Bachelorarbeit, 2012
48 Seiten, Note: 1,3
Einleitung
Kapitel 1 – Biographische und musikhistorische Hintergründe
a.) Thomas Tallis als historische und durch die Rezeption bestimmte Figur
b.) Die Mehrchörigkeit des 16. Jahrhunderts in England und auf dem Kontinent
Kapitel 2 – Der Text und seine Wirkung für den Kunstcharakter der Motette
a.) Ein Responsorium aus dem apokryphen Buch Judith
b.) Exkurs: Der englische Text „Sing and glorify“ zur Ernennung der Kronprinzen
Kapitel 3 – Eine musikalische Analyse von Thomas Tallis’ Spem in alium
a.) Die Struktur der Motette in Symmetrie, Choraufstellung und Raumwirkung
b.) „A heavenly harmony“: Wie werden Harmonieverläufe entwickelt?
c.) Die Organisation der vierzig Stimmen: Imitation und Variation
Kapitel 4 – Alessandro Striggios Ecce beatam lucem als Vorlage und Einfluss
a.) Ein Treffen in London 1567: Mögliche Einflüsse Striggios auf Tallis
b.) Eine vergleichende Analyse von zwei vierzigstimmigen Motetten
Zusammenfassung und Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Die vierzigstimmige Motette Spem in alium von Thomas Tallis, organisiert in acht Chören zu fünf Stimmen, stellt nach vorherrschender Meinung den Höhepunkt der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts dar. Dabei wird sie jedoch häufig außerhalb des Kontextes einer großbesetzten Mehrchörigkeit in Europa gesehen, aus der besonders Alessandro Striggios Motette Ecce beatam lucem und seine kürzlich wiederentdeckte Missa sopra „Ecco si beato giorno“, hervorzuheben sind. Beide sind ebenfalls 40-stimmig, das Agnus Dei der Messe sogar 60-stimmig. Bereits vor der bekannten Venezianischen Mehrchörigkeit mit Komponisten wie Willaert, den Gabrielis und Padovano entwickelte sich hier eine luxuriöse und extravagante Musik für die repräsentativen Bedürfnisse der Medici in Florenz. Vokalwerke mit einer derart großen Besetzung gab es zuvor allenfalls in der franko-flämischen Vokalpolyphonie mit Desprez und Ockeghem, denen Kanons zu 24 und 36 Stimmen zugeschrieben werden. Eine vergleichbare Tradition von großbesetzter, mehrchöriger Chormusik gibt es im England des 16. Jahrhundert nicht, weshalb Spem in alium oft als singuläres Kuriosum gesehen wird. Tatsächlich ist dieses Werk in vielerlei Hinsicht einzigartig, in anderen Aspekten wiederum lassen sich durchaus Parallelen zur europäischen Mehrchörigkeit zeigen.
Motetten oder Messen dieser Größenordnung sprengen den liturgischen Rahmen, für den sie ursprünglich vom Textgehalt gedacht waren. Sie werden somit zur Kunstmusik abstrahiert und nunmehr als eigenständige musikalische Gattung im Konzert aufgeführt. Damit weisen sie über ihre Zeit hinaus auf die großbesetzte Sakralmusik des Barock mit Ausdrucksformen wie dem „geistlichem Konzert“. Obwohl Thomas Tallis als der „Father of English Church Music“ gilt, u.a. durch sein eigenes Zutun, ist sein bei weitem bekanntestes Werk eindeutig als Kunstmusik mit geistlichem Text einzuordnen. Allein dieser erscheint als Responsorium aus dem apokryphen Buch Judith geradezu obskur, seine Bedeutung in der damaligen Zeit wurde in der Literatur höchst unterschiedlich aufgefasst. So wundert es nicht, dass er bald für repräsentative Zwecke, nämlich der Ernennung der Prinzen Henry und Charles zum Thronfolger 1610, 1616 und vermutlich 1638 gegen den englischen Text „Sing and glorify“ ausgetauscht wurde. Die Uraufführung von Spem in alium ist dagegen so uneindeutig wie sein lateinischer Text. So gilt der im Zuge der Ridolfi-Verschwörung verurteilte Thomas Howard, 4. Duke von Norfolk, als Auftraggeber und das Arundel House an The Strand als Aufführungsort, der Zeitpunkt lässt sich aber nur vage auf 1570-72 festlegen.
Im Verlauf der Arbeit soll zunächst auf die biographischen und historischen Hintergründe von Thomas Tallis‘ Spem in alium näher eingegangen werden, wobei gleichzeitig der Bezug zur europäischen und besonders italienischen Vokalpolyphonie des 16. Jahrhundert hergestellt wird. Daraufhin werden Funktion und Aussage des Textes analysiert, wobei in einem kurzen Exkurs auch die Verwendung des Stücks als königliche Huldigungsmusik mit dem englischen Text „Sing and glorify“ diskutiert wird. Es folgt die Analyse der Motette, die sich in drei Unterabschnitte zur äußeren Struktur und Symmetrie, zu den Harmonieverläufen und schließlich zur Organisation der vierzig Stimmen im Detail aufgliedert, womit sie einen strikt systematischen Zugang darstellt. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit Alessandro Striggios Ecce beatam lucem und versucht, in einer vergleichenden Analyse musikalische Anhaltspunkte für einen möglichen Einfluss Striggios aufzuzeigen. Aufgehängt ist dieser Vergleich an den in Briefen dokumentierten Englandaufenthalt Striggios 1567 im Zuge einer Reise zu den großen Fürsten- und Königshöfen Europas als „Botschafter“ der Medici.
Die Forschung ist sich uneinig, ob das bei dieser Gelegenheit aufgeführte Werk die überall sonst gesungene vierzigstimmige Messe über „Ecco si beato giorno“ oder die Motette Ecce beatam lucem war, in jedem Fall aber dürfte Tallis als führender Hofkomponist dabei gewesen sein. Für einen analytischen Vergleich eignet sich die Motette besser, zum einen durch die äußere Anlage in Umfang und Text und zum anderen da die Messe seit ihrer Wiederentdeckung durch Davitt Moroney im Jahr 2005 noch nicht als Edition veröffentlicht wurde. Damit tritt Ecce beatam lucem in dieser Arbeit gewissermaßen als Paradebeispiel der großbesetzten italienischen Vokalpolyphonie auf und erscheint gleichzeitig durch den biographischen Bezug für einen musikalischen Vergleich in besonderer Weise geeignet. Dazu gilt als Eingangs- und Leitthese, dass die beiden Motetten trotz der ähnlichen Anlage erstaunliche Unterschiede in der Satz- und Harmoniestruktur aufweisen, die Tallis als Komponist von größerer Erfahrung ausweisen und deutlich machen, dass die Motette sein Opus magnum zum Abschluss einer langen Karriere als Musiker und Komponist darstellt. Gleichzeitig zeigen einige offensichtliche Ähnlichkeiten, dass Tallis Striggios Werk zumindest in Teilen gekannt haben muss, womit ein Gedankenaustausch in London 1567 indirekt belegt werden könnte.
Eine Persönlichkeit wie Thomas Tallis zu beschreiben heißt immer, sie aus zwei Blickwinkeln zu sehen. Da sind zum einen die wenigen biographischen Daten und Fakten, die uns überliefert sind, zum anderen ist da die Musik, die in ihrer stilistischen Diversität und unklaren Chronologie wiederum mehr Fragen als Antworten liefert. Bei einem Komponisten, der wenig biographische Details aufweisen kann, tritt die Musik häufig in den Vordergrund: Der Mensch wird als schaffender Künstler über sein Werk definiert. Im Fall von Thomas Tallis ist dies ganz deutlich zu beobachten. Seine stilistische Flexibilität ermöglichte ihm das Fortbestehen in Zeiten großer religiöser Umbrüche und Unruhen und sicherte ihm zudem ein Überleben in der anglikanischen Liturgie bis zum heutigen Tag. Hätte er sich wie William Byrd auf den Katholizismus festgelegt, wäre er in Ermangelung eines weltlichen Repertoires nach dem heutigen Quellenstand vermutlich in Vergessenheit geraten. Wenn man ihm im Umkehrschluss dafür auch mangelnde Standfestigkeit vorwerfen kann, was u.a. von katholischer Seite auch getan wurde, so muss man doch festhalten, dass die Motetten mit lateinischem Text ohne ihre englischen Kontrafakta vermutlich nicht überlebt hätten.[1]
Thomas Tallis war in mehrfacher Hinsicht zunächst Verlierer und später Gewinner der religiösen Umwälzungen im England des 16. Jahrhunderts. Die Benediktiner-Priorei in Dover, wo er 1530 in den Rechnungen als „joculator organorum“ aufgeführt wird, löste sich 1535 auf Weisung Heinrichs VIII. auf, woraufhin er vermutlich nach London an die Kirche St. Mary-at-Hill ging.[2] Dort wird er 1537/38 in den Gehaltslisten erwähnt, zog jedoch anscheinend bald weiter an die Waltham Abbey in Essex, die ihrerseits 1540 als letzte Abtei in England geschlossen wurde. Von hier aus ging Tallis zurück nach Kent, seine mutmaßliche Heimatregion, wo ihm die Reformpolitik des Königs durch eine Anstellung an der anglikanischen Kathedrale von Canterbury erstmals zum Vorteil gereichte.[3] Allmählich erarbeitete er sich in dieser Zeit eine Festanstellung an der Chapel Royal, der königlichen Hofkapelle, wo er erstmals 1544 auf den Gehaltslisten erscheint. Seine Tätigkeit am Hof reicht wahrscheinlich noch weiter zurück, da er 1577 in einer Bitte um finanzielle Unterstützung an Königin Elisabeth I. schreibt, er sei seit nunmehr vierzig Jahren in königlichen Diensten.[4]
Tatsächlich erlebte Tallis in dieser Zeit nicht weniger als vier Monarchen, die abwechselnd katholisch und protestantisch waren, zählt man Heinrich VIII. als Katholiken. Edward VI setzte die reformatorischen Bestrebungen seines Vaters fort und verbot katholische Feste und Feiertage ebenso wie die Marienanbetung in Bildnis und Musik, wohingegen seine Halbschwester Mary Tudor alles daran setzte, diese Reformen wieder rückgängig zu machen. Die frühreformatorische anglikanische Kirche unter Edward stellte strenge Richtlinien für die Kirchenmusik auf: Neben der englischen Sprache war es zudem essentiell, in möglichst einfachem homophonem Satz ohne Verzierungen und Melismen zu schreiben, da nur so die Textverständlichkeit garantiert werden konnte.[5] In dieser Situation wird sich Tallis nach der alten Ordnung zurückgesehnt haben, die ihm u.a. das Schreiben komplexer Cantus firmus-Motetten ermöglichte. Die Thronbesteigung von Mary Tudor 1553 stellte sich in diesem Zusammenhang als Glücksfall heraus: Aus der Zeit ihrer Regentschaft stammen die meisten Motetten mit lateinischem Text, sofern man dies durch spätere Umarbeitungen und Quellen zweiter und dritter Hand, in denen diese häufig nur vorliegen, sagen kann.
Auch finanziell war die Königin dem Komponisten wohlgesonnen, wie ein Pachtvertrag auf 21 Jahre für ein Landgut in Kent belegt, den sie ihm und Richard Bower gewährte.[6] Dieses und seine Tätigkeit als Sänger, Organist und Lehrer der Chorknaben waren so rentabel, dass er Marys Nachfolgerin Elisabeth I. ohne Probleme ein erzwungenes Darlehen von 40 Schillingen in ihrem Antrittsjahr leisten konnte.[7] In der Folgezeit aber wurde Tallis von der Inflation hart getroffen, weshalb er 1573 die Königin zusammen mit seinem Schüler William Byrd um Hilfe bat. Es ist möglich, dass er seine Bitte mit dem vierzigstimmigen Spem in alium zum 40. Geburtstag der Königin unterstrich, andere Erwägungen machen jedoch einen Zeitraum von 1570-72 wahrscheinlicher.[8] Sie gewährte ihnen 1575 das Monopol auf den Musikdruck, ein bis dahin einmaliges Privileg, das die beiden Komponisten ihr mit der Widmung der Cantiones sacrae dankten.[9] Hier ist besonders das Vorwort interessant, indem sich Tallis und Byrd mit bewusst gewählter Geburtsmetaphorik selbst als Väter der englischen Musik darstellen.[10] Doch auch das Monopol konnte ihnen finanziell nicht weiterhelfen, erst die Verpachtung königlichen Landes sicherte Tallis schließlich den Ruhestand.
Der Mangel an Informationen über das Leben von Tallis liegt vor allem im Mangel an Briefen aus seiner Hand begründet. Die einzigen Quellen für seine wechselnden Anstellungen in einem durchaus bewegten Leben stellen häufig Gehaltslisten, Rechnungen und Register dar. Bezahlt wird er stets als Organist, Sänger oder „Gentleman of the Chapel Royal“, denn im 16. Jahrhundert galt der Komponist noch als Handwerker, der seine Fertigkeiten anonym in den Dienst des Gotteslobes stellte.[11] Der „Komponist“ ist eine Entität, die ihm erst von der Nachwelt zugewiesen wurde, und auch hier zuerst und primär für seine lateinischen Motetten, die ihren liturgischen Zweck verloren oder, im Fall von Spem in alium, nie besessen hatten. Nicht nur, dass die Motette mit vierzig Stimmen und einer Länge von ca. zehn Minuten einen liturgischen Rahmen sprengen würde, sie ist zudem nie für den Kirchenraum konzipiert worden. Der Auftraggeber war nach vorherrschender Meinung ein weltlicher Mäzen, namentlich Thomas Howard, 4. Duke von Norfolk, der als Schwiegersohn von Henry Fitzalan, seinerseits 19. Earl von Arundel, Zugang zum Arundel House und Nonsuch Palace hatte.[12]
Norfolk wurde vor allem durch seine Teilnahme an der Ridolfi-Verschwörung gegen Königin Elisabeth I. bekannt, die für ihn 1572 tödlich endete, während die als neue Königin geplante Maria Stuart mit dem Leben davonkam. Die katholischen Verschwörer vertrauten auf Rückhalt aus Rom, der durch die päpstliche Exkommunikation Elisabeths 1570 zu spät kam, um größere Resonanz in der Bevölkerung zu schaffen. Bereits 1569 kam er für ein Jahr wegen des Verdachts auf Hochverrat in den Tower; nimmt man also an, dass er als Auftraggeber bei der Uraufführung anwesend war, grenzt das den Zeitpunkt auf 1570-71 ein. Sein Schwiegervater Arundel war in dieser Zeit im Hausarrest[13] in seiner Londoner Residenz, dem Arundel House, das unumstritten als Ort der Uraufführung gilt. Die primäre und einzige Quelle ist hier eine anekdotische Notiz von Ellis Swayne in Thomas Waterbridges „commonplace book“ von 1611.[14] Die Long Gallery des Arundel House eignet sich raum- und platztechnisch für eine Aufführung dieser Größenordnung, die Inspiration für das extrem räumlich konzipierte Spem in alium hat aber vermutlich der Nonsuch Palace als Landsitz von Arundel gegeben. Dort nämlich gab es einen achteckigen Saal mit Balkonen an jeder Seite, in welchen sich die acht Chöre exzellent hätten platzieren lassen.[15] Obwohl es keine Belege dafür gibt ist es also sehr wahrscheinlich, dass hier noch eine zweite Aufführung stattgefunden hat.
Nach dieser personen- und werkbiographischen Einführung gilt es, den Kreis größer zu ziehen und einen kurzen Überblick zur Vokalpolyphonie in Europa zu liefern. Im Besonderen geht es um jene Mehrchörigkeit, dessen Geschichte Anthony Carver in seinem Buch Cori spezzati beschreibt.[16] Mehrchörigkeit liegt nach Carvers Definition dann vor, wenn zwei oder mehr festgelegte Gruppen von Sängern und Instrumentalisten im Wechselspiel das musikalische Geschehen bestimmen. Dabei werden meistens antiphonale Techniken und räumliche Differenzierungen eingesetzt, in Tutti-Abschnitten bleiben zudem alle Stimmen mit eventueller Ausnahme der Bässe eigenständig. Rein antiphonale Chormusik wie etwa in der anglikanischen Frage-Antwort-Praxis mit einem Vorsänger und einer größeren, antwortenden Gruppe wird dabei bewusst ausgeklammert. Ein Stück wie Spem in alium von Thomas Tallis aber fällt unter diese Definition, wie die Analyse in Kapitel 3 zeigen wird. Bei Ecce beatam lucem liegt der Fall weniger klar, da hier die Stimmen ihre Chorzugehörigkeit kontinuierlich wechseln, eine klare Unterteilung in fest abgegrenzte Chöre also unmöglich ist.[17]
Im Verlauf seines Überblicksbandes zitiert Carver unter anderem den Musiktheoretiker Gioseffo Zarlino, der in Le institutioni harmoniche satztechnische Regeln für das Schreiben von mehrchöriger Musik aufstellt. Aufgrund dieses Werkes galt Adrian Willaert lange als Erfinder der Mehrchörigkeit, erst in jüngerer Zeit wurde dieser Titel durch das Auftauchen früherer Quellen angezweifelt.[18] In Wahrheit schreibt Zarlino seinem Lehrer Willaert lediglich die Erfindung jener Satztechnik im mehrchörigen Tutti zu, welche zur Vermeidung einer unreinen Harmonik die Bässe aller Chöre unisono oder in Oktaven setzt.[19] In jedem Fall gilt er mit den Salmi spezzati, den mehrchörigen Psalmvertonungen, als Begründer der Venezianischen Mehrchörigkeit. Diese Tradition großbesetzter geistlicher Musik am Markusdom geht laut Carver auf eine Kombination von antiphonaler Psalmodie mit Kanonimitation und Stimmenpaarung aus der franko-flämischen Vokalpolyphonie zurück.[20] Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert bildete Venedig damit das Zentrum der musikalischen Entwicklung im Chorgesang. Von hier aus breitete sich die Mehrchörigkeit über ganz Italien bis hin ins habsburgische Kaiserreich und nach Deutschland aus, wo sie schließlich im 17. Jahrhundert in Form der Musik von Andrea und Giovanni Gabrieli, die laut Carver den Höhepunkt der Venezianischen Mehrchörigkeit darstellt, besonderen Anklang fand.[21]
Dafür zeichnete sich vor allem Orlando di Lasso verantwortlich, der als Hofkapellmeister bei Albrecht V. in München großen Einfluss besaß. Bei der bayrischen Fürstenhochzeit von 1568 leitete er die Aufführung einiger mehrchöriger und entsprechend groß besetzter Vokalwerke, darunter auch eine 24-stimmige Messe von Annibale Padovano und eine nicht näher benannte 40-stimmige Motette von Alessandro Striggio,[22] die nach derzeitigem Kenntnistand nur Ecce beatam lucem gewesen sein kann.[23] Dabei gibt Troiano in seinen Dialoghi auch einige Instrumente an, die bei der Aufführung der Motette mitwirkten, wobei unklar bleibt, ob die Instrumente einzelne Stimmen doppelten oder ersetzten. Generell war die Praxis, möglichst verschiedenartige Instrumente zur Bereicherung der Klangfarben einzusetzen laut Michael Praetorius in Deutschland sehr beliebt.[24] Dies gilt vermutlich auch für England, so gibt es z.B. Belege für eine große Instrumentensammlung im Arundel House, was als Hinweis für eine teilinstrumentierte Aufführung von Spem in alium gelten kann.[25]
Allgemein aber fällt es schwer, direkte Einflüsse aus der Venezianischen Mehrchörigkeit in der englischen Musik des späten 16. Jahrhunderts aufzuzeigen. Die einzige Verbindung, die Tallis halbwegs plausibel mit Italien in Kontakt bringt ist Striggios Reise von 1567. Die Suche nach direkten Vorgängern für Spem in alium führt also in Bereiche der europäischen Musik, die der Komponist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekannt haben kann. Dazu zählen u.a. die frühen vielstimmigen Kanons der franko-flämischen Vokalpolyphonie und die Fuga a quaranta eines unbekannten spanischen Komponisten, auch aus Brumels 12- oder Padovanos 24-stimmiger Messe gibt es kaum erkennbare Einflüsse.[26] Das macht die Kenntnis von Striggios Messe oder Motette wahrscheinlicher, denn dass Tallis ein solches Experiment ohne Vorlage gewagt hätte, erscheint kaum glaubwürdig. Nach dem wenigen, was wir heute über ihn wissen war er Neuem gegenüber aufgeschlossen, aber auch nach Stringenz und Tradition bestrebt, da ihm diese in einer Zeit großer religiöser Umwälzungen versagt blieben. So zeigt sein modernstes und in vieler Hinsicht progressives Werk Spem in alium gleichzeitig auch klar geordnete, symmetrische Strukturen und Einflüsse von alter Satztechnik.
Ein entscheidender Faktor für die Wahrnehmung von Spem in alium als „Kunst“, sprich konzertante Musik, ist neben der Größe und Stimmenzahl auch der Text der Motette. Dieser stammt aus dem apokryphen Buch Judith und gliedert sich als Responsorium in zwei Teile: response („Spem in alium“) und verse („Domine Deus“). Der Wechsel der Person vom Singular in den Plural legt nahe, dass der response solistisch intoniert und der verse als Antwort im tutti gesungen wurde.[27] Interessanterweise lässt sich der Text weder dem römischen Ritus noch dem nach Sarum-Usus im Wortlaut zuordnen, wodurch er als Mischform wiederum an Eigenständigkeit und Kunstcharakter gewinnt.[28]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In der Übersetzung erscheint der Text stilgerecht und wenig überraschend, jedoch wurden in der älteren und neueren Rezeptionsgeschichte verschiedene Theorien zur wahren Aussage des Textes aufgestellt. Bei einem Bibeltext sind die Interpretationsmöglichkeiten naturgemäß breit gestreut, daher sei zu Beginn darauf hingewiesen, dass sich diese Theorien in weitgehend spekulativen Sphären bewegen und durch subjektive Wahrnehmungen eingefärbt sind. In den meisten Fällen begründen sie sich auf Tallis‘ religiöse Haltung, die durch seine konformistisch-pragmatische Arbeitsweise im Unklaren bleibt.[29] So wurde von katholischer Seite nahegelegt, dass Tallis im Herzen ein Katholik blieb und sich nur nach außen den neuen gesellschaftlichen und religiösen Normen unterwarf. Dementsprechend wird Spem in alium als Ausdruck von katholisch-dogmatischer Frömmigkeit gesehen, auch in der Verwendung von alter Satztechnik. Das pathetische Element des Textes wird z.B. von H.B. Collins als ein Indiz für das Anhängen an alten katholischen Strukturen gesehen:
„To him these pathetic words must have sounded like an almost literal description of the ruin which had befallen the ancient Church, and which he witnessed with his own eyes.”[30]
Dabei wird u.a. von Collins übersehen, dass die Motette letztendlich ein modernes und für seine Zeit bisweilen progressives Stück ist. Noch wichtiger jedoch ist, dass der Text weder Bezug auf die Konfession noch das Christentum allgemein nimmt, denn hier wird der alttestamentarische „Gott Israels“ angerufen. Ein anderer, vornehmlich protestantisch geprägter Vorschlag kommt von Paul Doe in seinem Aufsatz zu Spem in alium als Responsorien-Motette. Dort beschreibt er die in Elisabeths Hofkapelle übliche Praxis, die apokryphen Bücher der Bibel zu verlesen und sogar als Schauspiel aufzuführen.[31] Dementsprechend wäre also der Zusammenhang bekannt, indem das Responsorium im Buch Judith steht: Die Anführerin und Heldin der Israeliten, Judith, betet vor der Schlacht gegen das übermächtige Heer des Nebukadnezar unter seinem General Holofernes zum Gott Israels. Sie erbittet Unterstützung im Kampf („qui irasceris et proptius eris“), weist auf die Notlage hin („tribulatione“) und gesteht am Ende ihre eigene Niedrigkeit gegenüber der Größe Gottes ein („respice humilitatem nostram“). Letztendlich gelingt ihr es, den General zu verführen und ihn im Schlaf zu enthaupten, was die Schlacht zu Gunsten der Israeliten entscheidet.[32]
Laut Doe bestand zudem die eindeutige metaphorische Verknüpfung von Elisabeth mit Judith, aus der sich in diesem Kapitel die Verkörperung von Holofernes durch Philipp II. von Spanien und evtl. von Nebukadnezar durch den Papst ergab. Dies belegt Doe durch einige Huldigungsverse, in denen die Zuordnung offensichtlich ist.[33] Elisabeth II. hatte als protestantische Königin viele Feinde im zu dieser Zeit überwiegend katholischen Europa, so hielt sie sich nur zur Besänftigung ihrer Nachbarstaaten mehrere Heiratsoptionen offen. Philipp aber hatte sie u.a. durch Plünderungen auf See so übel mitgespielt, dass er schließlich eine riesige Armada in päpstlicher Mission nach England schickte. Diese wurde in einer für ihn desaströsen Schlacht vernichtet, ein Sieg, der Elisabeth die ewige Verehrung ihres Volkes sicherte und die Judith-Metapher festigte.[34] Das Responsorium „Spem in alium“ ist also nach dieser Theorie als Bittruf der protestantischen Engländer in einem feindlich gesinnten katholischen Europa zu verstehen. Die oben genannte These von einer nostalgisch-katholischen Lesart entkräftet Doe indem er herausstellt, dass der neu aufkommende Patriotismus und die damit einhergehende Monarchenverehrung auch die Katholiken 1570 so stark erfasst hatte, dass die päpstliche Exkommunikation Elisabeths ohne Folgen blieb.[35]
Eine dritte, der zweiten ähnliche aber weitgehend konfessionsfreie Deutung legt Dennis Stevens vor, indem er in Bezugnahme auf Doe den Zusammenhang von Responsorium und biblischer Geschichte herausstellt.[36] Stevens legt hier jedoch den Schwerpunkt auf das Element der Unterwerfung („humilitatem“), denn der Auftraggeber von Spem in alium, Thomas Howard, 4. Duke von Norfolk, saß nach Stevens‘ Datierung zum Zeitpunkt der Komposition mit Verdacht auf Hochverrat im Gefängnis. Demnach wäre der Text eine Anspielung auf den Auftraggeber und zugleich die Bitte um ein mildes Strafmaß, das die Königin auch zunächst gewährte und bei der zweiten Festnahme nur auf Druck ihrer Berater ablehnte:
„While Norfolk languished in prison, Tallis wove his incredibly intricate polyphonic web about the meaning of hope, the absolution of sins, and the blessedness of humility […]“[37]
Diese dritte Theorie darf wohl als die politischste gelten, wenngleich auch hier Glaubenskonflikte und die Frage der Konfession als Handlungsmotive auftreten. Stevens gibt zu, dass die Anspielung auf ein bestimmtes politisches Ereignis einen zu engen Bedeutungshorizont für diesen umfassenden, pathetischen Text darstellen würde. Stattdessen sei die Botschaft eine viel allgemeinere, nämlich die direkte Anrufung des Gottes aller Christen ohne den katholischen oder protestantischen Mittelsmann. Dem ist zuzustimmen, da so auch die Gefahr einer Überinterpretation in die eine oder andere Richtung ausgehebelt wird.
[...]
[1] vgl. Suzanne Cole, Thomas Tallis and his Music in Victorian England, Woodbridge 2008.
[2] vgl. Paul Doe u. David Allison, „Tallis, Thomas“, in: NGroveD, Bd. 25, S. 36.
[3] vgl. Kerry McCarthy, „Tallis, Thomas”, in: MGG 2, Bd. 16, Sp. 458.
[4] „I have served yo[u]r Ma[jes]tie and yo[u]r Royall ancestors these fortie years“, zit. nach Paul Doe u. David Allison, „Tallis, Thomas“, in: NGroveD, Bd. 25, S. 36; vgl. Tudor Church Music VI, Oxford 1928, S. xiv.
[5] vgl. Kerry McCarthy, „Tallis, Thomas”, in: MGG 2, Bd. 16, Sp. 466; s.a. Paul Doe u. David Allison, „Tallis, Thomas“, in: NGroveD, Bd. 25, S. 38.
[6] vgl. Kerry McCarthy, „Tallis, Thomas”, in: MGG 2, Bd. 16, Sp. 458.
[7] Die Zahl scheint hier eher allgemein-symbolischen Charakter zu haben, stellt also keinen Bezug zur Stimmenzahl von Spem in alium dar; vgl. Paul Doe u. David Allison, „Tallis, Thomas“, in: NGroveD, Bd. 25, S. 36.
[8] Diese werden in den folgenden Kapiteln näher ausgeführt, vgl. zudem die Einleitung; vgl. u.a. Dennis Stevens, „A songe of fortie parts, made by Mr. Tallys”, in: Early Music 10,4 (1982), S. 172.
[9] Das im 17. Regierungsjahr erschiene Werk enthielt je 17 Stücke beider Komponisten.
[10] Daher stammt sein Titel des „Father of English Church Music“, der sich durch die Rezeptionsgeschichte zieht; vgl. Suzanne Cole, Thomas Tallis and his Music in Victorian England, Woodbridge 2008, S. 17 ff.
[11] vgl. u.a. Paul Doe, Tallis (= Oxford Studies of Composers 4), London 1968, S. 7.
[12] vgl. Dennis Stevens, „A songe of fortie parts, made by Mr. Tallys”, in: Early Music 10,4 (1982), S. 179.
[13] Ebenfalls durch Verdachtsmomente auf Hochverrat, vgl. ebd.
[14] Diese wird in Kapitel 4 im Zusammenhang mit Alessandro Striggio in voller Länge zitiert, vgl. u.a. Suzanne Cole, Thomas Tallis and his Music in Victorian England, Woodbridge 2008, S. 97; zit. nach H. Fleetwood Shepard, „Tallis and his Song of Forty Parts“, Letter in: Musical Times 19 (1878).
[15] Die optimale Aufstellung der Chöre zur vollen Entfaltung der spezzati -Wirkungen wird im vierten und fünften Kapitel diskutiert, die auf diese Weise mögliche Kreis-Aufstellung ist besonders zu Beginn am effektvollsten.
[16] Anthony F. Carver, Cori spezzati. Volume I. The development of sacred polychoral music to the time of Schütz, Cambridge 1988.
[17] In der einzigen Quelle von Ecce beatam lucem, dem Manuskript in der Ratsbibliothek Zwickau, sind die Stimmen in vier ungleich große Chöre eingeteilt, grob an ihrem ersten Eintritt orientiert, was vermuten lässt, dass der Schreiber nur mit Mehrchörigkeit nach Carvers Definition vertraut war; vgl. Kapitel 4.
[18] vgl. Anthony F. Carver, Cori spezzati (…), Cambridge 1988, S. 5.
[19] vgl. ebd., S. 10.
[20] Hier finden sich zugleich die frühesten Beispiele von großbesetzter Vokalmusik bei Josquin Desprez und Johannes Ockeghem mit den Kanons Qui habitat à 24 und Deo gratias à 36 Stimmen; vgl. ebd., S. 15.
[21] vgl. Anthony F. Carver, Cori spezzati (…), Cambridge 1988, S. 5 u. S. 129.
[22] vgl. Horst Leuchtmann (hrsg.), Die Münchner Fürstenhochzeit von 1568. Massimo Troiano: Dialoge (= Studien zur Landes- und Sozialgeschichte der Musik 4, hrsg. v. Friedrich Wilhelm Riedel), S. 147 (308 / 309).
[23] Davitt Moroney, der Wiederentdecker der vierzigstimmigen Messe, zweifelt in seinem Essay zur Europareise Striggios diese häufig vorgenommene Zuordnung an; vgl. Davitt Moroney, „Alessandro Striggio's Mass in Forty and Sixty Parts“, in: Journal of the American Musicological Society 60,1 (2007), S. 11 u. S. 26 ff.
[24] vgl. Anthony F. Carver, Cori spezzati (…), Cambridge 1988, S. 16.
[25] Eine teilinstrumentiere Aufführung hat u.a. den Vorteil, dass jeder Chor eine individuelle Klangfarbe erhalten kann; vgl. Dennis Stevens, „A songe of fortie parts, made by Mr. Tallys”, in: Early Music 10,4 (1982), S. 175.
[26] vgl. ebd., S. 177 f.; Markus Roth argumentiert, dass Brumels Messe einige Ähnlichkeiten in der Satzstruktur aufweist, vgl. dens., „Organisationsformen vielstimmiger Polyphonie“, in: Musik und Ästhetik 2,7 (1998), S. 12.
[27] vgl. Markus Roth, „Organisationsformen vielstimmiger Polyphonie“, in: Musik und Ästhetik 2,7 (1998), S. 8.
[28] Die römische Version lautet „Spem in alio“, die Sarum-Variante ist jedoch im 16. Jahrhundert geläufiger wie die Vertonung von Jacquet von Mantua zeigt, doch hier passt „humilitatem ad nostram“ nicht; vgl. Paul Doe, „Tallis‘ Spem in alium and the Elizabethan Respond-Motet“, in: Music & Letters 51,1 (1970), S. 5 f., S. 8.
[29] Auch in seinem Testament gibt Tallis keine präferierte Konfession an, womit er im starken Gegensatz zu seinem Schüler William Byrd steht; vgl. Suzanne Cole, Thomas Tallis and his Music (…), Woodbridge 2008.
[30] zit. nach H.B. Collins, „Thomas Tallis“, in: Music & Letters 10 (1929), S. 163.
[31] vgl. Paul Doe, „Tallis‘ Spem in alium (…)“, in: Music & Letters 51,1 (1970), S. 9.
[32] vgl. Judit 13,1-11; vgl. das Bittgebet in langer Form in Judit 9,2-15.
[33] vgl. Paul Doe, „Tallis‘ Spem in alium (…)“, in: Music & Letters 51,1 (1970), S. 10.
[34] vgl. u.a. E.C. Wilson, England’s Eliza, London 1966.
[35] vgl. Paul Doe, „Tallis‘ Spem in alium (…)“, in: Music & Letters 51,1 (1970), S. 10.
[36] Hier zitiert er Doe indem er auf die „choros“ im Apokryphen-Text hinweist, laut diesem ein Indiz für eine Aufführung im Kontext der Lesung; vgl. Dennis Stevens, „A songe of fortie parts, made by Mr. Tallys”, in: Early Music 10,4 (1982), S. 179.
[37] zit. nach ebd.
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