Masterarbeit, 2012
70 Seiten, Note: 1,3
1. Einleitung und Fragestellung
2. Aggressivität - Aggression - Gewalt: Definition und Forschungsstand
2.1. Theoretische Erklärungsansätze für Aggression und Gewalt
2.1.1. Triebtheoretische Konzepte
2.1.2. Frustrations-Aggressions-Modell
2.1.3. Lerntheoretische Konzepte
2.1.4. Moderne theoretische Konzepte
2.2. Die Dimensionen von Gewalt
3. Jugend und Gewalt
3.1. Jugendgewalt aus Sicht der Statistik
3.2. Ursachen von Jugendgewalt (Lebenswelt-Elternhaus-Schule-Pubertät)
3.3. Folgen der Jugendgewalt - persönlich und gesellschaftlich
4. Gewaltprävention
4.1. Maßnahmen zur Gewaltprävention
4.2. Erwünschte Effekte der präventiven Arbeit
4.3. Grenzen von Prävention
4.4. Sport als Gewaltprävention
5. Kampf und Kampfsport
5.1. Ausgewählte Kampfsportarten
5.1.1. Boxen
5.1.2. Pa Kua
5.1.3. Judo
6. Diskussion: Kampfsport als Möglichkeit der Prävention
7. Fazit und Aussicht
8. Literaturliste
„Unsere Jugend ist verdorben bis auf den Grund des Herzens, böse und faul. Sie werden nie wie wir früher und können unsere Kultur nicht erhalten." (Inschrift auf alten Weinkrügen in den Ruinen Babylons, mehr als 3.000 Jahre alt)[1]
Das Thema Gewalt ist eines der immer wiederkehrenden Themen, die von der Gesellschaft mit einer hohen Sensibilität aufgenommen werden. Gewalt war und ist allgegenwärtig in unzähligen Formen und bei der Flut an täglichen „schlechten Nachrichten" schreckt die Öffentlichkeit reflexartig auf, wenn die Medien wieder einmal über einen besonders schweren Fall von Gewalt berichten. Das Thema Jugendgewalt spielt dabei eine hervorgehobene Rolle, denn sie verunsichert die Menschen auf mindestens zwei Ebenen: Die rohe Gewalt gegen andere ängstigt den Menschen, der bei entsprechenden Nachrichten naturgemäß über seine eigene Sicherheit zu reflektieren beginnt. Wenn diese Gewalt aber zusätzlich von Jugendlichen ausgeht, verdrehen sich die Verhältnisse von Autorität und es scheint, als wäre die jüngere Generation eine unkontrollierte Gefahr; besonders, wenn man bedenkt, dass es die junge Generation ist, die die Alten irgendwann ablösen und die Verantwortlichen der Gesellschaft sein sollen. Jugendliche sollen lernen, spielen und heranwachsen. Die Angst, sie könnten bereits in ihren jungen Jahren ein „verdorbenes Herz" haben, lässt die Öffentlichkeit „laut aufschreien", und zwar immer dann, wenn die Medien über Gewalttaten in drastischer Weise berichten. Die Argumentationskette danach verläuft meist nach einem ähnlichen Schema: Freunde und Familie sind entsetzt (auf Seiten von Opfern und Tätern), die Öffentlichkeit fragt nach den Ursachen und Maßnahmen, politisch Aktive fordern mehr Strenge, schnelleren Vollzug und „harte Strafen". Es wird der Eindruck gefördert, dass es mit der Jugend immer schlimmer werde. In der öffentlichen Wahrnehmung ist Jugendkriminalität ein größer und größer werdendes Problem[2]. Da ist es nur verständlich, dass die Frage nach der Prävention gestellt wird. Es ergeben sich aber noch mehr Fragen: Wie groß ist das Problem wirklich und hat die Gewalt, die von Jugendlichen ausgeht, zugenommen? Wie kommt es dazu, dass Kinder und Jugendliche aggressiv sind, Aggressionen zeigen und zu Gewalt neigen? Ab wann ist Aggression nicht mehr „normales Jugendverhalten" und wie entsteht die Gewalt? Was steckt hinter dem Begriff der „Gewaltprävention", was soll oder kann sie bewirken und ist Sport, insbesondere Kampfsport ein Mittel zur Prävention? Diese Fragen sollen in dieser Arbeit untersucht werden.
Die Gliederung zeigt, dass zunächst die Begriffe, die im Zusammenhang mit Jugendgewalt benutzt werden, sortiert werden sollen: Was ist Aggressivität, was ist Aggression und was ist Gewalt?
Danach wird das Feld der „Jugendgewalt" näher beleuchtet: Was wissen wir über den Umfang (Statistik), was wissen wir über die Ursachen und welche Folgen hat „Jugendgewalt". Im Rahmen der möglichen Präventionsmaßnahmen wurde der Blickwinkel dieser Arbeit auf den Bereich Sport, und zwar auf den Bereich „Kampfsport" eingeschränkt. Die Überlegung dahinter war: Wenn junge Menschen gewalttätig werden, zeigen sie eine Antriebsenergie, die sich in offener Aggression niederschlägt. Die gewalttätige Handlung ist für sie eine Möglichkeit, Konflikte zu lösen. Der Kampf mit anderen scheint also ein akzeptiertes Mittel der Wahl darzustellen. Daraus folgt der Gedanke, ob dann nicht versucht werden kann, die Energie und den Willen zu kämpfen, positiv und handlungsnah in einem konstruktiven Sinne zu nutzen. Anders gesagt: Kann Kampf in einem geregelten Rahmen einen positiven Effekt auf Jugendliche haben? Besonders die thematische Nähe zur gewalttätigen Handlung schien dabei interessant: Kampfsport und Straßenkampf oder Jugendgewalt im öffentlichen Raum haben in den Grundzügen ähnliche Elemente. Dennoch ist das eine produktiv für den Ausübenden in Bezug auf seinen Körper, Geist und seine Umwelt. Das andere ist zerstörerisch und geächtet. Liegt also in der positiven Anwendung der Kampfenergie eine Möglichkeit, Jugendgewalt zu verhindern und die Ursachen ihrer Entstehung positiv zu beeinflussen?
Die Fragestellung der Arbeit ist daher: Eignet sich Kampfsport als Mittel zur Gewaltprävention?"
Nach einer Untersuchung der Felder Aggressivität - Aggression - Gewalt (Kapitel 2), Jugendgewalt (Kapitel 3) und Gewaltprävention (Kapitel 4) wird in Kapitel 5 der Blick auf Kampfsportarten gerichtet. Aufgrund der Vielzahl von Kampfsportarten erfolgt eine Begrenzung auf drei Kampfsportarten mit einer jeweils spezifischen Ausrichtung. In Kapitel 6 werden dann die Erkenntnisse zusammenfassend diskutiert und ein grobes Modell eines Ansatzes von Prävention und Kampfsport entwickelt, das die Potenziale von Kampfsportarten zur Prävention von Jugendgewalt belegen.
Im Zusammenhang mit dem Begriff Gewalt müssen auch der Ursprung der Gewalt, die Aggression, und deren Ursprung, die Aggressivität, betrachtet werden. Dabei ist zu erwähnen, dass es zu diesen Begriffen eine Vielzahl von Deutungen und Erklärungsansätzen gibt. Im Rahmen dieser Arbeit muss dieses Feld aber nicht detaillierter aufgearbeitet werden. Es ist vielmehr ausreichend, ein plausibles Erklärungsmodell zugrunde zu legen, um die Kernfrage nach einer Eignung von Kampfsportarten zur Prävention bei Jugendgewalt zu beantworten.
Die Definitionsversuche von Aggressivität, Aggression und Gewalt sind in der Literatur sehr unterschiedlich. Die Ansätze zur Begriffsabgrenzung haben in der Fachliteratur zu einer langen Diskussion geführt, deren Ende nicht abzusehen ist. Daher werden im Folgenden nur bestimmte für die Arbeit wichtige Grundannahmen aufgezeigt.
Übereinstimmend findet man bei allen Bestimmungsversuchen zur Begriffskette Aggressivität, Aggression und Gewalt direkt oder indirekt den Faktor der „Schädigung". Dabei meint dieser Begriff sowohl das Zufügen eines physischen Schadens an Gegenständen oder Personen als auch „weichere" Schädigungen wie verbale Beleidigungen, Stören, Ärgern oder das Schmerzufügen in irgendeiner anderen Weise (vgl. Peper, S.6). Das Problem hierbei ist, dass der Grad der Schädigung nicht objektiv messbar ist, zumindest im Bereich der Persönlichkeit eines Menschen. Somit müsste man jeden Drang nach Überlegenheit, der gegenüber anderen geltend gemacht wird, als aggressive Handlung begreifen, da er stets eine Störung des gleichen Drangs des anderen oder dessen Bedürfnisses nach körperlicher oder psychischer Unverletzlichkeit darstellt. Diese Überlegung beinhaltet zwei unterschiedliche Anknüpfungspunkte zur Begriffsbestimmung: die Handlungsintention und das Schadensmoment oder das Schadensereignis (vgl. Peper, S.7). Die Unterscheidung liegt dann zum Beispiel im Erfolg (gab es tatsächlich einen - messbaren - Schaden?) oder aber in der Intention, die bereits den Versuch als Aggression definiert (ebd.).
Bezogen auf den Sport hieße das: der Grundgedanke des Sports ist die persönliche Leistung, ob als Individuum oder Teil eines Teams. Die eigene Leistung oder die des Teams gewinnt ihre Bedeutung bzw. Anerkennung aber nur im Wettkampf. Wer nur vermuten kann, dass er im besten Team spielt, bleibt in einer Ungewissheit, die oft oder regelmäßig zur Frustration führen wird. Dem Wettkampf kommt damit eine entscheidende Bedeutung im Sport zu. Das Streben nach Dominanz gegenüber dem Gegner wäre demnach ein zwingendes, regelkonformes Verhalten. Sport bietet also Raum für Aggression. Aggressives Verhalten wird in diesem Zusammenhang dann als erwünschter Motor für den Sportzweck gesehen (vgl. Pilz, S.89). Dies klingt zunächst paradox in Bezug auf die Hypothese dieser Arbeit. Dieser Widerspruch lässt sich lösen, wenn man Aggressivität von negativen Konnotationen der umgangssprachlichen Verwendung löst und als Art Energie versteht, die einen Antrieb des Menschen darstellt, „aber nicht verallgemeinerbar als Antrieb für alle Menschen, sondern zuvorderst als Antriebsmittel des nach Selbstverwirklichung strebenden, innerhalb der Kultur konstruiert modernen Individuums." (Scholz, 2012, S.133)
Aggressivität ist also zunächst nicht destruktiv oder produktiv, sondern vielmehr eine Komponente jeglichen menschlichen Handelns, zunächst vorhanden als - wie Pazzini es ausdrückt - eine Art flüssiger Energie (Pazzini, 2005, S.1), die nicht aufgelöst werden kann; kippt diese Energie (wodurch auch immer), erhält man Aggression; dies wäre die geronnene Aggressivität, die dann wiederum umständlich mittels therapeutischer Mittel verflüssigt werden muss (ebd.). Gewalt ist in diesem Kontext die sichtbar gewordene Aggression. Diese Betrachtung lässt menschliches Handeln im aggressiven Kontext zu und trägt zum Verständnis des Antriebs von Sportlern bei. Diese Definition scheint also hilfreich im Rahmen dieser Arbeit:
Die Aggressivität ist zu sehen als generell verfügbare Handlungs- oder Antriebsenergie, eine Aggression ist ein negativ verfestigter Aggregatzustand der Aggressivität (die Ursachen für die Veränderung des Aggregatszustands erklären die Theorieansätze im nächsten Kapitel) und die Gewalthandlung ist der Ausdruck/Hinweis dieser Gerinnung. Der Grad der Absicht, beziehungsweise der Grad der Schädigung ist dabei grundsätzlich nur insoweit relevant, als sie erkennbar ist. Es mag für die Aggressionsforschung von Bedeutung sein, in Bezug auf diese Fragen Klarheit zu erlangen. Für die vorliegende Arbeit reicht der Konsens, dass Gewalt alles ist, was die Gemeinschaft oder Individuen spürbar beeinträchtigt - also zum Beispiel Mobbing, Vandalismus, körperliche Beschädigungen oder ähnliche Taten[3]. Dabei ist entscheidend, dass die erkennbare Absicht bereits einen Tatbestand der Gewalt darstellt. Solche Gewalt ist zu verhindern sowohl zum Schutze des Individuums als auch zum Schutze der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Dies berührt die noch offene Frage nach der Steuerbarkeit der Aggressivität: gibt es so etwas wie unbeabsichtigte Aggression? Nach der obigen Eingrenzung gibt es allenfalls eine unverschuldete Aggression, die unter Umständen auch nicht unkontrollierbar ist. Für die Prävention ist daher auch die Frage nach der Kontrolle über die „Rückwandlung der geronnenen Energie" wichtiger als die Frage nach der Absicht. Entscheidend sind die Ursachen und der Grad der „Gerinnung", d.h. der Aggression.
Die Aggressionsforschung hat im letzten Jahrhundert verschiedene Ansätze und Modelle geliefert, die die Ursache und das Erscheinungsbild von Aggressivität, Aggression und Gewalt zu erklären versuchen. Historisch gesehen sind die frühesten Erklärungsansätze die psychoanalytischen Triebtheorien von z.B. Sigmund Freud (1905/1930), die Frustrations- Aggressions-Modelle von McDougall (1908) oder Dollard, Doob, Miller, Mowrer und Sears (1939) und schließlich die sozialen Lerntheorien über aggressives Verhaltens wie bei Bandura (1973) und Berkowitz (1962) (vgl. Krampen/Shui, 2006, S.113). Aus diesen ersten Ansätzen entwickelten sich zahlreiche unterschiedliche Modelle und Theorien, die jede für sich beansprucht, einen Teil der Aggressionsursachen erklären zu können, wobei sich die Theorien teilweise ergänzen, teilweise aber auch gegenseitig ausschließen und dadurch miteinander konkurrieren. Neben den genannten frühen Erklärungsansätzen gibt es seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts neuere Modelle, die aufgrund einer Diversifikation in der Aggressionsforschung entstanden sind (ebd.). Die Vielfalt der Erklärungsansätze wird in der Fachliteratur schnell deutlich. Alleine Schubarth listet 22 verschiedene Theoriemodelle zur Aggression auf (vgl. Schubarth, S.64) und diese Liste ist nicht erschöpfend. Jede dieser Theorien hat eine eigene Charakteristik und aus ihnen entstehen jeweils unterschiedliche Präventionsempfehlungen. In den folgenden Abschnitten sollen nur einige dieser Theorien vorgestellt werden, nämlich jene, die Jugenddelinquenz in Zusammenhang mit der Umwelt, der eigenen Persönlichkeit und den Erfahrungen der Jugendlichen mit ihrer Umgebung sehen. Dies soll keine bequeme Anpassung der Aggressionsforschung an das Thema dieser Arbeit sein, sondern vielmehr Theorieansätze ausblenden, die zwar ebenso wichtig sind für den Umgang mit Jugenddelinquenz, aber den Bereich der Schule und besonders den Bereich des Sports als Möglichkeit zur Prävention von vornherein ausschließen. Denn es ist klar erkennbar, dass psychoanalytische oder kognitive Motivationstheorien als therapeutische Maßnahme das Setting des Analysten/Therapeuten und der Couch (wenn auch nur symbolisch) benötigen. Dies ist ein Bereich der Psychologie, der im Rahmen dieser Arbeit nicht abgedeckt werden kann. Ebenso sind hier nicht Ansätze einzubeziehen, die als Prävention gewisse Medikation und ärztliche Betreuung verlangen.
Das ursprünglich von Sigmund Freud erdachte Modell geht davon aus, dass es zwei, dem Menschen angeborene Triebe gibt: den Lebenstrieb (Eros) und den Todestrieb (Thanatos). Dabei stellt der Todestrieb den negativen, destruktiven Trieb im Menschen dar. "Das Grundkonzept der freudschen Trieblehre besteht in der Überzeugung, es müsse außer dem Trieb, die lebende Substanz zu erhalten und zu immer größeren Einheiten zusammenfassen, einen anderen, ihm gegensätzlichen geben, der diese Einheiten aufzulösen und in den uranfänglichen anorganischen Zustand zurückzuführen strebe." (Nolte, 1978, S.29). Der Todestrieb ist verantwortlich für Aggression gegenüber anderen, die Herleitung dafür ist nach Freud: Der Thanatos strebt danach, den ursprünglichen Zustand vor dem Leben wieder herzustellen; da der Eros aber entgegen gesetzt wirkt, kommt es in der Regel nicht zur Selbsttötung. Der Eros lenkt die Energie des Thanatos über die Muskeln nach außen, wodurch der Todestrieb dann als Aggression sichtbar werden kann. Die Aggression gegenüber anderen ist die logische Folge, um einerseits den Thanatos zu befriedigen und andererseits dem Eros gerecht zu werden (ebd.). Die Aufgabe des Menschen ist es nun, diese Triebe wirksam zu kontrollieren, da sie andernfalls als spontane Impulse auftreten und gefährlich sein können (vgl. Schubarth, S.15). Ein Mittel hierbei ist das Ritual, weil es Sicherheit schafft und kanalisierend wirken kann.
Im Rahmen der Gewaltprävention finden triebtheoretische Erklärungen nur bedingt Zuspruch, besonders im Bereich der kindlichen oder jugendlichen Aggressivität. Hier werden Bewegung und sportliche Aktivität als Gegenmittel gesehen, die die natürlich auftretenden Spannungen der beiden Triebe sehr gut ritualisieren und ableiten können (ebd.). Allerdings ist diese Theorie nur in Teilen geeignet, um Aggressionen zu erklären; Peper weist in seiner Arbeit daraufhin, „dass eine eindeutige Stützung der Triebtheorie durch physiologische Daten offenbar bisher nicht gegeben ist." (Pepe, 1980, S.20) Bis heute stehen die Triebkonzepte von Freud und von Lorenz (Lorenz, 1965)) in der Kritik. Dass der Hang zur Aggression als natürlich im Menschen vorgegeben ist, ließ sich bisher nicht einwandfrei nachweisen. Nolting verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Bequemlichkeit der Erklärung: die Erklärung von Verhaltensweisen mit einem Trieb böten sich allzu leicht an und stellten damit eine Scheinerklärung dar. Ebenso wies er daraufhin, dass die „universelle Verbreitung" des Aggressionstriebs leicht mit dem Vergleich anderer Kulturen zu widerlegen sei, bei dem sich keine „einheitliche, aggressive Natur" des Menschen zeige (Nolting, 1978, S. 37ff).
Anders als beim triebtheoretischen Konzept, entspringt die Aggression im Frustrationsmodell nicht einem spontanen Impuls, sondern entsteht durch Frustrationserfahrungen eines Menschen. Diese Frustration provoziert reaktive Aggression und zwar jedes Mal, wenn eine Frustration auftritt (vgl. Pepe, 1980, S.21). Die ursprüngliche Annahme, dass auf Frustration nur Aggression folgen kann, wurde im Laufe der Forschung modifiziert; es bleibt jedoch die Annahme, dass Aggression immer die Folge von Frustration sei (ebd.). Nach diesem Modell erhöht Frustration die Wahrscheinlichkeit für Aggression. Allerdings sind auch andere Verhaltensweisen möglich: konstruktives Handeln, Resignation, Ausweichen oder Selbstbetäubung (Drogen). Für mögliche Präventionen im Jugendbereich bedeutet dies, dass zum einen im Umgang mit Kindern darauf geachtet werden muss, dass es nicht zu oft Frustrationssituationen gibt und dass das Kind entsprechende Strategien für den Umgang mit Frustrationserlebnissen vermittelt bekommt. Denn natürlich werden frustrierende Erlebnisse nicht gänzlich zu vermeiden sein. Umso wichtiger ist es daher, Kindern Wege zu zeigen, wie man mit Frust umgehen kann. Diese Theorie ist daher auch besonders für den Ort Schule von Bedeutung. Schubarth weist darauf hin, dass Schule immer noch eine der Hauptquellen für jugendliche Frustrationen ist, sei es durch Noten, Demütigung, Machtmissbrauch der Lehrer oder feindliches Verhalten der Mitschüler (Schubarth, 2000, S.17). Im sportlichen Bereich ist hier besonders die Entwicklung von Frustrationstoleranz durch Bewegung und Spiel und entsprechende Entspannungsübungen förderlich.
Die lerntheoretischen Konzepte lehnen sowohl die Annahme des natürlichen Aggressionstriebs als auch das Konzept des Frustration-Aggressions-Modells ab. Die Befürworter dieser Theorie gehen davon aus, dass aggressives Verhalten, besonders gewalttätiges Verhalten, gelernt wird, und zwar genauso wie jede soziale Handlung. Das bedeutet, dass Gewalt anerzogen werden kann und ebenso wieder aberzogen werden könnte (Pepe, 1980, S.25). Das Erlernen erfolgt demnach passiv durch Beobachtung von gewalttätigem Verhalten bei anderen oder aber durch „Lernen am Erfolg", also dadurch, dass Aggression sich in Handlungen erfolgreich gegenüber anderen durchsetzt (Nolte, 1978, S.59). Dieses Modell verweist also auf den wichtigen Stellenwert von Erziehung und auf die Vorbildfunktion von Erwachsenen. Alles, was erlernt werden kann, kann nach dem Modell in negativer und positiver Art erlernt werden. Wird es negativ erlernt, wäre es wichtig, dass die Konsequenzen sich gegen das Erlernte richten und es als „falsch" oder zumindest „veränderungswürdig" kennzeichnen, um danach positives Verhalten zu lehren.
Nützlich ist die Differenzierung zwischen dem Lernen am Erfolg (oder eben auch am Misserfolg), dem Lernen am Modell und dem kognitiven Lernen. Das Lernen am Modell stellt dabei den Lernprozess durch Beobachtung und Nachahmung dar. Dieses Imitieren der Vorbilder hängt von der Beziehung zwischen Beobachter und dem Vorbild (Modell) ab sowie von deren Eigenschaften (vgl. Schubarth, 2000, S.18). Dabei steht im Vordergrund der Grad des machtvollen Einflusses des Vorbilds auf den Beobachter. Wichtig ist dabei, dass das Verhalten des Vorbilds als „moralisch gerechtfertigt" dargestellt wird (ebd.) und die Beziehung zwischen Beobachter und Vorbild generell positiv ist. Beschleunigend für die Nachahmung sind Frustrationen, die beim Beobachter vorhanden sind (s.2.2.2). Allerdings ist der der Zeitpunkt der Nachahmung nicht von vornherein zu bestimmen: es kann sein, dass das imitierende Verhalten sofort auftritt oder aber auch sehr viel später erscheint (ebd.). Nolte verweist in diesem Zusammenhang auf den hohen Stellenwert von Eltern und Lehrern, die „besonders wirksame Modelle" wären, „da sie nicht nur häufig für die Kinder zu sehen sind, sondern auch, weil sie Personen mit Macht und hohem Status sind" (Nolte, 1978, S.65).
Bei lerntheoretischen Konzepten spricht man in der Psychoanalyse vom Prozess der EinBildung und der Ent-Bildung: die Verinnerlichung einer Vorstellung von Handlungsweisen ist ständig zu reflektieren, um Schaden von sich und anderen fernzuhalten. Dazu muss man das Gelernte in Frage stellen können. Machtvolle Vorbilder unterdrücken den spannungsauflösenden Prozess der Ent-Bildung, also das Auflösen des „Eingebildeten" (vgl. Pazzini, 2005, S.14ff.). Eindrucksvoll ein-gebildete (also im Sinne einer verinnerlichten Bildung) Handlungen dominieren und prägen die Handlungsweise zur Problembewältigung. Das unterstreicht die große Dominanz von Eltern und Lehrern: ein Kind, das mit gewalttätigen Eltern aufwächst, lernt eben nur Gewalt als Handlung, um Forderungen durchzusetzen. Solange es keine stärkeren Vorbilder gibt, die ihm qualitativ nutzvolle Alternativhandlungen vermitteln, wird es sich einbilden, Gewalt ist das einzige mögliche Mittel zur Konfliktlösung.
Unterstützt wird diese negative Verfestigung durch das „Modell des kognitiven Lernens": Zu den beobachteten Handlungsweisen kommen wissensbildendende Denkmuster wie zum Beispiel „Strafe muss sein" oder aber auch konzeptionelle Wörter wie „Notwehr", „Ehre" oder „Feind" (vgl. Schubarth, 2000, S.19). Dadurch wird es den lernenden Beobachtern möglich, die als gerechtfertigt verordnete Gewalttat in einen sinnvollen Kontext einzuordnen, der das Handeln begründet und entdramatisiert. Ein populäres Beispiel bei Gewalttaten von Jugendlichen gegen andere ist die angebliche Verteidigung der Familienehre. Wer die Mutter eines anderen beleidigt, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Schlägerei zu erwarten, unabhängig davon, ob die Mutter ihm überhaupt bekannt ist oder die Beleidigung abstrakt ist. In extremen Fällen werden die eigenen (meist weiblichen) Familienmitglieder getötet, um die durch ihr Fehlverhalten (in der Regel von der Vorstellung des Patriarchen abweichendes Verhalten[4] ) hervorgerufene Verletzung der Familienehre wieder herzustellen.
Moderne Theorien bieten keine komplexen Ansätze an, wie das bei den „Klassikern" der Fall ist. Vielmehr werden die Bedingungen einer Situation analysiert und daraus Modelle entwickelt (vgl. Pepe, 1980). Im Einzelnen entstanden verschiedene Erklärungsansätze, die allerdings nie so weit gingen, wie die bereits dargestellten Theorien. Eine weitere Theorie ist die „Theorie der Zwangsgewalt", bei der aggressives Handeln als Folge von Entscheidungen gilt. In diesem Modell geht man davon aus, dass jedes Individuum im sozialen Kontext mit anderen steht, von deren Hilfe (und Entscheidungen) es abhängig ist. Daraus folgt der Drang, die Entscheidungen der anderen zu eigenen Gunsten zu beeinflussen, was wiederum die Anwendung von Gewalt unter Umständen attraktiv macht. Warum die Entscheidung zugunsten von Gewalt fällt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, so zum Beispiel von der Ergebniswahrscheinlichkeit oder dem Ansehen, das aus der Tat resultieren wird (vgl. Schubarth, 2000, S.38). Im Kern geht es um die Abwägung zwischen gewalttätigen Handlungen und nicht-gewalttätigen Handlungen. Um hier friedliche Ergebnisse zu erzielen, braucht der Akteur eine hohe soziale Kompetenz und eine gut ausgebildete Handlungsfähigkeit, die verschiedene Alternativen zur Zielerreichung bietet.
Es gibt bei den neueren Theorien auch Modelle, die sich ausschließlich mit der Schule als zentralem Punkt zum Thema Jugendgewalt beschäftigen. Ein Beispiel ist die Überlegung von Helsper, „dass jugendliche Gewalt ein Symptom der verweigerten schulischen Anerkennung" sei (Schubarth, 2000, S.39). Dabei werden Hass und Gewalt gegenüber anderen als letzte Möglichkeit gesehen, um überhaupt Anerkennung zu erreichen. Die Ursachen sind in der frühkindlichen Erziehung zu finden, wo die Basis für Anerkennung und Selbstachtung gelegt werden (ebd.). Aber selbst wenn der Ursprung für aggressive Handlungen in frühester Kindheit entstanden ist, so sind die Jahre, die das Kind in der Schule verbringt, entscheidend für die weitere Entwicklung. Je häufiger das Kind soziale Desintegration am Ort Schule erleben wird - und dieser ist aufgrund der eigenen Peergroup von höchster Bedeutung (vgl. Lösel/Bliesner, 2003, S.15) -, desto stärker wird das Bedürfnis nach Anerkennung werden; da dies aber unerfüllt bleibt, steigt die Frustration (vergleichbar mit dem Frustrationsmodell, Kap.2.2.2) und führt letztlich zur Gewalt. Das Hauptproblem besteht nach Helsper darin, dass die Schule aufgrund ihrer Wertschätzungsstruktur und ihres Leistungssystems automatisch Gewinner und Verlierer produziert; die Bekanntmachung von Leistungsdefiziten verursacht Selbstwertverletzungen und produziert Scham und Sozialangst (vgl. Schubarth, 2000, S.41). Hier stellt sich die Frage nach der Bereitschaft der Schule, den Schüler selbst in den Fokus ihres Interesses zu stellen und den Jugendlichen dabei zu fördern, seine Persönlichkeit entwickeln zu können. Dabei sollte nicht auf Benotung seiner Leistung verzichtet werden (Leistungsbewertung in der Schule ist eine gute Abbildung der späteren Berufsrealität), sondern ein pädagogisches Gegengewicht zum Notensystem etabliert werden.
Der Begriff der „Gewalt" ist eng verbunden mit dem Begriff „Macht". Max Weber definiert Macht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht." (Weber, 2012, S.28). Gewalt ist für die Erreichung oder Erhaltung von Macht ein effektives Mittel (wenngleich auch nicht das einzige Mittel), die eigene Vorstellung gegenüber anderen durchzusetzen. Dieses Mittel ist umso attraktiver, wenn es das einzige Mittel ist, das jemand zur Verfügung hat. Das Machtgefühl ist dabei die Ausdruck gewordene Sehnsucht, seine Umwelt nach den eigenen Vorstellungen beeinflussen zu können (Sitzer, 2009, S.28); dabei ist Aggression der Antrieb, der Macht möglich machen kann.
Die bisher gezeigten Theorien haben vor allem Ursache und Entstehung von Aggressionen beleuchtet; Gewalt und gewalttätige Handlungen waren dabei eher Folge und wurden nicht weiter unterschieden. Die Forschung unterscheidet aber mittlerweile beim Gewaltbegriff zwei Kategorien: zum einen gibt es die Gewalthandlung, die meistens gemeint ist, wenn von „Jugendgewalt" gesprochen wird, und die als „zielgerichtete direkte physische Schädigung von Menschen" (Sitzer, 2009, S.30) verstanden wird. Ihr gegenüber steht die Kategorie der Gewalterfahrung, die erweitert wird um die Begriffe physische Gewalt, psychische Gewalt und strukturelle Gewalt.
-Ph zulassen. Dadurch entsteht nach Johan Galtung ein Dauerzustand von Gewalt, bei dem allerdinysische Gewalt: Dies bezeichnet die direkte Verletzung eines anderen durch den Einsatz von Gewalt. Die physische Schädigung ist dabei das Hauptziel (ebd.). Bemerkenswert ist, dass physische Gewalt nahezu von jedem Menschen eingesetzt werden kann; sie steht als „Jedermanns-Ressource" und „Universalsprache" ständig zur Verfügung und benötigt keine weiteren, dauerhaft überlegenen Machtmittel (ebd.). Dadurch stellt physische Gewalt eines der effektivsten und am schnellsten Verfügbaren Mittel zur Konfliktlösung dar.
-Psychische Gewalt stellt jegliche Verletzungen der Psyche eines Menschen dar und kann unter Umständen sehr viel stärker wirken als physische Gewalt. Die Schädigungen bleiben in der Regel zunächst verborgen und erscheinen erst zeitverzögert; Art und Ausmaß der Schädigung sind oftmals unvorhersehbar.
- Strukturelle Gewalt bezeichnet die implementierten Strukturen in Gesellschaften, die dazu führen, dass Menschen ihr Potenzial nicht erreichen können, weil die Mechanismen des Systems es nichtgs kein Täter bestimmt werden kann („das System"): „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung. [...] Mit anderen Worten, wenn das Potentielle größer ist als das Aktuelle und das Aktuelle vermeidbar, dann liegt Gewalt vor." (Galtung, 975, S.9). Als sichtbare Bestandteile von struktureller Gewalt gelten demnach zum Beispiel Armut, Unterdrückung, Vorenthalten von Bildung oder auch gesellschaftlicher Ausschluss (Sitzer, 2009, S.31). In allgemeinen Debatten werden diese Einzelaspekte unter dem Begriff der „sozialen Ungerechtigkeit" zusammengefasst.
Wenn von „Jugendgewalt" in der Öffentlichkeit gesprochen wird, scheinen die Positionen klar. Jeder hat eine Meinung dazu und jeder kann irgendwo eine Ursache verorten. Dabei taucht die Diskussion stets in der Öffentlichkeit auf, wenn einmal wieder ein besonders schwerwiegender Fall von Gewalt durch Jugendliche bekannt wird. Das öffentliche Interesse beschränkt sich meistens auf die Diskussion, ob das Strafmaß für Jugendliche ausreicht[5], ob die therapeutischen Maßnahmen wie Sozialarbeit auf einem Bauernhof eventuell harten Erziehungscamps weichen sollten. Dabei wird der Antrieb der Schockenergie, die landesweit freigesetzt wird, gerne für die Bedienung der eigenen politischen Klientel benutzt. Die Diskussion ebbt aber in der Regel genauso schnell ab, wie sie aufgetaucht ist. Die Spitzen des Eisbergs werden also kurz für alle sichtbar; die Frage ist, ob darunter ein großer Eisberg treibt, es also ein wirkliches Problem mit Jugendgewalt gibt, oder ob es nur einzelne Schollen sind, die sichtbar werden, also Jugendgewalt nur ein kurz auftretendes Phänomen ist, das allerdings keinen breiten Unterbau besitzt, sondern vielmehr auf wenigen extremen Fällen beruht. Dazu soll in diesem Kapitel die Polizeistatistik herangezogen und der Frage nachgegangen werden, welche Folgerungen für die Ursachen von Jugendgewalt sowie den Täter und sein Umfeld abzuleiten sind.
In der öffentlichen Aufmerksamkeit wird Jugendgewalt stets nur dann sichtbar, wenn in einer breiten Medienpräsenz über besonders brutale Fälle berichtet wird. Dabei gibt es seit Jahren verlässliche Zahlen von Seiten der Sicherheitsbehörden. In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wird regelmäßig über die angezeigten Delikte Auskunft gegeben. Die PKS fasst dabei die gemeldeten Zahlen aus den Bundesländern zusammen und macht diese der Öffentlichkeit zugänglich. Verantwortlich für die Statistik ist das Bundesministerium des Inneren[6].
Die Statistik stellt lediglich die der Polizei bekannt gewordenen Straftaten zusammen. Man spricht in diesem Zusammenhang von dem Hellfeld der Kriminalstatistik. Demgegenüber steht das Dunkelfeld, zu dem alle Straftaten zählen, die nicht angezeigt worden sind. Dies ist zu bedenken, wenn man die PKS verschiedener Jahre miteinander vergleicht. Veränderungen bei den Zahlen können nämlich entweder durch eine tatsächliche Veränderung der Kriminalität entstanden sein oder aber durch ein verändertes Anzeigeverhalten und somit durch eine Verschiebung der Hell- Dunkelfeldrelation, verursacht worden sein. Kury bemängelt in diesem Zusammenhang, dass die PKS zum Teil irreführend sein kann: so sind in der PKS unter „Gewaltkriminalität" folgende Straftaten zusammengefasst: Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer, Körperverletzung mit Todesfolge, gefährliche und schwere Körperverletzung, erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme und Angriff auf den Luft- und Seeverkehr. Es handelt sich dabei nach Kury um eine recht unübersichtliche und gemischte Gruppe von Einzeltaten, die keineswegs alle Dimensionen von „Gewaltkriminalität" erfasst (Kury, 2012, S.21). Somit ist der öffentlich-mediale Blick, der oftmals nur auf die Entwicklung von „Gewaltkriminalität" schaut, eher verschleiert und diese Zahlen nicht hilfreich für die Debatte.
Die „Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention" des „Deutschen Jugendinstituts" definiert Jugendgewalt als meist „vorübergehendes Phänomen im Lebenslauf", welches „zumeist eher situativ und in der Gruppe" stattfände (DIJ, 2012, S.2). Diese Eingrenzung deckt sich in Bezug auf die Gruppendynamik und Erscheinungsphänomen mit der Aussage von Kury: „Berücksichtigt man hier weiterhin, dass unter gefährlicher Körperverletzung definitionsgemäß [...] Taten erfasst werden [...], die gemeinschaftlich begangen werden, bedeutet dies, dass etwa auch Streitereien Jugendlicher in Gruppen darunter fallen, also Verhalten, dass eher alterstypisch als kriminell ist." (Kury, 2010, S.22).
Unklarheit besteht vor allem über die Frage: Hat die Jugendgewalt in den letzten Jahren zugenommen oder nicht? Das BKA hat eine Zeitreihe aus den Ergebnissen der PKS-Studien seit 1987 erstellt und auf den ersten Blick scheint diese Zeitreihe eine deutliche Antwort zu geben:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quellen: BKA: PKS Zeitreihen Tabelle 40 (1987-2011). Eigene Zusammenstellung der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention, München. Hinweis: Seit 2009 werden durch eine statistische Umstellung (bundeslandübergreitende Echttäterzählung) recht seltene Doppelzählungen ausgeschlossen, was zu leicht geringeren Zahlen führt. 1997-1990: alte Bundesländer; 1991-1992: alte Bundesländer mit Gesamt-Berlin; ab 1993: Bundesgebiet insgesamt (einschl. der fünf neuen Länder).
Es zeichnet sich eine deutliche Zunahme der Gewalttaten bei den einzelnen Altersgruppen ab. Der Verlauf geht von 1987 an bis ca. 2008 steil nach oben und man könnte vorschnell schließen: Ja, die Jugendgewalt hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Allerdings zeigt die unterste Linie die Anzahl der Taten im Verhältnis zur Größe der Gesamtgruppe und relativiert die anderen Zahlen. Dies ist ein Hinweis auf die Annahme, dass Handlungen wie Körperverletzungen normal in der jugendlichen Lebenswelt sind. Zusätzlich weist das DIJ in seiner Veröffentlichung daraufhin, dass der Anstieg der einzelnen Kurven auf eine erhöhte Sensibilität in der Gesellschaft zurückzuführen ist. Die Menschen würden Gewalt nicht mehr einfach akzeptieren und daher schneller anzeigen als früher - dies erhöht aber nur die Hellfeld-Statistik und lässt darauf schließen, dass es sich bei dem jeweiligen Anstieg lediglich um eine Verschiebung der Hell-Dunkelfeld-Zahlen handelt (DIJ, 2012, S.4).
Die Aussagekraft der Statistik der PKS wird zudem noch durch eine weitere Tatsache geschwächt. Die Statistik hat einen nur geringen Informationsgehalt zur Schwere der Verletzungen des Opfers. Zwar wird im juristischen Sinn zwischen einfacher und schwerer Körperverletzung unterschieden, allerdings unterscheiden sich hier die Betrachtungsweise der Schwere von Körperverletzungen zwischen Polizei und Gerichten. Eine Vielzahl der von der Polizei registrierten Fälle im Bereich der Körperverletzungen, wird von den Gerichten herabgestuft beziehungsweise umgewandelt (Kury, 2010, S.24). Die Polizei hat nach seiner Ansicht die Tendenz, Sachverhalte „überzubewerten". Dies scheint auch durch die Tatsache belegt zu sein, dass es eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Tatverdächtigungszahlen (erhoben durch die PKS) und den Verurteiltenziffern (die Zahlen der Justizstatistik) gibt (ebd.). Als Beispiel: 2011 registrierte die PKS insgesamt 41.706 Fälle von Körperverletzung im Jugendbereich[7]. Letztlich zur Verurteilung kamen aber nur 18.412[8]. Damit fällt eine Beurteilung der Frage nach der tatsächlichen Problemlage schwer. Je nach Betrachtungsweise entsteht ein Unterschied von bis zu 50%. Unbestritten ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass es Gewalttaten im Bereich der Jugendlichen gibt. Dabei sind die Folgen für Opfer, Täter und Gesellschaft im Einzelfall unterschiedlich belastend - die gesamtgesellschaftliche Belastung ist allerdings schwieriger einzuschätzen. Die Folgen werden in Abschnitt 3.3. näher betrachtet.
In Bezug auf Schule, einem der wichtigsten Lebensräume von Jugendlichen, gibt es allerdings die sehr aussagekräftige Statistik der „Raufunfälle an Schulen", die durch die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung erhoben wurde:
[...]
[1] Gefunden in: Kury, 2010, S.7)
[2] Dazu veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Artikel, der die populärsten Irrtümer bezüglich Jugendgewalt auflistet: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/irrtuemer-ueber-jugendgewalt-von-wegen- immer-schlimmer-1.1328412
[3] Eine genauere Unterscheidung des Gewaltbegriffs folgt in 2.2.5
[4] Einer der bekanntesten Fälle war der Geschwistermord in Hamburg: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/ehrenmord-in-hamburg-16-jaehrige-rebellierte-gegen-familie-vom- bruder-getoetet-a-553823.html
[5] http://www.spiegel.de/sptv/tvthema/a-527780.html
[6] http://www.bmi.bund.de/DE/Home/startseite_node.html
[7] Vgl. PKS, 2011: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2012/PKS2011.pdf?__ blob=publicationFile
[8] Vgl. https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Rechtspflege/StrafverfolgungVollzug/Strafverfolgung2 100300117004.pdf? blob=publicationFile
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