Diplomarbeit, 2003
174 Seiten, Note: sehr gut
0. VORWORT
I. METHODOLOGISCHE GRUNDLEGUNGEN
1. Die Ethnomethodologie
1.1. Begriffsbestimmung und Entwicklungsgeschichte
1.2. Die „Ethno-Methoden“ der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit
2. Die Ethnomethodologische Konversationsanalyse
2.1. Begriffsbestimmung und Entwicklungsgeschichte
2.2. Die Ethnomethodologische Grundhaltung der Konversationsanalyse
2.3. Die Indexikalität und sequentielle Implikativität von Darstellungen („accounts“)
2.4. Analytisches Interesse und methodische Prinzipien
3. Die ethnographische Gesprächsanalyse am Gegenstand Jugendsprache
3.1. Die Ethnographische Gesprächsanalyse
3.1.1. Eine reflexive Kritik der Ethnomethodologie
3.1.2. Zur Methodik einer ethnographischen Gesprächsanalyse
3.2. Begriffsbestimmung „Jugendsprache“
3.3. Jugendsprachforschung in der Soziolinguistik
3.4. Zur Methodik der Untersuchung adoleszenter Kommunikationskultur in Peer-Groups
II. THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN
1. Zum Verhältnis von Sprache und Kommunikation
1.1. Zur Problematik der epistemischen Konzeptualisierung von Realität
1.2. Zur sprachlichen Konstruktivität von Wirklichkeit
1.3. Kritik des Kommunikationsmodells von Sprache
2. Zum Verständnis kommunikativer Intentionen & bedeutungsvollen Handelns
2.1. (Bewusstseins-)theoretische und praktische Intentionalitätskonzeption
2.2. Handlungstheoretische Reflexionen
2.2.1. Handlung und Intention in der philosophischen Handlungstheorie
2.2.2. Handlungen als kommunikative Synthese von Fremd- und Selbstzuschreibung
2.3. Zum Bedeutungsverständnis menschlicher Artefakte und menschlichen Handelns
2.4. Kritik des kognitivistischen und psychologistischen Bedeutungsverständnisses
2.5. Intersubjektivität qua Partizipation an einem gemeinsamen Bedeutungshorizont
2.6. Kommunikative Intentionen und Sprachverständnis
3. Strategische Interaktion und Motivaushandlung
3.1. Aufrichtigkeit als rhetorische Größe
3.2. Manifeste und verborgenen Intentionen oder die Problematik
der Rekonstruktion „wahrer“ Handlungsmotive
3.3. Ausdrucksspiele als Form strategischen Handelns
3.4. Die soziale Konstruktion personaler Identität
3.5. Motivdiskurse als Identitätsdiskurse
4. Scherzkommunikation
4.1. Bedeutungsverschiebung in der Scherzkommunikation
4.2. Zum Verhältnis von Humor und Höflichkeit in privater Scherzkommunikation
4.3. Die drei häufigsten Formen konversationellen Scherzens (Fiktionalisierung, Frotzelei
& Ironie)
4.4. Zur Entwicklung eines pragmatischen Bedeutungsverständnismodells
am Beispiel kommunikativer Ironie
4.4.1. Relevanz-, Substitutionstheorie und Psycholinguistik
4.4.2. Pragmatische Ironietheorie
III. FALLANALYTISCHE UNTERSUCHUNGEN
1. Der Datenkorpus
2. Fallanalyse „Absahnen“
2.1. Transkript „Absahnen“ (Juk 24-4)
2.2. Kommunikative Verfahren der Realisierung von Intentionalitätsdiskursen/
Motiventlarvungen
2.2.1. Zur Genese/Kontextualität intentionalitätsdiskursiver Aktivität
2.2.2. Ein argumentationstheoretischer Exkurs
2.2.3. „Absahnen“ als argumentationslogischer Diskurs
2.2.4. Pragmatische Schlussfolgerung am Beispiel „THS“ (Z.56-66)
2.2.5. Kommunikative Argumentationsmuster und pragmatische Intentionalitätszuschreibung
2.2.6. Rhetorisches Stilmittel der direkten Redewiedergabe („oratio recta“)
2.2.7. Kommunikative Gegenmaßnahmen zur Abwehr
gesichtsbedrohlichem Potentials
2.3. Interaktionsdynamik
2.3.1. Zur Interaktionsstruktur & kommunikativen Modalität
2.3.2. Zur Funktionalität von argumentativen Intentionalitätsdiskursen
3. Fallanalyse „Kreuz und Quer“
3.1. Transkript „kreuz und quer“ (Juk 24)
3.2. Kommunikative Verfahren der Realisierung von Motiventlarvung
3.2.1. Zur Genese/Kontextualität intentionalitätsdiskursiver Aktivität
3.2.2. „KuQ“ als alltagspsychologischer Diskurs
3.2.3. Motiventlarvung über Identitätsdekonstruktion
3.2.4. „KuQ“ als bildungsstilistischer Diskurs
3.2.5. Rhetorisches Stilmittel der Ironie
3.2.6. Kommunikative Gegenmaßnahmen zur Abwehr
gesichtsbedrohlichen Potentials
3.3. Interaktionsdynamik
3.3.1. Zur Interaktionsstruktur & kommunikativen Modalität
3.3.2. Zur Funktionalität von alltagspsychologischen und ironischen Intentionalitätsdiskursen
4. Fallanalyse „shots“
4.1. Transkript „shots“ (Juk)
4.2. Kommunikative Verfahren der (Nicht-)Realisierung von Motiventlarvung
4.2.1. Zur Genese/Kontextualität intentionalitätsdiskursiver Aktivität
4.2.2. Diskursive Vergemeinschaftungsverfahren und Exklusionsstrategien
4.2.3. Zur Statusperformanz und -Relativität von Motivdiskreditierungen
4.2.4. Subordination intentionalitätsdiskursiver Aktivität unter Fragen sozialer Gratifikation
4.2.5. Frotzelei als kommunikatives Exklusionsverfahren
4.2.6. Kommunikative Verfahren zur Abwehr gesichtsbedrohlichen Potentials
4.3. Interaktionsdynamik
4.3.1. Zur Interaktionsstruktur & kommunikativen Modalität
4.3.2. Zur Funktionalität exkludierender Intentionalitätsdiskurse
5. Fallübergreifender Vergleich
5.1. Formallogische Merkmale intentionalitätsdiskursiver Kommunikationspraxis
5.1.1. Insistenzzyklen
5.1.2. Widerspruchsverhältnis
5.1.3. Zeitlichkeit
5.2. Funktionslogische Aspekte intentionalitätsdiskursiver
Kommunikationspraxis
5.2.1. Diskursive Imagekonstruktion
5.2.2. Konversationelle Vergemeinschaftungsmechanismen
5.2.3. Kommunikatives Konfliktmanagment
IV. FAZIT
1. Zur handlungstheoretischen Debatte
2. Zur gegenwärtigen Jugendkommunikationsforschung
3. Ausblick
V. LITERATURNACHWEISE
VI. APPENDIX
1. Das gesprächsanalytische Transkriptionssystem GAT (Selting et al. 1998)
2. Eidesstattliche Erklärung
Die vorliegende Diplomarbeit beschäftigt sich mit dem alltagsweltlichen Phänomen intentionalitätsdiskursiver Kommunikationspraxis und fokussiert v.a. auf motiventlarvende Sprachspiele, als integralem Bestandteil im kommunikativen Haushalt (Luckmann 1986) einer bestimmten lebensstilistischen Kommunikationsgemeinschaft. Als sprachlicher Ausdruck der Kommunikationskultur einer männlichen Peer-Group, beschreibt der empirische Gegenstand dieser Untersuchung die genuinste Form sozialer Interaktion: informelle, i.e. aufgabenent-bundene und nicht institutionalisierte Konversation unter Adoleszenten. Das analytische Erkenntnisinteresse gilt den vielfältigen lebensweltlichen Kommunikationsstrategien, durch welche Akteure[1] Handlungsabsichten und –ziele thematisieren, problematisieren und verhandeln. Intentionalität emergiert nicht als handlungsprimordialer oder transzendentaler Wert, sondern vielmehr als dynamische und gemeinschaftlich konstruierte/-bare Größe von spezifisch pragmatischer Relevanz. D.h. die Sinnhaftigkeit sozialen Handelns wird erst durch einen sozialen Ratifikationsprozess konstituiert und Sprechhandlungen nachträglich als bedeutungsvoll ausgewiesen. Im Zuge dessen findet ein Wettstreit um die definitorische Hoheit über explizit artikulierte Wirklichkeitskonzeptionen und inhärente Identitätsansprüche statt. Die Deutungsmacht über intentionale Handlungsbegründung repräsentiert hierbei eine mächtige Ressource zur Askription lokaler Identitäten. Soziale Handlung wird dabei als genuine Manifestation respektive als Indikator für lokale Identität veranschlagt (Coulter 1989). Das Anliegen dieser Arbeit gilt letztendlich der Synthetisierung formallogischer Strukturmerkmale, sowie soziologisch relevanter Funktionalitäten intentionalitätsdiskursiver Sprachpraxis. Dabei müssen die Eigenarten adoleszenter Gesprächspraxis berücksichtigt werden, welche es schlichtweg verunmöglichen den Maßstab idealisierter Diskurstheorien (i.e. Habermas 1981; Searle 1996) anzulegen. Eine analytische Annäherung an das Phänomen intentionalitäts-diskursiver Praxis ist nur durch eine Analyse konkreter Kommunikationspraxis möglich. Aus diesem Grunde ist diese Forschungsarbeit empirisch konzeptualisiert und bedient sich der Ethnographischen Gesprächsanalyse (Deppermann 1999) als hermeneutischem Analyse-instrument. Die materialgestützte Argumentationsentfaltung ermöglicht es induktiv Einsichten gewinnen und hypothetische Aussagen am Korpus belegen zu können. Erklärtes Ziel hierbei ist die Syntethisierung formaler und funktionaler Strukturmerkmale intentionalitätsdiskursiver Kommunikationspraxis, unter Berücksichtigung fallspezifischer Verbalisierungsstrategien.
In den grundlagentheoretischen Teilen (I.; II.) der Arbeit wird eine ausführliche Darlegung des methodologischen und theoretischen Bezugrahmens vorgenommen. Da ich methodologisch von einer sozialkonstruktivistischen und pragmatischen Perspektive her argumentiere, wird dort eine eingehende Diskussion der Ethnomethodologie [=EM] (I.1.) als epistemischer Präambel der Konversationsanalyse [=KA] (I.2.) vorgenommen. Anschließend wird die beschriebene Methode auf den Forschungsgegenstand „Jugendsprache“ transformiert und ein entsprechendes Forschungsprogramm skizziert (I.4.). Darüber hinaus wird eine reflexive Weiterentwicklung der KA zur Ethnographischen Gesprächsanalyse [EG] unternommen. Zu Beginn der Darlegung meines theoretischen Bezugrahmens (II.) wird eine emphatische Kritik des konventionellen Kommunikationsmodells der Sprache entfaltet (II.1.). Da eine analytische Konzeptualisierung und Operationalisierung von Intentionalitätdiskursen zwangsläufig eine Überschneidung mit handlungstheoretischen Problemata impliziert, wird in II.2. das Verständnis kommunikativer Intentionen und bedeutungsvollem Handelns diskutiert. Da in diesem Zusammenhang die Schwierigkeit der analytischen Erfassung strategischer Interaktion, sowie der Rekonstruktion originär handlungsinstruierender Motive und Absichten, emergiert, soll in Kapitel II.3. dieser Problematik Rechnung getragen werden. Da scherzkommunikative Elemente bzw. unernst-spielerische Modalitäten innerhalb des bearbeiteten Datenmaterials weit verbreitet sind und eine nicht unerhebliche Rolle beim Kommunizieren implikativer Intentionen spielen, scheint ein Exkurs zu Formen konversationellem Scherzens, zum Verhältnis von Humor und Höflich-keit sowie zum pragmatischen Bedeutungsverständnis am Beispiel der Ironie notwendig (II.4.). Zu Beginn des empirisch-analytischen Hauptteil (III.) wird der Datenkorpus vorgestellt (III.1.). Daraufhin folgen die detailsensitiven und sequenzanalytischen Untersuchungen und Deskriptionen der Einzelfallbeispiele [„Absahnen“ (III.2), „Kreuz und Quer“: „KuQ“ (III.3.) und „Shots“ (III.4.)], wobei das besondere Augenmerk der Charakteristik des jeweiligen Fallbeispiels gilt. Im Zuge dessen wird v.a. auf die kommunikativen Verfahren der Realisierung intentionalitätsdiskursiver respektive motivproblematisierender Sprech-handlungen; ihre Okkurrenzbedingungen; kontextuell verwendete rhetorische Stilmittel; kommunikative Abwehrmaßnahmen gegen gesichtsbedrohendes Potential (fta’s); sowie auf interaktionsdynamische Aspekte fokussiert. Den Einzelfalldarstellungen schließt sich ein fallübergreifender Vergleich (III.5.) an, innerhalb dessen struktur- und funktionslogische Aspekte intentionalitätsdiskursiver und motiventlarvender Praxis synthetisiert werden. Zum Abschluss der Arbeit (IV.) wird eine kurze kritische Einordnung der gewonnenen Erkenntnisse in die gegenwärtige handlungstheoretische Debatte (IV.1.), sowie eine reflexive Positionierung zur gegenwärtigen Jugendkommunikationsforschung vorgenommen (IV.2.).
Die Ethnomethodologie (EM) verdankt die Bezeichnung ihrem Namensgeber Harold Garfinkel. Sie entstand in Auseinandersetzung mit dem strukturfunktionalistischen Ansatz Tallcott Parsons’ (1972)[2], unter Rückgriff auf die phänomenologischen Bemühungen Alfred Schütz’[3]. Im Gegensatz zu Parsons Erklärung institutionalisierter Verhaltensmuster durch motivationale Prozesse[4], betrachtet Garfinkel (1967) intersubjektive Verständigung nicht als einfach gegeben, sondern als Produkt eines sozialen Aushandlungsprozesses, als etwas situativ laufend Herzustellendes.
Semantik darf nicht als strukturelle Eigenschaft von Sprache verstanden werden, im Sinne eines abstrakten, in sich geschlossenen Systems von Zeichen, Worten oder Sätzen. Auslegungspraktiken von Bedeutungen sind vielmehr Prozesse kollektiver „Gesprächsarbeit“: Wirklichkeit zeichnet sich für die Mitglieder einer Gesellschaft durch einen fortwährenden Vollzug aus[5]. Garfinkel verlagerte den Schütz’schen Bezugspunkt vom Erlebnis-/ Bewusstseinsstrom auf die sprachlich-deutende Handlung. Der Schlüsselbegriff für den Zusammenhang von Sprache, Handlung und Konstruktion sozialer Wirklichkeit lautet „Darstellung“ („ accounting “)[6]. Diesem Begriff kommt eine Doppelbedeutung zu: einerseits als „praktische Inszenierung“ und andererseits als „sprachlich symbolische Präsentation“: „Ethnomethodological studies analyze everyday activities as members’ methods for making those same activities visibly-rational-and-reportable-for-all-practical-purposes, i.e., ‘account-able’, as organizations of commonplace everyday activities” (Garfinkel 1967:vii).
Die EM postuliert also, dass soziale Handlungen, durch welche organisierte Alltagsangelegen-heiten produziert und gesteuert werden, identisch sind mit dem Vorgehen der Gesellschafts-mitglieder, diese Formen erklärbar („ accountable “) zu machen. Dadurch entfernt sich die EM von der Cartesianischen Betonung des Vorrangs subjektiver Erfahrung und lenkt das Augen-merk auf die „Untersuchung ‘situativer Praktiken’ als ‘öffentlich’ interpretierbarer Sprach-formen“ (Giddens 1984:43). Garfinkel fand die Antwort auf das „Problem der sozialen Ordnung“ nicht in Parsons Handlungs- und Systemtheorie, sondern in Schütz’ phänomeno-logisch motivierten Lebensweltanalysen. Während jedoch das Schützsche Anliegen die philosophische Begründung einer an Weber (1960) angelegten Handlungstheorie war[7], wendete Garfinkel die phänomenologische Lebensweltanalyse in eine empirische Soziologie[8].
Garfinkels (1967) Krisenexperimente („ incongruity experiments “) verdeutlichten, auf welch virtuose Art und Weise Akteure Handlungen und Interaktionen begehen, sich untereinander verständig machen und alltägliche Routine- und Problemsituationen bewältigen. Für ihn stand die Frage nach dem „ wie ?“ der Sinnkonstitution in alltäglichen Handlungen an oberster Stelle und entsprechend richtete er seine Aufmerksamkeit „auf das operative Fundament der im alltäglichen Handeln als selbstverständlich hingenommenen sinnhaften Ordnung, d.h. auf die Techniken und Mechanismen – die Ethno-Methoden – ihrer Produktion“ (Bergmann 1994:5).
Während Schütz sein Augenmerk darauf richtete was die Gesellschaftsmitglieder wissen, beschäftigte sich Garfinkel damit, „ wie die Gesellschaftsmitglieder wissen, was sie wissen und wie sie das, was sie wissen, verwenden“ (Psathas 1979:184). Die als selbstverständlich hingenommenen Verstehensleistungen der Gesellschaftsmitglieder werden somit in den Mittelpunkt der analytischen Aufmerksamkeit gerückt[9]: „Die Ethnomethodologie lässt sich beschreiben als die Einstellung, in der es möglich wird, alle Techniken der Konstitution des Wissens in und von der Welt des Alltagslebens als Techniken der Gesellschaftsmitglieder aufzudecken“ (Psathas 1979:188). Der ethnomethodologische Forschungsansatz greift die Techniken der Konstitution von (alltäglichem und wissenschaftlichem) Wissen auf und macht sie zum Gegenstand ihrer Untersuchungen. Die Herausforderung liegt dabei in der Rekon-struktion wie Gesellschaftsmitglieder „soziale Fakten“ in ihren Handlungen konstruieren, produzieren und interpretieren: „Die in den gewöhnlich-alltäglichen Handlungen der Gesellschaftsmitglieder implizierten Methoden bilden somit das Thema der ethnomethodo-logischen Untersuchung, - d.h. also Methoden, die (a) praktische Handlungen und Umstände, das Alltagswissen von sozialen Strukturen und des praktisch-soziologische Denken analysierbar machen, und die es (b) ermöglichen, die formalen Eigenschaften praktischer Handlungen selbst - ‘von innerhalb’, d.h. von den Perspektiven der Gesellschaftsmitglieder aus betrachtet – als einen fortwährenden Vollzug zu erforschen“ (Psathas 1979:179).
Alltagshandlungen werden als Darstellungspraktiken begriffen, durch welche in alltäglichen Situationen („ settings “), mittels einer Fülle von Verfahren („ methods “), die Alltagswelt (re-) produziert wird. Als Ergebnis dieses Prozess’ der Verwendung, Modifikation und Mitteilung von „Sinn“ werden soziale Welten und Wirklichkeiten generiert. Oder wie Garfinkel (1967:11) es mit eigenen Worten ausdrückt: „I use the term ‘ethnomethodology’ to refer to the investigation of the rational properties of indexical expressions and other practical actions as contingent ongoing accomplishments of organized artful practices of everyday life”.
Der zentrale Fokus der EM liegt also in der Erkenntnis der Art und Weisen wie Mitglieder einer Gesellschaft soziale Ordnung generieren, modifizieren und konservieren, d.h. wie sie sich „Sinn“ selbst erklärbar machen[10]. Ziel der ethnomethodologischen Analyse ist die Aufdeckung und Beschreibung der Strukturen und Verfahren von praktischen (Alltags-) Handlungen, i.e. der Methoden praktischen Denkens, mittels welchen Bedeutung produziert und Tatsachen konstruiert werden[11]: „The study of common sense knowledge and common sense activities consists of treating the problematic phenomena as actual methods whereby members of a society, doing sociology, lay or professional, make the social structures of everyday activities observable” (Garfinkel 1967:75). Die Aufgabe der EM besteht folglich darin die Erklärbarkeit („accountability“) praktischer gesellschaftlicher Tätigkeiten selbst erklärbar („accountable“) zu machen. Andererseits betont die EM die prinzipielle Untersuchbarkeit der Sozialwissenschaft selbst („ethnomethodologische Indifferenz“)[12].
Die zentrale Aktivität in alltäglichen Interaktionssituationen besteht darin miteinander Konversation zu betreiben. Der mundanen Vorstellung nach sind diese Alltagsgespräche chaotisch und weitgehend unstrukturiert. Die eingehende wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Thematik hat hingegen die Einsicht gefördert, dass Alltagsgespräche einer gewissen „Ordnung“ unterliegen. Mit der Frage nach dieser systematischen „Geordnetheit“ von Gesprächen beschäftigt sich nun die Konversationsanalyse (KA)[13]. Sie verkörpert die Einlösung des ethnomethodologischen Forschungsprogramms am Gegenstand sprachlicher Interaktionen: „Damit aber ein Beobachter den Sinn einer Handlung erschließen kann, muss der Erzeuger dieser Handlung deren Sinn auch ’verstehbar’ machen, also kommunikativ vermitteln. Nach Garfinkel setzen die Akteure im Vollzug ihrer Handlungen Ethno-Methoden ein, um diese ‘accountable’, also identifizierbar, verstehbar, beschreibbar oder erklärbar zu machen. Produktion und Kognition von Handlungen bilden in der Ethnomethodologie eine untrennbare Einheit: Handlungen sind identisch mit den Methoden der ‘Mitglieder’, diese Handlungen ‘accountable’ zu machen. Anders ausgedrückt: Handlungen sind immer zugleich Kommuni-kation“ (Eberle 1997:249). Oder wie es Bergmann in Worte fasst: „Die Konversationsanalyse bezeichnet einen Untersuchungsansatz, dessen Ziel es ist, durch eine strikt empirische Analyse ‘natürlicher’ Interaktion die formale Prinzipien und Mechanismen zu bestimmen, mittels derer die Teilnehmer an einem sozialen Geschehen ihr eigenes Handeln, das Handeln anderer und die aktuelle Handlungssituation in ihrem Tun sinnhaft strukturieren, koordinieren und ordnen“ (Bergmann 1994:3). Ihr Interesse gilt folglich den kommunikativen Prinzipien der Re-/Produktion sozialer Ordnung in situierten (nicht-) sprachlichen Interaktionen[14].
Bis heute ist für das theoretische und methodische Selbstverständnis der KA die EM Garfinkels ausschlaggebend. Darüber hinaus übten die interaktionstheoretischen Arbeiten Goffmans, die „kognitive Anthropologie; die Ethnographie des Sprechens sowie die Philosophie des späten Wittgensteins“ (Bergmann 1994:4) Einfluss auf die Genese der KA. Vor allem die Arbeiten Sacks und die Studien von Schleghoff (1968) und Jefferson (1972) gaben der frühen KA ihr Profil. Nach Sacks besteht die Aufgabe der Soziologie nicht in der Umschreibung sozialer Handlungen, sondern in der Analyse sozialer Aktivitäten in „natürlichen“ Settings sowie der Deskription der Prinzipien, an denen sich die Akteure im Einzelnen orientieren. Eberle (1997:251) schreibt: „Alltägliche Kategorisierungen dürfen nicht mit soziologischen Kategorisierungen überlagert, soziale Handlungszusammenhänge nicht mit begrifflichen Typisierungen umschrieben werden, sondern es gilt anhand empirischer Daten aufzuzeigen, was für Akteure im Handlungsvollzug im einzelnen relevant ist. In Garfinkels Fußstapfen transformierte Sacks die phänomenologische Analyse der Typisierung durch Schütz in eine empirische Erforschung alltäglicher Beschreibungs- und Verstehenspraktiken“[15].
Die EM operiert mit einer Reihe von Prämissen, die ebenfalls der KA zugrunde liegen: so wird soziale Wirklichkeit als „Vollzugswirklichkeit“ verstanden, die nicht aus vorgegebenen objektiven Sachverhalten besteht, sondern kontinuierlich in konzertierten Handlungen und Wahrnehmungen konstruiert und ratifiziert wird[16]. Auch wird die EM von der Vorstellung geleitet, dass im Vollzug alltäglicher Handlungen Methoden Anwendung finden, durch welche die ablaufenden Handlungen und deren Situationen als „Zeichen-und-Zeugnisse-einer-sozialen-Ordnung“ (Garfinkel) erkennbar werden. Bergmann (1994:6) zufolge geht die KA, „entsprech-end ihrer ethnomethodologischen Grundhaltung (…) von der Prämisse aus, dass die Handeln-den das, was sie im alltäglichen Handeln als vorgegebene soziale Tatsache, als unabhängig von ihrem Zutun existierenden Realität wahrnehmen und behandeln, erst in ihren Handlungen und Wahrnehmungen als solche hervorbringen. Gesellschaftliche Tatbestände erhalten ihren Wirklichkeitscharakter ausschließlich über die zwischen den Menschen ablaufenden Inter-aktionen. Erst in der sozialen Interaktion stellt sich die Objektivität von als ‘objektiv’ wahrge-nommenen Ereignissen, die Faktizität von als ‘faktisch’ geltenden Sachverhalten her“. Während die Phänomenologie die Konstitution von Phänomenen im Bewusstseinsstrom zu ihrem Gegenstand erhebt, untersucht die EM die Produktion von Ordnung im Handlungsstrom. Forschungsziel ist die Untersuchung der Methoden des praktischen Räsonierens der Gesell-schaftsmitglieder, durch welche eine lokale Ordnung entworfen wird: „In spite of its name [KA] is concerned with the understanding of talk-in-interaction more generally, and with interaction per se more generally still. However, it takes ordinary conversation to be the fundamental form of talk-in-interaction (…) and the primordial site of human sociality and social life” (Schegloff 1987:101). Gesellschaftsmitglieder wissen also soziale Situationen zu erkennen und zu identifizieren, verfügen über ein praktisches Wissen, besitzen allerdings kein explizites Wissen darüber, wie dieser Typisierungsprozess abläuft. Hierauf fokussiert die EM und versucht formale Strukturen von Alltagshandlungen zu identifizieren und zu benennen[17].
Soziale Wirklichkeitskonstruktion wird als methodisch generiert und strukturiert betrachtet: 1). Wirklichkeitsdefinitionen sind flexibel, modifizierbar, transformierbar, situativ gültig; 2). der Prozess der Wirklichkeitskonstruktion wird als interaktive Leistung aufgefasst, innerhalb welchem Techniken und Verfahren Anwendung finden, um Handlungen sinnvoll und vernünftig erscheinen zu lassen und diese gleichzeitig identifizierbar, beschreibbar, erklärbar („ accountable “) zu machen; 3). Der Sinngebungsprozess ist reflexiv (Handlung wird durch Sinn erklärbar bzw. Sinn durch Handlungsvollzug bestätigt); 4). Interaktions- und Verstehens-prozesse unterliegen einer Zeitökonomie; 5). Äußerungen besitzen indexikalischen Charakter, d.h. sie zeichnen sich durch einen kontextuellen Verweisungszusammenhang aus, welcher für die Interaktionsteilnehmer eine unverzichtbare Interpretationsressource darstellt: „Jede Handlung ist m.a.W. kontext-geprägt (context-shaped), d.h. sie kann nur adäquat verstanden werden unter Bezugnahme auf die vorausgegangenen Handlungen. Gleichzeitig ist sie kontext-erneuernd (context-renewing), indem jede gegenwärtige Handlung den unmittelbaren Kontext der jeweils nächsten Handlung darstellt“ (Eberle 1997:256). Der Indexikalität im alltags-sprachlichen Ausdruck wird dadurch begegnet, dass Akteure ein als selbstverständlich vorausgesetztes Wissen zur Eingrenzung des Sinns heranziehen[18]. Dabei ist die sequentielle Implikativität eines Redebeitrages, d.h. die Position einer Sequenz, nicht nur ausschlaggebend für ihren Handlungssinn, sondern limitiert ebenso die Anschlussmöglichkeiten[19].
Das analytische Interesse der KA fokussiert auf die Struktur und Methodizität sprachlich realisierter Handlungsformen (primär von alltäglichen, selbstzweckhaften, nicht aufgaben-orientierten Gesprächen): „Conversation analysts try to describe the methods which people themselves use to make sense when they talk to each other” (Wooffitt 1990:35). Oder wie es Bergmann (1994:8) formuliert: „Die KA begnügt sich nicht damit, eine Äußerung als Exemplar eines bestimmten Sprechakttypes – als Vorwurf, als Kompliment o.ä. – zu identifizieren; sie vermeidet es auch, darüber zu spekulieren, welche Motive ein Sprecher für seine Äußerungen hätte haben können. Ihr Erkenntnisziel ist vielmehr, die Orientierungsmuster und formalen Mechanismen zu rekonstruieren, die von den Interagierenden eingesetzt werden, um den Handlungs- und Sinngehalt einer Äußerung erkennbar zu machen bzw. zu erkennen“[20].
Die KA versucht formale Prinzipien zu extrahieren, welche den indexikalischen Kontext einer Äußerung transzendieren. Sie operiert mit einem Modell eines kontextsensitiven Akteurs, der den Kontext seines Handelns analysiert, unter Zuhilfenahme seines Alltagswissens interpretiert und seine Beiträge entsprechend ausrichtet. „Dieses Prinzip der ‘lokalen Partikularisierung’ sorgt dafür, dass die nach situationsübergreifenden Regeln produzierte Äußerung situativ adaptiert und damit ‘kontextualisiert’ werden“ (Bergmann 1994:8). Ein Charakteristikum der KA ist es „aus der Einsicht in die methodische Qualität und dem selbstexplikativen Charakter sozialer Handlungen zur gegenstandsadäquaten Methodisierung ihres Vorgehens zu gelangen“ (Bergmann 1994:9):
a) Aufzeichnung alltäglicher, „natürlicher“ Interaktionen[21] ;
b) Transkription des Datenmaterials;
c) Eine daten- und nicht theoriegeleitete Analyse[22] ;
d) Grundsätzlich alle „Kleinigkeiten“ sind von Interesse/ für die Analyse relevant;
e) Validierung am Material selbst.
Wie beschrieben liegt der Fokus der EM auf der Wirklichkeitskonstruktion durch die Gesellschaftsmitglieder. Im wissenschaftlichen Betrieb selbst blieb jedoch häufig die Konstitutionsleistung des beobachtenden Forschers unreflektiert. Selbst in der ethnomethodo-logischen Gesprächsforschung wird diese Asymmetrie zwischen Gegenstand und Selbstver-ständnis nicht überwunden. An dieser Stelle soll der kurze Versuch einer konstruktivistischen Weiterentwicklung dieser Asymmetrien unternommen werden. In Anlehnung an Deppermann (1997b:1) wird „für eine reflexive Wendung der Konzeption gesprächsanalytischen Arbeitens plädiert, die das Selbstverständnis empirischen Untersuchens mit ethnomethodologischen Gegenstandsrezeptionen in Einklang bringt“. Analog ihrer ethnomethodologischen Grund-sätzen verzichtet die GA auf ein deduktiv-nomologisches Verfahren, um nicht durch Hypothesenbildung die Analyse zu beeinflussen und bestimmte wichtige Phänomene zu übersehen. Vielmehr geht sie von einem Emergenzpostulat aus, d.h. evtl. Regelhaftigkeiten lassen sich induktiv aus dem Material synthetisieren. Dieses epistemische Leitprinzip ist allerdings insofern problematisch, als der beobachtende Wissenschaftler niemals gänzlich frei von theoretischen und praktischen Wissen, gleichsam einer tabula rasa, sein Geschäft verrichtet. Dies wäre jedoch die stringente Voraussetzung, um ein unbewusstes struktur-bildendes Einwirken des Forschers auf den Beschreibungsgegenstand zu verhindern. Kognition und Wissen wirken somit konstitutiv auf den Inhalt und die Form der Beobachtungen.
Das Selbstverständnis der Gesprächsanalyse als Konstruktionsprozess steht nun in Widerspruch zum methodologischen Selbstverständnis der E-KA. Sinn wird nicht einfach „abgelesen“, sondern entsteht vielmehr in dem analytischen Auseinandersetzungsprozess mit dem empirischen Datenmaterial. Gesprächsanalytische Arbeit ist also ein „hermeneutischer Prozess sukzessiver Anreicherung, Präzisierung, Differenzierung und Modifikation von interpretativen Konstruktionen“ (Deppermann 1997b:13). Eine wichtige Rolle spielen hierbei die Hintergrund-annahmen des Forschers, welche konstitutiv für die argumentative Validität von Interpreta-tionen sind. Hintergrundannahmen sind „Annahmen über Sachverhalte, Interaktions- und Interpretationsregeln, Bedingungen für die Angemessenheit von Äußerungen, Handlungs-motive und –ziele der Interaktionsbeteiligten in der Situation, über Wissen, Fähigkeiten und Biographie der Interaktionsteilnehmer und über das Kommunikationsverhältnis selbst. Sie können unterschiedlicher Reichweite sein und erstrecken sich von ganz generellen Annahmen über allgemeine Handlungs- und Interpretationsbedingungen bis zu hochspezifischen Vermutungen über Sachverhalte, welche lediglich für einen singulären Gesprächsmoment verständniskonstitutiv sind“ (Deppermann 1997b:9)[23]. Trotz dieser substantiellen Kritik (u.a. des Erkenntnisgewinnungsverfahren) wird die EM als Methode nicht obsolet. So liegen ihre Vorzüge u.a. in der teilnehmenden Beobachtung; der Offenheit und Dynamik der induktiven Hypothesengewinnung und der Kontextrelativität der aufgestellten Regeln. Die E-KA begreift soziale Welt als von den Interaktanten konstituierte, „ flexible, offene und nicht-substanzielle Konstruktion “ (Deppermann 1997b:22), während der Forscher als passiv registrierend, die soziale Welt rekonstruierend gedacht wird. Wie bereits geschildert, bedarf die EM einer reflexiven Wendung auf sich selbst. Um sich selbst als wirklichkeits-konstruierend zu verstehen, müssen die ethnomethodologischen Leitsätze im Sinne eines empirischen Konstruktivismus interpretiert werden[24]:
a) Anti-essentialistisches Verständnis von Interaktion: sprachliche Formen werden nicht als repräsentationale sondern als funktionale Ressourcen begriffen. Dadurch verschiebt sich der Fokus von einer referentiell-präpositionalen Analyse auf die Untersuchung der interaktiven Leistungen von Aussagen.
b) Offene Selbstreferentialität von Interaktion: Tentativität, Offenheit und Flexibilität von Interaktionen. Interaktionen sind selbstbezüglich und praktizieren „Beobachtungen zweiter Ordnung“ (Luhmann 1986:51ff.).
c) Funktionale, anti-reduktionistische Erklärungskonzeption: kein Rückgriff auf verborgene eigentliche Wirklichkeiten (i.e. Persönlichkeitsstrukturen, Motive, Kognition, etc.).
d) Prinzip der ethnomethodologischen Indifferenz: „Vorurteilslosigkeit, Anti-Normativismus“
e) Prinzip der strikten Empirie & Detailanalyse.
- Aufgabe einer gesprächsanalytischen Methodik
Im folgenden Abschnitt soll die gegenstandsfundierte Methodik der Ethnographischen Gesprächsanalyse (E-GA) dargestellt werden. Die E-GA ist eine Weiterentwicklung der KA gemäß der im vorangegangenen Abschnitt entwickelten Kritik der EM und fußt auf deren grundlegendem Verständnis von Wirklichkeit als sprachlich hergestellter Vollzugswirklichkeit. Die systematischen und meist routinisierten sinnkonstituierenden Gesprächspraktiken, die von den Interaktanten variiert und flexibel verwendet werden, sind konstitutiv für jegliche sprachliche Interaktion. Gespräche zeichnen sich durch Konstitutivität, Prozessualität, Interaktivität, Methodizität und Pragmatizität aus. Nach Kallmeyer (1985) lassen sich folgende Ebenen unterscheiden, mit denen sich Sprecher notwendigerweise auseinandersetzen müssen:
- Gesprächsorganisation: betrifft die formale Abwicklung des Gesprächs;
- Darstellung von Sachverhalten: manifestiert sich beispielsweise in Form von Argumentationen, Beschreibungen, Erzählungen;
- das eigentliche Handeln mit seinem zweckrationalen, zielorientierten Charakter;
- Soziale Beziehungen zwischen den Interaktanten (Status, Macht,...etc.) sowie ihre Identitäten;
- Gesprächs modalität (Ernst, Spaß,...etc.) und die Art der stilistischen und emotionalen Partizipation/Reaktion der Beteiligten (Betroffenheit, Zurückhaltung,...etc.)
- intersubjektive Verständigung und Kooperation betreffende Reziprozitätsherstellung.
Obwohl diese Ebenen im Gespräch ineinander greifen, dienen sie in der GA als Untersuchungs-schwerpunkte. Folglich besteht die Aufgabe einer GA in der Explikation bzw. Definition jener sequentiell organisierten Gesprächspraktiken, mit denen Gesprächsteilnehmer bestimmte Auf-gaben und Probleme bearbeiten. Hierunter fällt die Rekonstruktion der Art und Weise, wie Sprecher handeln, sowie der Funktion ihres Handelns. Weitere Schwerpunkte bestehen in der Entwicklung von Fallinterpretationen, theoretischen Konzepten und die Genese bzw. Modifi-zierung von Aussagen über allgemeine Prinzipien und Strukturen von Gesprächsprozessen.
- Fragestellungen der Gesprächsforschung
Die Besonderheit der von Deppermann (1999) erarbeiteten E-GA besteht in ihrem emphatischen Empirieverständnis. Sie fordert die materialgestützte Entwicklung von Frage-stellungen, Konzepten und Hypothesen anhand naturalistisch erhobenen, natürlichsprachlichen Gesprächsdaten. Im Gegensatz zur „empirisch-analytischen” quantitativen Sozialwissenschaft, welche versucht ist generalisierende Aussagen und Korrelationen zwischen Variablen zu formulieren, wendet sich die GA gegen diese Standardisierungen und steht für Falladäquanz und a priori-frei, i.e. materialgestützte Aussagenentwicklung. Sie zeichnet sich durch ein rekonstruktives Erkenntnisinteresse aus, d.h. durch eine prozedurale Modifikation der Untersuchungsfrage anhand des empirischen Datenmaterials. Es herrscht hierbei eine Dialektik zwischen Gegenstandskonstitution und Gegenstandsanalyse, bei welcher die Genese der Forschungsfrage mit der Produktion von Ergebnissen eng verbunden ist.
Bei der Wahl einer analytischen Fragestellung muss den methodisch relevanten Dimensionen der Unterscheidung gesprächsanalytischer Untersuchungstypen Rechnung getragen werden: 1. der Größenordung des Phänomens (Mikro-, Makrophänomen); 2. der Kontextspezifität des untersuchten kommunikativen Phänomens; 3. der Oberflächennähe (Grad des Interpretations- und Explizieraufwands zur Synthetisierung des Phänomens); 4. Form - vs. funktionsbestimmte Analyse (wie ?; warum ?); 5. Methodenpurismus vs. – kombination (z.B. Verquickung mit ethno-graphischen Infos). Darüber hinaus muss natürlich entschieden werden, welche gesprächs-analytische Untersuchungsform gewählt wird (Untersuchung der Gesprächspraktik; der kommunikativen Gattung bzw. Genre, der Bewältigung von Interaktionsproblemen/-aufgaben; institutioneller Kommunikation; bzw. von Kommunikationsportraits sozialer Gruppen/Milieus).
- Datenerhebung
Sofern nicht auf eine bereits bestehende Datenkorpora zurückgegriffen werden kann, sind für die Datenerhebung folgende Richtlinien zu beachten[25]: Als Datengrundlage für eine detaillierte Sequenzanalyse sind Audio - und Videoaufzeichnungen in guter technischer Aufnahmequalität unverzichtbar, welche mit einer passiv registrierenden Methode gewonnen werden müssen. Als Gütekriterium muss hierbei das Ziel angestrebt werden „ natürlichsprachliche”, nicht aufgabenorientierte und informelle Kommunikation zu erfassen. Um das Beobachterparadoxon zu vermeiden, muss auf die ökologische Validität (d.h. auf eine nicht für den konkreten Anlass artifiziell arrangierte Gesprächspraktik) der Aufnahmen geachtet werden. Andere Formate der Datenerfassung, wie beispielsweise Gedächtnisprotokolle, Kodierschemata oder Selbstaus-künfte sind aufgrund ihres hohen Gehalts an Interpretationen und Präsuppositionen für diese Form der KA unbrauchbar. Da es für Verständnis emischer Phänomene, besonders in Peer-Groups, notwendig ist genaue Kenntnis der jeweiligen Kommunikationskultur zu erwerben, kann sich ferner eine ethnographische Datenerhebung als fruchtbar erweisen, bei welcher der Forscher über einen längeren Zeitraum mittels teilnehmender Beobachtung ethnographisches Hintergrundwissen akkumuliert. Hierbei könnte ein Methodenmix zum tragen kommen, wie beispielsweise aus ethnographischen Interviews, Experteninterviews oder standardisierten Befragungen. Protokolliert werden sollten neben den Gesprächsumständen und sozio-demographischen Daten ebenfalls soweit möglich nonverbales Verhalten, sofern nicht durch Videoaufnahmen dokumentiert. Da „Aufnahmequalität“ und „Natürlichkeit“ in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis stehen, muss die Wahl der Aufnahmetechnik von der Praktikabilität der Aufzeichnung abhängig gemacht werden. Dabei sollte auf eine Vollständigkeit der Datenaufzeichnung (incl. scheinbarer Nebensächlichkeiten) geachtet werden, sowie erste Gesprächseindrücke festgehalten werden. Da auf Einzelfallanalyse und nicht auf große Stichproben fokussiert wird, sollte aufgrund etwaiger Datenausfälle eine große Menge von Aufzeichnungen angefertigt werden.
- Aufbereitung des Datenmaterials
Um sich einen Überblick über das erhobene Datenmaterial zu verschaffen, empfiehlt es sich Gesprächsinventare anzulegen, in denen die wichtigsten Infos über Gesprächsumstände, -teilnehmer, -zeiten, -handlungen/-inhalte und etwaige Forschungsfragen vermerkt werden. Dies ermöglicht die gezielte Selektion einzelner Gesprächspassagen entsprechend der (evtl. modifizierten) anfänglichen Forschungsfrage.
- Transkription
Anschließend müssen die selektierten Gesprächsprotokolle entsprechend eines Notations-systems (i.e. GAT nach Selting 1998) verschriftet werden. Neben dem Gebot datenschutz-rechtlicher Anonymisierung der Teilnehmer, bieten Transkripte im Gegensatz zu AV-Aufnahmen den praktischen Vorteil einer prinzipiellen Wiederholbarkeit eines bestimmten Datensegments und zwingen zu einer expliziten Auseinandersetzung mit dem Material. Gemäß dem Postulat einer „authentischen” Verschriftung, demzufolge gerade abweichende (para-) sprachliche Phänomene analytisch bedeutsam sein können, gilt es die Transformation möglichst unverfälscht, präzise und interpretationsarm zu betreiben. GAT (Selting/ et.al. 1998) gewährleistet einfache Lesbarkeit, schnelle Erlernbarkeit und unproblematische Realisierbarkeit in gängigen Textverarbeitungssystemen. Und es können die wichtigsten prosodischen Parameter (wie z.B. Pausen, Intonationen, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Dehnungen, Akzente, Rhythmen, Stimmmodulationen), sowie darüber hinaus die relativen Werte und Veränderungen im Gesprächsverlauf, nicht-lexikalisierte Laute und nonvokale Phänomene erfasst und für die Analyse erschlossen werden.
- Das gesprächsanalytische Verfahren
Sequenzanalytisches Prinzip der sukzessiven Sinnentfaltung und –bestimmung
Die Analyse der sequentiellen Ordnung eines Gesprächs beruht auf der Rekonstruktion des Zusammenhangs von Formen und Funktionen der Beiträge. Zeitlichkeit ist eine dem Gesprächsprozess immanente Bedingung und Quelle für die Generierung von Sinnbezügen und Intersubjektivität. Deppermann (1999:50) zufolge besteht die Grundlage der Methodik also darin, „dass die im Alltag implizit bleibenden, hochgradig allgemein formalen Prinzipien der Herstellung von Ordnung und Bedeutung im Gespräch expliziert und reflektiert als metho-dische Ressource für die Gesprächsanalyse zum Einsatz gebracht werden”. Ausgehend von der methodologischen Prämisse, dass Gesprächsteilnehmer einander reziprok aufzeigen, welchen Sinn und Bedeutung sie ihren Äußerungen zuschreiben, gilt es am Text selbst zu belegen, nach welchen Prinzipien die Interaktanten ihr Handeln und Interpretieren ausrichten: „Da Gesprächs-teilnehmer auf der Grundlage von stillschweigend geteilten Praktiken miteinander kooperieren und Interpretationen nur so weit verdeutlichen, wie es zur Sicherstellung von Kooperation notwendig erscheint, besteht die Aufgabe des Gesprächsanalytikers darin, die Aktivitäten der Gesprächsteilnehmer so zu explizieren, dass das Geschehen als sinnvolles und systematisch geordnetes verständlich wird. Dabei ist auszuarbeiten, welche Interpretationsleistungen und –Prinzipien dieser Ordnung zugrundeliegen” (Deppermann 1999:51).
Detaillierte Sequenzanalyse
Es bedarf einer detailliert sequenzanalytischen Vorgehensweise, um zu rekonstruieren welche Interpretations- und Handlungsoptionen den Gesprächsteilnehmern offen standen und wie mit diesen Möglichkeiten umgegangen wurde. Die Analysegesichtspunkte oder Bezugspunkte dafür, verstanden als heuristische Mittel, lassen sich wie folgend klassifizieren:
1. Paraphrase und Handlungsbestimmung (Inhalt & Art der sprachlichen Handlung)
2. Äußerungsgestaltung und Formulierungsdynamik (Phonetik, Prosodie, Grammatik, Lexik, Stilistik, nonvokales Verhalten)
3. Timing (Sprecherwechsel, Rederechtsverhandlung, Pausen)
4. Kontextanalyse (lokale Kohärenz fokaler Äußerungen)
5. Folgeerwartung (konditionelle Relevanzen)
6. Interaktive Konsequenzen (Herstellung von Intersubjektivität/ Handlungskoordination)
Anhand der Reaktionen kann überprüft werden, wie sich die Interaktanten über die Bedeutung ihrer fokalen Beiträge verständigen bzw. die Handlung koordinieren: Fokale Äußerung → Reaktion d. Gesprächspartner → Reaktion d. Produzenten auf Reaktion d. Gesprächspartner → Rückbezüge auf fokalen Beitrag im späteren Verlauf.
7. Sequenzmuster und Makroprozesse (Gespräche als konzertierte Interaktionen zur Bewältigung bestimmter Handlungsaufgaben)
- Analyseziele
Ausgewiesen werden muss der systematische Zusammenhang zwischen konstitutiven Ressourcen und den pragmatischen Aufgaben eines Gesprächs:
- Wie wird kollaborativ (methodisch) Vollzugwirklichkeit hergestellt und ein Handlungsproblem interaktiv bearbeitet?
- Wozu werden konzertierte Interaktionen unternommen, welche Aufgaben, Funktionen, Zwecke und Ziele werden verfolgt? Fokale Elemente müssen grundsätzlich funktional analysiert werden!
- Analyseressourcen: Hintergrundwissen und Variationsverfahren
Um das „Wissensparadox“ zu vermeiden, d.h. dem Problem der vorschnellen alltagswissen- und theoriegeleiteten Gegenstandskonstitution zu entgehen, ist eine forschungslogische Haltung der methodischen Fremdheit notwendig. Erst eine naive Haltung ermöglicht die Offenheit und analytisch notwendige Sensitivität. Dennoch kann zum Verständnis impliziter Sprechhandlungen ein Rückgriff auf drei Arten von Wissen unabdingbar sein: Alltagswissen (Welt-, Interaktionswissen, Kompetenzen); Ethnographisches Wissen (milieu-/kultur-spezifische Kenntnisse); Theoretisches Wissen (wissenschaftliche Theoriekonzepte). Das für die Interpretation jeweils relevante Hintergrundwissen ist abhängig von dem für die Gesprächsteilnehmer selbst orientierungsrelevanten Wissensbestand sowie von der Forschungsfrage. Die Rekonstruktion von Handlungsbedeutungen ist abhängig von der Selektion kontingenter Handlungsalternativen entsprechend situativer Relevanzen. Hierbei gilt es das Faktische durch das Mögliche zu bestimmen, d.h. anhand des gedankenexperimentellen Vergleichs von Variationen auf die Funktionalität zu schließen (Variationsverfahren).
- Analysevertiefung: Fallübergreifende Analyse
Die an Hand der analysierten Gesprächssequenzen erarbeiteten Hypothesen und Interpretationen werden in einer abschließenden fallübergreifenden Analyse geprüft und ausgearbeitet. „Erst wenn ein großes Maß an Phänomenvarianz untersucht wurde, können wohlbegründete Aussagen über die Eigenschaften von Gesprächspraktiken und Interaktionsaufgaben gemacht und unausgewiesene Generalisierungen vermieden werden“ (Deppermann 1999:94). Im Rahmen einer typologischen Differenzierung werden Gesprächspraktiken auf kontextunabhängige Grundstrukturen hin untersucht, mit dem Ziel abstraktere Aussagen über interaktionstheoretische Spezifitäten treffen zu können. Hierbei stehen Gegenstandskonstitution und Gegenstandsanalyse in einem wechselseitigen Verhältnis:
Der erste Schritt zum Fallvergleich besteht in der „Gegenstandskonstitution”: der Explikation von Gesprächspraktiken oder Interaktionsproblemen und den aus diesen Gesprächsphänomenen abzuleitenden Hypothesen. Weitere Sequenzanalysen werden durch ein „Sampling” ausgewählt, wobei die profunde Kenntnis der Forscher die Voraussetzung dafür ist, dass erhobenes Datenmaterial zielsicher ausgewählt wird. Die neuen Fälle werden ebenfalls in der Modalität der GA untersucht und die ursprüngliche Fragestellung bei der Formulierung allgemeingültiger Aussagen berücksichtigt. Dieser „Gegenstandsanalyse” folgt die Wiederholung der ersten drei Schritte bis zur theoretischen Sättigung, wobei dieser Zyklus mehrere Male durchlaufen werden kann, wenn neue Erkenntnisse emergieren und die statuierten Hypothesen modifiziert werden müssen.
„Erst im Verlauf der fallübergreifenden Analyse sollten die Hypothesen, Aspekte und Kategorien zunehmend auf die wesentlichen, fallübergreifenden relevanten Merkmale des Untersuchungsgegenstandes hin verallgemeinert und konsistent miteinander verknüpft werden“ (Deppermann 1999:96). Heuristische Variablen der fallübergreifenden Prüfung sind: Kookkurrenzen (gemeinsames Vorkommen bestimmter Parameter); Varianz von Komponenten und Formen (typologische Merkmale einer Gesprächspraktik); marginale Fälle und benachbarte Praktiken (Kontrastierung zur Verdeutlichung von Gemeinsamkeiten und Differenzen); abweichende Fälle und Reparaturverfahren (bspw. Bedeutsamkeit der Verletzung konditioneller Relevanzen); Strategische Nutzungen (Instrumentalisierung kontigenter, regelbasierter Reaktionen oder Inferenzen); Vorkommen in unterschiedlichen Kontexten (Synthetisierung einer kontextfreien Grundstruktur einer Gesprächspraktik); Hypothesentestung (Konfrontation der gewonnenen Einsichten an weiteren Fällen).
- Gütekriterien für Gesprächsanalysen
Neben der Reliabilität und Validität der erhobenen Daten sind in erster Linie drei Aspekte als Gütekriterien für gesprächsanalytische Untersuchungen ausschlaggebend:
1) die Qualität der Datenmaterialien: die ökologische Validität der Daten gründet in ihrem Natürlichkeitsprinzip, wobei das „Beobachterparadoxon“ vermieden; die Situationsdefinition der Untersuchten rekonstruiert; sowie für eine Reliabilität eine gute Aufnahmequalität und eine präzise Transkription angestrebt werden muss.
2) Durchführung und Präsentation von Gesprächsanalysen: sequenzanalytische und materialgestützte Entwicklung der Hypothesen; Primat der Gesprächsteilnehmer-perspektive; Nachvollziehbarkeit der getroffenen Aussagen hinsichtlich ihrer Argumentativität und Explikativität.
3) Folgende Nebenbedingungen müssen erfüllt sein, damit von konstitutiven Eigenschaften einer Gesprächspraktik gesprochen werden kann (Generalisierbarkeit): systematische Fallvergleiche; Häufigkeitsverteilungen und korrelationsstatistische Signifikanztests; Prüfung vorliegender Untersuchungen im Hinblick auf die eigenen Befunde; logisch stringente und miteinander vernetzte Aussagen.
Jugendsprache muss als ein soziokulturelles und altersspezifisches Phänomen begriffen werden. Dies bedeutet zum einen, dass Jugend sozial und nicht biologisch fundiert ist. Notwendig ist eine definitorische Bestimmung des Jugendbegriffs als sozialer Altersphase, welche über die Pubertät hinausgeht und auch eine prolongierte Adoleszenz umfasst. Ferner darf Jugendsprache nicht mit der Idee einer „Gesamtjugendsprache“ gleichgesetzt werden. Die semantische Bestimmung des Begriffs muss enger konzeptualisiert werden „als eine Summe von nicht standardsprachlichen Mustern (...), die selbst innerhalb der ’virtuellen Großgruppe[26] Jugend’ eine bestimmte soziokulturelle Verteilung aufweisen“ (Androutsopoulos 1998:4). Bereits Schlobinski/Kohl/Ludewigt (1993) erkannten, dass die Vorstellung einer allgemeinen Jugendsprache als generationsgebundenem Soziolekt nicht haltbar ist. Dies bedeutet, dass es keine „prototypische Jugendsprache“ gibt, sondern dass vielmehr ein Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur und dem Gebrauch einer entsprechenden sprachlichen Nonstandardvarietät besteht[27]. In diesem Kontext muss die identitätsstiftende Funktion von Jugendsprache und Jugendkulturen mitgedacht werden. Entsprechend kann gefolgert werden, dass es so viele Jugendsprachen wie Jugendgruppen gibt[28]. Die Verwendung einer spezifischen Gruppensprache wird nur gruppenintern praktiziert. Sie setzt Gleichaltrigkeit und – weitgehend - symmetrische Beziehungen zwischen den Kommunikationsteilnehmern voraus. Schlobinski/et.al. (1993) nennen drei Kontextbedingungen für die Genese kreativer Sprachstile: a) hoher Grad der Intimität innerhalb der Gruppe; b) Strukturierungsgrad der Inter-aktionssituation; c) Grad der emotionalen Atmosphäre. Beneke (1989) machte die Beobach-tung, dass bei „ernsthaften“ oder fachspezifischen Gesprächsthemen jugendsprachliche Aus-drücke fast vollständig fehlten. Schwitalla (1986, 1994) betont neben der Unstrukturiertheit der Situation, spezifische Gesprächstypen und Sprechereignisse, sowie der Anzahl der anwesenden Gesprächsteilnehmer, als Voraussetzungskriterien für gruppenspezifische Sprechweisen.
Nach Androutsopoulos (1998) können vier (sich z.T. überschneidende) Interaktionstypen klassifiziert werden, welche die Genese von Ingroup-Sprachverhalten begünstigen: 1. Un-strukturierte Interaktion mehrer Teilnehmer ohne festgelegtes Gesprächsthema; 2. Interaktionen zwischen Teilnehmern mit einem gemeinsamen Erfahrungshintergrund (1.+2. vollziehen sich in Form verbaler Wettbewerbe, ritueller Beschimpfungen, Frotzeleien, Rumblödeln, Nach-ahmung sozialer Stereotype); 3. Gespräche und Interaktionen im Rahmen von Gruppen-aktivitäten (umfasst Aktivitäten wie bspw. Party-, Konzertbesuche oder „Abhängen“); 4. Gespräche über persönliche und Gruppenerfahrungen (Berichte über Aktuelles, Soziales, Kulturelles, Klatsch: Diskurstypen lustiger, expressiver und überzeugender Formulierung).
In der deutschen Jugendsprachenforschung haben sich in den vergangenen 20 Jahren zwei soziolinguistische Forschungsansätze herausgebildet, die sich diametral gegenüber stehen: der „traditionelle“ systemische Ansatz der struktur-linguistischen Beschreibung von Sprach-varietäten, sowie die sprecherorientierte Perspektive der gesprächsanalytisch-ethnographischen Deskription von Sprechstilen. Der traditionelle Forschungsansatz definiert Jugendsprache anhand der soziolinguistischen Aspekte Uneinheitlichkeit (Vielzahl von regional-, gruppen-, und geschlechtsspezifischer Unterschiede) und Motivation (Identitätsbildung, Devianz und soziale Differenzierungs-/Kontrollfunktion) einerseits, sowie anhand der linguistischen Merkmale alterspräferentieller und –spezifischer Ausdrucksweise („radikale bzw. extreme Sprechsprache“, betrifft in erster Linie Lexik, Wortbildung, Phraseologie und Semantik) andererseits[29]. Eine Hinwendung zu soziolinguistischen, pragmatischen und ethnographischen Aspekten fordert hingegen der ethnographische Ansatz, welche dem dieser Arbeit zugrunde liegenden methodischen Ansatz entspricht. Diese Neuorientierung in der Jugendsprach-forschung wird entscheidend v.a. von Schwitalla und Schlobinski getragen: „Den Schwerpunkt bilden nunmehr Kommunikationsverfahren Jugendlicher in konkreten Kleingruppen; das empirische Material besteht durchgehend aus Gesprächen und Daten aus teilnehmenden Beobachtungen sowie teilweise aus begleitenden Fragebögen; Analyse und Interpretation der Ergebnisse orientieren sich nach der interaktionalen Soziolinguistik und der Ethnographie des Sprechens“ (Androutsopoulos 1998:40). Der reduktionistischen Vorstellung von Jugendsprache in „traditionellem“ Sinne wird dabei mit gruppensoziologischen Argumenten begegnet. Jugendsprache als solche gibt es nicht, da Jugend als homogene Gruppe ebenso wenig existent ist. Der Quantität von Jugendgruppen entspricht jene der Jugendsprachen. „Jugendsprachlich“ geltende Phänomene müssen als „gruppensprachspezifische“ Phänomene verstanden und analysiert werden. Gruppenstilistische Sprechweisen sind als mehrdimensionale, interaktive Verfahren anzusehen (Schwitalla 1988). Ein wichtiger Strukturierungsmechanismus von Gesprächen verdankt sich dem Prinzip der Bricolage (Schlobinski/Kohl/Ludewigt 1993:58). Weitere Forschungsschwerpunkte in diesem Feld sind Verfahren sozialer Kategorisierung sowie deren Bedeutung für Gruppenidentität, Verfahren sprachlicher Abgrenzung und die Rolle verbaler Aggression (Schwitalla 1986, 1988; Schwitalla/Streeck 1989). Androutsopoulos (1998:41) zufolge zeugen bspw. die qualitativen Attitüdenanalysen (Last 1989, Wachau 1989, Schlobinski/Kohl/Ludewigt 1993) von einem hohen Grad des Sprachbewusstseins bei Jugendlichen: „Sie führen zu Einsicht, dass sich der jugendliche Sprachgebrauch nicht unbedingt gegen die Erwachsenen, sondern primär gegen den distanzstiftenden Charakter der Standardsprache richtet. Jugendsprache erscheint damit nicht so sehr als ’Sprache der Konfrontation’, sondern als Sprache der Direktheit und Ungezwungenheit (Wachau 1989)“.
Die a priori „theoriearm” verfahrende ethnographische Jugendforschung teilt mit der Ethnologie die Haltung des Fremden und ist darauf ausgerichtet „genuine”, d.h. nicht bereits durch theoretisches Erkenntnisinteresse oder Forschungsmethode präformierte Alltagspraxis zu rekonstruieren. Hierbei versucht sie ihren immer schon vergesellschafteten Forschungsgegen-stand der Selbstverständlichkeit alltagspraktischer und wissenschaftlicher Vorverständnisse und –urteile zu entwinden, und auf diesem Wege der „Spezifität der jugendlichen Lebensformen, Lebensstile und Symbole in größtmöglicher Differenziertheit und Anschaulichkeit” Rechnung zu tragen und sie dadurch in „kultur-, geschmacks-, medien- und milieusoziologischer oder auch sozialisationstheoretischer Perspektive” (Neumann-Braun/Deppermann 1998:239) interpretierbar zu machen. In Anbetracht der gängigen ethnographischen Forschungspraxis lässt sich allerdings ein erhebliches Defizit dahingehend konstatieren, dass die Forscher einer theoriegeleiteten Perspektive verhaftet bleiben und somit ihrem sozialphänomenologischen Paradigma einer alltagsnahen, lebensweltrekonstruktiven Jugendforschung nicht gerecht werden. Anstatt Jugendliche als aktiv handelnde Subjekte mit pluralen konkreten Alltagsbezügen zu begreifen, deren lebensweltliche Deutungsmuster und Handlungsroutinen es zu rekonstruieren gilt, besteht das den Ausgang bildende Datenmaterial nicht selten aus „den rekonstruierenden Darstellungen der Alltagspraxis durch die Akteure (=Sekundärdatenstatus), nicht aber aus Dokumentationen der Alltagspraxis selbst” (Neumann-Braun/et.al. 1998:240).
Das methodische Problem gründet darin, dass rekonstruierenden Darstellungen von Alltags-praxis - welche immer schon als interpretativ zu denken sind - und nicht die Alltagspraxis selbst bzw. deren performative Praxis untersucht werden[30]. Aus diesen Gründen verbleiben nicht selten die Interpretationen auf dem Niveau von Paraphrasen, Explikationen und theoretisch angereicherten Abstraktionen der in den Mitteilungen der untersuchten Jugend-lichen enthaltenen Inhalte. Interviews und Gruppendiskussionen sind aufgrund ihrer hochgradig spezifischen Interaktionscharakteristik untypisch für die Alltagswelt Jugendlicher. An dieser Stelle muss der Vorstellung der Ubiquität einer Grundstruktur jugendlicher Kommunikations-formen widersprochen werden. Vielmehr richten Jugendliche ihre kommunikative Praxis situativ aus. Somit bestünde die eigentliche Aufgabe in der Erforschung „der unterschiedlichen Kommunikationsformen von und unter Jugendlichen in verschiedenen alltagsweltlichen Kontexten” (Neumann-Braun/et.al. 1998:245). Kommunikative Prozesse sind wesentliche Konstituenten von Jugendkultur und dienen der Auseinandersetzung mit fremden sozialen Welten. Sowohl die interne soziale Ordnung als auch ihre Beziehungen zur sozialen Umgebung werden von Peer-Groups in gruppenspezifischer Weise kommunikativ hergestellt. Peer-Groups zeichnen sich dadurch aus, dass sie als soziale Formation nur durch die permanent prozessual neu zu erbringenden Leistungen ihrer Mitglieder existieren. Dies wird durch routinisierte Kommunikationsmuster bewerkstelligt, deren Beherrschung von den Mitgliedern vorausgesetzt wird. Die Gesamtheit dieser routinisierten Interaktionspraktiken kann als Kommunikations-kultur bezeichnet werden, welche „den besonderen Stil ihrer interaktiven Alltagsbewältigung, wiederkehrende Kommunikationsanlässe und –probleme und die Verfahren ihrer sozialen Positionierung von Teilnehmer und Außenstehenden” (ibid. 1998:247) erkennen lässt.
Zur Erfassung der Komplexität der Kommunikationskultur von Peer-Groups bedarf es einer interdisziplinären Verknüpfung von konversationsanalytischen und ethnographischen Untersuchungsmethoden zu einer ethnographischen Gesprächsanalyse. Da soziale Wirklichkeit immer zugleich konstruierte bzw. vollzogene Wirklichkeit ist, müssen die basalen Organisationsprinzipien der Interaktanten hinsichtlich ihres Handelns und Verstehens rekonstruiert werden. In ihrer empirischen Vorgehensweise ist die Gesprächsanalyse darauf ausgerichtet prozess- und detailsensitiv die dynamischen und prozeduralen Muster alltagsweltlicher Interaktionen zu offenbaren. Dies leistet sie interpretativ auf Grundlage der Transkription[31] „ natürlichsprachlicher” Tonband- bzw. audiovisueller Aufnahmen. Da die konversationsanalytische Datenerhebung und –auswertung ebenfalls explorativ und fallbezogen vorgeht kann sie als eine Form der Ethnographie betrachtet werden. Um ihrem holistischen Selbstverständnis gerecht zu werden, bedarf die Ethnographie allerdings weiterhin der Arbeit mit unterschiedlichen Datenquellen (z.B. Interviews, Feldnotizen, Dokumentanalysen) und vor allem der teilnehmenden Beobachtung über einen längeren Zeitraum hinweg. Nur auf diesem Wege kann das für die Untersuchung notwendige Hintergrundwissen erworben werden. Immerhin ist die Ethnographie versucht „einzelne Erscheinungen in ihren alltagsweltlichen (Zeit-, Funktions-, Problem- etc.) Kontexten, in Bezug auf übergreifende, in unterschiedlichen Praxisbereichen wiederkehrende Relevanzen und typischerweise auch im gruppen-geschichtlichen bzw. historischen Zusammenhang zu verstehen” (Neumann-Braun/et.al. 1998:249). Die teilnehmende Beobachtung eröffnet der Gesprächsanalyse dabei nützliches Hintergrundwissen, insbesondere für das Verständnis von uneindeutigen Referenzen und Anspielungen sowie von Kontextualisierungshinweisen im Gesprächsverlauf[32].
Durch Kommunikation finden einerseits Alltagspraxis und andererseits psychologische (i.e. kognitive, moralische, emotionale, motivationale, kreative, sprachliche) Kompetenzen und Motivationslagen Ausdruck. In methodologischer Hinsicht scheinen die konversations-analytischen Standards der „apparativen Datenregistrierung, der detaillierten Sequenzanalyse und der Forderung, dass sich Erklärungshypothesen an den Partikularien der untersuchten Fälle im jeweiligen Kontext zu bewähren haben” (Neumann-Braun/et.al. 1998:252) geeignet dieser Notwendigkeit Rechnung zu tragen und dadurch neues Licht auf altbekannte jugendsozio-logische Fragen zu werfen. Durch die ethnographische Untersuchung jugendlicher Kommunikationskulturen, werden ihre Alltagspraktiken in den Fokus des Interesses gerückt. Dadurch stehen nicht mehr individuelle Kompetenzen und Motive im Vordergrund, sondern die sozialen Prozesse durch welche das Individuum als Subjekt Ausdruck findet. Dadurch wird dem Sozialen des jugendlichen Alltagslebens „konzeptionell und methodisch mehr Gewicht als bisher verliehen – es wäre nicht nur als Umgebung, Aufgabe oder ’internalisierte’ Deutungs- und Handlungsstruktur des Individuums präsent, sondern als interaktive Prozessgestalt, die ihre Identität erst im Zusammenwirken von Akteuren gewinnt” (ebd.1998:252).
Nach der methodologischen Abhandlung erscheint es zur Darlegung des handlungs- und intentionalitätstheoretischen Bezugrahmens ratsam weiter auszuholen und den Ausgangspunkt bei epistemologischen aber auch kognitionswissenschaftlichen Überlegungen zu wählen. Auf diesem Wege wird es möglich auf die Relevanz sprachlicher Kommunikation bei der Konstruktion einer alltagsweltlichen Bezugswirklichkeit hinzuweisen. In diesem Kontext wird eine Abgrenzung zum hegemonialen konventionellen Kommunikationsmodell unternommen.
Traditionell wird Erkenntnis oft als eine adäquate Repräsentation der Objektwelt im Subjekt verstanden, d.h. Erkennen ist auf Erkenntnisgegenstände ausgerichtet und besitzt somit intentionalen Charakter. Der Prozess des Erkennens ist der eines Separierens und eines darauf folgenden Synthetisierens mit dem Ziel der Generierung einer „richtigen” Ordnung der vor-handenen Daten oder Informationen. Erkenntnistheoretisch problematisch wird dies durch die Frage, wie nun eine dem Alltagsverständnis als selbstverständlich erscheinende Objektivität begründet ist. Hierbei geht es um das Verhältnis von Mensch (als erkennendem Subjekt) und Welt (als erkanntem Objekt), sowie um die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis[33].
Angesichts der fortschreitenden Kognitions- und Hirnforschung[34], sowie der generellen erkenntnistheoretischen Probleme der Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis und Wissen, erscheint eine semantische Differenzierung der Begriffe Realität (Sphäre ontologischer, extra-mentaler oder bewusstseinstranszendenter Entitäten) und Wirklichkeit (Sphäre bewusstseins-/erlebnisabhängiger, bzw. kognitiv generierter Gegenstände) geboten. Denn beinahe alle empirischen (wie auch spekulativen) Wissenschaften müssen eine vom erkennenden Subjekt unabhängige (wie auch immer strukturierte) Realität postulieren, auf welche sie reagieren und über welche sie Aussagen und Prognosen zu treffen bestrebt sind.
Nach Kant sind Aussagen über das Wesen von Objekten, Gegenständen oder Dingen, und das meint Aussagen über die Beschaffenheit der Dinge-an-sich, unmöglich bzw. nicht sinnvoll, da Begriffe lediglich Ausdruck unserer Unwissenheit über die Existenz einer Korrespondenz zu einem extramentalen Sacherhalt sind[35]. Er bestreitet nicht die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis, sondern nur die Relativität menschlichen Wissens. Erkenntnis ist funktional auf humane Fertigkeiten und Fähigkeiten bezogen: Realität wird nur in dem Maße erkannt, wie sie uns erscheint. Möglich sind demnach lediglich Aussagen, wie sie uns als Erscheinung gegeben sind. Kant erkannte, dass nicht die Erkenntnis sich nach den Gegenständen, sondern dass sich die Gegenstände nach unserer Erkenntniskompetenz richten müssen. Unsere Erkenntnisver-mögen (Sinne, Verstand, Vernunft) nehmen Sinneseindrücke weder passiv hin, noch spiegeln sie schlechthin das wieder, was der Fall oder wesentliches Merkmal eines Falles ist. Kant zufolge sind bei allen Perzeptionsleistungen unsere Vernunftvermögen aktiv (gestaltend) be-teiligt, ergo erfahrungskonstituierend. Die primordiale Stellung gebührt somit den Bedingungen des Subjekts: der Mensch als Urheber seiner Welt. Mit dieser Erkenntnis leitete Kant den Wechsel von einem ontologischen zu einem mentalistischen Paradigma ein.
Kants Erkenntnis bedarf jedoch einer konzeptuellen Weiterentwicklung um zu verhindern, dass sich dieser Ansatz nicth in egologischer oder gar idealistisch-solipsistischer Weise erschöpft. Erfahrung muss stets als gesellschaftlich vermittelte Kategorie gedacht werden. Das gilt gleichermaßen für die Bedeutungssemantik, welche immer nur als abhängig vom jeweiligen sprachlich-kulturellen Kontext denkbar ist. Dies meint, dass die einem je konkreten Sachverhalt zugeordnete Bedeutung stets durch den jeweiligen kulturellen und vor allem sprachlichen, für den Interpreten stets signifikanten, gesellschaftlichen Kontext bedingt ist. Selbst eine Analyse des menschlichen Geistes, Denkens oder ähnlichen mentalen Prozessen kann nicht losgelöst von gesellschaftlich-strukturellen Voraussetzungen betrachtet werden. Auch die Wissenschaft muss sich eines sprachlichen – und das meint immer schon eines sozialen - Symbolsystems bedienen, um Aussagen und Prognosen über untersuchte Gegebenheiten formulieren zu können und agiert somit immer in einem sozial präformierten Kontext.
Die Konzeption von Sprache als naiver linguistischer Repräsentation internaler und externaler Entitäten kann nicht aufrechterhalten werden. Anstatt von einer faktischen, ontologischen Gegebenheit a priori auszugehen, müsste eine extramentale Realität als Produkt menschlicher Wahrnehmungs- und Darstellungsleistung, d.h. als konstruierte Wirklichkeit, begriffen werden. Erst durch die Partizipation an Beschreibungen, Darstellungen, Erzählungen, etc. werden Ereignisse (mit je spezifischer Bedeutung für die Akteure) und dadurch Wirklichkeit und Verstand („ mind “) diskursiv konstruiert: „When issues of intend arise, participants negotiate and construct a mutually shared social reality with individual and relational implications” (Gibbs 1999:38). Die „faktische“ Welt gilt nur als „real“, weil sie von (uns) Akteuren als „real“ anerkannt wird. Wirklichkeit ist somit von deskriptiven Praktiken abhängig und diesen nicht vorgängig. Diskurse sind a priori und konstitutiv für die beschriebene Welt! Folglich wird durch diskursive Praxis Natur re-, sowie soziale und physische Realität produziert[36]. Für Edwards (1997:51) ist der Sozialkonstruktivismus „all about that kind of issue, of how descrip-tions map onto, carve up, bring into being, or categorize and explain the things they describe”.
Realistische Positionen postulieren eine Welt, die unabhängig von unseren Vorstellungen und Erkenntnisvermögen existiert. Sie gehen von der Annahme aus, dass sich wahre Aussagen durch eine unabhängige Referenz auf einen objektiven Fakt auszeichnen. Dies steht der - dieser Arbeit zugrunde liegenden - sozialkonstruktivistischen Position diametral gegenüber, der zufolge sich wahre Aussagen vielmehr durch einen kollektiven Konsens darüber auszeichnen. Realistische Positionen präterieren schlichtweg die Notwendigkeit sprachlich-diskursiver (ergo sozial vermittelter) Konstitution von Phänomenen. Coulter (1989:115) schreibt dazu: „It seems plain enough that many things are socially constructed to be the objective, factual and ‘real‘ phenomena (or versions of phenomena) that they are. One cannot systematically conflate how things are taken to be with how things are, although how things actually are cannot be wholly distinguished from how discursive claims about them are ratified or ratifiable”. So muss folglich auch die Konzeption von „ mind “ als ontischer Entität zugunsten einer praktisch diskursiven Kategorie aufgegeben werden. Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive sind Wissen, Verstand und Realität kulturelle Kategorien, i.e. diskursive Elemente, die durch soziale Praxis generiert, festgeschrieben und/oder modifiziert werden[37]: „The analytical task is to see how those accounts are constructed, how and when they are produced as explanations, how they are designed and positioned with regard to alternative accounts, and in what kinds of interaction sequences they are produced“ (Edwards 1997:14).
Wie bereits angedeutet ist Sprache nicht mit Kommunikation gleichsetzbar. Gespräche sind eine Form sozialer Praxis und kein Medium der Bedeutungs-, Informations- oder Nachrichten-übermittlung zwischen „informationell geschlossenen Systemen“ (Luhmann). Sprache und Denk-/Urteilsvermögen müssen nicht zwingend als regel-/normgeleitete soziale Praktiken verstanden werden, können aber in Bezug auf Regeln beschrieben werden (Grammatik/Logik). Soziale Regeln besitzen allerdings keinen handlungsinstruktiven Status, sondern sind den Akteuren selbst zugänglich und Verhandlungsgegenstand in Interaktionen. Dabei werden Normen von den Akteuren als Ressource für Handlungsinterpretationen genutzt. Grundsätzlich bleibt es denkbar, dass situativ mehre Normen miteinander konkurrieren und konfligieren, so dass soziales Verhalten i.d.R. als deviant- subversives Verhalten gewertet werden muss[38]. Menschliches Handeln beruht nicht auf einem kausalistischen Faktor-und-Variablen Fundament, vielmehr können Ereignisse auf mannigfaltige Weisen beschrieben werden[39]. Die Wahl bestimmter Beschreibungsvarianten besitzt daher rhetorisch und interaktiv besondere Signifikanz: bereits in der rhetorischen Organisation von Deskriptionen finden sich Implikate einer Praxiserklärung. An die Stelle von Variablen und Hypothesen einer kausalen Erklärungs-strategie treten somit diskursive Praktiken (Berichte, Darstellungen und Erzählungen): „The object under study is talk considered as social practice, analysed as intersubjectively constituted meanings rather than behavioural causes and effects, with the aim of explication participants’ own descriptive and explanatory practices, rather than ignoring those in favour of analysts’ descriptions and causal explanations” (Edwards 1997:108).
Die dieser Arbeit zugrunde liegende Methode der ethnographischen Konversationsanalyse repräsentiert eine nicht-kognitivistische Annäherung an „ talk-in-interaction “, und kommt ohne Verweise auf mentale, intrinsische Zustände aus[40]. Sie verwirft das konventionelle kommuni-kative Repräsentations- oder Informationsübermittlungsmodell. Intentionale Zustände werden nicht als sozialer Praxis zugrunde liegend oder diese instruierend, sondern als (Verhandlungs-) Gegenstand in Gesprächen selbst konzeptualisiert[41]. Auch verkörpert sie eine nicht theoriege-leitete, d.h. subsumtionslogische Annäherung an sprachliche Phänomene, sondern ist versucht ihre Hypothesen datengestützt, i.e. induktiv, in einem empirischen Auseinandersetzungsprozess zu entwickeln. „If we switch to an action-based approach to cognition and language, then references to mental states, and states of the world, become available for study as situated descriptions” (Edwards 1997:62). Gespräche werden demnach nicht als (Nicht-)Demonstration von Intentionalität gedeutet, sondern Intentionalität oder Verantwortlichkeit werden als von den Gesprächsteilnehmern selbst verhandelbare kategoriale Angelegenheiten konzeptualisiert. Die Bedeutung einer Äußerung wird als praktische Angelegenheit situativ prozessual (i.e. aus einer
Vielzahl an Mehrdeutigkeiten und Kontingenzen heraus) konstruiert[42]: „Issues concerning intentions either do not arise as anything problematical or to-be-dealt-with, or else, if they do arise, they get resolved practically in some way, or topicalized, as part of the business of talk and social action” (Edwards 1997:94f.). Beschreibungen müssen als Manifestationen von (diskursivem) Handeln angesehen werden. Durch die Wahl bestimmter deskriptiver Details konstruieren und definieren Beschreibungen in der Folge die Art eines Ereignisses und implizieren Motive und Intentionen im Hinblick auf mögliche Alternativeschreibungen. Die Vorstellung des konventionellen Kommunikationsmodells von Sprache wird verworfen. Stattdessen werden Gespräche als „ talk-in-interactions “ verstanden, welche den Prinzipien der Sequentialität und Indexikalität verpflichtet sind.
Edwards (1997:86) zufolge hält die sequentielle Organisation von Gesprächen „the contexts in which content and topic are produced and, therefore, the interaction frames within which reality and cognition are managed as participants’ concerns” bereit: „Analysis of talk-in-interaction immediately has to deal with how specific utterances, and parts of utterances, take on local and sequentially conditional meanings, and with how marvellously intricate and consequential the details of that seem to be for talk’s interactional trajectory and upshots. However, rather than assuming all this to be going on under cognitive control or intentional planning (however fast or unconscious that may be), we might try considering it retrospectively, as a consequence of indexicality (ibid.:107).
In diesem Kapitel soll in Auseinandersetzung mit verschiedenen im gegenwärtigen philosophischen, kognitionswissenschaftlichen und psychologischen Diskurs vorherrschenden Ansätzen ein pragmatisches Verständnis kommunikativer Intentionen entwickelt werden. Da im Rahmen der Untersuchung sprachlichem Bedeutungsverständnisses unweigerlich handlungstheoretische Implikationen emergieren, erscheint eine eingehende Diskussion dieser Topoi erforderlich, um Zugang zu dem dieser Diplomarbeit zugrunde liegenden Erkenntnis-gegenstand (Intentionalitätsdiskurse im Allgemeinen bzw. Motiventlarvung im Besonderen) zu erlangen und ihre zentralen Kategorien analytisch und operational aufzuschließen.
Intentionen werden alltagsweltlich meist als absichtsvolle mentale Zustände betrachtet, die geplante Handlungen repräsentieren oder diesen vorgängig sind. Sie sind jedoch keine subjektiven oder mentalen Entitäten, sondern immer schon Teil intersubjektiver Erfahrung. Intentionen sind primär Verhandlungsgegenstand in face-to-face Interaktionen und keine privaten, mentalen Vorgänge. Die Anerkennung von Intentionalität installiert signifikante Zwänge für das interpretative Urteilen im Rahmen bedeutungsvoller Erfahrung. Der Begriff der Intentionalität zeichnet sich durch eine Doppelsemantik aus: einerseits verweist er auf Absichtlichkeit des Sprachgebrauchs im Sinne von Handlungsmotiven/-zielen. Demgegenüber rekurriert die Bedeutung des scholastischen Terminus „intentio” (Bedeutung, Idee, Begriff) auf ein außerpraktisches intentionalitätstheoretisches Konzept und somit allein auf die Bewusst-seinsebene. Die theoretische Intentionalitätskonzeption unternimmt den Versuch der Einführung eines rein bewusstseinstheoretisch orientierten Intentionalitätsbegriffes. Edmund Husserls Transzendentaler Phänomenologie zufolge sind phänomenologisch relevante Intentionen psychische Akte im Sinne von passiven „intentionalen Erlebnissen”. Brentano definierte psychische Phänomene als immanent gegenständlich: die intentionale Existenz eines Gegenstandes rekurriert auf einen Inhalt, eine Entität, Intentionalität bedeutet die Gerichtetheit auf ein Objekt. Brentanos Konzept von Richtung oder Beziehung setzt eine diametrale Relation voraus, nämlich Beziehung oder Richtung von etwas auf etwas (von Psychischem auf bewusst-seinstranszendente Objektivität). Denken zeichnet sich demnach durch einen intentionalen Verweisungszusammenhang aus. Dem praktischen, handlungstheoretischen Konzept von Intentionalität liegt die Annahme zugrunde, dass unter dem Tätigkeitsbezug des Intendierens ein Handlungsbezug zu verstehen sei. Absichtsbekundungen können somit als Handlungs-voraussagen verstanden werden: Handlungen sind absichtliche und verantwortbare Kategorien.
Der Begriff der Intention, wie er im Folgenden verwendet wird, wird verstanden als dynamisch Eigenschaft sozialer, kultureller und historischer Prozesse, innerhalb derer Arte-fakten Sinn zugeschrieben wird (Gibbs 1999). Hierbei wird nicht ausgeschlossen, dass Handlungen mit einer bestimmten Wirkungsabsicht erzeugt werden, allerdings ist das ausschlaggebende Kriterium für die An-/Aberkennung von Intentionalität ihre diskursive Verhandlung in Interaktionen. Betont wird emphatisch die soziale und nicht die sachlich-semantische Dimension von Intentionalität als Zuschreibungskategorie.
Sowohl in soziologischer als auch sprachanalytischer Handlungstheorie wird mit einem eng an subjektive Intentionalität gebundenen Handlungsbegriff operiert. Schneider (1995) zufolge ist dies nicht nur auf Handlungsbeschreibung beschränkt. „Auch in der Debatte über die Struktur von Handlungserklärungen, in deren Zentrum die Frage steht, ob intentionale Erklärungen als kausale Erklärungen zu betrachten sind, besteht zwischen den beiden beteiligten ‘Lagern‘ kein Dissens darüber, dass Handeln mit intentionalen Zuständen wie Absichten, Motiven, Willens-entscheidungen, Wünschen und Überzeugungen verbunden ist“ (Schneider 1995:48). Kontrovers wird hingegen das Problem der Divergenz zwischen der Intention einer Handlung und den zugeschriebenen Handlungsabsichten, respektive den zu verantwortenden Handlungs-folgen, gesehen. Im Gegensatz zu der Tendenz einer Ontologisierung des Handlungsbegriffs in der analytischen Handlungstheorie vertritt Schneider die Auffassung, „dass Intentionalität oder genauer: die Möglichkeit einer entsprechenden intentionalen Beschreibung, keine notwendige Bedingung dafür ist, um ein Verhalten als Handlung auszuweisen“ (Schneider 1995:53f.). Nicht die Sach- sondern die Sozialdimension der Handlungskonstitution ist dafür ausschlag-gebend. Die daran anknüpfende Frage nach der Relation zwischen intendierten und bewirkten Folgen eines Tuns, kann nur empirisch und kontextuell beantwortet werden. Die Struktur des Handlungsbegriffes muss auf sprachpragmatischer Ebene geklärt werden. Das bedeutet auf Stufe der Empirie die Untersuchung der rhetorischen Verwendung von Handlungsbe-schreibungen in konkreten Kommunikationssituationen. Handlungen müssen als soziale Konstruktionen verstanden werden und entsprechend gilt es zu untersuchen wie Akteure selbst zwischen Handlung und Nicht-Handlung unterscheiden. Auf diese Weise wird die Identifikation von Handlung als Handlung zu einem soziologisch-empirischen Problem und analytisch zugänglich. Während der Symbolische Interaktionismus „Verstehen“ (von Bedeutung) als kontinuierlich ablaufenden Prozess auffasst, definiert sich ein Verstehen für Wittgenstein hingegen erst in der Manifestation einer Handlung: „Although understanding is not itself merely a kind of ‘behaviour‘, it is manifested in behaviour. Without such manifestation, there would be no way for the concept itself to be acquired and used properly, and no way in which to make a distinction between ‘thinking that one understands‘ and ‘actually understanding‘“ (Coulter 1989:62). Subjektives Verstehen muss demnach als der Erwerb von Wissen aufgefasst werden, welches ein „Handlungsvermögen“ darstellt.
[...]
[1] Aus Gründen der Praktikabilität und Lesbarkeit wird i.F. generisch nur die männliche Form verwendet. Die weibliche gilt es stets mitzudenken.
[2] Parson (1972) benannte vier Komponenten als maßgebend für soziale Handlungen: 1. einen Akteur („Agenten“), 2. ein Handlungsziel, 3. eine Ausgangssituation, 4. einen selektiven Standard, durch welchen 2. & 3. verknüpft werden. Ähnlich wie bereits Weber unterscheidet Parson zwischen der subjektiven Perspektive des Akteurs und der objektiven Sichtweise des wissenschaftlichen Beobachters. Parson untersucht die Struktur sozialer Interaktion mehrerer Akteure, als dessen fundamentales Moment er die Komplementarität der Verhaltenserwartungen ansieht. Interaktionen zeichnen sich demnach durch eine „doppelte Kontingenz“ aus, d.h. es findet eine wechselseitige Orientierung des Handelns an den Erwartungen alters statt, dessen Reaktionen als positive oder negative Sanktionen interpretiert werden können. Für ein zweckrationales Handeln, bei welchem Deprivationen vermieden und Gratifikationen gesucht werden, müssen die Reaktionen alters antizipiert, d.h. kalkuliert werden. Erst der Rückgriff auf eine gemeinsam geteilte Ordnung symbolischer Generalisierungen, welche die Bedeutung von partikularen Situationsmerkmalen transzendiert, ermöglicht Kommunikation.
[3] Alfred Schütz’ sozialphänomenologischer Ansatz lässt sich auf Edmund Husserls transzendentale Phänomenologie zurückführen, welche die sinnstiftende Kompetenz des Bewusstseins betont und Wirklichkeit als das Resultat von Bewusstseinsleistungen (als phänomenale Wirklichkeit) begreift. Husserl betont hierbei einen intentionalen Verweisungszusammenhang des Denkens, das Gerichtetsein des Bewusstseins auf Entitäten. Husserls Technik der „phänomenologischen Reduktion“ („Epoché“) bedeutet das „Einklammern“ jeglichen Urteils über die Existenz einer äußeren Welt und kann als Modifikation des Cartesianischen Zweifels betrachtet werden. In der Betonung der menschlichen Erfahrung (Lebenswelt) und der Intersubjektivität gründet nun die radikal empirische Ausrichtung des Schütz’schen Ansatzes und letztendlich die sozialwissenschaftliche Wendung Husserls. Untersucht werden sollen die sozial konstruierten Wirklichkeiten des Alltagslebens, d.h. die Strukturen subjektiver Orientierungen in der Welt. Hierbei wird der Lebens- oder Alltagswelt der Status eines primordialen Erlebnis- und Sinnbereich eingeräumt, in dem alle anderen Teilbereiche gründen. In der natürlichen Einstellung wird diese Lebenswelt „naiv“ und fraglos als selbstverständlich gegeben hingenommen, als etwas Sinnhaftes, was interpretiert und je nach Interessenlage bewältigt werden muss. Die Akteure greifen dabei auf einen „Vorrat zuhandenen Wissens“ („stock of knowledge at hand“) als pragmatischer Ressource (umfasst Kenntnisse, Erfahrungen, Fähig-/Fertigkeiten) zurück. Darüber hinaus erfordert das Zurechtfinden wechselseitige Orientierung und verweist auf die Intersubjektivität von Sozialität. Die Lebenswelt ist keine Privatwelt, sondern durch die Existenz bewusstseinsleistender alter egos, eine prinzipiell Allen zugängliche Sphäre. Sprache als wichtigstes Zeichen-/Kommunikations-/Objektivationssystem erlaubt die soziale Konstruktion lebensweltlicher Wirklichkeit. Wissen basiert auf Konstruktionen (i.e. Abstraktionen, Generalisierungen, Formalisierungen, Idealisierungen), d.h. auf selektierten und interpretierten „Tatsachen“ entsprechend eines subjektiven Relevanzsystems. Vgl. Schütz 1971, 1960; Schütz/Luckmann 1979; Luckmann 1969; Berger/Luckmann 1969.
[4] Die Anpassung der Motivationslagen der personalen Systeme an institutionalisierte Rollenanforderungen der sozialen Systeme geschieht durch die Internalisierung kultureller Normen während des Sozialisationsprozesses.
[5] Dies meint, dass „Vollzugswirklichkeit“ als gesellschaftlich konstruiertes Produkt kontinuierlicher Sinngebungs-, Situationsdefinitions- und Interpretationsakte von Interaktionsteilnehmern, d.h. als Resultat alltagsweltlicher Sprechhandlungen aufgefasst wird (Bergmann 1994).
[6] Diese Darstellungen („ accounts”) sind reflexiv an die Äußerungssituation gebunden, ihre spezifisch situierte Verwendung hat besondere Funktionen. Die Eigenschaften indexikalischer Äußerungen und Handlungen bestehen in einem “organizationally demonstrable sense, or facticity, or methodic use, or agreement among ‘cultural colleagues’” (Garfinkel 1967:11) und werden in gemeinsamer konzertierter Aktivität hergestellt.
[7] Schütz’ (1969, 1971) Grundlegung einer verstehenden Soziologie beginnt mit einer Kritik des Weberschen Kategorie des „subjektiven Sinns“, in welcher die Inkongruenz von Fremd- und Selbstverstehen nicht überwunden wird, da sie der Perspektive des Akteurs verhaftet bleibt. Dabei übersieht Weber, dass der Sinn einer Handlung für alter und ego niemals identisch sein kann. Die Aufgabe einer phänomenologisch fundierten verstehenden Soziologie besteht darin den vom Handelnden subjektiv gemeinten Sinn zu rekonstruieren und die Substitution durch einen vom Wissenschaftler unterstellten zu vermeiden (Einstellung eines „uninteressierten Beobachters“).
[8] Schütz/Luckmann konzeptualisierten den Handlungsbegriff als soziale Zuschreibungskategorie. Sie begreifen die Differenz von intendiertem (Tatsache des Bewusstseins) und zugerechnetem Handeln (soziale Tatsache) als empirisch, als Modus der sozialen Konstitution von Handlungen. Anstatt Handeln als sozial fungierende Kategorie zu analysieren, klassifizieren sie die Distinktion von intentionalem und zugerechnetem Handeln als Unterfall der Differenz von subjektivem und objektivem, selbstverstandenem und fremdverstandenem Handlungssinn. Da der Handelnde zur einzig gültigen Entscheidungsinstanz erhoben wird, wurde Handlung bei Schütz und Luckmann wieder auf das Niveau von Bewusstsein gehoben. Letztendlich vermieden sie die Formulierung des Handlungs-begriffs als empirischem Problem (Schneider 1995).
[9] Dies betrifft selbstverständlich die Verstehensleistungen des ethnomethodologischen Forschers ebenso. Aufgrund seiner eigenen gesellschaftlichen Situiertheit bedient auch er sich selbst dieser alltäglichen Methoden.
[10] Zur Konstitution von Wortbedeutung im Diskurs schreibt Deppermann (2002a:13): „Die Bedeutung, die ein Wort bei seiner Verwendung gewinnt, ist nicht einfach durch kontextfrei gültige lexikalische Bedeutung gegeben. Die Bedeutung des Wortes wird vielmehr im Kontext durch Leistungen der Sprachbenutzer hergestellt“. Der Schütz’sche (1974) Konstitutionsbegriff ist in Anschluss an Husserl kategorial egologisch und subjektivistisch zu fassen. Im Gegensatz zur kausalistischen Bedeutungsrepräsentation des kognitionwissenschaftlichen Semantik-modells betont die KA die öffentliche, interaktive und kontextuelle Dimension intersubjektiven Bedeutungsver-ständnisses, deren zentraler Begriff „Indexikalität“ (Garfinkel 1967) ist. Bedeutungskonstitution ist an praktische Routinen geknüpft und wird von Sprechern entsprechend situativer Handlungserfordernisse/–relevanzen generiert
[11] Die Verwendung des Begriffs der „Konstruktion“ oder „Konstruiertheit“ in der vorliegenden Arbeit, ist dem Konstruktivismus entlehnt, auch wenn er kontextuell in phänomenologischer Weise verwandt wird. Beiden Positionen liegt ein konstitutiver Begründungsbegriff zugrunde. Dies bedeutet, dass sie mit einem subjektrelativen Konzept der Wahrnehmung operieren und die Konstitutionsleistung des Bewusstseins betonen.
[12] Angewendet auf den ethnomethodologischen Forscher ergibt sich das logische Problem eines infiniten Zirkels: „Die Hintergrunderwartungen des Beobachters, der die Hintergrunderwartungen der Handelnden analysiert, müsste von einem zweiten Beobachter analysiert werden, der notwendigerweise wenn er analysiert, auf seine eigenen Hintergrunderwartungen zurückgreifen müsste, und so weiter ohne Ende“ (Giddens 1984:50).
[13] Während in der deutschsprachigen Soziologie mit Begriffen wie Konversations-, Gesprächs- oder Diskurs-analyse gearbeitet wird, begnügt sich die angelsächsische Soziologie mit den beiden Termini der „ conversation analysis “ und „ discourse analysis “. Dies kann durchaus für Verwirrung sorgen, da die semantische Abgrenzung der Begrifflichkeiten nicht immer klar erscheint. Zu Missverständnissen kann der deutsche Terminus „Konversationsanalyse“ führen. Der angelsächsische Begriff „ conversation “ rekurriert einerseits auf die Unterhaltung zweier oder mehrerer Personen, zum Zwecke des sozialen Austausches oder der Geselligkeit; andererseits beschreibt der Terminus ebenso jegliche (sprachliche) Aktivität in Interaktionen. Die Bezeichnung KA beschränkt sich nicht ausschließlich auf die Analyse des Gesprächstypus der Konversation im engeren Sinne. Sie widmet sich auch nicht ausschließlich der empirischen Erforschung alltäglicher, natürlicher und informeller Gesprächen, sondern ihr Untersuchungsinteresse erstreckt sich darüber hinaus auf andere in natürlichen Kommunikationssituationen hervorgebrachte Aktivitäten. Von anderen linguistischen Analysemethoden grenzt sich die KA ab, indem sie die Hervorbringung von Äußerungen nicht als Ausdruck rein sprachlicher Strukturen, sondern in erster Linie als von den Interaktionsteilnehmern gemeinsam erbrachte, konzertierte Leistung betrachtet. In Abgrenzung dazu unterliegt der Oberbegriff Diskurs unterschiedlichen Verwendungstraditionen, je nach innerdisziplinärem Forschungsinteresse. Als Gemeinsamkeit kann die Fokussierung auf den Sprachgebrauch bzw. auf schriftliche/mündliche Texte angesehen werden, welche im Hinblick auf Regelstrukturen oder inhaltliche Strukturierungen untersucht werden. Keller (2001) klassifiziert vier differente Forschungsansätze innerhalb der „discourse studies“ skizzieren: 1. Die Konversations-/Gesprächsanalyse („ discourse analysis “): als Analyse des konkreten Sprachgebrauchs bzw. unmittelbarer Kommunikationsprozesse v.a. in mündlicher Rede oder Gesprächen (wie bspw. von Edwards verwendet); 2. Die Diskursethik: im Anschluss an sprachtheoretische und sprachphilosophische Überlegungen anknüpfende Analyse normativer Verfahrens-/Orientierungsprinzipien von Diskussionsprozessen, welche größtmögliche Verfahrensgerechtigkeit bei der Klärung strittiger kognitiver, moralischer und ästhetischer Geltungsansprüche erlauben (Habermas); 3. Die diskurstheoretische Analyse: welche sich mit der Bedeutung von Zeichen, Sprache und der konkreten Sprachpraxis für die Genese von Ideologien und Wissensordnungen beschäftigt und ihre Strukturen und Besonderheiten analysiert; 4. Die kulturalistische Diskursanalyse: unterscheidet sich von der diskurstheoretischen Perspektive durch ihre stärker handlungs-theoretische und hermeneutisch-interpretative Ausrichtung sowie der Betonung der sozialen Konstruktivität und (relativen) Autonomie kultureller Sinnzusammenhänge. Der dieser Arbeit zugrunde liegende Diskursbegriff wird nun in einer engeren Bedeutung verwendet, ist der angelsächsischen „ conversation analysis “ verpflichtet und rekurriert auf das sprachliche Verhalten in informellen Interaktionssituationen.
[14] Schegloff (1991:47) formuliert es so: „CA’s enterprise, concerned as it is with (among other things) the detailed analysis of how talk-in-interaction is conducted as an activity in it’s own right and as the instrument for the full range of social action and practices (…)”.
[15] Bis heute gilt die KA, neben den „ Studios of Werk “ (Bergmann 1991) als wichtigste Analyserichtung, die sich aus dem ethnomethodologischen Forschungsprogramm entwickelt hat. Neben Soziologie und Linguistik erstreckt sich ihr Einfluss mittlerweile auf die Rhetorik- und Kommunikationsforschung, sowie auf die Psychologie, und hat hierbei wesentlich zur Begründung einer konstruktivistischen Sichtweise beigetragen.
[16] Weitere operationale Grundannahmen der EM sind: im Gespräch wird mit kulturellen Interpretations- und Handlungsressourcen operiert; universelle, i.e. kontextunabhängige Regeln (z.B. Sprecherregel) operieren kontext-sensitiv, indem sie an den jeweiligen Kontext angepasst werden; wechselseitiges Aufzeigen des jeweiligen Verständnisses durch die Teilnehmer; der diskursive Prozess der Herstellung sozialer Ordnung ist beobachtbar; Aufgabe der Gesprächsanalyse ist die Rekonstruktion der für die Teilnehmer relevanten konversationellen Regeln bzw. Mechanismen; Aufzeigeaktivitäten liefern die Kriterien zur Prüfung der Adäquatheit der Interpretationen des Forschers; am Transkript können die orientierungsrelevanten Regeln evaluiert werden (Deppermann 1997).
[17] Kritisch angemerkt werden könnte, „dass sich die Ethnomethodologie bisher im Wesentlichen in der mikroskopischen Beschreibung alltäglicher Interaktionen und deren Sinnhaftigkeit erschöpfe und von einer Aufdeckung der Basisregeln noch weit entfernt sei. Weiter Einwände beziehen sich auf das Fehlen einer Gesellschaftstheorie und die damit verbundene unhistorische Sichtweise von Gesellschaft“ (Peuckert 1995:333).
[18] Giddens (1984:44) Auffassung nach ist dieses „niemals etwas Vorgegebenes, sondern hängt von der Reflexivität der Darstellung der Handelnden ab: die Darstellungen sind konstruierende Elemente dessen, was dargestellt wird“.
[19] Genannt seien an dieser Stelle bspw. die „benachbarte Paartypen“ („adjacency pairs“), wie bspw. Frage-Antwort, Aufforderung-Erfüllung/Ablehnung, Gruß-Gegengruß, Vorwurf-Entschuldigung/Rechtfertigung/Zurück-weisung, etc. Die Grundregel der Verwendung benachbarter Paartypen ist normativer Art. Ein Verstoß dagegen muss als eigenlogische (deviante) Handlung mit spezif. Bedeutung für den Interaktionsverlauf gedeutet werden.
[20] Eberle (1997:245) sieht die Aufgabe der KA darin begründet „die formalen Prinzipien der sozialen Organisation sprachlicher und nichtsprachlicher Interaktion zu untersuchen. Die Analyse erfolgt strikt empirisch, und zwar anhand von Tonband- und Videoaufzeichnungen von realen Geschehensabläufen in ‘natürlichen’ Situationen. Diese Aufzeichnungen werden möglichst detailgenau transkribiert und unter der leitenden Prämisse analysiert, dass keine noch so geringfügig erscheinende Einzelheit a priori als Zufallsprodukt oder vernachlässigbare Nebenerscheinung behandelt werden darf“.
[21] Mittels einer registrierenden statt rekonstruierenden Datenkonservierung (Tonband-/Videoaufzeichnungen vs. Numerisch-statistische Angaben, Interviewaussagen oder Beobachtungsprotokolle).
[22] Eberle (1997:251) schreibt: „Die Ordnung muss vielmehr im Datenmaterial selbst zum Vorschein kommen, gemäß Garfinkels These, dass Akteure soziale Ordnung fortlaufend methodisch erzeugen und einander anzeigen“.
[23] Aus reflexiv konstruktivistischer Perspektive ergeben sich aus den Grundpositionen der EM Folgeprobleme: a) Die Annahmen implizieren ein positivistisch-sensualistisches Wissenschaftsverständnis (methodologisch); b) Die Display-Konzeption ist aporetisch und trägt den analysekonstitutiven Leistungen des Interpreten nicht Rechnung (methodisch); c) Ein Spannungsverhältnis zwischen einer phänomenologisch-bewusstseinstheoretischen und einer regelontologischen Gegenstandskonzeption; sowie ein auf unausgewiesene Homogenitäts- & Identitätsthesen sich stützender ahistorischer, kulturindifferenter Universalismus (gegenstandstheoretisch); d) forschungsgeschichtliche Rigidisierung/Fixierung auf lokale, formale Mechanismen der Herstellung sozialer Ordnung (Deppermann 1997b).
[24] Die phänomenologische Bewusstseinstheorie und die sozial-objektivistische Regelontologie müssen überwunden werden. Es bedarf einer Konzeption, die dem situierten, pragmatischen und prozessualen Charakter empiriebasierter interpretativer Konstruktionen gerecht wird: eine pluralistische, relativistisch-konstruktivistische Gegenstandskonzeption. Studien müssen das Kriterium selbstreferentieller Integrität erfüllen: relativ, konstruktiv, offen, aushandelbar, situiert, zweckbezogen, reflexiv, anti-repräsentational und nicht-essentialistisch.
[25] Für die vorliegende Arbeit wurde aus Gründen der Praktikabilität auf eine Datenerhebung verzichtet und stattdessen auf einen bestehenden Korpus zurückgegriffen. Bei der ursprünglichen Erhebung des Datenbestandes waren die folgenden Dimensionen jedoch instruktiv.
[26] Der Gruppen begriff muss in dreierlei Hinsicht differenziert werden, als: a) Konstrukt „Jugend“ (virtuelle soziale Großgruppe); b) juvenile Subkultur /Jugendkultur; c) Peer-Group (Klein- /Bezugsgruppe von Gleichaltrigen).
[27] „Substandard“ ist ein Oberbegriff für vom standardsprachlichen Niveau abweichende Sprachvarietäten. Zur ver-tiefenden Diskussion soziolinguistischer Rahmenbegriffe und Konzepte cf. Androutsopoulos 1998:10-32.
[28] Die systemische Betrachtungsweise geht davon aus, dass es eine allgemein gebräuchliche Jugendsprache mit regionalen, schicht- und gruppenspezifischen Variationen gibt. Anhand der Sprechstile von einzelnen Jugend-gruppen lassen sich Merkmale ausmachen, die in ihrer Gesamtheit den „Prototyp Jugendsprache“ konstituieren.
[29] Diesem Forschungsansatz kann die Fokussierung auf die lexikalische Ebene und der Herauslösung einzelner Ausdrücke und Wörter aus ihrem textuellen Kontext vorgeworfen werden.
[30] Es wird schlicht übersehen, dass es viele verfälschende Bedingungen gibt, die in diesen Ansätzen unreflektiert bleiben. Einerseits belegt die gedächtnispsychologische Literatur, die „ mnestische und interpretative Selektivität und Konstruktivität” von Darstellungen. „Von Aufmerksamkeits- über Interpretations-, Enkodierungs-, Reinter-pretations- bis hin zu Abrufprozessen sind mit sämtlichen kognitiven Leistungen Umgestaltungen der Erinnerungsgegenstände verbunden” (Neumann-Braun/Deppermann 1998:242). Ferner unterliegen retrospektive Darstellungen immer schon einer sozial konventionalisierten kommunikativen „ Formbestimmtheit”, welche einen Rückschluss auf die Ebene des faktischen Geschehens eigentlich verunmöglicht. Auch erlaubt die dialogische Konstitution von Darstellungen in qualitativen Interviews oder Gruppendiskussionen keine kontextfreie Wiedergabe von Meinungen oder Erinnerungen. Vielmehr besitzen sie situativen Charakter und werden durch die Anwesenheit des Forschers beeinflusst. Letztendlich bleibt noch der Handlungscharakter von Darstellungen zu erwähnen, denn „auch in Forschungsinterviews und Gruppendiskussionen sind Handlungsbelange wie Selbst-darstellung und –rechtfertigung, Normvermittlung und Management der Beziehung zum Interviewer dominante Bezugsdimensionen darstellerischen Handelns, die sich in der Gestaltung der Darstellungen niederschlagen” (Neumann-Braun/et.al. 1998:243). Es ist mithin einfach fragwürdig, ob einem Forscher der Status der Neutralität und Akzeptiertheit innerhalb einer solchen Situation eingeräumt werden kann.
[31] An dieser Stelle muss erneut darauf hingewiesen werden, dass Transkripten, obwohl sie sich gegenüber anderen Darstellungsformen (z.B. Paraphrasen, Codierungen, Ratingskalen etc.) durch eine größerer Abbildtreue aus-zeichnen, immer auch eine Theorie gesprochener Sprache zugrunde liegt. Sie wird fundamental durch die jeweiligen Transkriptionssysteme bestimmt, welche festlegen, wie welche akustischen Phänomene graphisch wiedergeben werden. Ebenso muss reflektiert werden, dass Transkripte stets als solche selektiv ausgewählter Gesprächsausschnitte gedacht werden müssen, welche diese auf bestimmte verbale Aktivitäten reduzieren und hinsichtlich einzelner Merkmale wiedergeben. Allein die auf auditiver Wahrnehmung beruhende Tätigkeit des Transkribierens ist immer schon theorie- und wissensabhängig!
[32] Es muss darauf geachtet werden, dass „Kontextwissen” nicht zu voreilig subsumptive Erklärungen generiert. Vielmehr muss aufgezeigt werden dass und v.a. wie die Interaktanten einander bedeuten, dass ein kontextueller Sachverhalt interpretationsrelevant erscheint.
[33] Es dreht sich dabei um die basale Problematik, ob eine vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Realität ontischer Entitäten als existent angenommen werden kann oder nicht. Ob unsere Wahrnehmung danach zu beurteilen ist, wie genau diese den objektiven Gegebenheiten entspricht, oder ob sich nicht die Gegebenheiten nach unserer Wahrnehmung richten (und in welchem Ausmaß Aussagen darüber formuliert werden können).
[34] Vgl. Roth/Schwegler (1992); Roth (1996); Eccles (1993); Edelmann (1995); Gadenne (1996).
[35] Kant entwickelte seine Gedanken zur Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens in der Kritik der reinen Vernunft (1781). Die eigentliche Rezeption fand erst mit dem Erscheinen der zweiten Auflage (1787) statt.
[36] Selbst der Forscher muss sich seiner sozialen und sprachlichen Verortung bewusst sein und die Konstitutions-leistung der von ihm verwendeten Sprache, d.h. ihrer Beschreibungen und Kategorien kritisch reflektieren.
[37] Eine ontische Realität wird nicht negiert sondern als „darstellbare“ od. „beschreibbare“ Kategorie begriffen.
[38] Beispielsweise ist ein Verstoß gegen die Erwartungsnorm von adjacency pairs (z.B. Frage-Antwort) kontingent, folglich muss eine Abweichung für den Interaktionsverlauf als bedeutsam interpretiert werden.
[39] Gleichsam dem Reiz-Reaktions-Schema, mit welchem in den Kognitionswissenschaften operiert wird.
[40] Sie ist vielmehr am Primat alltagsweltlicher, natürlichsprachlicher und informeller (im Ggs. zu vorstrukturierten, aufgabenorientierten oder institutionalisierten) Gesprächskontexten orientiert.
[41] Edwards (1997) klassifiziert vier Kommunikationsmodelle, die mit einem je anderen Bedeutungskonzept operieren: Das Kodierungs-/Dekodierungs -Paradigma (Bedeutung als inhärente Eigenschaft von Mitteilungen); Das Intentionalitäts -Paradigma (Bedeutung ist an die Intention des Sprechers gebunden); Das Perspektiv-übernahme -Paradigma (Bedeutung ist vom Adressaten-Standpunkt abhängig); Das dialogische Paradigma charakterisiert Bedeutung als emergente Eigenschaft gemeinschaftlicher Aktivität von Interaktionsteilnehmern.
[42] Die Konversationsanalyse postuliert nicht die philosophische Intentionalitätsproblematik aufzulösen. Vielmehr wird Intentionalität als praktisches und nicht als metaphysisches Problem veranschlagt.
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