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Masterarbeit, 2011
223 Seiten, Note: 1
Vorwort: Menschenbild, Körper, Körperkultur und (Schönheits-)Ideale a
Einleitung
Teil I – Theorie zum Krankheitsbild
1. Begriffserläuterung zur Eingrenzung des Untersuchungsthemas Essstörungen und (Leistungs-)Sport
1.1 (Leistungs-)Sport - 5 -
1.2 Der BMI: Erfassung von Über-, Unter- und Normalgewicht - Untergewicht
1.3 Gestörtes Essverhalten
1.4 Essstörungen
2. Anorexia nervosa (Magersucht)
2.1 Definition und Symptomatik
2.2 Epidemiologie
2.2.1 Geschlechterverteilung
2.2.2 Prävalenz
2.2.3 Erkrankungsalter
2.2.4 Sozioökonomische Verbreitung
2.2.5 Risikogruppen
2.3 Diagnosekriterien: ICD-10
2.3.1 Persönlichkeit: Typische Charaktereigenschaften und Verhaltensmerkmale
2.3.2 Körperwahrnehmungsstörung
2.3.3 Ständiges Kreisen der Gedanken um Gewicht, Nahrung und Körper
2.3.4 Körperliche Veränderungen
2.3.5 Fehlende Krankheitseinsicht
2.4 Ursachen/Ätiologie: Die Suche nach dem Schuldigen
2.4.1 Soziokulturelle Faktoren
2.4.2 Psychosoziale Faktoren
2.4.3 Genetische und biologische Faktoren
2.4.4 Verschiedene weitere Faktoren
3. Anorexia athletica
3.1 Definition
3.2 Kennzeichen und Symptomatik
3.3 Persönlicher Kommentar: Gegenüberstellung der Kriterien der Anorexia nervosa mit denen der Anorexia athletica
3.4 Unterschiede und Gemeinsamkeiten: Anorexia athletica und der Anorexia nervosa
3.4.1 Unterschiede
3.4.2 Gemeinsamkeiten: (Spar-)Stoffwechsel bei andauerndem Hungerzustand
3.5 Kritik am Begriff „Anorexia athletica“
3.6 Sportsucht (Primäre und sekundäre Sportsucht)
4. Magersucht und Sport: Warum erkranken so viele Sportlerinnen an der Anorexia nervosa?
4.1 Epidemiologie: Studien zu den Risikogruppen nach Sundgot-Borgen
4.1.1 Gegenüberstellung: Essgestörte Sportlerinnen versus Nicht-Sportlerinnen
4.1.2 Gegenüberstellung verschiedener Sportarten - Risikosportarten versus Nicht- Risikosportarten
4.2 Spezielle Risikofaktoren bei Sportlerinnen zur Entwicklung einer Anorexia nervosa
4.2.1 Soziokulturelle Risikofaktoren: Trainer/in? - Erwartungen? - Medien?
4.2.2 Psychische Risikofaktoren
4.2.3 Früher Start in den Leistungssport
4.2.4 Persönlichkeit, Charakter und Verhaltensmerkmale
5. Hungern und Sport - Magersucht und Sportsucht
5.1 Komorbidität psychischer Krankheiten nach Clarkin und Kendall (1992)
5.2 Exzessives Sporttreiben (Laufen) - Eine Art Anorexia nervosa?
5.3 Persönlicher Kommentar zur Begriffsvielfalt und deren Zusammenhänge
5.3.1 „Anorexia athletica“ und „Konkurrenzläuferin“
5.3.2 Beziehung zwischen Sportsucht und Magersucht
5.4 Magersucht und Sport: Eine besonders tödliche Kombination?
5.5 Magersucht und Sportsucht: Stoffungebundene Verhaltenssüchte
5.5.1 Allgemeines zur Verhaltenssucht
5.5.2 Magersucht als Verhaltenssucht
5.5.3 Sportsucht als Verhaltenssucht
5.5.4 Persönlicher Kommentar: Magersucht, Sportsucht und das Sucht-Modell
6. Erkenntnisse aus Teil I
Teil II - Biographienforschung
7. Eingrenzung der forschungsrelevanten Begriffe
7.1 Qualitative Sozialforschung: Abgrenzung von quantitativen Methoden
7.2 Biographienforschung - (Auto-)Biographie - 62 -
8. Das narrative Interview als Möglichkeit zur biographischen Fallrekonstruktion
8.1 Allgemeine Bemerkungen zum Forschungsverfahren - „Narratives Interview“
8.2 Der Ablauf bzw. die Erhebung des „narrativen Interviews“
9. Die Interviews
9.1 Persönliche Datenerhebung: Auswahl der Probanden sowie Durchführung und Rahmenbedingungen der Interviews
9.2 Datenauswertung
9.2.1 Kohorteninterne Typenbildung
9.2.2 Verallgemeinerung der Ergebnisse
9.2.3 Abduktion - Bildung einer Hypothese
9.2.4 Begründung der Methodenauswahl und Erläuterung der Forschungsinteressen sowie der Fragestellung(en)
10. Präsentation der empirischen Erhebung - Die drei Biographien
10.1 UTE: Leistungssport und Hungern - Biographische Identität
10.2 SARAH: Hungern und Sport - Biographische Identität
10.3 MAREN: Hungern und Sport - Biographische Identität
11. Auswertung der Interviews - Gegenüberstellung der Interviews
11.1 Lebensperspektive und Selbstverwirklichung: Traditionelles Rollenverständnis versus „Rastlosigkeit“
11.2 Persönlicher Kommentar: Beziehung von Sport und Hungern und die dazugehörigen Krankheitsbilder
11.2.1 Übergang von der Anorexia athletica zur Anorexia nervosa
11.2.2 „Verwechslung“ von Anorexia nervosa mit Anorexia athletica
11.2.3 Komorbidität zwischen Hungern und Sport
11.3 Typenbildung: Abduktion Loslösung von den Interviews
11.3.1 Typendimensionen „Biographische Identität“ durch Sport und Hungern
11.3.2 Die drei Typen „Biographische Identität“
11.3.3 Verallgemeinerung der Typenbildung Darstellung der Hypothese
12 Einbettung der Hypothese in Erkenntnisse der wissenschaftlichen Literatur
12.1 Philosophischer Exkurs: Entwicklung von Identität Die Suche nach dem Sinn des Lebens
12.1.1 Das Körperbild Entwicklung von Identität
12.1.2 Bedürfnisse nach Maslow: Selbstwirksamkeit – Die Suche nach dem Sinn des Lebens
12.1.3 Selbstachtung: Werte, Überzeugungen und der pathologische Kritiker
12.2 Anthropologischer Exkurs
12.2.1 Stoffungebundene Verhaltenssucht als Kompensationsmöglichkeit einer gescheiterten Individualisierung und Persönlichkeitsentwicklung
12.2.2 Autoaggression als Kompensationsmöglichkeit einer gescheiterten Individualisierung und Persönlichkeitsentwicklung Der Angriff auf sich selbst
12.2.3 Instrumentalisierung des Körpers als Kompensationsmöglichkeit einer gescheiterten Individualisierung und Persönlichkeitsentwicklung
Abschlussdiskussion: Fazit und Ergebnissicherung
Schaubild: Die Krankheitsverläufe und Krankheitsbilder im Überblick
Literaturverzeichnis
Leitfadeninterviews Fragen (Fragenkatalog: exmanente Nachfragen)
Abbildung 1: Extreme zwischen zu viel und zu wenig Sport/Bewegung
Abbildung 2: BMI
Abbildung 3: Klassifikation von Essstörungen im ICD10 und DSMIV
Abbildung 4: Diagnosekriterien des ICD10 für Anorexia nervosa mit Erweiterung der atypischen Anorexia nervosa
Abbildung 5: Entstehung und Aufrechthaltung der Magersucht
Abbildung 6: Äußerung der Körperbildstörung auf den vier verschiedenen Ebenen –
Abbildung 7: Eigene Gegenüberstellung: Kriterien der Anorexia athletica nach Pugliese et al. (1983) und SundgotBorgen
Abbildung 8: Gegenüberstellung der Anorexia nervosa und Anorexia athletica: Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Abbildung 9: Modifizierte Gegenüberstellung der Unterschiede beim Vergleich von Anorexia athletica und Anorexia nervosa
Abbildung 10: Primäre und sekundäre Sportsucht nach De Coverleyveale und Fox
Abbildung 11: Prävalenz an einer Essstörung zu erkranken: Eigene Gegenüberstellung „Athletin mit Essstörung Nichtathletin mit Essstörung“
Abbildung 12: Die vier Gruppen der Risikosportarten im Überblick
Abbildung 13: Eigene Auswahl einiger BMIAngaben erfolgreicher Läuferinnen
Abbildung 14: Komorbidität psychischer Krankheiten
Abbildung 15: Zwei unterschiedliche Läufertypen nach Fox, Temple und Whigley
Abbildung 16: Erklärungsmodelle für die Beziehung von AN (Anorexia nervosa) und ES
Abbildung 17: Entwicklung und Wirkung von Sport und Magersucht unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Bedingungen
Abbildung 18: Entwicklung der Anorexia nervosa
Abbildung 19: Entwicklung der Anorexia nervosa
Abbildung 20: Entwicklung der Sportsucht
Abbildung 21: Entwicklung der Sportsucht
Abbildung 22: Entwicklung der Sportsucht
Abbildung 23: Fließende Übergänge von Sportsucht zur Magersucht (rosa Pfeile) und von Magersucht zur Sportsucht (blaue Pfeile)
Abbildung 24: Kognitiver Erklärungsansatz von Verhaltenssüchten Teufelskreis (rot eingerahmte Kästchen)
Abbildung 25: Das SuchtModell nach Beck et al. bezogen auf die Anorexia nervosa (links) und die Sportsucht (rechts)
Abbildung 26: Dreiteilung meines Arbeitsprozesses im Rahmen der Masterarbeit
Abbildung 27: Beziehung von Sport und Hungern und die dazugehörigen Krankheitsbilder
Abbildung 28: Über die Anorexia athletica bzw. den Sport in die die Anorexia nervosa
Abbildung 29: Hungern und Sport als körperliche Kompensationsmaßnahmen zur Entfaltung der biographischen Identität
Abbildung 30: Die vier verschiedenen Ebenen des Körperbildes
Abbildung 31: Eigene Darstellung der Bedürfnishierarchie
Abbildung 32: Drei verschiedene Gruppen von Überzeugungen (Eigene Darstellung)
Abbildung 33: Eigene Gegenüberstellung von Abhängigkeit und Sucht
Abbildung 34: Drei Hauptarten von Abwehrreaktionen
Abbildung 35: Die Krankheitsverläufe und Krankheitsbilder im Überblick: Hungern und/oder Sport zur sportspezifischen Leistungssteigerung bzw. Gewichtsreduktion
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Grundannahme: Der Mensch ist ein handelndes und entscheidendes Wesen.
Der Mensch ist flexibel, lernfähig und ein (intentional) handelndes Wesen. Aufgrund der Unfertigkeit nach der Geburt, ist er für Anregungen, Einflüsse und Einwirkungen sozialer Art offen. Aus diesem Grund ist er ebenfalls fähig, das selbstbestimmte und verantwortliche Handeln zu erlernen. Dabei muss er sich beim Handeln an Normen sowie ethischen und ästhetischen Werten orientieren, die wiederum sozial und kulturell geprägt sind. Doch nicht nur das Handeln, sondern auch die Umgangsform mit dem Körper und die Art, wie dieser wahrgenommen und gestaltet wird, ist nicht naturhaft vorgegeben, sondern eignet man sich im Rahmen der Sozialisation und Erziehung an (vgl. Grupe, 2003, S. 27-28).
2. Grundannahme: Der Mensch ist ein soziales und kulturelles Wesen.
Der Mensch ist nicht nur ein unverwechselbares Individuum, sondern immer auch gleichzeitig ein sozial und kulturell bestimmtes Wesen (vgl. ebd., S. 28). „Jeder Einzelne ist eingebunden in bestimmte kulturelle und soziale Lebenszusammenhänge, und jeder Einzelne ist deshalb nicht nur das Ergebnis seiner Entwicklung und individuellen Geschichte, sondern ebenso das einer Gruppe, Schicht und Kultur“ (ebd., S. 28). Auch der Körper, das Körperbild und das Verhältnis zum Körper sind nicht nur individuell, sondern auch sozial und kulturell geprägt (vgl. ebd., S. 28).
3. Grundannahme: Der Mensch ist ein historisches Wesen.
„Selbst der Körper eines Menschen, sein Verhältnis zu ihm, sein Umgang mit ihm, sein Körperbild, sein Schönheitsideal, sein Verständnis von Gesundheit und Krankheit, […] oder von der Bewertung körperlicher und intellektueller Stärke, sind historisch geprägt“ (ebd., S. 29).
Das Interesse am Körper ist nichts Neues.[1] Es existieren unendlich viele Assoziationsketten (vgl. Lorenz, 2000, S. 32) sowie unterschiedlichste Auffassungen vom Begriff des Körpers (vgl. ebd., S. 11) und es wird nie möglich sein eine „[…] allgemein und dauerhaft gültige Definitionen über die Physis abzugeben, die über Gemeinsamkeiten wie die Notwendigkeit von Atemluft, Wasser und eine Form der „leiblichen Hülle“ hinausgehen“ (ebd., S. 11). Grupe betont, dass die Auffassung von dem Menschenbild sehr unterschiedlich ausfallen kann, da sie von persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen, von der Gruppen- und Schichtzugehörigkeit sowie der weltanschaulichen und politischen Sichtweise abhängt (vgl. Grupe, 2003, S. 22).[2] Heutzutage vertritt man die Grundannahme, „[…] dass der Mensch als ein handelndes, soziales und kulturelles und somit auch historisches Wesen zu begreifen ist“ (ebd., S. 24). Obwohl ihn genetische Festlegungen prägen und er von sozialen, kulturellen und historischen Geschehnissen beeinflusst wird, kann er sein Leben prinzipiell frei gestalten, wodurch er zu einem selbstbestimmungsfähigen Wesen wird (vgl. ebd., S. 24). Die anthropologische[3] Grundannahme verdeutlicht, inwiefern sich der Mensch vom Tier unterscheidet (vgl. ebd., S. 27). Betrachtet man diese Theorie etwas genauer, so lässt sie sich in die folgenden drei Punkte unterteilen:
„Menschenbilder beeinflussen dabei nicht nur unser Selbstbild, sondern auch unser Bild oder unsere Bilder von anderen Menschen […]“ (ebd., S. 22), wodurch Individuen voreilig bestimmten Gruppen zugeordnet werden. Diese Klassifizierungen wirken zumeist als Stereotypen oder Klischees und stellen sich oftmals als einseitig, unzutreffend oder sogar falsch heraus (vgl. ebd., S. 22).
„Hinzu kommt, dass solche stereotypen Bilder vom Menschen in der Regel mit Wertungen, Erwartungen und Einschätzungen verbunden sind oder diesen zugrunde liegen, was oft zu Fehleinschätzungen und Vorurteilen führt oder führen kann“ (ebd., S. 22).
Menschenbilder liefern Verhaltens- und Wertmuster, welche als Leitbilder wirken und dem Individuum beim Ordnen und Gestalten seines Lebens helfen können (vgl. ebd., S. 23). Aus diesem Grund hängt der Sinn, den eine Persönlichkeit in ihrem Leben und speziell in ihren Handlungen sieht, sehr eng mit dem Menschenbild zusammen (vgl. ebd., S. 22).
Genauso wenig wie den „Körper“, kann man auch das „Schöne“ nicht eindeutig definieren, da Schönheit vergänglich ist (vgl. Didou-Manent, Ky & Robert, 1998, S. 9). „Sie wandelt sich im Laufe der Zeit und entsteht immer wieder neu im Bewußtsein der Menschen“ (ebd., S. 9). Auch die beiden Extreme - Leibesfülle und Magerkeit - „[…] sind untrennbar mit der Veränderung der Geisteshaltung verknüpft, die – je nach Epoche – mal das eine, mal das andere Ideal favorisierte“ (ebd., S. 10). Die Auffassung von dem idealen Körper wandelt sich somit unvorhersehbar in Abhängigkeit von der jeweiligen Zeit und der Kultur, in der die Menschen leben (vgl. ebd., S. 10).[4]
Das heutige weibliche Körperideal mit der modernen Fitnessbewegung liegt „[…] in einer Kombination zwischen ausgeprägten, weiblichen Attributen, wie großem Busen, schlanker Taille und knackig-straffem Po, und einer generell schlanken, muskulösen und festen Physis“ (Trachsel, S. 19).
Das Schönheitsideal ist durch die Vorstellung extremer Schlankheit gekennzeichnet, wodurch häufig eine enorme körperliche Unzufriedenheit resultiert (vgl. Legenbauer, 2007, S. 319).
In den Medien sowie wissenschaftlicher Literatur werden „Anorexia nervosa-Patientinnen“ oftmals stereotypisiert. Die zahlreichen Gemeinsamkeiten, die anscheinend im Leben jeder Magersüchtigen existieren, führen leicht zu der Auffassung, dass eine Generalisierung der Krankheit ausreicht, um diese zu verstehen. Dennoch sind die Krankheitsgründe, -funktionen und -verläufe von Anorexia nervosa bei (Nicht-) Athletinnen individuell sehr verschieden und folglich gibt es nicht „die“ typische Anorexia nervosa-Patientin.
Perfektion, Ehrgeiz, Disziplin und Zielstrebigkeit sind Werte und Normen, welche in unserer heutigen, postmodernen Gesellschaft hoch geschätzt sind und oft mit Erfolg, Glück und Zufriedenheit in Verbindung gebracht werden. Doch was passiert, wenn diese positiven Charaktereigenschaften, diese individuellen Ressourcen gegen sich selbst eingesetzt werden, das liegt oft weit außerhalb der Vorstellungskraft einer „gesunden“ Person.
Um sich als Außenstehender[5], nicht Betroffener, intensiv und mehrperspektivisch mit der Krankheit bzw. dem Thema „Magersucht“ auseinandersetzen zu können, sollte man Verallgemeinerungen aufgeben, da diese allein nicht ausreichen. Stattdessen bieten sich vielmehr differenzierte und umfangreiche Erklärungsansätze an, um nachvollziehen zu können, warum genau „diese“ Frau zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt die Krankheit als individuelle Handlungsoption zur Lebensbewältigung unter vielen anderen „ausgewählt“ hat. Die Krankheit hat immer einen persönlichen Sinn und Zweck, welcher niemals derselbe ist und oftmals in den Hintergrund rückt.
Aus diesem Grund habe ich mich dafür entschieden, das Individuum und deren persönliche Biographie in den Vordergrund des praktischen Forschungsteils zu stellen.
Bevor ich jedoch in dem praktischen Forschungsteil eine empirische Auswertung dreier narrativer-biographisch orientierter Interviews[6] präsentiere, informiere ich den Leser in einem theoretischen Abschnitt über die aktuellen, wissenschaftlichen Erkenntnisse, die in Bezug auf die Fragestellung A und B (s. S. 3 und 4) bzw. das Thema meiner Masterarbeit relevant sind.
Der Teil I wird eingeleitet, indem einige Begriffe zur Eingrenzung des Untersuchungsthemas „Essstörungen“ und „(Leistungs-) Sport“ erläutert werden (s. Kapitel 1). Danach werden wissenschaftliche Erkenntnisse bezüglich der ANOREXIA NERVOSA vorgestellt (s. Kapitel 2). Da die Magersucht hinsichtlich zahlreicher Aspekte untersucht wird, ist das Kapitel 2 recht komplex. Der erste Unterpunkt beinhaltet eine kurze „Definition“ bzw. wesentliche Symptome, anhand deren man das Krankheitsbild erkennen kann (s. Kapitel 2.1). Im Anschluss erhält der Leser Auskunft über aktuelle, wissenschaftliche Erkenntnisse bezüglich der Epidemiologie (s. Kapitel 2.2) sowie den Kennzeichen und Diagnosekriterien der Anorexia nervosa (s. Kapitel 2.3). Im Kapitel 2.4 werden soziokulturelle, psychosoziale, genetische und biologische sowie verschiedene weitere Faktoren vorgestellt, die als potentiell mögliche Ursachen für das Auftreten der Magersucht angenommen werden können.
Die Tatsache, dass auch Sport bzw. körperliche Aktivität zu den auslösenden Faktoren zählt, leitet zum Erkrankungsbild der ANOREXIA ATHLETICA (s. Kapitel 3) über.
Nach einer kurzen Definition (s. Kapitel 3.1) und einer Darbietung der Kennzeichen (s. Kapitel 3.2), werden im Rahmen eines persönlichen Kommentares (s. Kapitel 3.3) die Diagnosemerkmale der Anorexia nervosa denen der Anorexia athletica gegenübergestellt, um zu überprüfen, ob es sich bei der Anorexia athletica um eine psychische Erkrankung handelt. Das Kapitel 3 zeigt die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der ähnlich klingenden Begriffe „ Anorexia“ nervosa und „ Anorexia“ athletica anhand von wissenschaftlicher Literatur auf. Im Rahmen des Kapitels 3.5, in welchem der Begriff der Anorexia athletica „kritisch“ betrachtet wird und die Frage aufkommt, inwiefern „Anorexia nervosa“, „Anorexia athletica“ und „Exzessives Sporttreiben“ auseinandergehalten bzw. in Zusammenhang gebracht werden können, wird die Bezeichnung der „Sportsucht“ erläutert (Kapitel 3.6). Dabei wird u.a. überprüft, was der Unterschied zwischen dem Ausdruck „primäre“ und „sekundäre Sportsucht ist und ob man die „primäre Sportsucht“ von der „Magersucht“ abgrenzen kann.
Im Anschluss wird explizit auf die Problematik „Magersucht im Leistungssport“ eingegangen (s. Kapitel 4), wobei zunächst einige Studien zu den Risikogruppen und Risikosportarten für eine Anorexia nervosa bzw. Essstörungen im Bereich des Sports aufgeführt werden (s. Kapitel 4.1). Infolge dessen werden spezielle Risikofaktoren bei Sportlerinnen zur Entwicklung einer Anorexia nervosa erläutert (s. Kapitel 4.2). Es wird dabei der Tatsache auf den Grund gegangen, warum im Leistungssport und vor allem in einigen „Risikodisziplinen“ - wie dem Mittel- und Langstreckenlauf - besonders viele Mädchen und Frauen an einer Magersucht erkranken.
Das Kapitel 5 befasst sich mit der Komorbidität der Verhaltensweisen „Hungern“ und „Sport“ (s. Kapitel 5.1), wobei insbesondere der Frage nachgegangen wird, ob exzessives Sporttreiben als eine Art Anorexia nervosa aufgefasst werden kann und die Anorexia nervosa automatisch die Sportsucht impliziert (s. Kapitel 5.2). Im Rahmen des Kapitels 5.3 wird in einem persönlichen Kommentar die Beziehung zwischen Sport- und Magersucht unter Berücksichtigung der „Sportzuwendung“, „Sportbindung“ und „Anorexia athletica“ dargestellt, wobei mögliche Krankheitsverläufe anhand von sechs Abbildungen veranschaulicht werden. Im Anschluss folgt die Darstellung eines wissenschaftlichen Experiments, mittels dem offensichtlich wird, dass die Kombination aus Hungern und Sport tödlich enden kann (s. Kapitel 5.4). Desweiteren wird in dem Kapitel 5.5 von zwei Abbildungen veranschaulicht, dass es sich bei dem Hungern (Anorexia nervosa) und der exzessiven, körperlichen Aktivität (Sportsucht) um stoffungebundene Verhaltenssüchte handelt.
Am Ende des Teils I werden die Erkenntnisse bezüglich der Krankheitsbilder „Anorexia nervosa“ und „Anorexia athletica“ sowie deren Verhältnis zur stoffungebundenen Sucht in einem kurzen persönlichen Fazit vorgestellt (s. Kapitel 6).[7] Daran anknüpfend erfolgt der Forschungsteil (Teil II), in dem drei Frauen bzw. deren individuelle Biographien vorgestellt werden. Dabei wird in erster Linie die folgende Fragestellung erörtert:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bevor jedoch in dem Kapitel 10 die Präsentation der empirischen Erhebung erfolgt, wird dem Leser in Kürze vorgestellt, um welche Art von Forschung es sich handelt bzw. welche Methode dabei zum Einsatz kommt. Aus diesem Grund fallen die Begriffe „Qualitative Forschung“, „Narratives Interview“, „Biographie“ und „Biographienforschung“ (s. Kapitel 7). Es wird erklärt, wie ein narratives Interview allgemein durchgeführt wird (s. Kapitel 8).
Danach werden Informationen zu den speziellen Rahmenbedingungen, der Durchführung sowie der Auswertung der drei Interviews gegeben. Desweiteren werden erneut die Fragestellungen erläutert, wobei die Auswahl der Forschungsmethode in Bezug auf das Forschungsinteresse begründet wird (s. Kapitel 9).
Im Anschluss an die Präsentation der empirischen Erhebung werden die auffälligsten Aspekte der drei untersuchten Biographien zum Teil vergleichend dargestellt (s. Kapitel 11.1). Es findet eine Abduktion vom empirischen Material statt (s. Kapitel 11.2) und anknüpfend erfolgt die „Typenbildung“ sowie die Ausformulierung einer „Hypothese“[8] (s. Kapitel 11.3).
Im Anschluss an die Auswertung der Interviews werden die angesprochenen Thematiken (die in den Interviews und der Hypothese zum Vorschein kamen) in einen „philosophisch-anthropologischen“ Exkurs eingebettet (s. Kapitel 12).
Der philosophische Exkurs (s. Kapitel 12.1) bezieht sich in erster Linie auf die „Entwicklung der Identität“ und umfasst daher Aspekte, wie das „Körperbild“, die „Bedürfnishierarchie nach Maslow“ und den Begriff der „Selbstachtung“.
Das Kapitel 12.2 stellt den anthropologischen Exkurs dar. In diesem wird der Körper als Kompensationsmöglichkeit betrachtet, um den Alltag zu bewältigen und den Sinn des Lebens zu finden. Dabei wird auf die „Verhaltenssucht“(s. Kapitel 12.2.1), „autoaggressives Verhalten“ (s. Kapitel 12.2.2) und die „Instrumentalisierung des Körpers“ eingegangen (s. Kapitel 12.2.3).[9]
Im Anschluss an die Bearbeitung wissenschaftlicher Literatur, die Ergebnisauswertung der narrativ-biographisch orientierten Interviews sowie dem abschließenden philosophisch-anthropologischen Exkurs, wird ein übergreifendes Schaubild vorgestellt, welches sich auf die Verhaltensweisen „Hungern“ und „Sport“ bezieht (s. S. 148). In dieser Abbildung werden - unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus den Bereichen Sportwissenschaft, Soziologie, Biologie, Psychologie und Suchtforschung - die verschiedenen Krankheitsverläufe, -funktionen und -bezeichnungen dargestellt, die aufgrund von Hungern und Sport resultieren können. Somit stellt die Graphik eine Übersicht der gewonnen Erkenntnisse dar, mittels der die Fragestellung B beantwortet werden kann.[10]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abschließend werden die Ergebnisse der Fragestellungen A und B im Rahmen einer „Diskussion“ noch einmal in Kürze dargestellt, wobei die zusammengefassten Erkenntnisse reflektiert werden und folglich meine persönliche Meinung zum Ausdruck kommt.
„Der Sport ist ein autonomes Teilsystem der Moderne mitt hohem Stellenwert. Je nachh persönlicher Einstellung undd Disziplin werden damit ganzz heterogene Ziele verfolgt: Sieg, Schönheit, Stärke, Wohlbehagen, Gesundheit, Gemeinschaft und anderess mehr“ (Wetz, 2007, S. 95). Desweiteren befriedigt Sport das menschliche Bedürfnis nach Erregung (vgl. ebd., S. 100). Wer „richtig“ Sport treibt, muss ein hohes Maß an Affektkontrolle und Leistungsmotivation mitbringen, da man sich als Sportler oftmals „den Regeln einer erbarmungslosen Askese“ unterwerfen muss. Wird der Sport, insbesondere das Ausdauer-, Kraft- und Bewegungstraining allerdings regelmäßig mit optimaler Belastungsintensität durchgeführt, kommt es zu einer biologischen Adaption und somit zu einer verbesserten Organ- und Lebensqualität (vgl. ebd., S. 97). Es ergibt sich somit automatisch die Frage, wie viel Sport der Mensch eigentlich braucht (s. Abbildung 1) (vgl. Treutlein, 2007, S. 156).
Zurückführen lässt sich die Entwicklung des BMIs auf die Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals stießen Lebensversicherungen auf einen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Lebenserwartung und erstellten statistische Gewichtstabellen. Mit Hilfe der Broca-Formel (Körperhöhe in cm minus 100) konnte (nach Auffassung der Lebensversicherungen) das Normalgewicht für die höchste Lebenserwartung ermitteln werden (vgl. Swyter, 2007, S. 12). Einige Zeit später wurde die Formel modifiziert. Man führte ein geschlechtsspezifisches Idealgewicht ein, welches ermittelt werden konnte, indem man bei Männern 10% und bei Frauen 15% von dem berechneten Normalgewicht abzog. Dem Wohlfühlgewicht wurde damals kaum Beachtung geschenkt (vgl. Geiger, 2007, S. 124).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Heutzutage gilt der Körper-Masse-Index (BMI/Body Mass Index) als international akzeptiertes Mess-System zur Begriffsbestimmung von Über-, Unter- und Normalgewicht (vgl. Gerlinghoff & Backmund, 2003, S. 18). Er berücksichtigt eine größere Spannbreite individueller Faktoren bei der Ermittlung des Körpergewichts, als es bei der Broca-Formel der Fall ist (vgl. Geiger, 2007, S. 124). Abbildung 2 veranschaulicht die Formel zur Berechnung des BMIs und verdeutlicht den Zusammenhang, der zwischen den verschiedenen Gewichtskategorien (starkes Untergewicht, Untergewicht, Normalgewicht, etc.) und bestimmten BMI-Werten vorliegt (vgl. Zweek, 2008, S. 15). Untergewicht kann dabei einerseits die Folge einer Krankheit, wie u.a. einem Tumorleiden, einer Schilddrüsenüberfunktion, Wurmbefall etc. darstellen, kann andererseits aber auch aufgrund einer psychosomatischen Störung, wie beispielsweise der Magersucht zum Vorschein treten (vgl. Geiger, 2007, S. 126). Obwohl sich in den letzen Jahren in Deutschland die Verwendung des BMIs durchgesetzt hat (vgl. Gerlinghoff & Backmund, 2003, S. 18), berücksichtigt der BMI weder das Alter, noch die Konstitution des Menschen (vgl. Zweek, 2008, S. 14). Da sich die Formel ausschließlich auf das Gewicht Erwachsener ab dem 18. Lebensjahr bezieht, existieren für Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 25 Jahren gesondert BMI-Perzentilenkurven (vgl. Gerlinghoff & Backmund, 2003, S. 19). Die Aussagen dieser Kurven orientieren sich an den Durchschnittswerten für Menschen eines jeweiligen Alters in einem bestimmten Land (vgl. Zweek, 2008, S. 16).
„Essgestörtes Verhalten ist, für sich genommen, keine Krankheit“ (Gerlinghoff & Backmund, 2003, S. 14). Nicht jeder Mensch, der seine Nahrung kontrolliert, sein Gewicht reduziert, intensiv Sport treibt oder gelegentliche Heißhungerattacken verspürt, leidet automatisch an einer Essstörung (vgl. ebd., S. 14). Viele, die ein derart gestörtes Essverhalten aufweisen, leben damit, ohne ihrem Körper ernsthaft zu schaden (vgl. ebd., S. 12). Dennoch bedeutet ein solches Verhalten für einige andere Menschen den Beginn einer schwerwiegenden Essstörung (vgl. ebd., S. 14). Häufig sind die Übergänge von einem gestörten Essverhalten bis hin zu einer manifesten Essstörung fließend, sodass sich das Krankheitsbild nur ganz allmählich herauskristallisiert (vgl. ebd., S. 12). Dies ist u.a. ein Grund dafür, weshalb die Grenze zwischen einer ganz normalen Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und einer Essstörung im engeren Sinn nicht eindeutig definiert werden kann (vgl. Zweek, 2008, S. 13).
Abschließend kann man daher festhalten, dass Symptome gestörten Essverhaltens, im Vergleich zu ausgeprägten Syndromen gestörten Essverhaltens relativ häufig sind[11] (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 10) und „[…] in einer bestimmten Altersgruppe schon fast normativen Charakter haben […]“ (ebd., S. 10).
Eine Essstörung ist eine sehr komplexe, ernst zu nehmende Krankheit, durch welche die Lebensqualität der Betroffenen oftmals eingeschränkt ist. U.a. kommt es zu einer Reduktion der persönlichen Leistungsfähigkeit oder zu einer Isolation von der Gesellschaft, sodass der Lebensmut verloren gehen kann. Häufig geraten die Leidtragenden in einen Teufelskreis, wodurch die Krankheit chronisch wird (vgl. Zweek, 2008, S. 14). Reich (2003, S. 13) versteht unter einer Essstörung den missbräuchlichen Umgang mit dem Essen und dem damit verbundenen inneren Erleben.
„Im medizinischen Sinn sind Ess-Störungen seelische Krankheiten“ (Gerlinghoff & Backmund, 2003, S. 14), welche meist in drei wesentliche Formen unterteilt werden, nämlich die Magersucht (Anorexia nervosa[12] ), die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa oder Bulimie) und die Ess-Sucht (Binge-Eating-Störung) (vgl. ebd., S. 14). Essstörungen werden im ICD-10[13], der internationalen Klassifikation psychischer Störungen, im Kapitel F5 aufgeführt und als „Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren“ bezeichnet. Neben den wichtigsten Syndromen der Anorexia nervosa (F50.0) und der Bulimia nervosa (F50.2) existieren weniger spezifische Störungen, wie die „atypische“ Anorexia und Bulimia nervosa sowie vier weitere Kategorien: „Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen“, „Erbrechen bei sonstigen psychischen Störungen“, „sonstige Essstörungen“ und „nicht näher bezeichnete Essstörungen“. Abgesehen von dem ICD-10 gibt es das DSM-IV, ein amerikanisches Klassifikationssystem, welches die Störungsbilder in einem eigenen Kapitel in diagnostische Kategorien unterteilt und darstellt. Im Gegensatz zu dem ICD-10, werden die Essstörungen im DSM-IV lediglich in drei verschiedene Kategorien gegliedert, nämlich die Anorexia nervosa (307.1), die Bulimia nervosa (307.51) und die „Nicht näher bezeichnete Essstörung“ (307.50) (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 1).
In der Abbildung 3 werden die Kategorien der Essstörungen des ICD-10 denen des DSM-IV gegenübergestellt:
Abbildung 3: Klassifikation von Essstörungen im ICD-10 und DSM-IV
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im internationalen Vergleich fällt Deutschland in erster Linie durch einen hohen Anteil Übergewichtiger auf (vgl. Gerlinghoff & Backmund, 2003, S. 10), weil mehr als die Hälfte der Bevölkerung zu dick ist und ca. 30 % unter Adipositas leiden (vgl. Zweek, 2008, S. 14).[14] Da jedoch ein erhöhtes Körpergewicht allein nicht als Kriterium gilt, anhand dessen man eine psychische Störung diagnostizieren kann, wird Übergewicht weder im ICD-10, noch im DSM-IV in einer eigenen Kategorie aufgeführt (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 2). Bulimie, an welcher etwa 2-5% der Mädchen und jungen Frauen im Alter von 12 bis 25 Jahren leiden (vgl. Gerlinghoff & Backmund, 2003, S. 14), kann in einer engen Verbindung zur Anorexia nervosa betrachtet werden, da die Grenzen von Magersucht und Ess-Brech-Sucht oftmals fließend sind (vgl. Hoffmann, 2009, S. 2). Trotz gewisser Zusammenhänge wird in dieser Forschungsarbeit weder das Thema „Übergewicht“ noch das Krankheitsbild der Bulimie ausführlicher erläutert. Stattdessen beziehen sich im Rahmen dieser Arbeit die Interessen in erster Linie auf das verhältnismäßig selten auftretende Störungsbild der Magersucht (Anorexia nervosa) (vgl. Gerlinghoff & Backmund, 2003, S. 14), da eine detaillierte Befassung mit dieser Thematik relevant für die Bearbeitung und Beantwortung meiner Forschungsfragen ist. In der Abbildung 3 wurde der linke Teil der Spalte, welcher sich auf die Anorexia nervosa bezieht, bereits farbig hervorgehoben. Diese Betonung soll verdeutlichen, dass sich die folgenden Textabschnitte auf das Krankheitsbild der Magersucht gemäß der Klassifikation des ICD-10 beziehen.
Immer mehr Menschen, vor allem junge Frauen (s. Kapitel 2.2), ignorieren heutzutage eines der banalsten Grundbedürfnisse der Menschheit, nämlich das der Nahrungsaufnahme. Sie verweigern das Essen (mehr oder weniger) und Hungern zum Teil so lange, bis sie ihr Gewicht auf ein Minimum reduziert haben oder aufgrund der Unterernährung bzw. dessen Folgen sterben (vgl. Zweek, 2008, S. 10).
„Die Bezeichnung „Anorexia“ bedeutet so viel wie Appetitlosigkeit. Der Zusatz „nervosa“ weist auf psychische Ursachen des Phänomens hin“ (Sorge & Schwarze, 2006, S. 25). Wörtlich betrachtet, bedeutet Anorexia nervosa somit „Appetitmangel nervöser Art“. Beschäftigt man sich ausführlicher mit dem Erscheinungsbild der Anorexia nervosa, so stellt man sehr schnell fest, dass diese Übersetzung irreführend ist (vgl. Swyter, 2007, S. 14). Anstatt unter einem Mangel an Hunger oder einem fehlenden Verlangen nach Nahrung zu leiden, wie der Begriff der Appetitlosigkeit vorgaukelt, verzichten Anorektikerinnen trotz vorhandenem Appetit bewusst auf das Essen (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 25). Oftmals ist das Interesse an Nahrungsmitteln gesteigert und die Auseinandersetzung mit Speisen, die sich u.a. in der Leidenschaft für das Bekochen anderer zeigt, kann sogar zwanghafte Züge annehmen (vgl. ebd., S. 25). „Magersüchtige sind süchtig nach Hunger“ (Hoffmann, 2009, S. 3). Die Beschäftigung mit dem Körpergewicht und dem Hungern steht oftmals im Mittelpunkt des Lebens der Erkrankten. Dabei wird der eigene körperliche Zustand weder als zu dünn, noch als krankhaft erlebt, sondern als „normal“ wahrgenommen (vgl. Swyter, 2007, S. 14). „Vielmehr wollen sie immer mehr abnehmen, da sie panische Angst vor dem Zunehmen und dem Körperfett haben“ (ebd., S. 14). Viele Magersüchtige „[…] durchleben ausgeprägte und lange Fastenepisoden, sie brauchen extrem lange für geringe Nahrungsmengen, zerpflücken die Speisen und verzichten auf andere ganz (Herpertz-Dahlmann, 1996, S. 44). Die meisten Erkrankten verspüren einen extremen Bewegungsdrang und sind in vielen Lebensbereichen auffallend leistungsorientiert (vgl. ebd., S. 44). „ Bei 50% der anorektischen Patientinnen kommt es zu exzessiver sportlicher Aktivität, die ganz gezielt als Mittel zur Erhöhung des Kalorienverbrauchs eingesetzt wird“ (Pirke & Platte, 1996, S. 95). Die intensive körperliche Bewegung kann sogar so stark in den Vordergrund treten, dass die reduzierte Nahrungsaufnahme übersehen wird (vgl. ebd., S. 95).[15] Demzufolge lenken die typischen Charaktereigenschaften, wie u.a. enorme Leistungsbereitschaft, übertriebener Ehrgeiz und extreme Zielstrebigkeit (die beispielsweise im Rahmen von Sport ausgelebt werden können) (vgl. Swyter, 2007, S. 30), oftmals von der Tatsache ab, dass Anorexia nervosa eine der häufigsten Todesursachen junger Frauen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren in Bezug auf psychische Störungen ist. Schätzungsweise sterben 4-18% der Magersüchtigen an den Folgen der Krankheit und bei etwa bis zu 50% chronifiziert sich das anorektische Verhalten (vgl. Hoffmann, 2009, S. 4).
„Die ausgeprägte Kontrolle, der Lebensfunktionen, wie sie bei Anorexie zu beobachten ist, den Versuch, den Körper mittels der Entscheidung zum Nicht-Essen zu überwinden, findet einen selbstzerstörerischen Ausdruck. Der Kernbegriff ist die Kontrolle: Das bedeutet, beim Versuch absolute Kontrolle über sich selbst zu erlangen, wird gleichzeitig die Kontrolle verloren (Geislinger, 2001, S. 131).
Verschiedene, weltweite Studien führten allgemein zu der Erkenntnis, dass Anorexia nervosa in erster Linie junge, unverheiratete Frauen der westlichen Industrieländer betrifft (vgl. Andrey, 2009, S. 9). Dennoch wiesen in den letzten Jahren einzelne, epidemiologische Untersuchungen hinsichtlich der Prävalenzrate sowie der alters- und geschlechtsspezifischen Verbreitung unterschiedliche Ergebnisse vor (vgl. Sorge & Schwarz, 2006, S. 45). „Maßgeblich hierfür sind vor allem Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit der Auswahl einer repräsentativen Stichprobe, den diagnostischen Instrumenten oder der Psychodynamik der Personen mit merkwürdigem Essverhalten stehen“ (ebd., S. 46).
Aufgrund dieser Tatsache, muss man die epidemiologischen Forschungsergebnisse, welche in Folge etwas genauer erläutert werden, stets kritisch betrachten (vgl. ebd., S. 46).
„Das Verhältnis der Erkrankung von Frauen und Männern ist unterschiedlich (Swyter, 2007, S. 27). Nach Aussagen von Jacobi, Paul und Thiel (2004, S. 10) beträgt die Ungleichverteilung von Frauen zu Männern 11 zu 1. Andere Autoren, wie Barb-Priebe, Schulz und Stahr schätzten im Jahr 2007 die Zahl der Erkrankten auf 12 zu 1 (vgl. Andrey, 2009, S. 10), wohingegen Brunner und Resch drei Jahre zuvor bekannt gaben, dass Frauen und Mädchen 8- bis 12-mal häufiger betroffen seien (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 48). Zwar variieren die Angaben zur Geschlechterverteilung und in der Literatur wird erwähnt, dass die Zahl der erkrankten Männer zunehme und unterschätzt werden würde (vgl. ebd., S. 48), doch verdeutlichen die Untersuchungsergebnisse, dass der Anteil der weiblichen Erkrankten sehr viel höher ist als der der männlichen (vgl. Swyter, 2007, S. 27). Aus diesem Grund kann die Magersucht als Frauenproblem betrachtet werden (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 48).
„Genaue Zahlen über Magersuchterkrankungen sind nicht verfügbar“ (Andrey, 2009, S. 10). Einige Autoren, wie Barb-Priebe, Schulz und Stahr sprachen (im Jahr 2007) von 0,2-4% Magersüchtigen pro 100.000 Einwohner, wobei andere Quellen, wie die DHS[16] (2004), von einer geringeren Auftretenshäufigkeit ausgingen und eine Spanne zwischen 0,5-1% betrachten (vgl. ebd., S. 10). Interessant ist die Tatsache, dass die DHS sieben Jahre zuvor (1997) eine deutlich abweichende Aussage in Bezug auf die Prävalenzrate bekannt gab und auf eine Spanne von 0,2 und 2% hinwies (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 46).
Angesichts dieser Aussagen wird deutlich, dass die Prävalenzzahl für Magersucht von Quelle zu Quelle unterschiedlich ausfällt (vgl. Andrey, 2009, S. 10). Meistens kann man einzelne Angaben nicht direkt Vergleichen, da sie sich auf verschiedene Altersspannen beziehen. Darüber hinaus geben die Prozentzahlen keine genaue Auskunft über die Zu- bzw. Abnahme der Auftretenshäufigkeit (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 47). „Entsprechend einer Analyse von internationalen epidemiologischen Untersuchungen der vergangenen 25 Jahre bestätigte sich die Zunahme der Auftretenshäufigkeit nicht bzw. ist nicht als signifikant einzuschätzen“ (ebd., S. 47). Desweiteren ist davon auszugehen, dass es sich bei einer Zunahme der Prävalenzrate nicht um einen echten Anstieg handelt, sondern lediglich um einen, der auf eine erhöhte Sensibilität gegenüber des Phänomens Magersucht zurückzuführen ist (vgl. ebd., S. 47).
Genau wie die Forschungsergebnisse bezüglich der Prävalenzrate fallen auch die Aussagen hinsichtlich des Erkrankungsalters unterschiedlich aus (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 47). „Nach Angaben der der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung liegt in der Bundesrepublik Deutschland die Häufigkeit vor allem bei Mädchen und jungen Frauen zwischen 15 und 35 Jahren“ (ebd., S. 47).
Reich (2003), Monck (1990) und Hangold (1987) betrachten die Pubertät als Zeitspanne, während der viele Mädchen anfangen zu hungern. Demzufolge geben sie das Alter zwischen 13 und 18 Jahren als allgemeinen Eintrittszeitpunkt der Krankheit an (vgl. ebd., S. 47), welche dann als „primäre Anorexie“ bezeichnet wird. Erklärt wird dieser Erkrankungsgipfel mittels der Annahme, dass der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter zahlreiche Veränderungen mit sich bringt. Zum einen kann die Suche nach der eigenen Identität bzw. der Persönlichkeit massive Probleme erzeugen (vgl. Andrey, 2009, S. 10) und andererseits können die Veränderungen des Körperbaus und des Gewichtes die Entstehung der Essstörung beeinflussen (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 11). Dennoch besteht die Möglichkeit, dass sich die Magersucht bereits vor der Pubertät (vgl. Andrey, 2009, S. 10) z. B. im Vorschulalter entwickelt oder dass sie erst (sehr viel Zeit) später eintritt (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 47). Im Falle einer postpubertären Erkrankung spricht man auch von „sekundärer Anorexie“ (vgl. Andrey, 2009, S. 10).
Allgemein lässt sich sagen, dass Menschen in erster Linie dann beginnen zu hungern, wenn es zu einschneidenden Veränderungen im Leben kommt, wie u.a. in Phasen, die durch Trennung, Trauer oder individuelle, lebensgeschichtliche bzw. soziale Konflikte gekennzeichnet sind (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 47).
In veralteter Literatur trifft man häufig auf Aussagen, die den Anschein erwecken, dass Anorexia nervosa ausschließlich ein Problem ist, welches in den höheren Gesellschaftsschichten auftritt.
Aktuelle Forschungsergebnisse (u.a. von: Gard & Freeman; Hoeck; Rogers, Resnick, Mitchell & Blum; Vandereycken, Van Deth & Meermann) widerlegen jedoch diese Behauptung (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 49). Heutzutage wird die stereotype Verbindung von Magersucht mit einem höheren sozioökonomischen Status in Frage gestellt (vgl. Swyter, 2007, S. 28). Herpertz belegte die Annahme, indem er nachweisen konnte, dass man bei anorektischen Patientinnen keine Schichtspezifität vorfinden könne (vgl. ebd. S. 28-29). Demzufolge stammen erkrankte Mädchen und junge Frauen einerseits aus wohlsituierten Familien und andererseits aus prekären gesellschaftlichen Umständen (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 49).
„Mitbedingt wird diese Entwicklung durch die Tatsache, dass in unserer Gesellschaft die unteren Schichten keinen Hunger mehr leiden müssen und ausreichend Nahrung zur Verfügung steht, Hungern demgemäß nicht mehr als wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern ausschließlich als problematisches Symptom wahrgenommen und bewertet wird (ebd., S. 49).
Darüber hinaus führen Sorge und Schwarze in Anlehnung an Gast (1989) und Guldenschuh (2001) die Erkenntnisse auf gesellschaftliche Umstrukturierungen zurück, durch die sich seit dem zweiten Weltkrieg eine breite Mittelschicht etablieren konnte (vgl. ebd., S. 49-50). Abschließend lässt sich festhalten, dass die Anorexia nervosa primär in Wohlfahrtstaaten vorzufinden ist, welche Merkmale der westlichen (post-)industriellen Gesellschaft[17] aufweisen (vgl. Swyter, 2007, S. 29).
Dennoch belegen Studien[18], dass die Verwestlichung ärmerer Staaten auch dort zu einer Verbreitung der Magersucht führt (vgl. ebd., S. 30 ). „Damit wird die Erkrankung wohl in Zukunft nicht mehr nur noch in der Wohlstandsgesellschaft zu finden sein“ (ebd., S. 30).
„Sportler und Fotomodelle erkranken an Magersucht häufiger als die Normalbevölkerung. D.h. die Prävalenz ist hierbei höher als die Prävalenz der Normalbevölkerung“ (Andrey, 2009, S. 10). Desweiteren werden in der Literatur all diejenigen Berufe als Risikogruppen betrachtet, in denen das Aussehen eine wesentliche Rolle spielt. Dazu zählen u.a. Stewardessen und Schauspielerinnen (vgl. Swyter, 2007, S. 30).[19]
Medizinisch betrachtet, lässt sich Magersucht anhand von Kriterien diagnostizieren, welche in dem ICD-10 aufgelistet werden.
In Folge der stichpunktartigen Aufführung der Diagnosekriterien des ICD-10, die in der Abbildung 4 vorzufinden sind, werden die Merkmale in den folgenden Abschnitten ausführlicher erläutert.
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Abbildung 4: Diagnosekriterien des ICD-10 für Anorexia nervosa mit Erweiterung der atypischen Anorexia nervosa
(vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 4; vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 37)
Zielstrebigkeit, Perfektionismus, Selbstkontrolle (z.B. über den eigenen Körper), Zwanghaftigkeit, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Beharrlichkeit, Introvertiertheit und ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis werden oftmals in der Literatur als typische Charaktereigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale anorektischer Patientinnen aufgelistet (vgl. Swyter, 2007, S. 41-42). Darüber hinaus ist es auffällig , „[…] dass Essgestörte ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstwertgefühle auf einer absoluten Kontrolle über ihren Körper inklusive Bewegungen und Ernährungsverhalten aufbauen“ (ebd., S. 43). Oftmals streben Magersüchtige in den verschiedensten Lebensbereichen nach Perfektion und guten Leistungen und fühlen sich dadurch ihren Mitmenschen gegenüber überlegen. Während des Hungerns empfinden sie Unabhängigkeits- und Freiheitsgefühle, die sie ohne die Nahrungsrestriktion niemals erreichen könnten (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 43-44). Das Hungern vermittelt ihnen ein Gefühl der Selbstbestimmung und Stärke (vgl. Swyter, 2007, S. 43). „Die Kontrolle zu verlieren gilt als Schwäche“ (ebd., S. 43).
Viele Betroffene leiden unter einem gestörten Selbstwertgefühl und einem mangelnden Identitätssinn (vgl. ebd., S. 43), weshalb sie meist stark auf die Bestätigung und Anerkennung ihres Umfeldes angewiesen sind (vgl. Hoffmann, 2009, S. 10). Die Einflüsse der natürlichen Umwelt, wie u.a. Familie, Peers, das Netzwerk, die soziale Schicht, die Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und deren Institutionen, gehören zu den äußeren Faktoren, welche die Persönlichkeitsentwicklung einer Magersüchtigen beeinflussen könnten (vgl. Textor, 1991). Da Anorektikerinnen oftmals nicht angemessen mit Stresssituationen umgehen können, versuchen sie Konflikte zu vermeiden, anstatt sich diesen zu stellen (vgl. Hoffmann, 2009, S. 10).
Darüber hinaus leiden viele Magersüchtige unter einer gestörten Körperwahrnehmung (vgl. Swyter, 2007, S. 43). Die Betroffenen erleben ihren Körper, egal wie abgemagert er ist, als zu dick. Eine Anorektikerin ist nicht in der Lage sich selbst realistisch wahrzunehmen und kann bzw. will daher meist die lebensgefährliche Situation nicht verändern (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 39). Desweiteren ist die Identifikation von verschiedensten Körperreizen gestört, weshalb viele Magersüchtige, ähnlich wie Fakire, Empfindungen wie Schmerz, Kälte oder Erschöpfung nicht wahrnehmen (vgl. ebd., S. 39-40). Stattdessen verspüren sie panische Angst vor einer Gewichtszunahme und versuchen ihr Gewicht immer weiter zu reduzieren. Anstatt Rücksicht auf den eigenen Körper und die Gesundheit zu nehmen, fügen sie sich selbst bewusst Strapazen zu (vgl. ebd., S. 39). Es entsteht eine Art Teufelskreis, durch den die Anorexia nervosa aufrecht gehalten wird (s. Abbildung 5).
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Abbildung 5: Entstehung und Aufrechthaltung der Magersucht
Da sich das Körperbild aus vier verschiedenen Ebenen zusammensetzt, welche in wechselseitiger Interaktion zueinander stehen, kann eine verzerrte Wahrnehmung in den verschiedenen Ebenen zum Vorschein kommen (vgl. Legenbauer, 2007, S. 311).
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Abbildung 6: Äußerung der Körperbildstörung auf den vier verschiedenen Ebenen –
affektiv, perzeptiv, kognitiv und behavioral
(In Anlehnung an Legenbauer, 2007, S. 311)
Da Magersüchtige Angst vor einer Gewichtszunahme haben, streben sie permanent nach einer Gewichtsreduktion. Aus diesem Grund minimieren sie oftmals die Kalorienaufnahme so lange, bis viele schließlich ganz auf Nahrung verzichten. Desweiteren versuchen einige Erkrankte den Gewichtsverlust zu beschleunigen, indem sie erbrechen und/oder Abführmittel einnehmen (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 40-41). „Begleitend […] führen viele der Heranwachsenden ein exzessives Körpertraining durch. Sportliche Aktivitäten - wie Joggen, Radfahren, Schwimmen, Aerobic oder Gymnastik - können mehrere Stunden im Tagesablauf einnehmen“ (ebd., S. 41). In dem Leben einer Magersüchtigen richtet sich das gesamte Handeln, Denken und Fühlen nach dem Körpergewicht. Aus diesem Grund wiegen sich viele Betroffene mehrmals am Tag, um ihr Gewicht ständig zu kontrollieren. Darüber hinaus interessieren und befassen sich zahlreiche Magersüchtige sehr intensiv mit dem Thema Nahrung bzw. deren Zubereitung. Obwohl sie selber gewissermaßen auf das Essen verzichten, sprechen sie gerne darüber, sammeln Kochrezepte und bekochen andere.
Ihr Verhalten verdeutlicht, dass sie sich selbst wie einen Feind behandeln, dem sie weder Freude und Genuss, noch Ruhe gewähren. Die Anorektikerinnen setzen ihre komplette Energie und Kraft gegen sich und somit für die Magersucht ein (vgl. ebd., S. 42-43).
Die extreme Gewichtsreduktion bzw. die Unterernährung kann zahlreiche körperliche Komplikationen mit sich bringen. U.a. können Zahnschäden, ein abgesenkter Blutdruck, Nieren- sowie Leberfunktionsstörungen, Gehirnschwund, eine erniedrigte Stuhlgangfrequenz, trockene Haut, Haarverlust, Stoffwechselveränderungen und Lanugo-Haar als Folgen der Magersucht genannt werden. Darüber hinaus können sich bei den Betroffenen Herz-Kreislaufbe-schwerden, wie die Bradykardie entwickeln, da der Pulsschlag einer Anorektikerin meist weniger als 60 Schläge pro Minute beträgt (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 41-42).
„Eine der in der ICD-10 und dem DSM-IV angeführten somatischen Veränderungen ist die endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse mit der Folge einer Amenorrhoe“ (ebd., S. 42). Bei etwa der Hälfte der Magersüchtigen bleibt die Menstruation bereits vor oder zu Beginn der Gewichtsabnahme aus. Da die Amenorrhoe empirischen Angaben zu Folge sehr früh auftritt, könnte es sich um ein psychosomatisches Problem handeln, welches die Verbindung zwischen dem Körper und der Psyche verdeutlicht (vgl. ebd., S. 42).
Trotz der körperlichen, seelischen und zwischenmenschlichen Veränderungen, die während oder in Folge der Krankheit eintreten (können), scheinen die Magersüchtigen nicht in der Lage zu sein, sich einzugestehen an einer ernsthaften Krankheit zu leiden. Der abgemagerte Körper wird von ihnen selbst ganz anders wahrgenommen als von der Umwelt, sodass es häufig bei einem Therapie- bzw. Behandlungsbeginn zu extremen Machtkämpfen kommt (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 44). „In der Literatur werden die hungernden Frauen häufig als bockig, halsstarrig, verlogen und uneinsichtig begriffen, denn sie wollen nicht einsehen, dass sie „krank“ sind“ (ebd., S. 44). „Das nicht vorhandene „Krankheitsverständnis“ wird aus psychiatrischer Perspektive sogar als „wahnhaft“ bezeichnet“ (ebd., S. 44).
In der Literatur wird dem Kapitel „Ätiologie der Anorexia nervosa“ eine große Gewichtung zugeschrieben. Vergleicht man die verschiedenen Aufzeichnungen, so wird offensichtlich, dass die Frage nach den Ursachen bisher noch nicht eindeutig beantwortet werden konnte und dass es für die Erkrankung vermutlich keine monokausale Erklärung gibt (vgl. Hoffmann, 2009, S. 8). Um die Ursachenforschung voranzutreiben, beschäftigen sich heutzutage nicht mehr nur Mediziner und Psychiater mit dem Thema. Kulturhistoriker, Soziologen, Oecotrophologen[20] und Sportwissenschaftler befassen sich ebenfalls mit (den Ursachen) der Krankheit, wobei sie unterschiedliche Perspektiven einnehmen und somit fachspezifische Schwerpunkte setzen. Aufgrund dieser individuellen Sichtweisen und Analysen entwickeln die Expertengruppen jeweils eigene Theorien, welche die Ursachen der Anorexia nervosa erklären sollen. Trotz einiger Meinungsunterschiede bezüglich der Gewichtung der Ursachen, sind die Wissenschaftler davon überzeugt, dass der Magersucht eine multifaktorielle Pathogenese zugrunde liegt (vgl. Swyter, 2007, S. 32). „Die Mehrzahl der Autoren geht von der Annahme aus, dass vor allem biologisch-genetische, familiäre und gesellschaftliche Einflüsse zusammenwirken“ (Sorge & Schwarze, 2006, S. 50).
Bevor eine ausführlichere Darstellung der verschiedenen, prädisponierenden Faktoren erfolgt, muss darauf hingewiesen werden, dass man die Ursache(n) einer Magersucht nicht mit den Auslösern verwechseln darf. Auslöser sind Schwellensituationen bzw. bestimmte Lebensabschnitte, durch die es zu Veränderungen im Leben der betroffenen Person kommt (vgl. Swyter, 2007, S. 33).
In Folge werden einige soziokulturelle Aspekte angesprochen, welche in einem engen Zusammenhang zu dem Kapitel 12 (Teil II) stehen und betrachtet werden können.
Viele Experten sind davon überzeugt, dass das gegenwärtige, weibliche Schönheitsideal zu den wesentlichen, prädisponierenden Faktoren gezählt werden kann und die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer Essstörung vergrößert (vgl. Swyter, 2007, S. 33). Die Medialisierung der Gesellschaft trägt dazu bei, dass ein immer schlanker werdendes Körperideal verbreitet wird.
Um diese Tatsache zu belegen, führten Murray et al. 1996 eine Studie durch. Mittels Befragungen konnte festgestellt werden, dass sich 72% der Magersüchtigen durch Printmedien und 76% durch Fernsehen in Bezug auf ihr Essverhalten beeinflusst fühlten. Desweiteren gaben über 80% von ihnen zu, so aussehen zu wollen wie die dort abgebildeten Models und Schauspielerinnen. Anhand der Ergebnisse konnten Murray et al. daher nachweisen, dass die Beeinflussung von Medien, wie Fernsehen und Zeitschriften, eine bedeutende Rolle bei der Ursachenforschung der Anorexia nervosa darstellt (vgl. ebd., S. 33-34).
Veränderung der Rolle der Frau
Auch die Rolle der Frau hat sich im Zuge der Medialisierung verändert, da sie im Fernsehen und in Zeitschriften stereotypisiert wird. Die Frau wird als selbstständig, selbstbewusst und charakterstark dargestellt, wodurch sie in der Lage zu sein „scheint“, eigenständig Karriere zu machen auch unabhängig (vom Mann) ihr Leben zu gestalten. Darüber hinaus soll sie zeitgleich das traditionelle Rollenverständnis aufrechthalten, also als Ernährerin der Familie fungieren, Weiblichkeit ausstrahlen und ein Sexsymbol verkörpern (vgl. Swyter, 2007, S. 40). „Junge Frauen, die eine Disposition zu Essstörungen besitzen, sind diesen widersprüchlichen weiblichen Rollendefinitionen nicht gewachsen“ (ebd., S. 40).
Individualisierung der Gesellschaft: Die Suche nach Einzigartigkeit
Wie bereits im Rahmen der zunehmenden Selbstständigkeit der modernen Frau angedeutet wurde, kann man auch die Individualisierung der Gesellschaft als ein wesentliches Ergebnis soziokultureller Veränderung nennen.
Heutzutage werden die Menschen nicht mehr wie früher in bestimmte Klassen oder Berufe hineingeboren, sondern müssen ihren Lebensverlauf und ihre Biographie selbstständig gestalten (vgl. Swyter, 2007, S. 36-37). Aus diesem Grund muss das Individuum zahlreiche (u.a. wichtige) Entscheidungen treffen, welche das gegenwärtige Wohlbefinden und die zukünftige, individuelle Lebenssituation beeinflussen. Diese unausweichliche Verantwortungsübernahme kann einige Menschen überfordern. Vor allem Essgestörte haben häufig Angst davor, sich den gestiegenen Verpflichtungen der Gesellschaft zu stellen (vgl. ebd., S. 38).
„Wer diese Anforderung nicht schafft, der läuft Gefahr auf der Strecke zu bleiben“ (ebd., S. 37). Aus diesem Grund müssen alle Individuen mittels eigener Leistung vorausschauend in einem solchen, modernen System handeln. Nach Aussage von Habermas kann u.a. Diäthalten, wie es typisch bei der Magersucht ist, als eine paradigmatische Übung dieser instrumentellen Fähigkeiten aufgefasst werden.
Darüber hinaus versuchen sich die Individuen zunehmend voneinander abzugrenzen, um von den Mitmenschen als etwas bzw. jemand Eigenständiges wahrgenommen zu werden (vgl. ebd., S. 37). „ Durch den Körper, aber auch durch Leistung können in der Gesellschaft Unterschiede aufgezeigt werden“ (ebd., S. 37) und das Individuum kann seine Individualität beweisen (vgl. ebd., S. 37). Das Aussehen bzw. das äußere Erscheinungsbild einer Person gilt daher (laut Literaturangaben) oftmals als Aushängeschild sowie Sprachrohr und wird als „gesellschaftliches Statussymbol“ bezeichnet (vgl. ebd., S. 37-38).
Der zivilisierte Körper
Aufgrund der zunehmenden Bevölkerungsdichte ist der Konkurrenzdruck der Menschen untereinander deutlich angestiegen. In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass diese Wettbewerbsorientierung als Ursache für die Zivilisierung aufgefasst werden kann (vgl. Swyter, 2007, S. 38). „Ähnlich wie bei der Individualisierung der Gesellschaft ist jeder auf sich angewiesen und muss sich durch unterschiedliche Arbeitsbereiche, in denen die Menschen wiederum voneinander abhängig sind, von anderen differenzieren“ (ebd., S. 38). Aus diesem Grund kann man Zivilisationsprozesse vor allem in arbeitsteiligen Gesellschaften beobachten. Inwiefern die Zivilisation nun als soziokultureller Faktor zur Entstehung der Magersucht zählt, soll anhand einer Zusammenfassung von fünf Punkten nach Elias deutlich gemacht werden.[21] Diese spiegeln wider, warum bzw. dass der zivilisierte Körper als eine Ausdrucksform des Zivilisationsprozesses gedeutet werden kann (vgl. ebd., S. 38-39).
Den Literaturangaben zu Folge lässt sich feststellen, dass die Zivilisation eine zunehmende Trieb- und Affektbeherrschung erfordert, wodurch der Körper einer immer extremeren Selbstkontrolle unterliegt. Anstatt spontan oder lustvoll zu handeln, verhält man sich vernunftgemäß und überlegt, wodurch es zu einer Rationalisierung des Körpers kommt. Dem Menschen werden von außen zunehmend Fremdzwänge auferlegt, welche u.a. durch Gesetze, Verbote oder Sanktionen zu Selbstzwängen werden. Erfüllt ein Individuum diese fremd- bzw. selbstgestellten Ansprüche nicht, so entwickelt sich das Gefühl des „schlechten Gewissens“ (vgl. ebd., S. 39). „Um dieses zu umgehen, zwingt sich die Person zu einem Verhalten, das ihr selbst bald als natürlich erscheint“ (ebd., S. 39).
Desweiteren hat sich im Zuge der Zivilisation anscheinend die Scham- und Peinlichkeitsgrenze verschoben. Früher nutzte man den Körper, um die Zugehörigkeit zu einem bestimmten gesellschaftlichen Stand für alle deutlich zu machen. Heutzutage, in einer Zeit, in der diese extremen Standesunterschiede nicht mehr existieren und eher ein Ausgleich zwischen den Gesellschaftsschichten vorliegt, kann der Körper nicht mehr als Staatssymbol eingesetzt werden. Stattdessen schämen sich die Menschen viel schneller für ihr Äußeres und machen sich mehr Gedanken über die Wirkung auf andere (vgl. ebd., S. 39-40).
Familiäre Faktoren: Interaktions- und Kommunikationsmuster
„Unter Wissenschaftlern wird von den „typischen“ Anorexia-Familien geredet, deren Interaktionsmuster prädisponierend für psychosomatische Störungen wirken“ (Swyter, 2007, S. 42). Dabei ist es wichtig zu berücksichtigen, dass dieses „typische“ Erscheinungsbild weder grundsätzlich auf den Einzelfall übertragbar ist, noch auf jede Familie mit einem magersüchtigen Mitglied zutrifft (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 51).
Bereits in den 70er Jahren wurde angenommen, dass der Familie bzw. deren spezifischen Interaktions- und Kommunikationsstilen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Anorexia nervosa zugeschrieben werden kann (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 24).
1981 wies Lago darauf hin, dass die familiären Verhältnisse, in denen sich Magersüchtige befinden, vier Kennzeichen aufweisen. Man charakterisierte die Beziehung der Familienmitglieder einerseits durch ein hohes Maß an gegenseitiger Fürsorglichkeit und andererseits durch einen Mangel an Bewältigungskompetenz von Konflikten. Desweiteren ging man davon aus, dass die engen Familienverhältnisse zu einer Verstricktheit führten, die eine Entwicklung des Individuums verhindert. Letztlich nahm Lago an, dass Starrheit ebenfalls ein Kennzeichen sei, welches Rollenveränderungen und Neudefinitionen innerhalb des familiären Beziehungsgefüges der Anorexia-Familien entgegengewirkt (vgl. Swyter, 2007, S. 42). Neben den beschriebenen Interaktionsmustern nach Lago, befinden sich zahlreiche Aussagen in der Literatur, welche versuchen, familiäre Krankheitsfaktoren sowie „typische“ Beziehungsstrukturen herauszustellen und zu belegen (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 51).
„Aktuellere Befunde aus Querschnittuntersuchungen finden durchaus Hinweise für gestörte familiäre Interaktionsmuster und Kommunikation (z.B. geringer elterlicher Kontakt, hohe Erwartungen der Eltern, geringe Kohäsion, geringer affektiver Ausdruck) und einen unsicheren Bindungsstil […]“ (Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 24).
Oftmals lässt sich in Anorexia-Familien eine Atmosphäre der Harmonie, Opferbereitschaft, Vermeidung von offenen Konflikten sowie das Streben nach Pflichterfüllung vorfinden (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 51). Auf diese Weise gelingt es Anorexia-Familie nach außen hin den Anschein zu vermitteln, perfekt zu sein. Gerlinghoff und Backmund stellten allerdings fest, dass in der Realität viele Ehen der Eltern kaputt sind (vgl. Swyter, 2007, S. 41). „Magersüchtige fungieren bei ihren Eltern oft als Vermittler - sollen und wollen helfen, das kaputte Verhältnis zu kitten. Konflikte werden in diesen Familien nicht ausgetragen, Emotionen haben keinen Platz - es wird nach einer anderen Form gesucht, sich auszudrücken“ (Swyter, 2007, S. 41-42). Die Magersüchtige übernimmt somit als Symptomträger eine wichtige Funktion, da durch sie die Aufrechterhaltung des Familiengefüges und die Konfliktableitung sichergestellt werden (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 51).
Trotzdem bleibt die Frage ungeklärt, ob man die beschriebenen Beziehungsmuster tatsächlich als Erkrankungsursache auffassen kann oder ob sie lediglich Begleiterscheinungen bzw. Folgen der Störung darstellen (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 24).
Vorbildfunktion der Eltern
Bei der Suche nach den Ursachen für das Auftreten der Magersucht wird u.a. auch die Vorbildfunktion der Eltern diskutiert. Das bedeutet, dass der Vater und die Mutter bestimmte Charaktereigenschaften (wie Perfektionismus oder Zielstrebigkeit) aufgrund des Erziehungsstils vorleben, wodurch das Verhalten des Kindes beeinflusst wird (vgl. Swyter, 2007, S. 41).
Darüber hinaus lernen die Kinder von ihren Eltern mit dem Essen, dem Körpergewicht und dem eigenen Aussehen adäquat umzugehen (vgl. Hoffmann, 2009, S. 16). „Ist der familiäre Umgang mit Essen, Gewicht, Diäten und Aussehen gestört, so kann die daraus resultierende Unzufriedenheit mit dem Körper eine Essstörung auslösen oder begünstigen“ (ebd., S. 16).
Niedriges Selbstwertgefühl, andere psychische Störungen, Perfektionismus
Mittels verschiedener Querschnittstudien konnte man einheitlich feststellen, dass bei anorektischen Mädchen und Frauen sowohl das Selbstwertgefühl erniedrigt wie auch das Selbstkonzept beeinträchtigt ist (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 25).
Desweiteren vermutet man, dass sich die Magersucht häufig infolge depressiver Störungen bzw. Persönlichkeitsstörungen entwickelt (vgl. ebd., S. 26). „Das Risiko einer Anorexia nervosa war deutlich durch eine vorrangehende Zwangsstörung, sowie kindliche Angststörung (Störung mit Überängstlichkeit in der Kindheit) erhöht“ (ebd., S. 26).
Viele Anorektikerinnen sind nicht in der Lage, Stresssituationen bzw. Veränderungen angemessen zu bewältigen. Die Magersucht vermittelt ihnen ein Gefühl von Sicherheit, da das Hungern die Angst vor einem Kontrollverlust reduziert (vgl. Hoffmann, 2009, S. 9).
Auch rigide, stereotype, perfektionistische Verhaltensweisen gehören aus klinischer Sicht zu den charakteristischen Merkmalen einer Magersüchtigen und können die Krankheit begünstigen (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 28).
Somit wird deutlich, dass verschiedenste persönlichkeitsbedingte Faktoren individuell zur Entstehung einer Anorexia nervosa beitragen können (vgl. Hoffmann, 2009, S. 10).
Genetische Faktoren
Bereits in den achtziger Jahren wurde festgestellt, dass Geschwister von Magersüchtigen ein erhöhtes Risiko aufwiesen, ebenfalls daran zu erkranken. Die psychische Erkrankung eines Familienmitgliedes kann somit als Risikofaktor für die Entwicklung der Anorexie betrachtet werden (vgl. Hoffmann, 2009, S. 16). Auch aktuellere Zwillingsstudien bestätigten die Tatsache, dass genetische Faktoren bei der Entwicklung einer Essstörung von Bedeutung sind. Der Anteil dieser genetischen Disposition wird bei Magersüchtigen auf etwa 70% geschätzt (vgl. Swyter, 2007, S. 44). „Wenn sie vorhanden ist, kann eine bewusste Nahrungsreduktion oder übermäßige körperliche Aktivität zu der Entstehung einer Essstörung beitragen und diese manifestieren“ (ebd., S. 44).
Biologische Faktoren[22]
Auch biologische Faktoren könnten zu einer Entstehung der Magersucht beitragen (vgl. Andrey, 2009, S. 11).
„Bergh und Södersten machen dafür Neurotransmitter verantwortlich“ (Bergh & Södersten, 1996). Sie nehmen an, dass der Magersucht keine psychischen, sondern neurochemische Ursachen zu Grunde liegen. Die beiden Wissenschaftler begründen ihre Auffassung mit der Tatsache, dass Hungern und körperlicher Stress eine erhöhte Ausschüttung des Corticotropin-Releasing-Faktors (CRF) im Hypothalamus bewirken, wodurch folglich auch der Cortisol-Spiegel ansteigt (vgl. ebd.). „Während CRF den Hunger unterdrückt, können die Glucocorticoide Euphorien und Abhängigkeit auslösen. Bei Magersüchtigen sind die CRF-Spiegel im Gehirn und die Cortisolwerte im Blut tatsächlich erhöht “ (ebd.).
Bereits seit Anfang der 1980er Jahre ist bekannt, dass Nahrungsverzicht und Gewichtsverlust zu einer Steigerung des Wohlbefindens und zu positiven Gefühlen führen. Wenn das Empfinden als angenehm wahrgenommen und an körperliche Aktivität gekoppelt wird, kann sich ein Teufelskreis manifestieren, bei dem die Betroffenen immer exzessiver hungern und Sport treiben. Genau wie Bergh und Södersten[23] versuchte auch Huebner[24] 1977 die Magersucht nicht mittels der üblichen psychologischen Theorien, sondern anhand von Untersuchungen biochemischer Parameter zu erklären. Bei der Ursachenerforschung der Krankheit entdeckte er, übereinstimmend mit den Ergebnissen von Bergh und Södersten, erhöhte Cortisolwerte. Die Cortisolausschüttung der Nebennierenrinde wird durch ACTH stimuliert. ACTH ist ein Hormon, welches aus demselben Vorläuferprotein[25] abgespalten wird, wie die Endorphine, weshalb die beiden genannten Hormone in einem Zusammenhang stehen (vgl. ebd.).
„Endorphine dämpfen nicht nur Schmerzen, sie senken auch die Körpertemperatur, den Puls, den Blutdruck und verlangsamen die Atmung - alles Symptome der Anorexie. Sie beeinflussen die Hormone LH, FSH, GH, Prolactin, TSH und ADH in gleicher Weise wie Morphin. Auch bei Magersüchtigen sind LH und FSH erniedrigt, Cortisol und GH erhöht“ (ebd.).
Frühgeburt und Schwangerschaftskomplikationen und kindliche Essstörungen
Im Rahmen zwei verschiedener Studien stellte man übereinstimmend fest, dass eine vorzeitige oder komplizierte Geburt die Wahrscheinlichkeit erhöht, später an Anorexia nervosa zu erkranken (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 34). Auch „Fütterungsstörungen und schwerwiegende gastrointestinale Probleme in der frühen Kindheit wurden retrospektiv im Rahmen einer Querschnittstudie bei anorektischen Patientinnen fast doppelt so häufig wie bei einer Kontrollgruppe gefunden“ (Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 28-29). In einer anderen Studie stellte man fest, dass Menschen, die im Kleinkindalter Verdauungsprobleme hatten oder durch ein sehr wählerisches Essverhalten gekennzeichnet waren, in der Adoleszenz häufiger anorektische Symptome aufwiesen. Aus diesem Grund können diese zwei Probleme als Prädikatoren für die Magersucht gedeutet werden. Desweiteren konnte belegt werden, dass Konflikte, Streitigkeiten und Auseinandersetzungen kindliche Prädikatoren für eine spätere Essstörung darstellen (vgl. ebd., S. 29).
Diätverhalten - Gezügeltes Essverhalten
Doch nicht nur das problematische Essverhalten in der frühen Kindheit gilt als prädisponierender Faktor. Auch in späteren Lebensphasen kann ein „unnormales“ Essverhalten der Auslöser für eine Magersucht sein.
In zahlreichen Quer- und Längsschnittstudien konnte einheitlich festgestellt werden, dass das Diätverhalten ein besonders relevanter Risikofaktor für die Entstehung einer Essstörung ist. Untersuchungen zu Folge weisen Personen, die häufig gezügelt essen, ein 8-18fach erhöhtes Risiko auf, zukünftig eine volle oder partielle Essstörung zu entwickeln (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 24). Unabhängig davon konnte in verschiedenen klinischen Berichten herausgestellt werden (vgl. ebd., S. 23), „[…] dass dem Erkrankungsbeginn bei 73 bis 91 % der bulimischen und anorektischen Patientinnen eine Phase einer absichtlich durchgeführten Diät bzw. eines Gewichtverlustes vorausging“ (ebd., S. 23).
Die Erkenntnisse zum Diät- und gezügelten Essverhalten weisen darauf hin, dass es sich hierbei um einen der am besten, gesicherten Faktor für die Entstehung einer Essstörung handelt (vgl. ebd., S. 23) (s. Kapitel 1.3).
Belastende Lebensereignisse
Sexueller Missbrauch, die Trennung der Eltern usw. zählen zu den belastenden Lebensereignissen, die gehäuft im Vorfeld einer Essstörung anzutreffen sind. Dennoch handelt es sich bei diesem Befund eher um eine unspezifische Tatsache, da bei vielen psychischen Störungen ein bestimmtes, belastendes Ereignis vorgewiesen werden kann (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 27).
Sport und körperliche Bewegung als Risikofaktor
Magersüchtige, welche die körperliche Aktivität in einem nicht-leistungsbezogenen Kontext ausführen, weisen vor Beginn der Essstörung ein gesteigertes Bewegungsverhalten auf (vgl. Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 28).
Nach Angabe von Kuhl (1990, S. 10) sind anorektische Patientinnen oft hyperaktiv. Die exzessive Bewegung, die u.a. beim Mittel- oder Langstreckenlauf ausgeführt wird, kann als eine Art „Eigentherapie“ aufgefasst werden. Durch das Laufen werden Spannungszustände abgebaut, welche in Verbindung mit der Hyperaktivität stehen. Neben der allgemein gesteigerten Bewegung, wird sehr häufig auch der Leistungssport als ein wesentlicher Risikofaktor für die Entwicklung der Anorexia nervosa genannt. „Leistungssportler, insbesondere Sportler bestimmter Disziplinen, die mit Gewichtsklassen oder sehr niedrigem Körpergewicht verknüpft sind, gelten traditionell als Risikogruppen“ (Jacobi, Paul & Thiel, 2004, S. 28).
In dem Kapitel 2.4 wurden ausführlich die verschiedenen Faktoren erläutert, die zur Entstehung einer Anorexia nervosa beitragen und deren Entwicklung begünstigen (können). Dabei wurde angedeutet, dass die Teilnahme am Leistungssport als Auslöser der Anorexia nervosa betrachtet werden kann. In der Literatur wird dieser Risikofaktor überwiegend als „Anorexia athletica“ bezeichnet. Um zu veranschaulichen, was sich hinter diesem - recht unbekannten - Begriff verbirgt, wird in Kapitel 3 ausführlich auf die „Anorexia athletica“ eingegangen. Desweiteren wird verdeutlicht, in welcher Beziehung die Anorexia athletica zu der klassischen Anorexia nervosa steht.
Nach der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Anorexia athletica sowie dem Zusammenhang zur „klassischen Magersucht“, wird im Rahmen kritischer Äußerungen bezüglich der Anorexia athletica der Begriff der Sportsucht fallen. Daran anknüpfend wird in den Kapiteln 4 und 5 das Zusammenwirken von Magersucht und (Leistungs-)Sport betrachtet.
Der Ausdruck „Anorexia athletica“ setzt sich aus zwei Wörtern zusammen. Der erste Begriff „Anorexia“ bedeutet so viel wie Appetitlosigkeit (s. Kapitel 2.1) Das zweite Wort „athletica“ verweist nach Auffassung von Smith (1980) und Pugliese (1983) auf die Tatsache, dass es sich bei diesem Krankheitsbild um eine „ausschließlich“ sportinduzierte Form der Essstörung handelt (vgl. Clasing, Damm, Marx & Platen, 1996, S. 15).
In der folgenden Abbildung 7 werden die Kennzeichen der „Anorexia athletica“ nach Pugliese et al. und Sundgot-Borgen vorgestellt.
Die rosagefärbte Spalte beinhaltet die verschiedenen Merkmale. Die blauhinterlegten Spalten verdeutlichen die teils differierenden Annahmen der Wissenschaftler bezüglich der Merkmale der Anorexia athletica. Dabei symbolisiert „ + “ ein absolutes und „ (+) “ ein relatives Kriterium. Das Zeichen „ – “ spiegelt wieder, dass es sich nicht um ein Kriterium handelt, anhand dessen man (nach Auffassung des jeweiligen Autors) die Anorexia athletica erkennen kann. Im Falle übereinstimmender Kriterienzuschreibung wurde die Zeile dunkler eingefärbt.
[...]
[1] „Die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit, Alter und Jugend, Schönheit und Häßlichkeit, Reinheit und Unreinheit scheint so alt wie die Menschheit zu sein. Seit es historische Überlieferungen gibt, wurde viel darüber philosophiert, theologisiert, experimentiert oder gedichtet und an Körpern manipuliert“ (Lorenz, 2000, S. 20).
[2] „Zu allen Zeiten und auf allen Kontinenten strebten die Menschen nach Schönheit, versuchten, etwas von diesem strahlenden, vergänglichen und unbeschreiblichen Glanz einzufangen. Vergeblich… Keine universelle Norm vermochte sie jemals einer Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen, geschweige denn, sie festzuhalten“ (Didou-Manent, Ky & Robert, 1998, S. 9).
[3] „Die Anthropologie ist diejenige Disziplin, in der man sich mit der Frage nach „dem“ Menschen und seinem „Wesen“ beschäftigt und Antworten auf diese Frage sucht, in der also nach dem gefragt wird, was Menschen gemeinsam ist, und was sie unterscheidet“ (Grupe, 2003, S. 23).
[4] Es wird offensichtlich, dass eine anthropologische Betrachtungsweise sich einerseits mit dem einzelnen Menschen befasst, gleichzeitig jedoch auch immer die historischen, sozialen und kulturellen Zusammenhänge in denen er steht, einbezieht (vgl. Grupe, 2003, S. 31). Betrachtet man andersherum „[…] den Menschen als soziales, kulturelles und historisches Wesen, so ist dabei immer auch die jeweils individuelle Ausprägung und Verarbeitung der Einwirkung sozialer, kultureller und historischer Einflüsse zu beachten“ (ebd., S. 31).
[5] Der Einfachheit halber verzichte ich im Rahmen der Masterarbeit bei Begriffen auf eine geschlechtsspezifische Trennung. Anstatt sowohl die feminine wie auch die maskuline Form einer Bezeichnung zu nennen, impliziert der männliche Ausdruck den weiblichen. Z.B. der Außenstehende (= der Außenstehende und die Außenstehende) oder der Leser (= der Leser und die Leserin).
[6] In den Interviews analysiere ich den Lebenslauf einer ehemals magersüchtigen, sportlich aktiven Frau und die Biographien zweier ehemals magersüchtiger Mittel- bzw. Langstreckenläuferinnen.
[7] Der Leser erhält anhand dieser Ergebnissicherung die Gelegenheit, einige meiner Gedanken und individuellen Erkenntnisse, welche ich im Rahmen des Schreibprozesses durchlief, nachzuvollziehen.
[8] Die Hypothese wird im Rahmen der Abschlussdiskussion umfassender und ausführlicher erläutert.
[9] Mich interessiert dabei, inwiefern die Individualisierungs- und Modernisierungsprozesse in der Gesellschaft, den Umgang mit dem Körper sowie die Auffassung von Schönheit beeinflussen.
[10] Desweiteren offenbart die Abbildung meine persönliche Auffassung der Krankheitsverläufe und Krankheitsbezeichnungen.
[11] Symptom: Anzeichen, Vorbote, Wahrung
Syndrom: Krankheitsbild, das sich aus dem Zusammentreffen verschiedener charakteristischer Symptome ergibt (Kraif & Steinhauer, 2007, S. 1111-1112)
[12] Neben der Bezeichnung Anorexia nervosa wird in der deutschsprachigen Literatur häufig der Begriff der Magersucht verwendet, um das Krankheitsbild zum Ausdruck zu bringen (vgl. Sorge & Schwarze, 2006, S. 25).
[13] Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision (vgl. Velde & Platen, 1996, S. 38).
[14] An dieser Stelle verweise ich auf den Internetartikel „Ernährungsstudie. Deutschland ist zu dick.“ von Wüstenhagen (2008).
[15] Bereits 1686, also vor über 300 Jahren, beschrieb der Arzt Richard Morton (1637-1698) das Krankheitsbild der Anorexia nervosa. Dennoch wurde dieses erstmals 200 Jahre später aufgrund der Untersuchungen des Engländers Gull (1868-1874) und des Franzosen Lasègue (1873) als (vgl. Bourcillier, 1992, S. 30) „[…] eigenständiges „Krankheitsbild“ mit einer manifest definierten Symptomatologie anerkannt“ (Sorge & Schwarze, 2006, S. 28). Beide Mediziner betrachteten die Krankheit als psychische Störung und nahmen dieselben Merkmale bzw. Symptome wahr. Beispielsweise stellten sie bei den abgemagerten und körperlich geschwächten Betroffenen einen extremen Bewegungsdrang sowie eine notorische Unruhe fest (vgl. Swyter, 2007, S. 10).
[16] Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.
[17] Nach Auffassung von Vandereycken, Van Deth und Meermann sowie Aussagen von Bös, setzten in der Mitte des 19. Jahrhunderts soziokulturelle Veränderungen ein, aufgrund dessen die Entwicklung der idealen Bürgerfamilie scheiterte. Gesellschaftliche Umbrüche, wie u.a. die Loslösung von traditionellen Werten, eine Zunahme des Individualismus und die Entstehung des Kapitalismus, wurden als Nährboden für die Magersucht interpretiert (vgl. Swyter, 2007, S. 11).
[18] „Becker et al. führten auf den Fidschi-Inseln eine Langzeitstudie durch“ (Swyter, 2007, S. 30). Vor 1995 wurden dort kaum Diäten eingesetzt und lediglich ein Mädchen galt als anorektisch. Nachdem 1995 auf den Inseln der Fernseher eingeführt wurde, veränderte sich die Lage schlagartig. Bereits drei Jahre später zeigten die
Mädchen, deren Familien einen Fernseher besaßen, drei Mal öfter magersuchttypische Symptome. Darüber hinaus hatten mittlerweile 69% der Befragten Diäterfahrungen gesammelt (vgl. ebd., S. 30).
[19] An dieser Stelle wird auf eine intensive Erörterung der verschiedenen Risikogruppen verzichtet. In den Kapiteln 3, 4, 5 und 6 gehe ich jedoch ausführlich und explizit auf die Gruppe der Leistungssportlerinnen (Läuferinnen) ein, da die Erfassung dieser Population für die Bearbeitung meiner Fragestellung(en) äußerst relevant ist.
[20] Ein Oecotrophologe ist ein Wissenschaftler aus dem Gebiet der Ernährungswissenschaft (vgl. Kraif & Steinhauer, 2007, S. 725)
[21] Dabei beziehe ich mich auf die Literatur von Swyter (2007), in welcher die Aussagen (bzw. die fünf Punkte nach Elias) bereits zusammengefasst dargestellt wurden.
[22] Ein Kommentar bzw. ein Ausblick bezüglich des „Neurobiologischen Erklärungsansatzes“ und dessen potentieller Forschungsmöglichkeiten befindet sich am Ende der Abschlussdiskussion. Leider muss im Rahmen dieser Masterarbeit auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse verzichtet werden, da diese den Rahmen sprengen würden.
[23] Cecilia Bergh und Per Södersten sind am schwedischen Karolinska Institut tätig
[24] Hans Huebner ist Psychiater an der Medizinischen Hochschule der Cornell Universität
[25] Das Vorläuferprotein aus welchem sowohl ACTH wie auch Endorphine abgespalten werden, wird als Pro-Opiomelanocortin (kurz: POMC) bezeichnet (vgl. Bergh & Södersten, 1996).