Die 70er Jahre zeichneten sich dadurch aus, dass sich Virgina Douglas (1972) mehr und mehr mit dem Aufmerksamkeitsfaktor beschäftigte. Schließlich entstand durch Feingold (1975) eine Bewegung, die Nahrungsmittelunverträglichkeiten und allergische Reaktionen als Auslöser für Hyperaktivitätsstörungen sah. Gleichfalls wurde der allgemein technische Fortschritt und wachsende kulturelle Einflüsse als ursächliche Faktoren in Betracht gezogen (Rothenberger & Neumärker, 2010). In dieser Zeit wurde der enge Zusammenhang zwischen der Hyperaktivitätsstörung und auffälligem Sozialverhalten und Schulleistungsproblemen deutlich. Mittels psychophysiologischer Methoden begann die Untersuchung des hirnfunktionellen Hintergrunds (Rothenberger & Neumärker, 2010). Kognitiv-verhaltensorientierte Therapien werden von Gittelmann (1981) beschrieben. Die Konzentration der Forschung auf die allgemeine motorische Unruhe und die Aufmerksamkeitsprobleme nimmt in den 1990er Jahren stark zu und führt dazu, dass Publikationen zu der Störung höher sind als die zu jeder anderen kinderpsychiatrischen Störung (Rothenberger & Neumärker, 2010). Die Behandlung der ADHS bei Kindern wird durch eine gut evaluierte, pharmakologische und psychotherapeutische Intervention wirksam behandelt. Die Behandlung mit dem Stimulanz Methylphenidat gilt als erstes Mittel der Wahl. Die Responderrate auf Stimulanzien wird bei Kindern mit 60 bis 90 Prozent beschrieben, während aktuelle Evaluationen an Erwachsenen von einer Responderrate von 50 Prozent sprechen. Die Folgeerscheinungen der ADHS bei Erwachsenen, welche sich häufig in einem geringen Selbstwert und chaotischen Lebensweisen sowie starken Stimmungsschwankungen zeigen, verursachen erhebliche Probleme im Alltag und in der Umsetzung von Routinetätigkeiten. Ferner entwickeln die Patienten in ihrer Lebens- und Lerngeschichte häufig soziale Anpassungsstörungen, welche durch eine Stimulanz kaum beeinflusst werden. Darüber hinaus lehnen einige Patienten eine Behandlung mit Stimulanzien ab (Elsässer, Nyberg & Stieglitz, 2010). Demzufolge benötigen Erwachsene mit ADHS eine effektive psychotherapeutische Behandlung alternativ zur Psychopharmakatherapie oder eine Kombinationsbehandlung, um die Performanz- und Kompetenzdefizite der Patienten zu reduzieren (Hesslinger, Philipsen & Richter, 2004; Lauth & Minsel, 2009).
Daher thematisiert die Bachelorarbeit die Wirksamkeit von psychotherapeutischen Interventionen in Form von Gruppentherapien bei Erwachsenen mit ADHS. Dabei wird auf die Darlegung der aktuellen Studienlage Wert gelegt, im Hinblick darauf die Studien zur Evaluation im Einzelsetting von denen im Gruppensetting zu separieren. Dazu erfolgt bei der Schilderung der Interventionsstrategien, neben der Beschreibung der gängigen pharmakologischen Intervention, die Ausführung der psychotherapeutischen Intervention durch die Erläuterung der Behandlung im Einzelsetting. Die beispielhafte Darstellung zwei validierter Manuale zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter soll die psychotherapeutische Intervention akzentuieren und in ihrer Struktur vergleichend gegenüberstellen. Ein Vergleich der Wirksamkeit von pharmakologischen und psychotherapeutischen Interventionen anhand einer Metaanalyse wird im Verlauf geschildert und rundet somit die Illustration der Interventionen ab. Eingangs wird das Krankheitsbild der ADHS im Kinder- und Erwachsenenalter beschrieben, um dem Leser das Störungsbild auf breiter Ebene zu erschließen. Abschließend wird das Fazit zum einen im Hinblick auf den Leidensdruck und der Selbstregulationsprobleme der Erwachsenen mit ADHS herausarbeiten, an welcher Stelle Gruppentherapie einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des Selbstwertes und zur Überwindung der sozialen Isolation leisten kann. Berücksichtigt wird dabei der mögliche Einfluss der Wirkfaktoren der Psychotherapie auf die Reduzierung der Folgesymptome der ADHS. Zum anderen wird der Einfluss der psychotherapeutischen Interventionen auf die ADHS-Symptomatik im Allgemeinen zusammengefasst, um dann ergänzend auf den Einfluss auf die ADHS- typischen Folgesymptome einzugehen. Der Ausblick soll in kritischer Betrachtung der aktuellen Evaluationen weitere Forschungsfragen entwickeln.
Im Folgenden erfolgt die Schilderung des Krankheitsbilds ADHS, welche in einem ersten Schritt die Befunde zu den Kinder- und Jugendlichen darstellt, um dann in einem zweiten Schritt die wissenschaftlichen Ergebnisse der Erwachsenen mit ADHS darzustellen.
Als Grundpfeiler, welche die Kernsymptomatik der ADHS beschreiben, gelten die Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität (Hesslinger, Philipsen & Richter, 2004; Elsässer, Nyberg & Stieglitz, 2010; Lauth & Naumann, 2009). Laut Hesslinger et al. (2004) verstärkt sich die Symptomatik oft mit dem Eintreten in die Schule. Die neuen und gestiegenen Anforderungen, die das Durchhaltevermögen sowie die Konzentration betreffen, bereiten den Kindern Probleme. Laut den Autoren treten die Aufmerksamkeitsdefizite und Konzentrationsstörungen vornehmlich bei fehlender Stimulation und Motivation auf. Ferner lassen sich die Kinder und Jugendlichen leicht ablenken, wirken verträumt und zeigen sowohl bei Hausaufgaben als auch beim freien Spiel ein geringes Durchhaltevermögen (Lauth & Naumann, 2009). Zusätzlich fällt eine Nervosität und Zappeligkeit auf sowie häufigere Wutanfälle, die sich vor allem im Streit mit anderen Kindern zeigen. Kinder mit ADHS können ihre Gefühle meistens weniger gut kontrollieren und neigen daher zu starken Stimmungsschwankungen und Gefühlsausbrüchen (Hesslinger et al., 2004). Zudem lässt sich ihr Handeln als übermäßig impulsiv beschreiben, dabei wirkt es häufig unüberlegt. Das zeigt sich in Form von häufigeren Unfällen, Schlägereien und riskanten Spielen. Auf der einen Seite sind die betroffenen Kinder- und Jugendlichen oft ungehorsam, rebellisch und zeigen ein aufsässigeres Verhalten als Kinder, die die Störung nicht aufweisen (Campbell, 2002). Auf der anderen Seite sind sie oft ängstlich, besorgt und neigen zu depressiven und unglücklichen Gefühlszuständen. Hinzu kommen ein geringes Selbstwertgefühl und Schuldgefühle (Hesslinger et al., 2004). Die immer wiederkehrenden Probleme mit anderen Kindern sind als Folge der geschilderten Symptome zu sehen, da es den Betroffenen schwer fällt, beständige Freundschaften mit gegenseitiger Rücksichtnahme aufzubauen (Hesslinger et al., 2004). Obendrein kommt es zu Autoritätsproblemen, welche insbesondere im schulischen Kontext zum Tragen kommen. Dabei unterbrechen die Betroffenen häufig das Gespräch (Lauth & Naumann, 2009). Ihre Schulleistungen sind wechselhaft und stark abhängig von motivationalen Einflüssen (Hesslinger et al., 2004). Das führt dazu, dass diese Kinder häufig nicht ihr volles Potential entfalten können. Die schulischen Probleme erscheinen oftmals in den Fächern Mathematik als auch Rechtschreibung (Frazier, Demaree & Youngstrom, 2004). Letztlich kommt es überall dort zu großen Problemen, wo klare Strukturen in der Vorgehensweise der Arbeit gefordert sind (Hesslinger, Philipsen & Richter, 2004). Folgende Tabelle 1 fasst einzelne Symptome der Kinder und Jugendlichen noch einmal zusammen.
Tabelle. 1: Symptome der ADHS im Kinder- und Jugendalter (nach Hesslinger et al., 2004)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Impulsivität o Wutanfälle (z.B. Streit mit anderen), Gefühlsausbrüche, starke Stimmungsschwankungen, Handeln ohne nach zu denken, Verlust der Selbstkontrolle, Neigung zu unvernünftigen Handlungen (z.B. Unfälle, riskante Spiele, Schlägereien) Probleme mit anderen Kindern, keine beständigen Freundschaften, Probleme mit Autoritäten, wechselhafte Schulleistungen, stark abhängig von motivationalen Einflüssen, „hinter den Möglichkeiten zurückbleibend“, häufig Probleme mit Mathematik und/oder Rechtschreibung Hyperaktivität o Nervosität, Zappeligkeit, Einerseits oft ungehorsames, rebellisches aufsässiges Verhalten; andererseits oft ängstlich, besorgt, depressiv und unglücklich mit geringem Selbstwertgefühl und Schuldgefühlen
Im Erwachsenenalter wird die ADHS laut Krause und Krause (2009) selten als Erstdiagnose gestellt. In den meisten Fällen wird der Patient wegen depressiver Verstimmung, Angstproblematik oder Sorgen bei einem Hausarzt, Psychiater oder Psychologen vorstellig. Ausgenommen davon sind Patienten, die betroffene Kinder in der Familie haben und so über ausreichend Kenntnis zur Symptomatik verfügen. Jedoch stellt sich die Symptomatik der ADHS im Erwachsenenalter nicht gleich zur Symptomatik im Kindes- und Jugendalter dar, sondern es kann allgemein von einer Modifikation der Symptome im Kinder- und Jugendalter ausgegangen werden. Demnach stehen vielmehr die Alltagseinschränkungen im Vordergrund (Krause und Krause, 2009; Sobanski & Alm, 2004). Die Verhaltensschwierigkeiten sind durch Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität gekennzeichnet (Lauth & Minsel, 2009; Krause & Krause, 2009). Barkley, Murphy und Fischer (2008) untersuchten die Häufigkeit von Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit im Erwachsenenalter. Dabei waren von 146 Erwachsenen 47 Prozent vorherrschend unaufmerksam, während 42 Prozent Unaufmerksam und Hyperaktiv waren. Zweitgenannte gelten somit als Mischtypus der ADHS. Weitere sieben Prozent zeigten vorherrschend hyperaktives Verhalten und fünf Prozent wurden der Restsymptomatik zugeordnet. Somit stehen im Erwachsenenalter der unaufmerksame Typus und der Mischtypus im Vordergrund (Lauth & Minsel, 2009).
Die Unaufmerksamkeit äußert sich in mangelnder Konzentrationsfähigkeit als auch geringer Ausdauer bei Aufgaben sowie erhöhter Ablenkbarkeit während der Ausführung von Arbeiten oder in Gesprächen. Das führt dazu, dass bei den Betroffenen häufig Flüchtigkeitsfehler auftreten und wichtige Details übersehen werden (Lauth & Minsel, 2009; Hesslinger, Philipsen & Richter, 2004). Die Aufmerksamkeitsdefizite treten zumeist auch bei den Erwachsenen mit ADHS im Zusammenhang mit fehlender Motivation und Stimulation auf. Die Personen haben „1000 Sachen im Kopf“ (Hesslinger et al., 2004, S. 15) und leiden unter hoher Vergesslichkeit. Des Weiteren steht bei den Patienten eine desorganisierte Lebensführung, Seite an Seite mit starken Stimmungsschwankungen, im Vordergrund. Die Stimmungsschwankungen werden aufgrund fehlender Kontrollmöglichkeiten der Impulsivität zumeist ausgelebt (Lauth & Minsel, 2009). Darüber hinaus zeigt sich der Aspekt der Impulsivität bei den Betroffenen in Form von vorschnellen Entscheidungen und wenig reflektiertem Vorgehen. Entscheidungen werden beständig „aus dem Bauch heraus“ getroffen, was zu sozialen und beruflichen Schwierigkeiten führt (Lauth und Minsel, 2009, S. 14; Hesslinger et al., 2004, S. 14). Die Betroffenen vergessen dadurch wichtige Termine, halten Absprachen nicht ein und reagieren übermäßig auf Kritik (Hesslinger et al., 2004). Das impulsive, sprunghafte und risikoreiche Verhalten der Betroffenen führt zu häufigeren Unfällen im Straßenverkehr (Barkley, Murphy & Fischer, 2008). Bereits wie im Kindes- und Jugendalter beschrieben, leiden auch die Erwachsenen unter den Folgen von häufigen Konflikten. Das zeigt sich immer dann, wenn Routine und Disziplin nötig sind, aber auch beim Einordnen in gesellschaftliche Hierarchien. In Folge kommt es häufiger zu Beziehungsabbrüchen und höheren Scheidungsraten als auch zu Abbrüchen in Ausbildung und oder Studium sowie einer höheren Wahrscheinlichkeit von Arbeitslosigkeit (Barkley, Fischer, Edelbrock & Smallish, 1990).
Erwachsene mit ADHS wippen häufig mit den Füßen und Trommeln mit den Findern, was ihrer inneren Unruhe zum Ausdruck bringt (Hesslinger et al., 2004; Krause & Krause, 2009). Die fehlende Regulation ihrer inneren Unruhe führt zu Spannungen im Berufs- und Ausbildungsalltag (Barkley et al., 2008, Lauth & Minsel, 2009). Dadurch wird das Sitzen in Konferenzen zur Qual, das andauernde Zuhören fast unmöglich und dem Einhalten von Routine folgt Unwillen und Gereiztheit (Lauth & Minsel, 2009). Außerdem fallen sie anderen ins Wort, lassen den Gesprächspartner kaum zu Wort kommen und neigen in kurzen Gesprächen zum Hyperfokussieren (Krause & Krause, 2009). Die Betroffenen wirken oft wie „getrieben“ (Krause & Krause, 2009, S. 49) und verbreiten vielfach Unruhe in der näheren Umgebung. Dies äußert sich in hektischem Rennen von Tätigkeit zu Tätigkeit, ohne dabei übermäßig produktiv zu sein (Krause & Krause, 2009). Folgende Tabelle 2 stellt die Kernsymptome den Verhaltenscharakteristika gegenüber.
Tabelle 2: Kernsymptome der ADHS bei Erwachsenen und die entsprechenden Verhaltensschwierigkeiten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Nicht unerwähnt bleiben jedoch die Ressourcen der Erwachsene mit ADHS, welche als Ausgleich zu den genannten Schwächen zu sehen ist (Hesslinger et al., 2004; Lauth & Minsel, 2009). Dabei fällt eine erhöhte Neugier als auch eine höhere Risikobereitschaft auf. Die Betroffenen berichten vermehrt von außergewöhnlich viel Energie, Kreativität und Phantasie. Eine rasche Auffassungsgabe und eine hohe Flexibilität als auch die Fähigkeit andere Menschen zu strukturieren, runden die Ressourcen ab (Hesslinger et al., 2004).
ADHS gehört zu den häufigsten Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters (Vorstand Bundesärztekammer, 2005; Wilens et al., 2002; Sobanski & Alm, 2004). Erhebungen im Rahmen des Robert-Koch-Instituts Berlin ergaben eine mittlere Prävalenzrate von 3,9 Prozent für Kinder und Jugendliche bis zu einem Alter von 17 Jahren. Eine bevölkerungsbasierte Stichprobe, die nach DSM-IV Kriterien mittels strukturierter und semistrukturierter Interviews erhoben wurde, ergab eine Prävalenz von zwei bis sieben Prozent, während bei der Erhebung durch die ICD-10 Kriterien eine Prävalenzrate von ein bis zwei Prozent notiert wurde (Vorstand der Bundesärztekammer, 2005). Dazu zeigte eine Studie in Nordbaden an 2238 Kindern mit ADHS, dass die höchste Prävalenz für ADHS im Alter von sieben bis zwölf Jahren lag. Die Jungen waren mit 7,2 Prozent von ADHS betroffen und die Mädchen mit 2,7 Prozent (Krause & Krause, 2009).
Die ADHS bei Erwachsenen kann mit einer Prävalenz von zwei bis drei Prozent als ernstzunehmende Erkrankung bezeichnet werden (Vorstand der Bundesärztekammer, 2005). Die Untersuchung von Murphy und Barkley (1998) ergab eine Prävalenz von 4,7 Prozent, während eine weitere Studie eine Prävalenz von 4,0 Prozent ergab (Heiligenstein, Conyers & Berns, 1998). Andere Autoren beschreiben eine Persistenz der ADHS im Erwachsenenalter von 66 Prozent (Barkley, Fischer, Smallish & Fletcher, 2002a) sowie 56 Prozent (Rasmussen & Gilberg, 2000). Neuere Erhebungen ergeben eine Prävalenz von fünf Prozent (Kessler et al., 2006). In den USA ergab eine epidemiologische Studie mit 3199 Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 44 Jahren, welche mit Hilfe von semistrukturierten Interviews durchgeführt wurde, eine Prävalenz von 4,4 Prozent. Die Telefonprobanden wurden anhand DSM-IV Kriterien auf Symptome der ADHS befragt (Kessler et al., 2006). Der Anteil der Frauen lag bei 3,2 Prozent, während der Anteil der Männer 5,4 Prozent betrug. Es wurde keine Abnahme der Prävalenz mit steigendem Alter festgestellt. Die Prävalenz in der Altersgruppe 18 bis 24 Jahre betrug 4,5 Prozent, in der Altersgruppe von 25 bis 34 lag sie bei 3,8 Prozent, während in der Gruppe der 35 bis 44-jährigen eine Prävalenz von 4,6 Prozent verzeichnet wurde.
Bei der ADHS liegt eine ausgeprägte Dominanz des männlichen Geschlechts vor (Wilens, Biedermann & Spencer, 2002; Fayyad et al., 2007). Die Jungen sind mit einem Verhältnis von 8:1 häufiger von der Störung betroffen als die Mädchen. Im Verlauf der Kindheit verringert sich dieses Ungleichgewicht, sodass es in der Jugend zu einer Relation von 5:1 kommt. Im Erwachsenenalter ändert sich das Bild grundlegend. Die Männer sind nur noch um ein zweifaches häufiger von der Symptomatik betroffen als die Frauen (Wilens et al., 2002; Fayyad et al., 2007). Zurückführen lässt sich dieses starke Ungleichgewicht auf die fehlende Hyperaktivität und Impulsivität der Mädchen im Kindesalter. Daher zeigt sich die Störung oft erst im Zusammenhang mit den gestiegenen Anforderungen in Studium, Beruf oder bei der Versorgung einer Familie (Krause, Gastpar & Davids, 2005). Klinische Stichproben begründen die ausgeprägte Dominanz des männlichen Geschlechts mit der komorbiden Aggressivität, da die gezeigte Aggressivität der Jungen eher zu einer Untersuchung auf eine bestehende ADHS und entsprechender Behandlung führt (Steinhausen, 2010). Experimente an Ratten zeigten, dass die Dopaminrezeptor- Dichte zwischen den Geschlechtern sehr unterschiedlich ist (Andersen & Teicher, 2000). Während die männlichen Tiere zu Beginn der Pubertät, im Vergleich zu den weiblichen Ratten, einen vierfach höheren Anstieg der Dopamin-D2-Rezeptordichte zeigten, konnten die Autoren eine Angleichung der Rezeptordichte herausstellen. Es sind laut Krause und Krause (2009) keine Studien bekannt, welche dieses Phänomen an Menschen betrachtet haben.
Die Ätiologie der ADHS bezieht sich größtenteils auf Untersuchungen im Kinder- und Jugendalter. Es wird davon ausgegangen, dass sich die ADHS bereits im Kindesalter manifestiert und sich die Ursachen sowohl neuroanatomisch und neurochemisch erklären lassen, als auch auf genetische und neuropsychologische Faktoren zurückführen sind (Krause & Krause, 2009; Lauth & Minsel, 2009; Steinhausen, Rothenberger & Döpfner, 2010). Das nicht-invasive Verfahren der Magnetresonanztomografie ermöglicht die strukturellen Unterschiede bei den Kindern mit ADHS im Vergleich zu nicht Betroffenen darzustellen. Es wird ein vermindertes Volumen im Bereich des Globus pallidus beschrieben (Aylward et al 1996; Castellanos et al., 1996). Die größten Effekte liegen laut Konrad (2010) in den Bereichen des präfrontalen Cortex, des Corpus Callosum,der Basalganglien und einzelner Kleinhirnareale.Der präfrontale Cortex ist aktiv bei der Steuerung, Planung und Repression von Verhalten und daher von wesentlicher Bedeutung bei der Symptomatik von ADHS (Hesslinger, Philipsen & Richter, 2004). Kritisiert werden muss jedoch laut Konrad, dass die Frage offen bleibt, inwieweit die morphologischen Volumenveränderungen krankheits- oder behandlungsbedingt sind. Castellanos et al. (2002) zeigten in einer systematischen Studie, in der sie Entwicklungs- und Medikationseffekte kontrollierten, dass die nicht-medizierten Kinder mit ADHS ein kleineres Gesamtvolumen der weißen Substanz und des Kleinhirns aufwiesen. Das Kleinhirn ist am prozessoralen Lernen beteiligt und kontrolliert die Motorik (Hesslinger et al., 2004). Hesslinger et al. (2004) schlussfolgern einen unterschiedlichen Aufbau der groben Gehirnstruktur der durchschnittlichen Personen mit ADHS im Kontrast zu Personen ohne ADHS.
Nach Lauth und Raven (2009) gibt es klare Belege für die Defizite im dopaminergen und noradrenergen Transmittersystem bei Personen mit ADHS. Experimente haben gezeigt, dass die Manipulation von Dopamin und Noradrenalin verschiedene psychische Vorgänge beim Menschen verändert. Dies sind Abläufe, welche die Aufmerksamkeit, Konzentration, Ausdauer, Motivation, Motorik, Emotionalität, Suchtverhalten und Motorik betreffen. Das spricht dafür, dass die Transmitter Dopamin und Noradrenalin bei Personen mit ADHS nicht so arbeiten oder zur Verfügung stehen, dass die erwarteten psychischen Funktionen umgesetzt werden können (Hesslinger, Philipsen & Richter, 2004). Auch Krause und Krause (2009) postulieren bei der ADHS eine Störung des Dopaminsystems im Striatum, welche sich durch die Gabe von Stimulanzien korrigieren lässt. Weitere Erläuterungen zu der Wirkung von Stimulanzien erfolgt im Verlauf der Arbeit, wenn die Beschreibung der pharmakologischen Intervention erfolgt.
Krause und Krause (2009) führen die Gründe der ADHS größtenteils auf eine genetische Störung zurück. Bisher lassen sich nicht alle für das Krankheitsbild wesentlichen Gene identifiziert, jedoch gehen Krause und Krause (2007) von mehreren beteiligten Genen aus. Durch die Isolation aller beteiligten Gene, lasse sich ein pathophysiologisches Bild der ADHS bestimmen (Krause & Krause, 2009). Daraus könnte eine spezifische medikamentöse Behandlung erfolgen. Zahlreiche Zwillingsstudien belegen eine „ (…) höhere Konkordanzrate für ADHS bei eineiigen Zwillingen, im Vergleich zu zweieiigen Zwillingspaaren (…)“ (Krause & Krause, 2009, S. 34). Einzelne Autoren gehen von einer Erblichkeit von 0,6 bis 0,8 Prozent aus (Schmidt et al., 2003). Adoptionsstudien heben eine erbliche Belastung hervor, da in Studien die biologischen Eltern deutlich häufiger von ADHS betroffen waren als die Adoptiveltern. Auch zeigte sich eine höhere Übereinstimmung der Ausprägung ADHS bei getrennt lebenden, biologischen Geschwistern im Vergleich zu Halbgeschwistern (Cantwell, 1975; Morrison & Stewart, 1973; Sprich, Biederman, Crawford & Faraone, 2000). Laut Banaschewski (2010) ist die Bedeutung von Zwillingsstudien insofern hoch, als dass es möglich ist, den Einfluss von gemeinsamen Umwelteinflüssen abzuschätzen. Hierbei kann nicht nur das unterschiedliche Verhalten der Eltern zum Kind ermittelt werden, sondern auch alle sozialen Umweltfaktoren (Banaschewski, 2010). Der Vorstand der Bundesärztekammer (2005) weist bei Kindern mit ADHS auf die höhere Rate an prä-, peri- und postnatalen Komplikationen hin. Auch die Gefährdung durch Umweltfaktoren wie Nikotin- und Alkoholkonsum der Mutter und chronischer Stress sowie Schwierigkeiten bei der nachgeburtlichen Versorgung, sind im Zusammenhang mit der ADHS zu sehen. Daher darf laut Krause und Krause (2009) die „Genexpression“ (2009, S. 44) nicht vernachlässigt werden. Dazu zeigten Studien die Wirkung von Nikotin im Gehirn. Möglicherweise kann die Nikotinaufnahme der Mutter während der Schwangerschaft zu einer Modulierung der entsprechenden Gen- Transkripte, nikotinerge Acetylcholin-Rezeptor-Proteine und Hirnzellen führen (Lim & Kim, 2001). In dem Zusammenhang postulieren Castellanos und Tannock (2002) die erhöhte Vulnerabilität bei spezifischen Genotypen, welche eher auf schädliche Umwelteinflüsse reagieren.
Neuropsychologische Konzepte gehen davon aus, dass der ADHS eine Störung exekutiver Funktionen zugrunde liegt (Barkley, 1997; Barkley, 2000). Barkley (1997a) unterscheidet bei Erwachsenen als auch Kinder mit ADHS vier Funktionsbereiche. Zum einen das a) nonverbale Arbeitsgedächtnis und die b) Fähigkeit zur Selbstregulation als auch die c) Selbstregulation von Stimmung und die Aktivierung und Motivation sowie die d) Fähigkeit zur Rekonstitution. Zur Ausführung der exekutiven Funktionen werden Teilfunktionen unterschieden, welche zur Ausführung. Dabei handelt es sich bei der selektiven Aufmerksamkeit um die Fähigkeit, relevante Reize von unwesentlichen Reizen zu trennen. Das Fehlen dieser Fähigkeit äußert sich bei den betroffenen Personen mit ADHS in einer erhöhten Ablenkbarkeit. Bei der geteilten Aufmerksamkeit besteht die Anforderung darin, verschiedene kognitive Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen, während es bei der Daueraufmerksamkeit darauf ankommt, auch unter monotonen Reizbedingungen aufmerksam zu sein. Fehlt diese Funktion, kann es zu Flüchtigkeitsfehlern kommen. Ebenso besteht in Alltagssituationen häufig die Notwendigkeit zur Impulskontrolle, welche den betroffenen Personen schwer fällt. Das visuelle und verbale Arbeitsgedächtnis dient der Verarbeitung und Bereithaltung von visuellen und verbalen Informationen solange, bis eine motorische oder mentale Reaktion erfolgt (Sobanski & Alm, 2004). Während die medizinisch-psychiatrisch orientierten Theorien die biologischen Ursachen bei der ADHS betonen, unterstreichen soziale Theorien den Stellenwert der Lebenserfahrungen und den familiären Hintergrund als auch die aktuellen und vergangenen Schul- und Arbeitsbedingungen (Lauth & Raven, 2009).
Daher erscheint nach Lauth und Raven (2009) ein multifaktorielles Bedingungsmodell (vgl. Abbildung 1) geeignet, um die Faktoren der biologischen Vulnerabilität, den Einfluss der sozialen Umwelt sowie die psychischen Folgen beim Erwachsenen mit ADHS darzustellen und zusammenzuführen. Die biologische Vulnerabilität entsteht aus einem Mangel an Aktivierungssteuerung, welcher zum einen aus einer Unteraktivierung und zum anderen aus einem Mangel an zentralnervöser Übertragung besteht. Des Weiteren stehen Mängel bei der zentralnervösen Hemmungskontrolle im Vordergrund sowie verhaltensgenetische Reaktionsstile. Die unzureichende Informationsverarbeitung beruht auf Neurotransmitterproblemen. Der Mangel an positiver Anleitung und unzureichende positive Verstärkung sowie fortgesetzte ungünstige Attributionen, sind als problematische Variablen und Erfahrungen in der sozialen Umwelt der Patienten zu finden. Die psychischen Folgen beim Erwachsenen mit ADHS sind neben Performanz- und Kompetenzdefiziten auch mangelnde exekutive Funktionen und unzureichende Kontrollsysteme. Die Betroffenen besitzen Fähigkeiten der Performanz, sie setzten diese jedoch selten ein. Gründe hierfür sind oft motivationale, da die Handlungen anstrengend sind als auch Einsatz erfordern und zudem das Risiko des Versagens beinhalten (Lauth & Raven, 2009). Zum anderen mangelt es den Betroffenen an vorausschauender Planung. Dabei wird eine Situation nur unzureichend durchdacht und die Folgen können schwer abgesehen werden.
Dies ist auf die mangelnde exekutive Kontrolle zurückzuführen (Barkley, Murphy & Fischer, 2008). Im Alltag werden die Defizite insbesondere in den exekutiven Funktionen deutlich, welche bei der Planung und Organisation von Verhalten sowie der Steuerung der eigenen Emotionen wesentlich sind. In Folge der psychischen Folgen beim Individuum kommt es zu ADHS-typischem Verhalten. Dazu gehören das Aufschieben von Tätigkeiten, als auch Unkonzentriertheit sowie erhöhte Ablenkbarkeit und innere Unruhe. Zudem beschreiben die Patienten ein flüchtiges Risikoverhalten und starke Beeinträchtigungen im Alltagsleben (Lauth & Raven, 2009). Die folgende Abbildung 1 stellt das Bedingungsmodell der ADHS bei Erwachsenen grafisch dar.
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