Bachelorarbeit, 2012
44 Seiten, Note: 1,0
1 Einleitung
2 Der aktuelle Modernisierungsdiskurs
2.1 Die Vielfalt der Modernen - Multiple Modernities
2.2 Einheit statt Vielfalt - reflexive Modernisierung und zweite Moderne
2.3 Die Symbiose - geteilte Geschichte und verwobene Moderne
3 Christopher A. Bayly - Uniformität der Moderne
3.1 Basisprozesse der Modernisierung
3.2 Moderne Tendenzen als Nebenprozesse der Modernisierung
3.3 Moderne- und Modernisierungsbild
4 Jürgen Osterhammel - Sonderwege in die Modernen
4.1 Basisprozesse der Modernisierung
4.2 Moderne Tendenzen als Nebenprozesse der Modernisierung
4.3 Moderne- und Modernisierungsbild
5 Vergleich
6 Schlussbemerkungen - Globalgeschichtsschreibung und Modernisierungstheorie
7 Bibliographie
8 Abkürzungsverzeichnis der Zeitschriften
Heutzutage ist es gang und gäbe, von der „modernen“ Welt zu sprechen, die Veränderun- gen, die sie hervorbrachten als „Modernisierung“ zu beschreiben und das Erreichen von „Mo- dernität“ als einen der bedeutendsten Entwicklungsschritte eines Staates oder einer Gemein- schaft zu charakterisieren. „But modernity is a very slippery idea.“1 Der heutige Begriff der Moderne ist äußerst vielseitig und nicht so eindeutig, wie er auf den ersten Blick scheint. Auch die Verortung der gleichnamigen Epoche ist unklar.2 Je nach politischer Auffassung und historischem Hintergrund wandeln sich die Vorstellung von Modernität, ihre Merkmale und auch die Idee von ihrer Entstehung. Dieser Wandel wird besonders deutlich, wenn der Modernisierungsdiskurs der letzten zwei Jahrzehnte betrachtet wird, der teilweise vollkom- men neue Theorien hervorgebracht hat, die auch der Geschichtswissenschaft neue Möglich- keiten bieten.
Wie genau sich dieser Wandel im soziologischen Modernisierungsdiskurs auf die Historio- graphie und dabei vor allem auf den Trend der Globalgeschichtsschreibung ausgewirkt, soll anhand der aktuellen Darstellungen von Jürgen Osterhammel und Christopher Alan Bayly untersucht werden.
Als Grundlage für die Untersuchung wird zu Beginn auf den aktuellen soziologischen Mo- dernisierungsdiskurs eingegangen. Dabei werden zunächst die drei für die Globalgeschichte wichtigen Trends beschrieben und anschließend durch die jeweils bedeutendste Theorie ge- nauer erläutert. Zuerst wird Shmuel N. Eisenstadts Konzept der multiple modernities be- schrieben, das eine Vielzahl verschiedener Modernen postuliert. Darauf folgend wird die auf Ulrich Beck und Anthony Giddens basierende Theorie der reflexiven Modernisierung betrach- tet, bei der die Entstehung einer uniformen Moderne im Mittelpunkt steht. Abschließend wird Shalini Randerias Modell der geteilten Geschichte und verwobenen Moderne dargestellt, das ebenfalls von einer Moderne ausgeht, aber dabei unterschiedliche Entwicklungswege zu die- ser anerkennt.
Im Anschluss an die Darstellung der aktuell für die Globalgeschichtsschreibung bedeu- tendsten Modernisierungstheorien folgen die Analysen von Jürgen Osterhammels Verwand- lung der Welt und Christopher A. Baylys Geburt der modernen Welt . Dabei werden jeweils Darwin, John: After Tamerlane. The rise and fall of global empires, 1400-2000, London 2008, S, 25.
die Basisprozesse herausgearbeitet, auf denen Modernisierung bei beiden Historikern beruht.
Anschließend werden die wichtigsten Nebenfolgen dieser Prozesse beschrieben, die die moderne Welt der beiden Autoren charakterisieren und abschließend wird daraus das spezifische Moderne- und Modernisierungsbild von Osterhammel und Bayly rekonstruiert und untersucht, ob und inwieweit sich beide Historiker von den aktuellen soziologischen Modernisierungsdiskurs haben beeinflussen lassen.
Im letzten Teil der Arbeit werden die untersuchten Darstellungen in Bezug auf das Moder- ne- und Modernisierungsbild ihrer Autoren einem Vergleich unterzogen. Dabei wird zu zei- gen sein, dass der aktuelle soziologische Moderne- und Modernisierungsdiskurs die Global- geschichtsschreibung in weiten Bereichen prägt und diesen durchaus verschiedenartig beein- flusst.
Globalgeschichte ist in den vergangenen Jahren zu einer wichtigen Teildisziplin der Ge- schichtswissenschaft geworden, die in vielerlei Hinsicht an die älteren Traditionen der Welt- und Universalgeschichte anknüpft.3 Dabei ist der Bereich der Globalgeschichte in den letzten zwei Jahrzehnten stark gewachsen und hat sich zudem erheblich ausdifferenziert. „Der Drang zur Synthese und der Zwang zur Spezialisierung sind zwei Pole, zwischen denen sich das publizistische Verhalten der Globalhistoriker abspielt.“4 Das neue an der Globalgeschichte ist dabei vor allem die Verbindung zwischen weltgeschichtlicher und spezialisierter Forschung. Die weiten Felder und das neue Interesse an der Globalgeschichte haben mittlerweile zu einer Vielzahl an neueren Publikationen und einem beinahe schon unübersichtlichen Forschungs- stand geführt. „Es ist unmöglich, die Vielzahl der Einzelstudien überhaupt aufzulisten […] und auf diese Weise eine Gesamtkartierung des Geländes vorzunehmen.“5 Ähnliches gilt für die soziologische Moderne- und Modernisierungsforschung, die aufgrund der Vielzahl an neuen Theorien, Publikationen und Gegenpublikationen kaum noch überschaubar ist.6 Die aktuelle Forschungsproblematik soll ansatzweise im folgenden Kapitel systematisiert und die wichtigsten Trends für die Globalgeschichtsschreibung sollen vorgestellt werden.
Seit der Dekolonisation treten die wechselseitigen Beziehungen zwischen allen Gesell- schaften der sich globalisierenden Welt zusehends in den Fokus der Sozialwissenschaften. Dabei gehören Modernisierungstheorien zu den einflussreichsten Paradigmen und Analysein- strumente, die als Theorien mittlerer Reichweite7 eine Verbindung zwischen Konzepten des sozialen Wandels und der historischen Vielfalt gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse entwickelt haben.8
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Rolle als Gegenmodell zur westlich- kapitalistischen Moderne und die damit einhergehende Intensivierung globalisierender Pro- zesse, stellten dabei eine Zäsur in diesem Modernisierungsdiskurs dar. Das Ende der Sowjet- union löste zum einen eine Wiederbelebung der klassischen Modernisierungstheorie aus, da sie mit ihren Vorhersagen am geeignetsten schien, die damaligen Entwicklungen zu analysie- ren. Zum anderen führten die rapiden Globalisierungsprozesse schnell zu einer Infragestellung dieser „klassischen“, nationalstaatlich fixierten Modernisierungstheorie, „da sie wohl die Ver- allgemeinerung von Modernisierungsprozessen, nicht aber die zunehmende Bedeutung trans- nationaler und globaler Zusammenhänge zu interpretieren in der Lage war.“9 Seit der Auflö- sung der Sowjetunion hat sich folglich in der Soziologie ein vielseitiger und äußerst heteroge- ner Moderne- und Modernisierungsdiskurs entwickelt, der sich in der Vielzahl der Konzepte wiederspiegelt, die von Moderne und Postmoderne über globale Moderne und Weltsys- temtheorien bis hin zu multiplen und verwobenen Modernen reichen.10
In Folge des cultural turn und des Postkolonialismus11 sowie in Reaktion auf die Strömung der Postmoderne konzentrieren sich viele neuere Theorien auf globale und kulturwissen- schaftliche Forschungsthemen und Problemstellungen.12 Die Diskussion dreht sich daher seit den 1990er Jahren um die Dynamik sozialer und kultureller Modernisierungs- und Globalisie- rungsprozesse und teilt sich dabei in drei Hauptrichtungen auf. Diese Richtungen haben jeweils kein festes Programm und vereinen teilweise eine Vielzahl von selbstständigen Modernisierungskonzepten. Nichtsdestotrotz können sie als die drei derzeit vorherrschenden Trends in der Modernisierungsforschung betrachtet werden, die auch für die Globalgeschichtsschreibung von Bedeutung sind.13
Der erste Ansatz beschränkt sich dabei hauptsächlich auf vergleichende Zivilisationsanaly- sen und auf multiple Ausprägungen der Moderne. Hierbei liegt das Hauptaugenmerk auf dem diversifizierenden Einfluss von Tradition, Kultur, Religion und kollektiver Identität. Dabei bilden die sozial-strukturellen und institutionellen Prozesse der Modernisierung sowie das kulturelle Programm der Moderne die wesentlichen Untersuchungsfelder. „Im Kern handelt es sich also um eine interpretativ-erklärende historisch-konstellative Makrosoziologie, die das Zusammenspiel von institutionellen und kulturellen Dynamiken in sozialen Prozessen in den Mittelpunkt stellt.“14
Der zweite Trend betont die Entstehung einer globalen Moderne. Dieser Ansatz steht dem Konzept der multiplen Modernen vom Grundsatz her diametral entgegen und umfasst eine Reihe von globalen Entwicklungen im Moderne-Diskurs. Die wesentlichen Entwicklungen sind dabei die Betonung der Globalität, die Anerkennung der Globalisierung als multidimen- sionaler Prozess sowie drittens die Betonung weltweiter Modernisierungsprozesse und damit einhergehend die Verdichtung der Welt zu einer globalen Moderne.15 Dieses Konzept ist da- bei von den Annahmen geprägt, dass die Globalisierung als eine weltweite Ausbreitung von Modernisierungsprozessen zu verstehen ist, sich transnationale Räume und damit transnatio- nale Gesellschaften entwickeln sowie dass sämtliche Ereignisse und Entwicklungen nur noch global gedacht werden können.16
Diese Annahmen haben wiederum verschiedene theoretische Ansätze zur Folge. Der erste ist das Konzept der Globalisierung als Konsequenz der Moderne, wie es beispielsweise durch Anthony Giddens vertreten wird. Der zweite Ansatz ist von Ulrich Beck geprägt. Er sieht Globalisierung grundsätzlich als etwas Neues an und stilisiert sie zu einer zweiten Moderne.17
einer Kritik an der rein westlichen Sicht der Sozialwissenschaften oder zu einer Betonung der Hybridität des kolonialen Austauschs. Vgl. Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini: Geteilte Geschichten - Europa in einer postkolonialen Welt. In: Dies.: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9-49, S. 22-25.
Der dritte Trend im Modernisierungsdiskurs umfasst das Konzept der geteilten Geschichte und verwobenen Moderne und kann als Vermittlungsversuch zwischen den beiden Erstge- nannten betrachtet werden. Er setzt voraus, dass es kein einheitliches Moderneprogramm oder identische Modernisierungsprozesse gibt, die sich pfadabhängig oder evolutionär entwickelt hätten. Vielmehr gäbe es eine Vielzahl solcher Prozesse, die sich gegenseitig beeinflussen würden. Daher könne es auch keinen einheitlichen Globalisierungsprozess geben, sondern mehrere parallel stattfindende, die sich durch Interaktionen mit verschiedenen Gesellschaften und Zivilisationsräumen herausbilden.18 Der Ansatz geht davon aus, dass sich Modernität und Modernisierung im Wechselspiel miteinander entwickeln. Die Ebene der geteilten Geschichte richtet sich dabei auf die Analyse sozialer und kultureller Mikroprozesse und die Ebene der verwobenen Moderne auf die sich bedingenden sozialen und kulturellen Strukturrelationen und Makroprozesse. Dabei betrachtet dieser Ansatz die gegenseitige Beeinflussung über transnationale und transzivilisatorische Transfers und nicht nur die Geschichte des Transnati- onalen. Damit vermindert sich das Problem der isolierten Betrachtung der nationalen aber auch der transnationalen Ebene.19 Obwohl das Konzept eine vielversprechende Symbiose aus multiplen Modernen und globaler Moderne bilden könnte, gibt es bisher nur exemplarische Studien, die es anwenden. Ein systematisches, historisch-soziologisch vergleichendes Pro- gramm muss erst noch entwickelt werden.20
Diese drei Trends im aktuellen soziologischen Modernisierungsdiskurs sollen nun anhand der jeweils bedeutendsten Theorien genauer dargestellt werden.
Der im September 2010 verstorbene Soziologe Shmuel Noah Eisenstadt gehörte zweifellos zu den wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, wobei vor allem die maßgeblich von ihm geprägte Theorie der multiple modernities weltweit Anerkennung fand.21 Seit die Zeitschrift Daedalus eine Ausgabe mit diesem Thema veröffentlichte, hat sich dieser Begriff rapide in den Sozialwissenschaften ausgebreitet.22 Große Forschungsprojekte wurden initiiert, Konfe- renzen und Seminare veranstaltet und immer mehr Bücher nutzen diese Bezeichnung, die sich mittlerweile als Teil der sozialwissenschaftlichen lingua franca etabliert hat.23
Der theoretische Kern des Konzeptes liegt in der Beachtung der Besonderheiten von Zivili- sationen, dem Konfliktpotenzial ihrer sozialen Dynamik, ihren Interaktionen mit der europäi- schen Moderne sowie ihren individuellen Mustern der Modernisierung und Formen der Mo- derne.24 Die Theorie hat sich schnell zu einem der wichtigsten Zivilisationsdiskurse innerhalb der Globalgeschichtsschreibung entwickelt.25 Das Konzept der multiple modernities richtet sich dabei mit seinem Fokus auf Zivilisationsvergleiche nicht nur gegen den „Clash of Ci- vilizations“ von Samuel P. Huntington und dem „Ende der Geschichte“ von Francis Fukuya- ma, sondern auch gegen das lange Zeit gültige Axiom der teleologischen Konvergenz der Moderne, die von der „klassischen“ Modernisierungstheorie der 1950er und 1960er Jahre postuliert wurde.26
Diese „klassische“, d.h. evolutionäre und positivistische Modernisierungstheorie wurde zwar schon früh kritisiert, blieb aber bis in die frühen 1990er Jahre gebräuchlich. Dabei stellte die Vereinheitlichung der Vormoderne und des Traditionellen einen großen Kritikpunkt dar. Modernisierungstheoretiker gingen von einer gleichförmigen, traditionellen Gesellschaft aus und generalisierten diese als statisch und homogen. Kritiker wie Hans-Ulrich Wehler wiesen dagegen darauf hin, dass vormoderne Gesellschaften keineswegs so immobil und einheitlich waren, wie es die Modernisierungstheorie darstellte.27 Zudem wiesen vor allem Historiker darauf hin, dass Moderne nicht zwangsläufig Fortschritt im Sinne des westlichen Demokra- tieverständnisses bedeuten musste. Autokratie, Rassismus und Antisemitismus waren ebenso modern, wie Liberalismus und die bürgerliche Gesellschaft. Zudem kritisierte die Forschung die starke Konzentration auf das westliche Bild der Moderne, wodurch andere Gesellschaften automatisch als rückständig gelten mussten.28 Seit den 1990er Jahren kam zudem eine immer stärkere Kritik an dem Eurozentrismus dieser Theorie auf. Allerdings wird im aktuellen Mo- derne-Diskurs auch anderen Theorien ein unangemessener Fokus auf Europa unterstellt.29
Die Unzulänglichkeiten der klassischen Modernisierungstheorie veranlassten Eisenstadt dazu, eine erweiterte Sicht auf die Moderne zu entwickeln: „Die umfassende Diagnose lautet aus meiner Sicht, dass wir in der gegenwärtigen Welt […] mehrere Arten der Moderne beobachten.“30 Diese Sicht umfasst sowohl die ständige Dynamik moderner Kulturen, als auch deren Vielfalt. Nach Eisenstadt stehen verschiedene Moderne-Typen nicht auf unterschiedlichen Stufen, sondern gehören alle derselben Phase an.31
Die Idee der multiple modernities nimmt an, dass die beste Möglichkeit, unsere heutige Welt und die Geschichte der Moderne zu verstehen, darin besteht, die Geschichte als story einer ständigen De- und Rekonstruktion von kulturellen Programmen zu sehen. Diese fort- schreitende Rekonstruktion wird vorangebracht von spezifischen sozialen, politischen und intellektuellen Akteuren in enger Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen, die jeweils ver- schiedene Vorstellungen von Moderne beinhalteten. Durch die Begegnung dieser Akteure und Begegnungen mit ihren spezifischen Gesellschaften haben sie jeweils einzigartige Formen von Modernität realisiert.32
Entsprechend zeigen sich in allen Gesellschaften nach Eisenstadt Differenzen in den wich- tigsten Sphären, die die von der Modernisierungstheorie postulierte Annahme der Konvergenz moderner Gesellschaften obsolet erscheinen lassen. Ob in Wirtschaft, Politik oder im kulturel- len Bereich: Überall finden sich voneinander unabhängige Merkmale, die in den verschiede- nen Gesellschaften in verschiedenen Entwicklungsperioden unterschiedlich kombiniert wer- den. Sogar in Gesellschaften mit einer ähnlichen wirtschaftlichen Entwicklung, wie der gro- ßen industriell-kapitalistischen Systeme in Europa, den USA oder Japan, könne man nicht von einer Konvergenz reden.33 Jede Gesellschaft habe eine bestimmte moderne Dynamik und Selbstinterpretationen entwickelt, für die allerdings die westliche Moderne den wichtigsten Bezugspunkt dargestellt haben soll.34 Das kulturelle und politische Programm der Moderne hätte sich nach Eisenstadt zuerst in West- und Zentraleuropa entwickelt. Es brachte dabei sehr Auch die multiple modernities hätten sich nicht ausreichend von diesem Eurozentrismus lösen können. Vgl. Bhambra, S. 5, 58.
bestimmte Veränderungen in der Konzeption menschlicher Handlungsfreiheit und in der Posi- tion des Menschen in der Zeit mit sich. Das Programm beinhaltete eine Vorstellung von einer Zukunft, die durch eine Vielzahl von Möglichkeiten und durch autonomes menschliches Han- deln charakterisiert sei. Die Voraussetzungen, auf denen die alte Ordnung beruhte, seien dabei nicht mehr für selbstverständlich gehalten worden. Es entwickelte sich eine intensive Reflexi- vität über die Strukturen der sozialen und politischen Autoritäten.35 Im Zentrum des Moderne- Programms hätte daher die Emanzipation des Einzelnen von traditioneller Politik und den kulturellen Autoritäten gestanden. Nach der Theorie der multiple modernities setzte sich das Bewusstsein durch, dass sich die Gesellschaft durch individuelle Aktivitäten beeinflussen und verändern ließ. Das förderte zum ersten Mal in der Geschichte die Entstehung großer Protest- bewegungen und großer Revolutionen. Dieses neue Protestpotenzial wird wiederum essentiell für die Entwicklung moderner Gesellschaften bzw. institutioneller und struktureller Verände- rungen. „Conflict and struggle is inherent in modernity…“36 Auch religiöse Traditionen wer- den als spezielle Ausprägungen kultureller Prozesse als grundlegende Elemente moderner Gesellschaften anerkannt.37 Diese Traditionen formen, trotz Säkularisierung, multiple Pro- gramme von Moderne und vielseitige Prozesse von Modernisierung.38
Aus der Ideologie des politischen Moderne-Programms treten vor allem drei Aspekte des modernen politischen Prozesses in den Vordergrund: die Neudefinition der Beziehungen zwischen dem Zentrum und der Peripherie als politische Hauptdynamik moderner Gesellschaften, eine starke Tendenz zur Politisierung von Forderungen breiter Gesellschaftsteile und drittens ein anhaltender Streit über die Definition des politischen Raums.39
Mit der Ausbreitung der Moderne hätten sich dabei jeweils spezifische Programme entwi- ckelt, die vor allem Auswirkungen auf institutioneller Ebene gehabt und zu sich kontinuier- lich verändernden kulturellen und institutionellen Mustern geführt hätten. Diese führten ihrer- seits zu der Herausbildung mehrerer Modernen.40 Eisenstadts Theorie richtet sich zudem ge- gen die Prämisse, dass die kulturellen Merkmale der Moderne zwangsläufig mit den struktu- rellen verflochten sein müssen: „In Wirklichkeit gingen die Entwicklungen in vielen Teilen der Welt über die homogenisierenden und hegemonialen Tendenzen des ursprünglichen Pro- gramms weit hinaus…“41
Nach der Theorie der multiple modernities waren bereits die vergangenen zwei Jahrhun- derte fundamental anders, als die vorherigen. Um die Art und Weise dieser Andersartigkeit erklären zu können, beinhaltet die Theorie mehrere, in enger Verbindung zueinander stehende Themen. Das erste betrifft den Widerspruch zwischen Abgrenzung und Integration. Weil Mo- derne konkurrierende Ideen fördere, beinhalte sie automatisch „the seed of its own continual destruction and reconstruction.“42 Anhänger der multiple modernities argumentieren deshalb, dass die Vielzahl der heutigen politischen und sozialen Formen lediglich eine Fortsetzung dieses Prozesses der andauernden De- und Rekonstruktion sei. Das zweite Thema schließt sich direkt an. Es dreht sich um die Frage, ob Moderne eine substantielle Zusammenstellung von Prozessen und Phänomenen ist oder lediglich eine temporäre Erscheinung. „Can we speak of modern societies […] or is it enough to say that we live in an epoch where modernity has become a common global condition?”43 Vertreter der multiple modernities tendieren zu der zweiten Schlussfolgerung. Das Niveau der Moderne bestimmter Gesellschaften wird da- bei als weniger relevant angesehen. Eine weitere Frage ist die nach dem „Kern“ der Moderne. Dieser Kern sei niemals institutionell oder strukturell, sondern befindet sich auf einer weit abstrakteren Ebene kultureller Orientierung. Diese Orientierung erlaubt es, die Entwicklung politischer und ökonomischer Formen anhand von festen Prinzipien zu erklären. Das wich- tigste dieser Prinzipien sei eine Konzeption des Gemeinwesens, die radikal neu war, als sie sich vor zwei Jahrhunderten entwickelte: die Konzeption vom Menschen als autonomes We- sen. Der Wert des Individuums bekam universelle Bedeutung.44
Es ist ein großer Verdienst der Theorie der multiple modernities, den ersten Schritt zu einer umfassenden kultur-historischen Kritik an den alten Modernisierungstheorien getan und ge- zeigt zu haben, dass der Westen nicht mit Moderne gleichzusetzen ist.45 Sie übernimmt damit eine wichtige Korrekturfunktion gegenüber den dominanten sozialwissenschaftlich- institutionalistischen und den kulturwissenschaftlich-dekonstruktivistischen Ansätzen.46 Die Betonung der Kultur erlaubt erstmalig die globale Untersuchung vom komplexen Zusammen- spiel zwischen „modern“ und „traditionell“ in der Schaffung von kollektiven kulturellen Iden- titäten.47 Die Theorie bietet zudem ein reiches Feld an Untersuchungsmöglichkeiten, das es erlaubt, eine klareres Verständnis der Wege zu gewinnen, auf denen die gemeinsamen Werte und kulturellen Praktiken verschiedener Zivilisation weltweit von der Moderne beeinflusst wurden und ermöglicht es, den Zerfall der Nationalstaaten und den Aufschwung von neuen transnationalen Bewegungen, wie z.B. des religiösen Fundamentalismus zu erklären.48 Der Vorteil besteht dabei darin, dass die Analyse von Zivilisationen sich auf Einheiten größerer Dimensionen und längerer Dauer konzentriert, als Analysen von einzelnen Gesellschaften oder Nationalstaaten. Zudem stellt eine solche Analyse die Perspektive von Zivilisation als singulären Begriff in Frage, der ein Produkt des intellektuellen Klimas im Europa des 18. Jahrhunderts gewesen ist.49
Trotz dieser zahlreichen Möglichkeiten wurde die Theorie der multiple modernities auch großer Kritik ausgesetzt. „The theory of multiple modernities, being of recent origin and plac- ing an emphasis on diversity, is neither fully developed in form nor homogeneous in content.“50
[...]
1 Darwin, John: After Tamerlane. The rise and fall of global empires, 1400-2000, London 2008, S, 25.
2 Gumbrecht, Hans U.: Art. „Modern“, „Moderne“, „Modernität“. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 4. Stuttgart 1978, S. 93-131.
3 Komlosy, Andrea: Globalgeschichte. Methoden und Theorien, Wien/Köln/Weimar 2011, S. 7.
4 Middel, Matthias: Die Verwandlung der Weltgeschichtsschreibung. Eine Geschichte vom Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Comparativ 20/6, 2010, S. 7-19, S. 19.
5 Ebd. sowie Middel, Matthias/Naumann, Katja: Global History 2008-2010: Empirische Erträge, konzeptionelle Debatten, neue Synthesen. In: Comparativ 20/6, 2010, S. 93-133, S. 132.
6 Spohn, Willfried: Globale, multiple und verwobene Modernen: Perspektiven der historisch-vergleichenden Soziologie. In: Schwinn, Thomas (Hrsg.): Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, Mainz 2006, S. 101-130, S. 104.
7 Theorien mittlerer Reichweite sollen spezifische Probleme moderner Gesellschaften aufhellen, ohne damit Aussagen über große Prozesse zu machen. Diese Theorien konzentrieren sich dabei vor allem auf theoretische Trennschärfe, nicht auf Allgemeingültigkeit. Vgl. Mergel, Thomas/Welskopp, Thomas: Geschichtswissenschaft und Gesellschaftstheorie. In: Dies. (Hrsg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 9-35, S. 18.
8 Spohn, S. 101.
9 Ebd. S. 102.
10 Ebd.
11 Wie sich die postkoloniale Debatte auf die neuen soziologischen Interpretationen von Moderne und Modernisierung ausgewirkt hat, wurde zuletzt von Gurminder Bhambra zusammengefasst. Vgl. Bhambra, Gurminder K.: Rethinking Modernity. Postcolonialism and the sociological imagination, Basingstoke 2009.
12 Lee, Raymond L. M.: Reinventing modernity. Reflexive modernization vs liquid modernity vs multiple mo- dernities. In: EJST 9/3, 2006, S. 355-368, S. 355. Ders.: Bauman, Liquid Modernity and Dilemmas of Develop- ment. In: Thesis Eleven 83, 2005, S. 61-77, S. 62 sowie Feldbauer, Peter/Hausberger, Bernd/Lehners, Jean-Paul: Globalgeschichte. Die Welt 1000-2000. In: Mann, Michael (Hrsg.): Die Welt im 19. Jahrhundert, S. 7-11, S. 7f. Unter anderem führten die post-colonial studies zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus,
13 Spohn S. 107.
14 Ebd. S. 108ff.
15 Ebd. S. 112.
16 Ebd. S. 113.
17 Ebd.
18 Ebd. S. 118f.
19 Ebd. S. 119f.
20 Ebd. S. 120.
21 Koenig, Matthias: Shmuel Noah Eisenstadt. In: Kaesler, Dirk (Hrsg.): Aktuelle Theorien der Soziologie. Von Shmuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne, München 2005, S. 41-63, S. 58.
22 Vgl. Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Science 129/1, 2000: Multiple Modernities.
23 Eisenstadt, Shmuel N./Riedel, Jens/Sachsenmaier, Dominic: The context of the multiple modernities paradigm. In: Dies. (Hrsg.): Reflections on multiple modernities: European, chinese, and other interpretations, Leiden 2002, S. 1-23, S. 1.
24 Spohn, Willfried: An appraisal of Shmuel Noah Eisenstadt’s global historical sociology. In: JCS 11/3, 2011, S. 281-301, S. 286.
25 Der Zivilisationsdiskurs ist eines der zurzeit einflussreichsten analytischen Mittel der Globalgeschichtsschrei- bung, da er vor allem auch außerhalb Europas auf große Resonanz gestoßen ist. Vgl. Conrad, Sebastian/Eckert, Andreas: Globalgeschichte, Globalisierung und multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt. In: Dies. u.a. (Hrsg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt a.M. 2007, S. 7-49, S. 19f.
26 Eisenstadt, Shmuel N.: Die Vielfalt der Moderne, 3. Auflage, Weilerwist, 2011, S. 9f.
27 Wehler, Hans-Ulrich: Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, S. 18ff.
28 Ebd.
29 Auch die multiple modernities hätten sich nicht ausreichend von diesem Eurozentrismus lösen können. Vgl. Bhambra, S. 5, 58.
30 Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, S. 10.
31 Schwinn, Thomas: Gibt es eine multiple Moderne? In: Boatca, Manuela/Spohn, Willfried (Hrsg.): Globale, multiple und postkoloniale Modernen, München 2010, S. 105-132, S. 108.
32 Eisenstadt: Multiple modernities. In: Daedalus 129/1, 2000, S. 1-29, S. 2 sowie Ders.: The first multiple mo- dernities: Collective identities, public sphere and political order in the Americas. In: Roniger, Luis/Waisman, Carlos H. (Hrsg.): Globality and muliple modernities: Comparative north american and latin american perspec- tives, S. 7-28, S. 8.
33 Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, S. 11.
34 Eisenstadt: Multiple modernities, S. 2.
35 Ebd. S. 3.
36 Fourie, Elsje: A future for the theory of multiple modernities: Insights from the new modernization theory. In: SSI 51/1, 2012, S. 52-69, S. 57.
37 Spohn, Willfried: Multiple modernity, nationalism and religion: A global perspective. In: CS 51, 2003, S. 265- 286, S. 268.
38 Ebd. S. 269.
39 Ebd.
40 Eisenstadt, Shmuel N.: Die Vielfalt der Moderne: Ein Blick zurück auf die ersten Überlegungen zu den „mul- tiple modernities“ In: Themenportal Europäische Geschichte 2006, URL: http://www.europa.clio- online.de/2006/Article=113. Letzter Zugriff: 24.08.2012.
41 Eisenstadt: Multiple modernities, S. 2 sowie Schwinn, Thomas: Gibt es eine multiple Moderne? In: Boatca, Manuela/Spohn, Willfried (Hrsg.): Globale, multiple und postkoloniale Modernen, München 2010, S. 105-132, S. 116.
42 Fourie, S. 56.
43 Ebd.
44 Ebd.
45 Ebd. S. 58 sowie Kaya, Ibrahim: Modernity, openness, interpretation: A perspective on multiple modernities. In: SSI 43, 2004, S. 35-57, S. 50.
46 Spohn, Willfried: Globale, multiple und verwobene modernen, S. 112.
46 Fourie, S. 56 sowie Kaya, S. 50.
48 Fourie S. 62 sowie Sachsenmaier, Dominic: Multiple modernities - the concept and its potential. In: Eisenstadt, Shmuel N./Riedel, Jens/Sachsenmaier, Dominic (Hrsg.): Reflections on multiple modernities: European, chinese, and other interpretations, Leiden 2002, S. 42-67, S. 53ff.
49 Kaya, S. 51.
50 Fourie, S. 54.
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